Ohne Papiere in Europa
Illegalisierung der Migration Selbstorganisation und
Unterstützungsprojekte in Westeuropa
Im folgenden veröffentlichen wir in noch nicht endgültiger Fassung die
Einleitung und zwei Textauszüge des Buches Ohne Papiere in Europa, das
voraussichtlich noch im Dezember diesen Jahres bei einem Zusammenschluss
der Verlage Schwarze Risse, VLA und Rote Straße erscheinen wird. Die von
verschiedenen AktivistInnen der Kampagne kein mensch ist illegal
zusammengestellte Textsammlung erscheint in gemeinsamer
HerausgeberInnenschaft mit den beteiligten AutorInnen und Gruppen.
In dem Buch wird die Situation von illegalisierten MigrantInnen in elf
verschiedenen europäischen Ländern beschrieben und Projekte von
Unterstützungsgruppen und der Selbstorganisierung von Illegalisierten
vorgestellt. Vier Hauptartikel beschäftigen sich mit Frankreich, England,
der BRD und den Niederlanden, weitere Texte beziehen sich auf Polen,
Italien, Spanien, auf die Schweiz, auf Österreich, Belgien und Portugal.
Außer diesen Länderberichten erscheint ein Text zur Hausarbeit von Frauen
in der EU und ein Nachwort zu den neueren Entwicklungen in der EU.
Ohne Papiere in Europa wird etwa einen Umfang von 180 Seiten haben und
ca. 18 DM kosten. Im März 2000 wird eine englische Fassung des Buches
erscheinen.
"Illegalisierung der Migration" beschreibt keinen klar definierten
Zustand sondern einen verschiebbaren, staatlich konstruierten Prozeß.
EUweit leben mittlerweile schätzungsweise 3 - 4,5 Millionen Menschen ohne
Aufenthaltsstatus, weitreichende Rechtlosigkeit prägt die Lebenssituation
einer wachsenden Zahl von MigrantInnen. Illegalisierung bezeichnet auch in
Westeuropa einen zunehmend zentralen Aspekt im gesamten Spektrum der
Migration. In einigen Staaten, insbesondere in der BRD, ist eine
drastische Steigerung feststellbar. In anderen Ländern liegt die Bedeutung
eher in der Verschärfung der bestehenden Situation für die Betroffenen.
Denn Passlosigkeit spielte bis vor wenigen Jahren, besonders in
Großbritannien, eine eher untergeordnete Rolle. Auch in den Niederlanden,
in Frankreich oder in Südeuropa waren Registrierungssysteme nicht derart
durchgesetzt, dass Papierlose quasi automatisch in die Rechtlosigkeit
gedrängt wurden. Zugang zum (legalen!) Arbeits- und Wohnungsmarkt, zu
staatlicher Gesundheits- oder gar Sozialversorgung war nicht oder nur
teilweise an einen Aufenthaltsstatus gebunden. Doch in erster Linie über
das Schengener (Zusatz-)Abkommen und unter dem schönfärberischen
Deckmantel sogenannter EU-Harmonisierungen vorangetrieben wurden zunehmend
die aus der BRD oktroyierten Kontrollmechanismen eingeführt. Gezielte
Razzien gegen "Illegale" gehören heute zur Realität fast aller
europäischen Metropolen, der "gemeinsamen Bekämpfung der illegalen
Migration" sind regelmäßige internationale Konferenzen gewidmet. EU-weit
verschärfte Visa-Bestimmungen, eingeschränkte Möglichkeiten der
Familienzusammenführung bis hin zur Konstruktion sogenannter sicherer
Drittstaaten läßt dem Gros der MigrantInnen keine andere Wahl als "illegal
einzureisen". Die Landung auf einem Flughafen oder der Schritt über eine
Grenze verwandelt Flüchtlinge in "Illegale". Ein Teil davon legalisiert
sich zumindest vorübergehend im Asylverfahren. Doch die Anerkennungsquoten
sind europaweit gering und wer dann nicht "freiwillig" geht oder
abgeschoben wird, muss untertauchen. Insgesamt haben sich die
Möglichkeiten, langfristig einen regulären Aufenthaltsstatus zu erhalten,
in allen europäischen Ländern drastisch verringert. Vor diesem Hintergrund
entscheiden sich mehr und mehr MigrantInnen, solange wie möglich
unregistriert zu bleiben. Sie leben mit falschen oder geliehenen Papieren.
Sich in diesem rechtlosen Zustand zu behaupten fällt schwer, insbesondere
Frauen und Familien sind dazu dauerhaft kaum in der Lage. Doch für viele
stellt die Illegalität die einzige Alternative zur Ausweisung oder
Abschiebung dar. Sie organisieren ihr (Über-) Leben in Familienbeziehungen
bzw. in Community-Strukturen. Entgegen der oft verbreiteten Medienbilder
der "kriminellen, illegalen Ausländer" zwingt Illegalisierung eher zur
"Rechtstreue". Denn jeder kleinste Gesetzesverstoß, sei es nur
Schwarzfahren oder Kaufhausdiebstahl, kann Entdeckung und Abschiebung zur
Folge haben. Illegalisierte haben vor allem eines gemeinsam: sie haben
keine Papiere und entsprechend kaum oder keine Rechte. Darüber hinaus
zeichnet Illegalisierung ein vielfältiges, komplexes Bild. In diesem
spiegeln und fokussieren sich zentrale gesamtgesellschaftliche
Widersprüche und Auseinandersetzungen.
Im März 1996 besetzen 300 afrikanische EinwandererInnen eine Kirche in
Paris. "Papiere für alle" lautet ihre zentrale Forderung, die Bewegung der
sans papiers nimmt ihren Anfang und entwickelt in den folgenden
Monaten eine für europäische Verhältnisse einzigartige Dynamik. Wenn heute
Kirchen in Belgien, in den Niederlanden oder in Deutschland besetzt sind,
wenn der Prozeß der Selbstorganisierung von illegalisierten MigrantInnen
in den letzten Jahren in vielen europäischen Ländern einen Aufschwung
erlebt hat, dann liegt ein wesentlicher Impuls ganz sicher im mutigen und
ausdauernden Kampf der sans papiers. Die multinational
zusammengesetzten Kollektive der sans papiers halten wir für den am
meisten entwickelten Gegenpol zum zunehmend durch Schengen strukturierten
Europa. Ihr Kampf um "Papiere für alle", der Widerstand der
Illegalisierten insgesamt hat in unseren Augen eine grundlegende und
exemplarische Bedeutung. Denn - erstens fungieren Illegalisierung und
Entrechtung von MigrantInnen in mehrfacher Weise als Speerspitze des
Umbruchs in den Metropolen. In der Ausbeutungshierarchie stehen
Illegalisierte auf der untersten Stufe. Billigstlöhne ohne
Sozialleistungen bringen nicht nur Extraprofite sondern dienen
gleichzeitig der Drohung und Disziplinierung aller ArbeiterInnen.
