Online-Aktivismus: Vom virtuellen Sit-In bis zur digitalen Sabotage

von Anne Morell

Salzburg, Göteborg, Genua - wo immer die Elite aus Wirtschaft und Politik im neuen Jahrtausend sich zu einer Tagung zusammenfand, das gleiche Bild: schwerbewaffnete Ordnungskräfte abgeschirmte Kongresshallen, davor die Wracks umgestürzter Autos, wütende DemonstrantInnen und gepanzerte Polizisten. Angesichts dieses Panoramas soll der nächste Gipfel der reichsten Industriestaaten im Juli 2002 nicht in einer repräsentativen Weltstadt sondern in einem abgelegenen Dorf des kanadischen Hochgebirges stattfinden. Mit dem Rückzug der Mächtigen in die Eiswüste allerdings wollte sich die Weltbank nicht abfinden: Man verlegte die Jahrestagung unter dem kontroversen Titel "Globalisierung, Reichtum und Armut" vom vorgesehenen Tagungsort Barcelona kurzerhand in die Welt des Virtuellen. Während sich also am 25. Juni 2001 tausende GlobalisierungsgegnerInnen und Polizisten in der katalanischen Metropole schlugen, fand - von der Öffentlichkeit fast unbeachtet - erstmals eine internationale politische Konferenz im Cyberspace statt.

Virtuelle Sit-Ins

Wer nun allerdings meinte, die Global Players hätten die Militanten durch technische Überlegenheit ausmanövriert, irrt. Schon als im November 1999 in Seattle ein als harmlos eingestufter Protestmarsch gegen die Freihandelspolitik der Welthandelsorganisation (WTO) zu einer dreitägigen Schlacht und zur öffentlichen Initialzündung der Antiglobalisierungs- bewegung geriet, waren die DemonstrantInnen online. Das erste von inzwischen weltweit 30 Independent Media Centers - deren freie Autoren, mit Laptop und Handy ausgerüstet, schnell und unabhängig von Protestaktionen berichten - wurde hier gegründet. Zusätzlich fand schwerwiegende Kritik ihren Weg von einer originalgetreuen Kopie der WTO-Webseite in die interessierte Öffentlichkeit. Das Fake der Künstlergruppe RTMark wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht die echten Seiten der Handelsorganisation so langsam aufzurufen gewesen wären: in den drei Tagen der Konferenz belasteten knapp 500.000 UserInnen den WTO-Server durch gezielte automatisierte Anfragen - ein virtuelles Sit-In, zu dem eine fünfköpfige britische Gruppe mit dem bizarren Namen electrohippies aufgerufen hatte.

Die nicht abreißende Serie von Großdemonstrationen gegen die neoliberale Wirtschaftsordnung wird seitdem regelmäßig von Netzaktionen begleitet: Während der Tagung des Internationalen Währungsfonds IMF im September 2000 in Prag fand ein weiteres virtuelles Sit-In statt, dieses Mal organisiert von der Federation of Random Action aus Frankreich und der australischen Gruppe S11 . Und als die schweizerische Polizei, aufgeschreckt durch die Szenen in der tschechischen Hauptstadt, im Januar 2001 das Weltwirtschaftsforum in Davos vorsorglich hermetisch abriegelte, durchbrachen anonyme Hacker symbolisch die Absperrung: Aus einem Hotelcomputer stahlen sie Kreditkartennummern der teilnehmenden Staatspräsidenten und Wirtschaftskapitäne, darunter pikanterweise auch jene des Microsoft-Chefs Bill Gates. Bei dieser Vorgeschichte ist es kaum verwunderlich, dass eine verunsicherte Weltbank-Sprecherin die im Vorfeld der Cyberkonferenz kursierenden "Netwar"-Aufrufe mit ernster Miene kommentierte: "Einem massiven Angriff können wir nicht standhalten". Aber dieses Mal blieb es bei Straßenprotesten.

Elektronischer Ziviler Ungehorsam

Dass eProtest die unweigerliche Antwort auf eCommerce und eGovernment sein wird, ist erst in der Zeit der gesellschaftlichen Verallgemeinerung des Internetzugangs vorstellbar geworden: Chatrooms und allerlei Interaktivität machen die Erkenntnis nachvollziehbarer, dass die Welt im Internet nicht nur eine Repräsentationsfläche findet, sondern Cyberspace eine weitere gesellschaftliche Sphäre sein könnte. Der virtuelle Raum wird, die beschleunigte Abstraktion gesellschaftlicher Beziehungen ausdrückend, zum neuen Marktplatz - und zur weiteren Arena sozialer und politischer Konflikte.

