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elektronisch gefesselte?

III. ÜBERGÄNGE: KONTROLLE & REGIERUNG

Nachdem ich Mikrotechniken der Disziplin beschrieben habe, stellt sich nun die Frage, wie die konkreten Gefüge oder Assemblages innerhalb einer sich verändernden Gegenwart eingeordnet werden können. Das will ich im Folgenden an der Transformation Fordismus/Postfordismus, dem Konzept der Kontrollgesellschaft und seiner Kritik sowie der Techniken des Regierens (Gouvernementaliät) durchgehen. Abschließen werde ich dieses Kapitel mit einer Zusammenfassung der Kapitel II. und III.

III.1 Skizze einer postfordistischen Gegenwart

»Dans le pays industrialisés, les disciplines entrent en crise. [...] Ces dernières années, la société a changé et les individus aussi ; ils sont de plus en plus divers, différents et indépendants« (Foucault 1994c, 231f.).
Was in obigem Zitat von Foucault aufblitzt, ist die Wahrnehmung, dass die Neuen Sozialen Bewegungen und zahlreiche, zuerst im Namen der Identität geführte Kämpfe als Nachfolge der Revolten von 1968, vielfältigen Versuchen des »Ausstiegs aus dem System« oder von Verweigerung auch zur Unterhöhlung der Disziplin geführt haben. Jan Rehmann wirft Foucault vor, dessen starke Kritik an der Sozialpädagogisierung des Strafsystems beziehe sich einseitig auf das »sozialdemokratische Zeitalter des fordistischen Wohlfahrtsstaats« und kann deshalb neoliberale Herrschaftsformen nicht analysieren (Rehmann 2003, 79). Nancy Fraser ordnet Foucault gar als den Theoretiker des Fordismus32 ein und will damit auf die Änderungen von subjektivierender Disziplin in einer »Ära postfordistischen Globalisierung« hinaus: Aus der Abnahme nationalstaatlicher Regulierung folgt auch eine Desozialisierung, die statt »gesprächsorientierter Ansätze« und großen Leistungskataloge wieder zu einer Rückkehr der Repression führt (Fraser 2003, 249ff.). Lemke entgegnet Fraser, dass sie ihre Analyse zu sehr an ökonomischen Variablen festmache. Prozesse der Privatisierung und Deregulierung würden »weniger ökonomischen Imperativen als politischen Strategien folgen« (Lemke 2003, 270). Den Kapitalismus müsse man nicht als System oder Totalität begreifen, sondern als eine aus heterogenen Einzelstücken zusammengesetzte »Maschine« (ebd., 274). Er ordnet Foucault mit seinen Vorlesungen zur »Gouvernementalität« ein in eine Diskussion des französischen Marxismus in der Tradition von Louis Althussers »ideologischen Staatsapparaten«, die verstanden werden als "Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse" (Lemke 2003, 269). Unter diesem Einfluss entstand zwei Jahre nach Foucaults »Überwachen und Strafen« die »Staatstheorie« von Nicos Poulantzas, in der er Althussers »Kräfteverhältnisse« erweitert und den Staat als »strategisches Feld und strategischen Prozess« fasst, indem sich Machtknoten und Machtnetze in ihren Widersprüchen und Abstufungen überlagern:
»Taktiken die sich kreuzen, sich bekämpfen, den Durchbruch zu bestimmten Apparaten finden, sich durch andere ›kurzschließen‹ lassen, und schließlich das umreißen, was man ›die Politik‹ des Staates nennt.« (Poulantzas 2002, 168)
Poulantzas ist zwar einer der schärfsten Kritiker Foucaults, übernimmt aber dessen Analytik der Beziehung zwischen Staatsmacht und individuellen Körpern (was Foucault später als Gouvernementalität bezeichnet), die weit über »ideologische Indoktrination und [...] über bloße physische Repression« (ebd., 94) hinausweisen:
»Die vom Staat monopolisierte physische Gewalt umfasst permanent die Techniken der Macht und die Mechanismen des Konsenses; sie ist in das Raster der disziplinarischen und ideologischen Dispositive eingeschrieben und gestaltet die Materialität des gesellschaftlichen Körpers, auf den die Herrschaft einwirkt, selbst wenn diese Gewalt nicht direkt ausgeübt wird.« (ebd., 109, kursiv i. O.)
Disziplin ist also keine transzendentale äußere Anrufung der Subjekte, sondern schreibt sich in die Körper ein, sie ist der modernen Subjektivität immanent. Diese komplexen Konzeptionen von Disziplin, Macht und Staat lassen sich auch für die Untersuchung von Transnationalisierungsprozessen produktiv machen, indem damit krude Vorstellungen eines »entfesselten« und »schrankenlosen« Kapitalismus zurückgewiesen werden können, da diese immer noch eine Trennung von Staat und Markt, Politik und Ökonomie voraussetzen: »Statt der Macht der Ökonomie rückt die Analytik der Gouvernementalität die Ökonomie der Macht in den Mittelpunkt« (Lemke 2003, 271).