Bedingungen und Entwicklungen sind in den verschiedenen europäischen
Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt, doch die Anforderungen der
Arbeitsmärkte bilden überall einen gewichtigen Aspekt der staatlichen
Regulierungsversuche, gerade auch gegenüber der illegalen Migration.
Parallel dazu werden die Garantien auf ein offizielles Existenzminimum
abgeschafft. An bestimmten, noch legalen (!) Flüchtlingsgruppen wird zum
Beispiel in der BRD der teilweise oder gänzliche Ausschluß von
Sozialleistungen vorexerziert. In diesem Angriff steckt die Drohung der
Ausweitung auf andere soziale Gruppen. Doch theoretisch naheliegende
Solidaritäten entstehen nur in seltenen Fällen, im Gegenteil: Denn mit und
an der Ausgrenzung und Entrechtung bestimmter Gruppen schaffen sich neue,
aggressive Identitäten. Ob regional, national oder europäisch ausgeprägt,
insbesondere das verbreitete Feindbild der "illegalen, kriminellen
Ausländer" gibt die Plattform ab für einen in vielen Ländern dominanten
rassistischen Formierungsprozeß, der zu Recht als "Stigma-Regime" zu
bezeichnen ist.
Die ethnischen Konstruktionen und Projektionen aufzubrechen, das nahezu
perfektionierte Zusammenspiel der Hetze und Gesetze anzugreifen, sehen wir
als eine zentrale Herausforderung an die antirassistischen Initiativen in
Westeuropa. Perspektivisch muß damit ein Ansatz verknüpft sein, der sich -
einmal mehr in Frankreich am meisten entwickelt - recht treffend in der
dortigen Parole von der "Bewegung der Ohne" ausdrückt. Ohne Arbeit, ohne
Wohnung, ohne Papiere, ohne Geld und ohne Rechte - der Versuch, die
konstruierten Identitäten aufzulösen, die Spaltungslinien zurückzudrängen
und Brücken zu schlagen zwischen verschiedenen Terrains, läßt sich allein
in einem übergreifenden sozialen und politischen Kampf bewerkstelligen.
Dem Kampf der Illegalisierten kommt darin besondere Bedeutung zu.
Zweitens sind Flüchtlingsbewegungen und ihre Kämpfe in den meisten
europäischen Ländern ein Phänomen der 80er Jahre. Linke Solidaritäts- und
Unterstützungsarbeit hat diesbezüglich eine noch kurze und schon
wechselhafte Geschichte. Eine Erwartungshaltung, die in den Flüchtlingen
die besseren Menschen sah und auf neue revolutionäre Subjekte hoffte,
mußte schnell enttäuscht werden. Diese Vorstellungen entsprangen zumindest
funktionalisierenden, wenn nicht - positiv - rassistischen Projektionen.
Doch die Motivation für Unterstützungsprojekte erschöpft sich deswegen
nicht in moralischen Verpflichtungen. Es bleibt richtig: Migration
konfrontiert mit den weltweiten Ungerechtigkeiten, die hier in Westeuropa
einen Ursprung haben. Seit 1989 wird das Ausbeutungsgefälle völlig
ungehemmt immer weiter und tiefer nach Osteuropa hineingetrieben. Der
Wertraub aus den drei südlichen Kontinenten führt zu einer ständig
zunehmenden Einkommenskluft zwischen dem Süden und Norden. Im Hinblick
darauf hat Migration einen egalitären Charakter, ein zentraler
Ausbeutungsmechanismus wird vielfach unterlaufen und damit angegriffen.
Auch wenn vor allem Arme, Alte und Familien an den gesteigerten Gefahren
und Kosten einer Flucht in die europäischen Metropolen scheitern, spiegelt
sich dennoch der Anspruch auf gesicherte Existenz in der heute fast
gänzlich illegalisierten Migrationsbewegung. Geld wird an die
zurückgebliebenen Familien überwiesen, Migrationsketten entwickeln sich.
Die Lebenssituationen und Kampfbedingungen von Illegalisierten variieren
in den jeweiligen Staaten beträchtlich. Die Rigidität in der
Abschiebepraxis, die Spielräume bei Legalisierungsprogrammen und die
reformistisch-humanitären Einflussnahmen sind sehr unterschiedlich.
Unterschiedliche Kolonialgeschichte und Anwerbeprogramme, verschiedene
Staatsbürgerschaften sowie Melde- und Kontrollsysteme prägen die
Differenzen bis heute. Doch die Entwicklungen zielen EU-weit auf sich
angleichende Kombinationen von Integration und Ausgrenzung.
Bleiberechtskämpfe, vor allem wenn sie kollektiv und in internationaler
Zusammensetzung geführt werden, und der kompromisslose Widerstand gegen
Abschiebungen stellen diese Politik in Frage. Die Forderungen nach
"Circulaire libre", nach freier Zuwanderung, offenen Grenzen und kein
mensch ist illegal symbolisieren die völlige Unvereinbarkeit mit den
herrschenden Zuständen.
Illegalisierte MigrantInnen in den Niederlanden
Grundsätzlich kann man für den Zeitraum der letzten 30 Jahre drei
verschiedene Phasen festhalten, in denen sich die soziale Situation der
illegalisierten MigrantInnen jeweils veränderte. Die erste Phase war die
der "spontanen ArbeitsmigrantInnen", die ohne große Probleme legalisiert
wurden und Arbeit fanden. In der zweiten Phase wurden nur bestimmte
Gruppen von illegalierten ArbeiterInnen zugelassen und ihnen die
Möglichkeit gegeben, sich selbst durchzuschlagen. Die dritte Phase erleben
wir jetzt: die Verdrängung und Ausweisung von illegalisierten
MigrantInnen.