Noch vor zehn Jahren war eine Cyberkonferenz mitsamt virtueller Gegendemonstrationen Science Fiction. Der Aufruf zum "Elektronischen Zivilen Ungehorsam", den die US-amerikanische KünstlerInnengruppe Critical Art Ensemble 1993 verfasste, las sich dementsprechend prophetisch: "Die Macht der Elite, die ihre nationale und urbane Basis verlassen hat, um auf elektronischen Pfaden zu wandeln, kann nicht durch Strategien gebrochen werden, die von Auseinandersetzungen zwischen materiellen Kräften ausgehen. Die architektonischen Monumente der Macht sind leer (…). Diese Orte können eingenommen werden, aber das wird nicht den nomadischen Fluss unterbrechen."

Der theoretische Impuls zur Virtualisierung politischer Aktion kam aus den USA, das erste dokumentierte virtuelle Sit-In aber veranstaltete das italienische strano.net. Mit mäßigem Erfolg - das Internet war noch kein Massenmedium - protestierte man 1995 gegen französische Atomtests auf dem Pazifikatoll Mururoa. Drei Jahre später waren es wiederum US-AmerikanerInnen, die eine Anregung der italienischen PionierInnen aufnahmen und das erste Script für virtuelle Sit-Ins schufen. In Reaktion auf ein paramilitärisches Massaker gegen aufständische ZapatistInnen sollte die Webseite des mexikanischen Präsidenten durch wiederholtes, zeitgleiches und massenhaftes Aufrufen belastet werden. Die Idee war einfach: Die exzessive Ausnutzung der Aktualisieren/Neu Laden-Funktion in den eigenen Webbrowsern werde den Server des Präsidenten mit Anfragen überlasten, so dass zunächst die Ladezeit verlangsamt würde, bis der Server schliesslich nicht länger antworten könnte.

Die aus dem Critical Art Ensemble hervorgegangene Netzkunstgruppe Electronic Disturbance Theater (EDT) automatisierte dieses Grundprinzip durch ein einfaches JavaScript namens Zapatista Tactical Floodnet System" - die anvisierte Webseite wurde nun automatisch und permanent in drei parallelen Fenstern geladen. Eine weitere Neuerung des Floodnet war das Ausnutzen der 404-Funktion, die UserInnen anzeigt, dass eine angefragte Internetseite nicht vorhanden sei. Mit dem Floodnet-script konnten Online-DemonstrantInnen den Server der mexikanischen Regierung systematisch nach Dateien wie "justice.html" fragen, um die 404-Funktion dazu zu zwingen, ein politisches Statement "justice.html is not found on this server" herauszugeben.

Cyberwar

Die Sit-Ins mit dem Zapatista Floodnet waren nicht auf das Zerstören von Servern ausgerichtet. Die EDT-AktivistInnen legten vielmehr Wert darauf, dass sie weder Daten und Hardware beschädigten noch in geschlossene Systeme eindrangen. Die massenhaft verteilten Anfragen sollten zu einer Störung des Datenflusses führen, der die globale Unterstützung für die Aufständischen elektronisch symbolisieren und Medienaufmerksamkeit für deren Anliegen erzeugen sollte. 1998 begann das EDT mit dieser Konzeption eine Serie von Sit-Ins gegen die mexikanische Regierung, die allerdings auf einen Diskurs trafen, der seinen Weg aus militärischen Think Tanks über universitäre Symposien in die Massenmedien gefunden hatten: information warfare.