Aus den eben skizzierten Rezeptionsweisen lassen sich für den Bereich der »kritischen Kriminologie« oder der »Kritik an der Kriminologie« drei Stränge verfolgen: Das Verfolgen einer Weiterentwicklung im »Hype« um die Kontrollgesellschaften (III.2.) oder die relative Rückweisung von Foucault und das Wieder-Aufgreifen von den Beiträgen der Kritischen Theorie (III.3.) oder ein Weg dazwischen oder darüber hinaus, der versucht Makro- und Mikro-Politiken zusammen zu bringen und sich auf das Konzept der gouvernementalen Führung bezieht (III.4).33

III.2 Eine post-disziplinäre Kontrollgesellschaft?

Deleuze skizziert die Kontrollgesellschaft, welche die Disziplinargesellschaft ablösen soll, in einem seiner letzten, sehr knapp und metaphorisch gehaltenen Text. Die »Gussform« der Disziplinen wird hier von der »Modulation« der Kontrolle abgelöst: »wheras discipline produces individuals, controls modulates them« (Vitores & Domènech 2003, 9). Als Beispiele für die Modulationen bringt Deleuze die Suche nach »Ersatz«-Strafen wie elektronische Halsbänder, im schulischen Bereich permanente Weiterbildung, unternehmerische Ausrichtung der Bildung und damit die Preisgabe von Forschung an den Universitäten, in der Medizin die Unterteilung in potentielle Risikogruppen und damit die Modulation eines individuellen Körpers in ein »dividuelles Kontroll-Material« - das Programm ist eine Bewegung in binärer Passform-Logik, die von Computersystemen dechiffriert wird (vgl. Deleuze 1993b, 260). Susanne Krasmann sieht in dieser Passform-Logik nicht mehr die Kontrolle von Abweichung von der sozialen Norm, sondern eine Frage technischer Kompatibilität: »Nicht, ob man schwarz oder weiß, Mann oder Frau ist, entscheidet darüber, ob sich eine Zugangssperre öffnet, sondern ob man ein valides Ticket hat« (Krasmann 2003,101). Die Maschinen arbeiten mit »anonymisierten Normalisierungsmodellen«, nicht mehr mit dem disziplinären Modell der Normierung, das immer noch der sozialen Kommunikation bedarf (vgl. ebd., 100ff.). Die technisierten Systeme bauen auf durchschnittlich erwartbaren oder »regulären« Verhaltensmustern auf. Krasmann bedient sich dafür hauptsächlich Beispielen aus dem präventiven Bereich wie Kameraüberwachung, Alarmanlagen, fälschungssichere Geldscheine oder Wegfahrsperren. Alles Formen der Regulation, die keine moralische Basis mehr zu haben scheinen im Gegensatz zur Disziplinartechnologie, welche durch ihre (durch Klassifikation und Stigmatisierung) subjektivierenden Strategien, Widerstand möglich machte: »im Namen eben dieser Subjektivität« (ebd., 105). Im Bereich der Pönologie sieht Krasmann den Unterschied zur Technologie der Normalisierung nun in der Tendenz, Probleme eher zu managen als sie zu lösen bzw. sie beherrschbar machen zu wollen und damit das Schwinden von Resozialisierungsbemühungen (vgl. Krasmann 2000, 195ff.).34 Auch Pablo de Marinis bezeichnet dies als »Ausdruck einer sich ausbreitenden Entmoralisierung der sozialen Kontrolle«, die dazu führt, dass - im Gegensatz zur Produktivität der Disziplin - heute nicht mehr versucht wird, die »gefährlichen Klassen« anzupassen: aus ihnen kann nichts »Gutes« mehr werden, sie werden für den Produktionsprozess