Eine erste große Änderung in der Migrationspolitik begann in den 80er
Jahren. Nach der offiziellen Regierungslinie war Holland nunmehr kein
Einwanderungsland mehr. Die wirtschaftlichen Probleme am Ende der 70er
Jahre verursachten allerdings diesen Linienwechsel. Die alltägliche Praxis
sah jedoch anders aus. Tatsächlich gab es in dieser Zeit einige größere
Gruppe von Illegalisierter, die legalisiert wurden. Zum Ende der 80er
Jahre hin wurde dies allerdings durch eine mehr und mehr restriktive
Politik ersetzt.
Schon bevor die Zahl der Asylsuchenden zu Beginn der 80er Jahren
anstieg, bestanden schon leichte Restriktionen in der
Einwanderungspolitik. Allerdings veränderten sich Bedingungen deutlicher
mit dem Beginn der Diskussion zu den Schengen-Übereinkommen seit 1985. Die
Möglichkeit dieses Abkommens führte zu einiger Panik innerhalb der
Niederlanden. Man vermutete, daß aus anderen europäischen Ländern
Einreisende kommen würden, um "vom Sozialsystem und vom Wohlstand zu
profitieren"; vor allem aber meinte man, die Zahl der MigrantInnen würde
in dem Moment steigen, wenn die Grenzen fallen. Daher wurde 1989 eine
Sonderkommission gebildet, um diese Auswirkungen zu untersuchen und
effektive Kontrollen gegen die "Fremden" zu ergreifen. Nach zwei Jahren
machte diese Kommission u.a. folgende Vorschläge:
- stärkere administrative Kontrollen einzuführen, insbesondere bei den
sozialen Sicherheitssystemen;
- ein effektiveres Identifikationssystem einzuführen;
- mit neuen gesetzlichen Maßnahmen die illegal Eingereisten vom
sozialen Sicherungssystem auszuschliessen;
- hinter den faktischen Grenzen, insbesondere im Umfeld der größeren
Städte, sollen die Kontrollen verstärkt werden, indem Polizei und
Militärpolizei aufgerüstet werden.
Diese stärkeren administrativen Kontrollen erfordern eine effektive
Verwaltung, ein Projekt, an dem die Regierung bereits zu Beginn der 80er
Jahre interessiert war. Es gab zwei bedeutsame Entwicklungen: die
Umstellung der Computer-Registrierung auf ein städtisches Grunddatensystem
(GBA, nl.), die Umstellung der Registrierung bei der Fremdenpolizei zu
einem "Fremden-Verwaltungs-System" (VAS, nl.). 1991 wurden beide Systeme
verkoppelt. Es dauerte drei Jahre, um diese Datensysteme einsatzfähig zu
haben..
Eine dritte wichtige Entwicklung bezieht sich auf die Fiskal-Kennziffer
(SOFI); sie etablierte sich mehr und mehr zu einem tatsächlichen
Identifizierungscode in allen Registern. Bis zum 1. November 1991 war es
möglich, eine derartige Kennziffer dadurch zu erhalten, in dem man sich
als SteuerzahlerIn mit dem Pass auswies. Dadurch erhielt man die
Möglichkeit der legalen Arbeitssuche. Diese Arbeit wiederum ermöglichte
die Teilnahme am Steuersystem und an dem Sozialsystem. Illegalisierte
konnten dadurch nahezu legal werden. Die Tatsache, Steuern zu zahlen und
andere Beiträge, ermöglichte den Zugang zu Arbeitslosengeld,
Kindergeldunterstützung etc.
Seit dem 1. Nov. 1991 muß man sich - um eine Steuerziffer zu erhalten -
bei der Fremdenpolizei registrieren lassen. Damit war eine erste Hürde für
illegale MigrantInnen errichtet worden, um sich auf dem legalen
Arbeitsmarkt zu bewegen. Die zweite Hürde folgte ein Jahr später, nachdem
ein Flugzeug in Amsterdam in ein Wohngebiet abstürzte, in dem viele
MigrantInnen wohnten. Die städtischen Behörden waren überzeugt, daß in
diesem Gebiet, das nun zerstört worden war - man fürchtete über 200 Tote -
viele illegale MigrantInnen gewohnt hätten. Seitdem war es nicht mehr
möglich, sich im Einwohnerregister melden zu können, ohne nicht zuvor bei
der Fremdenpolizei eine Erlaubnis erhalten zu haben. Andere Städte
schlossen sich dieser Methode an. Diese Maßnahme bedeutet z.B., daß man
sich nicht mehr auf dem billigeren Teil des Wohnungsmarkts bewerben kann,
da dazu die Registrierung Voraussetzung ist.
1994 wurde ein neues Gesetz zur Identifikation eingeführt; damit wurden
in 25 weiteren gesetzlichen Grundlagen (z. B. im Finanzbereich, im
Sozialgesetz) Analogien entwickelt. Es wurde damit definiert, welche
Papiere für eine Identifizierung erforderlich sind. Das führte zu einer
Einschränkung illegaler Arbeit, "neue" illegale MigrantInnen sollten von
dem Sozialsystem ausgegrenzt werden. Hiermit wurden die psychologischen
Voraussetzungen geschaffen für andere, künftige Entwicklungen. Im gleichen
Jahr wurde eine neue Fremdenverordnung erlassen, die Datenabgleiche
zwischen GBA und VAS waren funktionsfähig. Somit waren die Bedingungen
geschaffen, um eine neue allgemeine Einwanderungsbeschränkung zu schaffen:
1998 wurde der Datenschutz ausgehebelt, damit wurden illegale MigrantInnen
vollständig vom Sozialsystem ausgeschlossen (zukünftig kann sich dies auch
auf legale MigrantInnen auswirken!). Zunächst wollte man alle, die keine
klare Aufenthaltsberechtigung habe, damit ausschliessen, d.h. die Mehrheit
aller Flüchtlinge der letzten 5 Jahre, die nach Holland kamen. Auch jene,
die legal einreisten, sollten bis zum endgültigen Entscheid über ihren
Aufenthalt davon ausgeschlossen bleiben. Es entwickelte sich jedoch
einiger Protest dagegen. So wurde, als das Gesetz am 1.7.1998 in Kraft
trat, eine Differenzierung vorgenommen. Ausgeschlossen waren alle, die
ohne Aufenthaltspapiere sind, und ansonsten entwickelte sich eine
Abstufung in 18 verschiedene Kategorien: abhängig von ihrem
Aufenthaltsrecht haben sie entweder keinen, einen begrenzten oder einen
allgemeinen Zugang zur Sozialunterstützung. Der Datenabgleich zwischen dem
Sozial- und dem Aufenthaltsgesetz kann durch alle lokalen Behörden,
Schulen, Versicherungssysteme etc. vollzogen werden. Sie alle können das
GAB/VAS-System befragen, um Auskunft über den Status zu erhalten. Das
System wird immer auf dem neusten Stand gehalten. Man kann also sagen, daß
sich hiermit ein Apartheid-Verwaltungssystem entwickelt hat.