Seitdem das Pentagon 1995 den Cyberspace neben Luft, Land, Wasser und dem Weltraum offiziell zum "battleground" erklärt und dementsprechende Kampfeinheiten aufgebaut hatte, ging ein Gespenst um in den Medien: cyberterrorism. Philippinische Teenager, die mit ein paar Befehlszeilen die amerikanische Wirtschaft lahmlegen und islamistische Terroristen, die aus den Bergen Afghanistans die Kontrolle über Atom-Uboote übernehmen - kein Szenario schien zu dramatisch.1

Diese Tendenz wurde noch verstärkt, als das EDT im September 1998 während des ars electronica Festivals zum Thema "information.macht.krieg" ein Sit-In auf den Servern der Frankfurter Wertpapierbörse, des Pentagon und der mexikanischen Regierung veranstaltete. Jetzt schlugen die Krieger zurück: die US-Armee hatte ein "hostalapplet" programmiert, dass für jeden Zugriff auf die Pentagon-Seite ein neues Browserfenster auf den feindlichen Rechnern öffnete, die in kurzer Zeit abstürzten. Kommentatoren wie der Infowar-Spezialist Winn Schwartau sahen darin - juristisch nicht abwegig - eine "verbotene Kriegshandlung gegen US-amerikanische Zivilisten".

Denial of Service

Armageddon! "Die Anarchisten der Zukunft werfen ihre unsichtbaren und zerstörerischen Bomben ab". Das neue Jahrtausend war gerade angebrochen, da sahen die Kommentarschreiber die Neue Weltordnung in Lebensgefahr. Vielleicht klangen die Typenbezeichnungen der Bomben - "trin00", "Stacheldraht" und "Tribal Flood Net"- furchterregend, doch handelte es sich um einfache Scripts für "Distributed Denial of Service-Attacks", mit denen am 06. Februar 2000 kommerzielle Anbieter wie yahoo oder amazon aus dem Netz geschossen worden waren. Anonyme Cracker waren in schlecht geschützte fremde Rechner eingedrungen und hatten die Scripts dort platziert. Zeitgleich ferngestartet, attackierten sie anschließend die Webserver der eCommerce-Portale mit massiven Anfragewellen. Und diese Bomben konnte sich, was die Gemüter nicht eben beruhigte, tatsächlich jeder Teenager herunterladen.

"Denial of Service", das nicht mehr beschreibt als das Geschehen, wenn ein Server durch Überlastung außer Funktion gesetzt wird, stieg über Nacht zum Synonym für eine allgemeine Bedrohung der Internet-Sicherheit durch unsichtbare "Hacker" auf. Mit "Distributed Denial of Service Attack" ist auch das virtuelle Sit-In technisch korrekt beschrieben. Die electrohippies allerdings wollten mit den Crackern nichts zu tun haben und skizzierten in einem Text: "Distributed Denial-of-Service: terrorist act or valid campaign tactic?" die Charakteristika, die virtuelle Sit-Ins von anonymen Serverattacken unterscheiden: Während ein einzelner Cracker durch das Benutzen fremder Gross-Rechner einen Server abschießen könne, beruhten die Sit-Ins auf der politischen Entscheidung tausender UserInnen, die "mit ihren Modems abstimmen", so die britischen AktivistInnen. Zusätzlich hoben die electrohippies hervor, dass politische Netzaktionen nicht anonym, sondern der Öffentlichkeit angekündigt, ihre Ziele und die OrganisatorInnen genannt werden.

Die klassischen Hacker unterdessen, die ganz zu Unrecht in den Medien als etabliertes Label für allerlei abweichende Nutzung von Computern gelten, stehen DoS-Attacken generell kritisch gegenüber. Während des ars electronica Festivals hatten holländische Hacker gar damit gedroht, das Zapatista Floodnet zu sabotieren. Die Gründe der Ablehnung erklärte in einer Antwort auf die electrohippies exemplarisch The Cult of the dead Cow: unabhängig ihrer Motivation, so die US-Hacker, seien alle DoS-Attacken "Missbrauch von Bandbreite", der den freien Informationsfluss im Internet störe und eine Verletzung des Rechts auf Informationsfreiheit darstelle.

Online-Demonstration

Am 1. Januar 1999 hatte das EDT den Quelltext des Zapatista Floodnet veröffentlicht. Dank des Softwarebaukastens "Disturbance Developer Kit" war es unter sozialen Bewegungen und linken politischen Gruppen zu einer rasanten Zunahme virtueller Sit-Ins gekommen: queer nation protestierten online gegen die die Schwulenhasser godhatesfags.com, die Animal Liberation Front setzte Pharmakonzerne unter Druck, US-Stadtteilgruppen veranstalteten virtuelle Blockaden derStarbucks-Kaffeehäuser.