Das Ausländergesetz von 1994
Die Pläne für ein neues Ausländergesetz reichen bis in die 60er Jahre
zurück. Die Tatsache, dass es 25 Jahre dauerte, um diese Reform
durchzusetzen, sagt einiges über den politischen Entscheidungsprozess in
den Niederlanden aus, gleichzeitig aber auch darüber, dass der Prozess der
Migration nicht in den Griff zu bekommen ist. Es gab großen Widerstand
gegen alle Vorschläge zur Änderung des Gesetzes. Er ging nicht nur von den
Organisationen der MigrantInnen, von Unterstützungs- und Aktionsgruppen
aus, sondern kam auch von WissenschaftlerInnen, RechtsanwältInnen und
sogar RichterInnen. Diese KritikerInnenkonstellation war in diesem Bereich
ziemlich neu. Das Gesetz wurde vom Parlament verabschiedet, aber einige
der neuen Bündnisse zwischen Gruppen und Einzelpersonen bestehen noch
heute und haben den Widerstand gegen zwei andere Gesetze bestärkt.
Auch gegen die Vorschläge zu einer Identitätspflicht am Arbeitsplatz
gibt es eine lange Geschichte des Widerstands. Deshalb war es
überraschend, dass nur wenige das Gesetz, das zum 1. Juli 1994 in Kraft
trat, bekämpften. Aus diesem Grund ergriff das Autonome Zentrum in
Amsterdam die Initiative und organisierte eine landesweite Kampagne.
Zentrales Thema dieser Kampagne war der Artikel des Gesetzes, der allen
Beschäftigten vorschrieb, dem Arbeitgeber Kopien ihres Passes zu
übergeben, um Kontrollen am Arbeitsplatz zu erleichtern. ArbeiterInnen,
die ihre Papiere nicht aushändigten, sollten in der höchsten Steuerklasse
besteuert werden, mit 60% ihres gesamten Bruttoeinkommens. Dieser Teil des
Gesetzes sollte ein Jahr nach seiner Verabschiedung in Kraft treten. Das
gab den GegnerInnen die Möglichkeit, gemeinsam dagegen zu protestieren,
dass er sich speziell gegen illegalisierte MigrantInnen richtete, die mit
falschen oder Papieren von jemand anderem arbeiteten. Die Kampagne begann
Ende 1994 und dauerte bis zum Sommer 1998. Sie hatte eine große
Öffentlichkeit, vor allem weil mit rechtlichen Mitteln gegen das Gesetz
angegangen wurde. Die höchste Aufmerksamkeit bewirkte hier das Urteil
eines Amsterdamer Gerichts, das entschied, dieser Teil des Gesetzes
verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Schließlich wurde
dieses Urteil 1998 durch den Holländischen Obersten Gerichtshof kassiert.
Diejenigen, die die Kampagne führten, entschieden sich dagegen, am
Europäischen Gerichtshof weiter gegen dieses Urteil anzugehen. Das
wichtigste Ergebnis der Kampagne war in jedem Fall, dass ArbeiterInnen mit
ganz verschiedenem Hintergrund sich entscheiden, bei der Jagd gegen
illegalisierte ArbeiterInnen nicht mitzumachen. Auch hier kamen neue
Bündnisse zustande. In einer großen Versammlung wurde plötzlich
grundsätzlicher über die Entwicklungen diskutiert. Solche Diskussionen
bewirkten, dass es gegen ein anderes Gesetz viele Gegeninitiativen gab:
gegen das Datenabgleichsgesetz. Von Anfang an zielte die Kampagne gegen
dieses Gesetz darauf, Initiativen im lokalen Bereich und in bestimmten
Berufsgruppen im Bildungs- und Gesundheitswesen anzustoßen.
Das Abgleichsgesetz war für die Gegner der niederländischen
Migrationspolitik ein Geschenk des Himmels. Tatsächlich brachte das Gesetz
nichts neues, es sollte eher die rechtliche Grundlage schaffen, damit das
Ausländergesetz auch in den meisten Gesetzen, die das
Sozialversicherungssystem regeln, zur Anwendung kommen konnte. Das war mit
einzelnen Verordnungen schon in den Jahren zuvor Schritt für Schritt
verwirklicht worden. Nun aber gab das Abgleichsgesetz seinen Gegnern die
Möglichkeit, das ganze Ausmaß der Umstrukturierung sichtbar zu machen und
nicht nur einzelne Teile. Es wurde zwar verabschiedet, doch bis heute
protestieren lokale Behörden gegen das Gesetz und weigern sich, es
auszuführen.
Überlebensstrategien
Der Datenabgleich in Verbindung mit den computerisierten
Registrierungen machte für die illegalisierten MigrantInnen die meisten
der legalen Strategien für das Überleben zunichte. Durch andere Methoden
wie z.b. der Erlangung einer Sozialversicherungs-Kennziffer waren die
Möglichkeiten bereits eingeschränkt worden, aber es gab dagegen noch
formale Strukturen. Diese wurden nunmehr aufgelöst, da insbesondere die
Identifzierungsforderung die Grauzone zwischen legalen und illegalen
Formen der Unterstützung zunichte machte.
Nunmehr können Illegalisierte nicht mehr ein "legales Leben" führen.
Allerdings gab es unerwarteterweise einige Widersprüche. Z.b. befürchtete
die Amsterdamer Polizei, daß bislang relativ offene Strukturen in den
Communities sich gegenüber der Gesellschaft dadurch abschliessen könnten,
damit wären die Möglichkeiten der Transparenz enorm erschwert worden.
In der Grauzone zwischen einer vollständig legalen und einer anderen,
vollständigen illegalen Struktur ist noch vieles möglich, auch trotz der
Versuche der Regierung, diese Bereiche so umfassend wie möglich zu
separieren. Beispielsweise kann man noch seine SOFI-Kennziffer an eine
andere Person "ausleihen"; man kann noch gültige Dokumente erhalten,
wenngleich auch die Preise dafür gestiegen sind; es gibt immer noch
Unternehmen, die nicht nach dem Status der MigrantInnen fragen. Selbst die
größte Zeitung der Niederlande - der rechtsgerichtete "De Telegraaf" -
könnte nicht ohne Unterstützung der Illegalisierten jeden Morgen
ausgeteilt werden. Jedoch gehören derartige Beispiele nicht mehr in den
gewöhnlichen Bereich, es handelt sich dabei eher um Ausnahmen.
MigrantInnen ohne Ausweise sind mittlerweile vollständig aus dem
offiziellen Sektor ausgegrenzt. Sie bilden einen mobilen und durchaus
vielfältigen Sektor, aber außerhalb des offiziellen Arbeitsmarkts und
Wohlfahrtssystems. Von der Arbeit allein können sie nicht leben, von
Sozialunterstützung schon gar nicht. Innerhalb ihrer Communities bilden
sie selbst eine AussenseiterInnen-Position hinsichtlich des dort
angegliederten (informellen und illegalen) Arbeitsmarkts. Sie lassen sich
aber nicht als "Unterklasse" bezeichnen, da sie keinen legalen Status
haben und in einem "vorkapitalistischen" Lohnsektor arbeiten. Auch
hinsichtlich der sozialen und psychologischen Auswirkungen ist hier
folgendes zu nennen: der illegale Status überschattet den gesamten
sozialen Bereich. Sie müssen sich vor anderen verstecken, da sie Gefahr
laufen, daß ihr Status bekannt werden könnte. Daher verläuft ihr Alltag
grundsätzlich unterschiedlich: sie müssen sich mit Cover-Geschichten
sichern, sich in der Öffentlichkeit bewegen lernen und gegenüber der
Bürokratie und der staatlichen Autorität verhalten können.
Frank Düvell: "Viele Menschen gehen nach England, wir reden darüber
recht oft und so bin ich halt auch gegangen." Papierlose in England1
Die Grundlagen der Einwanderungs- und Asylpolitik sind im Immigration
Act 1971, dem Nationality Act 1981 und dem Asylum and Immigration Appeals
Act 1993 festgeschrieben. Die britische Immigrationskontrolle konzentriert
sich vor allem auf die Einreisekontrolle; England ist nicht Mitglied der
Schengenstaaten und kontrolliert sämtliche Aussengrenzen mit der EU
konsequent, nur die Einreise über Irland und Nordirland ist weniger stark
reguliert. Eine Visapflicht (pre-entry clearance) gilt für derzeit rund
120 Staaten. Aufgrund der starken antirassistischen Bewegung und Kultur
sind Aufenthaltskontrollen innerhalb des Landes, die sich vor allem an
Nicht-Weiße richten würden, ein heißes Eisen. Seit Jahrzehnten laufen
Initiativen gegen jedwede Form interner Kontrollen Sturm, die
Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzgebung bildet in der Tat
ein wirkungsvolles Instrument und droht hohe Strafen an. Dennoch ist
dieser Trend seit dem Abebben des 'schwarzen'2
Kampfzyklus rückläufig.3 Obwohl also die offizielle Version nach wie vor lautet, "der Fokus der
Einwanderungskontrolle war und bleibt ganz klar die Grenzkontrolle" hält
Gordon fest "interne Kontrollen sind haben an Bedeutung gewonnen ".4 Im
Vergleich mit den Einreisekontrollbehörden an den Grenzen sind die
internen Aufenthaltskontrollbehörden jedoch nur schwach besetzt und
ausgerüstet.
"Du kannst dich hier frei fühlen und frei sein. Nicht wie in
Deutschland, das ist ein Land, das auf einem Polizeiregime basiert. Ich
bin vorher in Deutschland gewesen, die Polizei würde dich dort überall
anhalten und nach deinem Pass fragen und überhaupt viele Fragen stellen,
was du machst und so. Du hast keine Probleme einzureisen, aber dann geht
es schon los, du wirst überall beobachtet".(Zbigniew). Seit Anfang der
90er Jahre werden jedoch in diversen Behörden administrative Hürden
eingebaut, die Sozial- oder Dienstleistungen an den Aufenthaltsstatus
koppeln. Seit 1997 besteht auch für Arbeitgeber die Pflicht, sich Papiere
vorlegen zu lassen, aus denen die Arbeitsberechtigung hervorgeht. Die
Beschäftigung von MigrantInnen ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis ist
seit 1997 eine Straftat. Bisher hatten die internen Kontrollbehörden
irreguläre Einwanderer mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip entlarvt.
Die meisten werden durch Informationen Dritter identifiziert, seit einigen
Jahren setzt die Behörde allerdings auf Sondertrupps. New Labour hat 1998
der Verfolgung und konsequenten Abschiebung von abgelehnten Asylsuchenden
oberste Priorität eingeräumt.
Bis 1996 wurde der Umgang mit Flüchtlingen einigermaßen liberal
gehandhabt, Restriktionen galten eher der Einreise - Visabestimmungen und
die Transportunternehmer-Strafe - als jenen, die es einmal ins Land
geschafft hatten. Flüchtlinge hatten die freie Wahl der Niederlassung,
Anspruch auf volle Sozialleistungen und öffentlichen Wohnraum oder
Wohngeld, sowie eine Arbeitserlaubnis. Die Behandlung von Flüchtlingen im
Lande wurde schlussendlich 1996 mit dem neuen Asylum and Immigration Act
und den Social Security (Persons from abroad) Miscelleneous Amendment
Regulations 1995 enorm verschärft. Zum einen wurde zwischen an der Grenze
und im Land gestellten Asylanträgen unterschieden und all jenen, die erst
nach der Einreise einen Antrag stellten, jegliche soziale Unterstützung
komplett verweigert. Der beabsichtigte Abschreckungseffekt hatte zur
Folge, dass tatsächlich 25 % weniger Flüchtlinge einen Asylantrag
stellten, im Jahr 1996 nur noch 29.000. Erst Präzedenzurteile des High
Court verpflichteten die lokalen Behörden zur Anwendung des National
Assistance Act von 1948, wonach Bedürftige mit Unterkunft und Verpflegung
zu versorgen sind. Alle Stadträte nahmen dies wörtlich, bringen
Asylsuchende in Hostels, Bed&Breakfast oder auch in Sammelunterkünften
unter und stellen ihnen Essensmarken aus, darüber hinaus werden keinerlei
Leistungen eingeräumt, keinerlei Bekleidung, Bettzeug, nichts, dies blieb
den Kirchen und anderen humanitären Organisationen überlassen. Etwa die
Hälfte aller Asylsuchenden ist davon betroffen. Auf der anderen Seite
wurde das uneingeschränkte Arbeitsrecht kassiert, erst nach sechs Monaten
können sie einen Antrag auf eine Arbeitserlaubnis stellen, deren
Bearbeitung dann mindestens weitere sechs Monate dauert. New Labour
übernahm diese Regelung entgegen aller Hoffnungen zunächst, brachte
allerdings 1998 einen Gesetzesentwurf, ein White Paper on Asylum and
Immigration ein, dass unter dem vorangestellten Motto, "Fairer, strenger,
schneller" nichts anderes als eine Kopie des deutschen Modells darstellt:
Umverteilung, Sammelunterkünfte, semi-staatliche Betreiber und
Vollverpflegung.