Trotz dieser Verbreiterung und trotz der Bemühungen, dem elektronischen Protest demokratische Legitimität zu verleihen, blieb das Stigma des Cyberterrorismus an den Online-AktivistInnen haften. Die electrohippies, die gängige Datenverschlüsselung ablehnen, weil es ihnen den Ruf von Geheimniskrämerei einbringen könnte, müssen gar ein britisches Gesetz vom Februar 2001 fürchten, dass ihre Aktionen tatsächlich zu "virtuellem Terrorismus" erklärt.

Diese beunruhigenden wie faszinierenden Konnotationen steigerten die öffentliche Wahrnehmung immens - eine digitale Unterschriftensammlung hat schließlich so wenig Newswert wie eine Mahnwache. Dass die Mechanismen des kapitalistischen Informationsmarktes den AktivistInnen nicht fremd sind, zeigten etwa das antirassistische Netzwerk kein mensch ist illegal und die Solidaritätsgruppe Libertad!. Unverhohlen aggressiv drohten sie, den Webserver der Fluglinie Lufthansa aus dem Netz zu schießen: "Lufthansa goes offline!", worauf das Justizministerium in Pawlowscher Manier mit fünf Jahren Haft wegen Computersabotage drohte. Als die AktivistInnen aber in entwaffnender Offenheit per email beim Ordnungsamt Köln vorstellig wurden, um eine Demonstration gegen Abschiebeflüge anzumelden ("Versammlungsort: http://www.lufthansa.com"), lachten die Medien über die bornierte Mentalität der Behörden, die sich das email hin- und herreichten wie eine heiße Kartoffel und kleinlaut etwas von "Regelungsbedarf" sagten.

Die AbschiebegegnerInnen pochten im Brustton der Überzeugung auf das grundgesetzlich verbriefte Demonstrationsrecht, das auch im Cyberspace Geltung haben müsse, und verteilten in aller Öffentlichkeit Tausende hochgradig verschlüsselter Softwarepakete . Als am 20. Juni etwa 10 000 Online-DemonstrantInnen damit auf die Lufthansa-Seiten losgingen, war schon nach wenigen Minuten das Breitbandnetz der Fluglinie überlastet. Die Netzwerktechniker der größten deutschen Fluglinie hatten in der Folge alle Mühe, zumindest die graphische Oberfläche der Webseite aufrechtzuerhalten. In der Aggressivität der Ernsthaftigkeit des Anliegens Rechnung tragend und trotzdem im Rahmen des öffentlich Nachvollziehbaren verbleibend, setzte sich die Aktion von anonymen Denial of Service-Attacken ab, ohne zur virtuellen Adaption der Harmlosigkeit "friedlicher Proteste" zu verkommen. Eine Strafverfolgung zog die Sache trotzdem nicht nach sich - ein Faktum, auf das künftige DemonstrantInnen mit einigem Recht verweisen werden.

hacktivism

Statt wie bei bisherigen Online-Demonstrationen statische Webseiten abzufragen, attackierte die von kein mensch ist illegal und Libertad! entwickelte Online Protest Software, die inzwischen als Software-Baukasten zur Verfügung steht, zusätzlich interaktive Seiten: automatisch wurden tausende Kundenprofile generiert, mit denen DemonstrantInnen auf Lufthansa-Datenbanken zugriffen. Politisch ähnelte die interaktive Demonstrationstechnik einem unsichtbaren Theater: hatte man bislang draußen an die Tür geklopft, so waren die DemonstrantInnen jetzt ins Reisebüro eingetreten, wo nun 500 statt fünf KundInnen nach Flugverbindungen fragten - eine weitaus höhere Belastung des Servers.

Inspiration hatten die AbschiebegegnerInnen unter anderem im domain-name-Konflikt zwischen dem Online-Spielwarenversand etoys.com und der Schweizer KünstlerInnengruppe etoy.com gefunden. Als das eCommerce-Unternehmen sich im Herbst 1999 vor Gericht anschickte, die fremde domain an sich zu reißen, fand sich eine Koalition von KünstlerInnen und AktivistInnen zu einer wochenlangen Netzschlacht zusammen, um das Recht der Kunst gegen die Macht des Geldes zu verteidigen. In einem als virtuelles Spiel konzipierten "toywar" wetteiferten "toywar agents" darum, das feindliche Portal mit möglichst ausgeklügelten und originellen Kampagnen unter Druck zu setzen. Mit Erfolg: nachdem der Aktienkurs des an der Technologiebörse NASDAQ gelisteten Spielwarenversandes um 75% gefallen war, zog etoys seine Klage im Februar 2000 zurück und musste kurz darauf Konkurs anmelden. Der toywar gilt seitdem als Meilenstein des Netzaktivismus.

Dass sich Online-AktivistInnen nicht länger auf einfache Serveranfragen beschränken wollen, machte auch das zeitweilige Entwenden der Kreditkartennummern der Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos deutlich. Entführungen von Daten oder NutzerInnen, von etoy schon 1996 mit ihrem Projekt "digital hijack" vorgeführt, gehören inzwischen zum Repertoire. In diese Kategorie passt ebenfalls das Umleiten der BesucherInnen der Nike-Homepage auf die Seite der australischen S11-AktivistInnen, die dort auf ausbeuterische Praktiken in den asiatischen Sweatshops des Konzerns hinwiesen. Auch werden mehr und mehr Webseiten gecrackt, um dort politische Botschaften zu hinterlassen: Im Juli 2001 etwa stellten irisch-republikanische AktivistInnen ein Manifest auf britische Regierungswebseiten, eine Woche später versahen anonyme AntifaschistInnen die Portraits von Jörg Haider auf einer FPÖ-Webseite mit Hitlerbärtchen. Für diese Verschmelzung verschiedener Praktiken des Online-Protestes, von der die PionierInnen des EDT einst als "Politisierung der Hacker und technologische Alphabetisierung der Linken" träumten, hat sich mit "hacktivism" - einem Hybrid aus "activism" und "hacking" - ein eingängiger Begriff gefunden.

Digitale Spaltung
Die Sit-Ins gegen die WTO oder die Lufthansa waren stets als Unterstützung von Demonstrationen in den Strassen konzipiert. Eine Tatsache, die der Überzeugung der Online-AktivistInnen Rechnung trug, ihre Aktionen sollten Straßenproteste nicht ersetzen sondern verstärken. Auch die attackierten Webseiten, etwa die der mexikanischen Regierung, waren keine reinen Datenexistenzen, sondern vielmehr virtuelle Repräsentationsflächen von Organisationen, deren Zwecke und wesentlichen Funktionen jenseits der Computernetze liegen. Der toywar dagegen war ein Konflikt, dessen wesentlichen Akteure, Bezugspunkte und Austragungsformen virtuell waren und damit einen Blick in die nahe Zukunft zunehmend virtualisierter gesellschaftlicher Beziehungen ermöglichen könnten.

Ein Thema, das en vogue ist. Die deutsche Bundesregierung warnt beständig vor der digitalen Spaltung der Gesellschaft und die G8-Staaten haben deren Überwindung als neue Hilfsmassnahme für die Armen in der Dritten Welt zum Schwerpunkt des kommenden Gipfels im Juli 2002 gemacht. Das sollte misstrauisch stimmen. Der offizielle Diskurs verstellt den Blick dafür, dass der beklagte "digital divide" im Netz selbst als elektronische Reproduktion des entfesselten Globalkapitalismus stattfindet, der schließlich dafür gesorgt hat, dass in Afrika die durchschnittliche Entfernung zum nächsten Telefonanschluss fünf Kilometer geblieben ist. Wie kann der versuchte Raub des Spielwarenhändlers etoy, wie kann die Übernahme der ".tv"- top level domain der Pazifikinsel Tuvalu durch ein Subunternehmen der Filmindustrie, wie kann die Domestizierung der Tauschbörse napster durch die Musikindustrie, wie kann dies anders verstanden werden als Ausdruck dessen, was als "zwangsläufige gesellschaftliche Entwicklung" schon gilt: die sukzessive Unterwerfung aller Lebensäußerungen unter die Logik des Kapitals?