Zur Arbeitssituation von MigrantInnen in Groß-Britannien
In London hat sich eine ausgedehnte Schattenökonomie entwickelt, in der
Engländer, Schwarzarbeiter, Sozialhilfeempfänger, Studenten, Migranten
oder "Illegale" Arbeit finden. Dieser Prozess ging einher mit der
neo-liberalen Deregulierungsstrategie des Thatcherismus. Es ist eine
allgemein bekannte Tatsache, dass Sozialleistungsempfänger ihre mageren
Zuwendungen mit allerlei zusätzlicher Arbeit aufbessern, oder dass niedrig
entlohntes Personal Zweit- und Drittjobs macht. Möglich ist dies zum im
Bausektor, in den Hotels in West-London, in der Reinigung von Bürogebäuden
in Nordost-London, in der Textilindustrie mit allein 1.500 Betrieben und
Klitschen, in der Gastronomie in Nord und Ost-London, sowie in den
unzähligen take aways. Dazu kommen Jobs in Großbäckereien, auf
Tankstellen, in KFZ-Werkstätten oder als Fahrer. Tatsächlich sind ganze
Industriezweige, insbesondere die Textilproduktion, aber auch Chemie- und
Kunststoff aus der Dritten Welt nach England zurückgekehrt, seit dort
marktnah, flexibel und billig produziert werden kann. "Renewing the
industrial past" wird dies genannt, die Erneuerung frühkapitalistischer
Arbeitsbedingungen und Löhne geht damit einher.5 Neben London trifft
dies auch auf die Ballungsräume Manchester und Birmingham zu.
New Labour ist nun aber angetreten mit einem Re-Regulierungsprogramm.
Die Massnahmen reichen von Einschränkungen unternehmerischer Freiheit, der
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns bis hin zur verschärften
Bekämpfung des sogenannten Sozialleistungsmissbrauchs. Die damit
verbundenen neuen sozialpolitischen Prinzipien erhöhen die den Zwang zur
Arbeit beträchtlich, eher wird Niedriglohnarbeit subventioniert statt
Nichtarbeit zu finanziert. Insbesondere die Kontrollen der
Sozialhilfebetrugsdezernate (Benefits Agency Benefit Fraud Intelligence
Service) schränken auch die Möglichkeiten für irreguläre Migranten
ein.
Aus Interviews mit MigrantInnen aus Polen geht hervor, dass etliche von
ihnen von bereits in England lebenden, Familienangehörigen, Freunden oder
sogar Agenturen angeworben wurden. Die meisten, die wir getroffen haben,
hatten bereits irgendeine Art von Kontakten in England. Sie alle fanden
innerhalb von wenigen Tagen eine Arbeit, meistens durch Vermittlung von
Freunden, diejenigen, die nicht bereits in Polen für einen Job geworben
worden waren, fanden Anzeigen in polnischen Geschäften.
Die allermeisten Anstellungen erfolgen in der Textilindustrie, gefolgt
vom Bausektor, der Gebäudereinigung und im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Es gibt auch Prostitution, vor allem in den Hinterzimmern von Cafes und
Restaurants. Außerhalb Londons arbeiten viele in der Landwirtschaft.
Von den Arbeitsbedingungen in den betrieben zeigen sich viele
geschockt:
"Es war entsetzlich in dieser Fabrik sein zu müssen, in dieser Kälte",
"kein Mensch in Polen arbeitet so viele Stunden." Die Löhne ihrer ersten
Jobs liegen anfangs zwischen umgerechnet DM 270 und DM 360 wöchentlich
oder zwischen DM 4.50 und DM 7.50 Stundenlohn.6 Die meisten schaffen es
dann aber, besser entlohnte Jobs zu finden, für DM 10.50 bis DM 18
Stundenlohn in einer Textilfabrik oder DM 900 wöchentlich für
Wohnungsrenovierungen.
Insbesondere neue MigrantInnen werden nicht selten betrogen, Leute
werden auf Probe eingestellt, arbeiten zwei Wochen unbezahlt oder erhalten
eine extrem niedrige Vergütung und werden schlussendlich doch nicht
angestellt. Dazu ein Beispiel: "Ein Arbeiter ging zu einer Baustelle und
fragte, ob er einen Job bekommen könnte und der Vormann sagte, er könne
morgen früh anfangen, aber nur 5 Stunden am Tag arbeiten, verspricht ihm
eine 14-tägige Bezahlung. So arbeitete er also 14 Tage, und als er die
folgende Woche hinging, fand er heraus, dass die Firma, für die er
arbeitete, ihre Arbeit beendet hatte und dass da jetzt eine andere Firma
war, die die Elektrik machte. Den, den er daraufhin ansprach, sagte, wir
hatten eine Firma hier, wir haben kleine Subunternehmer und an die, von
denen du redest, erinnern wir uns nicht".(Flüchtlingszentrum).
Etwa die Hälfte von befragten TürkInnen und KurdInnen hatten politische
Gründe, die Türkei zu verlassen, eine ganze Reihe gaben allerdings keine
politischen Gründe an. Sie wollen Englisch lernen, als Studenten oder Au
Pairs, um in der Türkei bessere Jobs zu bekommen dies erzählten vor
allem Frauen - , wollen sich allgemein verbessern oder flohen vor Armut.
Bezüglich ihrer Einreise erzählten sie sehr komplexe Geschichten, sie
kamen mit falschen Papieren, geliehenen Papieren, einige hatten
Fluchthelfer, andere bezahlten hohe Summen an Agenten. Ein Drittel waren
Asylsuchende, ein Drittel StudentInnen, andere Au Pairs oder TouristInnen.