Für die Global Players ist das Internet interessant als billiger Vertriebsweg, der heute noch zu subventionieren und mit Attributen der Konsumentendemokratie aufzuladen ist. Aus jener Perspektive ist die Mühe um Modems für die Armen zwar im Ergebnis fraglos zu begrüßen, aber doch ein wenig kitschig - geht es jetzt doch um die Erschließung des künftigen Kunden, dem sich das Zugangskriterium auf den Markt der Möglichkeiten noch erschließen wird als Abfrage der Zahlungsfähigkeit.
Virtueller Klassenkampf?
Der neue Marktplatz und sein politisches Umfeld wollen abgesichert sein. Dementsprechend eng sind staatliche Behörden und Konzerne in Gremien wie der deutschen "Kommission zum Schutz kritischer Infrastrukturen" verflochten. Während hier WirtschaftsvertreterInnen und Polizeibehörden gemeinsam Gesetze und Sicherheitskonzepte entwerfen, sind Datenschutz und gewerkschaftliche Mitsprache kein Thema bei der digitalen Politikberatung. Cybercrime-Abkommen, Zensurfilter und Internet Task Force klingen - ganz richtig - wenig nach Demokratie, sondern zeigen an: die Mächtigen rüsten sich für schwerwiegende Auseinandersetzungen im Internet. Und selbst wenn man alle Visionen in Sachen Cyberterrorismus oder virtueller Klassenkampf um den Hype des Neuen zurückstutzen muss: hacktivism, knapp 100 gecrackte Webseiten täglich und 4000 DoS-Attacken im letzten Jahr weisen in die gleiche Richtung.

Inzwischen finden auch zwischenstaatliche Konflikte - wie kaum anders zu erwarten - ihren Widerhall im Netz: arabische und israelische Hacker lieferten sich im Oktober 2000 eine regelrechte Schlacht, in deren Verlauf 160 Webseiten gecrackt wurden. Als im Mai 2001 anlässlich der Spannungen zwischen den China und den USA eine ähnliche Auseinandersetzung begann, sah das führende Computermagazin "wired" deshalb gleich den "Cyber World War I" ausbrechen - außer einer wehenden roten Fahne auf der gecrackten Pentagon-Webseite gab es dafür allerdings wenig Anhaltspunkte. GIF-Animationen auf gecrackten Webseiten unterbrechen in der Regel keine militärische Kommunikation und haben mehr mit Graffiti-tags gemein als mit jenen Graphitbomben, die im Krieg 1999 das Belgrader Stromnetz außer Kraft setzten. Die martialische Bebilderung verleiht den Aktionen erst die intendierte Wirkung und verstellt gleichzeitig den Blick dafür, dass es um symbolische Landnahme geht, die eben mit Bildern operiert und semiologisch ihre Wirkung entfaltet - was nicht unbedingt weniger gefährlich sein muss. Das kennzeichnet in gleicher Weise die namen- wie zahllosen DoS-Attacken. Als yahoo und amazon offline waren, fürchteten sie nicht die zu vernachlässigenden Umsatzeinbussen durch momentane Nichterreichbarkeit, die durch Überlastungen ohnehin ab und zu auftreten. Der Schaden der virtuellen Attacke bestand im Bild der Verletzlichkeit des eCommerce, das sofortige Auswirkung auf Aktienkurs und Werbeeinnahmen zeitigte.

Obwohl sich niemand zu diesen Aktionen bekannte und ein Ziel nirgendwo angegeben wurde, waren sich viele Medien ohne weitere Begründung darin einig, dass solcher Vandalismus irgendwie als Protest gegen die Kommerzialisierung des Internet aufzufassen sei. Die Zerstörung der blinkenden Oberfläche des elektronischen Kapitalismus ruft den gleichen Effekt hervor, wie ihn die eingeschlagene Schaufensterscheibe in den Zeiten der "Scherbendemos" hatte.

Hacktivism ist also an der Tagesordnung. Deshalb aber sind Straßenkampf und Flugblätter keine Relikte der finsteren 80er Jahre. Ein Blick auf die Anlässe virtueller Aktion reicht: Mexikanische Paramilitärs, Abschiebungen mit der Lufthansa und zuletzt das Arsenal, das die Herren der Welt in Genua aufboten - die unerbittliche hardware der Verhältnisse kann mit einer Strategie, die allein von Auseinandersetzungen zwischen immateriellen Kräften ausgeht, nicht gebrochen werden.

Anne Morell ist Mitglied von Libertad! und eine der InitiatorInnen der Online-Demonstration gegen die Lufthansa AG.

Anmerkungen

  1. siehe: Telepolis Special "infowar"
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