Etliche haben ihren Status gewechselt, kamen als TouristInnen oder als
StudentInnen und stellten dann Asylanträge.
Die befragten Au Pairs haben allesamt die Familien, denen sie zugeteilt
worden waren, nach wenigen Monaten verlassen. Sie beschwerten sich, dass
sie zuviel arbeiten mussten, dass sie gar nicht dazu kamen, Englisch zu
lernen, aber auch über sexuelle Belästigung. Sie suchten sich nach im
schnitt drei Monaten einen andren Job und eine eigene Unterkunft. Dies ist
- sofern die Familien sie nicht anzeigen - ein sicheres Unterfangen, da
sie als Au Pairs legal eingereist sind, eine Aufenthaltserlaubnis von bis
zu zwei Jahren haben und auch eine Sozialversicherungsnummer bekommen, mit
der sie im Prinzip überall arbeiten können.
Studenten haben nur ein eingeschränktes Recht zu arbeiten. Sie erhalten
dazu eine Sozialversicherungsnummer. Auch Asylsuchende können nach sechs
Monaten eine Arbeitserlaubnis und eine Sozialversicherungsnummer
beantragen, faktisch müssen sie aber sehr viel länger darauf warten, 12
bis 16 Monate lang. Nach Ablauf der Aufenthaltsfrist oder nach verlorenem
Asylverfahren entscheiden sich viele, im Land zu bleiben. Viele haben aber
während ihrer legalen Phase eine Sozialversicherungsnummer und eine
Steuernummer bekommen, die sie anschließend weiter benutzen, Arbeitgeber
oder Sozialbehörden müssen annehmen, es handelt sich um gänzlich legale
Personen, eine Regelüberprüfung bei der Innenbehörde oder eine
Passkontrolle wird nicht vorgenommen. Dies geschieht nur, wenn
Sozialleistungen beantragt werden, nicht jedoch bei der Arbeit. Auch
Führerscheine, die während der legalen Phase gemacht werden, können später
als Ausweispapiere genutzt werden.
Viele MigrantInnen aus der Türkei arbeiten hauptsächlich in zwei
Sektoren, der Textilindustrie und im Gaststättengewerbe, in Kebab Shops,
Cafes, Burger-Bars, aber auch in kleinen Supermärkten, ein paar machen
Putzjobs oder arbeiten auf Baustellen. Die Jobs sind im allgemeinen
unsicher und befristet, teils müssen sie sich auf Teilzeitarbeit
beschränken, teils sind sie zwischendurch mehr oder weniger lange
arbeitslos. Die Löhne bewegen sich auf ähnlichem Niveau wie bei den
polnischen MigrantInnen, allerdings ohne die Tendenz, sich im Laufe der
Jahre zu verbessern. Unabhängig vom Aufenthaltsstatus oder der
Aufenthaltsdauer bleiben TürkInnen und KurdInnen in der niedrig entlohnten
Schattenökonomie hängen und machen unabhängig vom Status die selben Jobs,
sind also entweder irreguläre oder Schwarzarbeiter.
Wie sieht die Kontrolle seitens der öffentlichen Dienste aus?
Der öffentliche Dienst ist ein stark deregulierter Niedriglohnsektor.
Es handelt sich nicht um Beamte, sondern um Angestellte, ein hoher
Prozentsatz, bis zu 50 %, sind selbst Schwarze. Im ständigen Neuregelungen
unterliegenden Asylsektor werden viele Angestellte gar über
Zeitarbeitsagenturen beschäftigt. Im öffentlichen Dienst herrscht eine
ausgeprägte, aber nicht lückenlos von der Antidiskriminierungsgesetzgebung
geprägte, antirassistische Kultur. Die Angestellten im öffentlichen
Dienst, insbesondere Sozialarbeiter, werden in diesem Bewusstsein
ausgebildet. Daneben bestimmt die an den bürgerlichen Freiheiten
orientierte Praxis, dass dem Wort eines Antragstellers geglaubt wird. Nach
Papieren wird nur bei bestimmten Vorgängen gefragt, ein Datenabgleich mit
anderen Behörden findet aus datenschutzrechtlichen Gründen ohnehin kaum
statt und es dauert, wenn überhaupt, Monate, ehe eine Antwort vorliegt.
Gesetze und Verordnungen werden regelmäßig zugunsten von Klienten
ausgelegt. Einzelne Einwanderungsbeamte sehen darin schlichtweg
Korruption:
"Wenn du von Nigerianern sprichst, denkst du sofort an
Betrug und Korruption, und dass sie losgehen und Institutionen
infiltrieren und von dort Entscheidungen beeinflussen".
In vielen
Behörden gilt als Praxis oder sogar Verordnung, dass entweder gar nicht
mit der Einwanderungsbehörde kooperiert wird oder aber ihr zumindest keine
Verdächtigen gemeldet werden.
"Wir sind nicht die Polizei in dieser
Sache", "wir überwachen sie nicht", "schließlich sind wir keine
Ermittlungsbehörde", "wir sind nicht verpflichtet, die Innenbehörde zu
informieren".
Als 1996 das Innenministerium mit anderen Behörden um
Kooperationsvereinbarungen verhandelte - staatliche Stellen weisen ein
jeweils hohes Maß an Autonomie auf - wurde dieses Ansinnen von nahezu
allen Behörden abgelehnt. Es gibt in diesem Zusammenhang eine Reihe von
Gewerkschaftsbeschlüssen - NATFE (Lehrer in der Weiterbildung) und UNISON
(Gewerkschaft im Öffentlichen Dienst), die generell aufenthaltsrechtliche
Kontrollen durch Angestellte öffentlicher Behörden ablehnen, und
Angestellte, die dies verweigern bis hin zum Streik unterstützen würden,
in dem Sinne:
Einwanderungskontrolle ist die Arbeit von
Einwanderungsbeamten, Sozialarbeit ist die Aufgabe von Sozialarbeitern,
also sollen Sozialarbeiter nicht die Arbeit von Einwanderungsbeamten
machen.'
Soweit ist es jedoch noch nie gekommen.
Viele Angestellte
haben Verständnis für beispielsweise illegale Arbeit, weil sie um die
niedrigen Sozialleistungen wissen. Statt einer Anzeige werden MigrantInnen
verwarnt und ihnen damit signalisiert Vorsicht, du bist entdeckt'. Sie
werden auch schon mal aufgefordert, zuviel erhaltene Leistungen
zurückzuerstatten, aber erzwungen oder eingetrieben werden die Gelder
nicht.
Die geringsten Probleme bestehen im Gesundheitswesen, jeder kann
sich bei einem Hausarzt registrieren lassen, die Vorlage von Papieren wird
nicht verlangt. Bei Unfällen oder in Notfällen findet überhaupt keine
Personalienüberprüfung statt, wenn, dann wird der Status abgefragt, aber
keine Papiere verlangt. Wenn, wie auch immer, offenkundig wird, dass eine
Person nicht in England sozialversichert ist, so werden Leistungen nicht
verweigert, wohl aber Rechnungen ausgestellt. Es gibt allerdings auch hier
wenig Bemühungen, die Gelder einzutreiben.
Kämpfe
Anfang der 80er Jahre gelang es einer Organisation von Tausenden von
philippinischen Hausangestellten (Kalayaan), ihre Illegalisierung und
Abschiebung erfolgreich zu verhindern.
Im Grunde sind auch alle Anti-Abschiebungskampagnen Kämpfe gegen
Illegalisierung, Kämpfe für einen legalen Aufenthalt und Kämpfe von
bereits Illegalen, sie werden allerdings nicht als solche verstanden.
In jüngster Zeit hat es mindestens zwei Streiks von türkischen und
kurdischen Arbeitern in der Fast Food und in der Textilindustrie in
Nord-London gegeben, bei JJ Fast Food 1995 und bei Euroscene 1996. Die
nicht voll anerkannte, mehr oder weniger türkische Textilbranche der
Transport and General Workers Union hatten grossen Anteil an dieser
Mobilisierung. Zwar vermieden die Flugblätter und Artikel jeden Hinweis
auf den Immigrationsstatus, doch war offenkundig, dass viele der
Streikenden entweder keine Arbeits- oder keine Aufenthaltserlaubnis
hatten. Obwohl die Polizei die Streikketten überwachte, wurden keine
ernsthaften Versuche unternommen, gezielt Illegale herauszugreifen.
Die Arbeit der Flüchtlingsunterstützungsgruppen
Es gibt drei Typen von Initiativen, Asylberatungsstellen, staatlich
gefördert oder unabhängig, Selbstorganisationen bestimmter politischer
oder ethnischer Gruppen und Kampagnen. Einige beschränken sich auf
Sozialarbeit, andere agieren nur politisch, die meisten aber kombinieren
Sozialarbeit mit politischer Arbeit. Die staatlichen und städtischen
Geldgeber sind bemüht, die kämpferischen Anteile zugunsten reiner
Dienstleistung - Beratung und Soforthilfe - zurückzudrängen und sich
Initiativen in das System von Verwaltung und Behandlung von MigrantInnen
einzuverleiben.
Die Initiativen, wie auch die MigrantInnen selbst, gehen mehr oder
weniger geschlossen von einer Funktionalität irregulärer Arbeit für die
britische Gesellschaft aus.
Die meisten Initiativen wissen nicht, wie sie in Fällen irregulärer
Einwanderung oder Aufenthalts helfen könnten. Sie empfehlen dann meist,
einen Asylantrag zu stellen. Eine andere Möglichkeit ist, einen an den
Staatssekretär gerichteten Antrag auf "compassionate grounds", auf ein
Bleiberecht aus humanitären Gründen zu richten. Einige, besonders private
Dienste, verweisen auf die Möglichkeit einer Heirat.
Razzien werden aber vor allem durch die lokalen Kräfteverhältnisse und
seit den Riots der 80er Jahre durch die Furcht vor Aufständen in den
schwarzen' Wohnvierteln begrenzt.
Anmerkungen
1 Der Aufsatz basiert auf einer zwischen 1996 und 1999 an der
University of Exeter von Bill Jordan und Frank Düvell erhobenen Studie mit
dem Titel "Undocumented immigrant workers", die sich auf polnische und
türkisch oder kurdische MigrantInnen ohne Arbeits- oder
Aufenthaltserlaubnis in Ost-London konzentrierte, sowie auf alle
gesellschaftlichen Institutionen, mit denen sie Berührungspunkte haben.
Insgeamt wurden rund 100 Interviews geführt, 50 mit MigrantInnen, 25 mit
Beratungsstellen und UnterstützerInnengruppen, 15 mit Behörden des
öffentlichen Dienstes und 7 mit der Einwanderungsbehörde. Allen wurde
Vertraulichkeit zugesichert, deshalb werden (Orts- oder Organisations-)
Namen nicht genannt. Weitere Veröffentlichungen der Ergebnisse folgen in
Kürze. <zurück zum text>
2 'Schwarz' ist ein politischer Begriff, der nicht auf die Hautfarbe
abzielt, sondern wie rot oder braun eine politische Bedeutung hat, die
sich auf all jene bezieht, die von Rassismus betroffen sind. <zurück zum text>
3 Schon mit Beginn der überseeischen Einwanderung begann die Bildung
'schwarzer' Communities, strukturiert von einem Netz von
Selbsthilfeinitiativen und Kampagnen gegen Benachteiligung,
Chancenungleichheit, Polizeischikane und Rassismus. Linear spitzte sich
der Konflikt zu, bis er zwischen 1975 und 1986 in eine Phase anhaltender
Revolten und Aufstände (Riots) einmündete. Die Regierung wurde zu einer
Reihe von Konzessionen und Richtungsänderungen gezwungen, die das Leben
der etablierten Minderheiten stark verändert haben, damit einher ging
jedoch ein Bedeutungswandel und Verlust 'schwarzer' Kampftradition. <zurück zum text>
4 National Audit Office(1995): Entry into the United Kingdom, London,
S. 14); Gordon, P.; Klug, F.(1985): British immigration controls, London,
S.17) <zurück zum text>
5 Werbner, P.(1990): Renewing an industrial past: British Pakistani
entrepeneurship in Manchester, in: Migration, berlin, 8/1990, S. 7 -
41 <zurück zum text>
6 Der Wechselkurs zwischen 1997 und 1999 lag bei rund 1:3, £ 1
entspricht 3 DM, dies ist jedoch recht hoch, das Pfund neigt zum Fallen,
dann sinkt in Relation zu Polen auch der Lohn. <zurück zum text>
Link zur Kampagne:
http://www.contrast.org/borders/indexeu.html