nicht mehr gebraucht (de Marinis 2000, 218). De Marinis zentrale These ist die Ablösung der Disziplinierung durch das Paradigma Kontrolle/Ausschließung, visualisiert durch zwei von María Gil-Araujo gefertigte Kartierungen. Die erste Karte stellt die graue Unendlichkeit des Disziplinarrasters dar. In dieser, durch eine endlose Kästchentabelle symbolisierten Struktur »analytischer Raumordnung« herrscht der »Effekt des zwingenden Blicks«, also die von der panoptischen Technologie erzeugte Ordnung (ebd., 114). Ausschließungen sind hier eher ein Sonderfall, während die Disziplinierung durch Einschließung funktioniert (ebd., 60). Nach Deleuze hörte man in den Disziplinargesellschaften nie auf anzufangen (von einer Institution in die nächste). Die Kontrollgesellschaft wird von einer etwas lebhafteren Karte symbolisiert, in deren Mitte sich die so genannte »Modulationsspirale« als Inklusionszone befindet. Die Dynamik dieser Spirale spiegelt den Effekt, dass »man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgendetwas fertig wird« (Deleuze 1993b, 256), permanente »Fitness«, Weiterbildung und Optimierung ist angesagt, sonst kann man aus dieser Inklusions-Spirale sehr schnell heraus geschleudert werden. In einem mittleren Ring um die Spirale besteht dann noch die Möglichkeit, in einer - allerdings sehr durchlässigen - »Verwundbarkeitszone«, die noch Reste des wohlfahrtstaatlichen Disziplinarrasters zu enthalten scheint, aufgefangen zu werden. Von dort gibt es die Chance, wieder zur inneren Spirale zurückzugelangen, doch deren zentrifugale Wirkung lässt viele ganz außen in der nebelhaften Exklusionszone aufschlagen. Diese Zone muss nicht unbedingt örtlich gebunden sein, sondern zeichnet sich vor allem durch einen Mangel an Partizipationsmöglichkeiten aus bis hin zu »einem sozialen Vakuum der Entziehung der Existenzbedingungen« (de Marinis 2000, 123). De Marinis Illustrationen sind zunächst verführerisch, in seinen Kartierungen kann ich mir das Leben meiner Eltern in den wohlfahrtstaatlichen Zwängen, aber auch Garantien des fordistischen Regime gut vorstellen. Dem entgegen ist die Vision einer Modulationsspirale, einem viel entgarantierteren und flexiblerem Zugriff auf das Leben, unmittelbar spürbar.35 Tatsächlich liegt die Stärke der Kontroll-Ansätze in dieser Analyse der Zurichtung oder Formierung von Subjektivität im Kern des Paradigmas: der Modulationsspirale. Über das, was draußen im Nebel der äußeren Zone passiert, können sie allerdings nicht viel sagen.36 Auch Cornelis Horlacher kritisiert de Marinis Verfangenheit im Dualismus Disziplin vs. Kontrolle. Er plädiert dafür, auf die Benennung eines neuen Gesellschaftstyps anhand der jeweiligen Machttechnik zu verzichten, um sich mit Konzepten von reinen und homogenen Räumen nicht den Blick auf die Heterogenität von alten und neuen Machttechniken zu verstellen (vgl. Horlacher 2004, 9; 27). Hardt und Negri greifen die These der Kontrollgesellschaft auf, bei ihnen bedeutet sie aber nicht, dass sich Disziplinen auflösen, sondern sie werden weniger eingegrenzt und räumlich beschränkt. Sie lösen sich noch von den Souveränität vermittelnden Eingrenzungen der Institutionen, also den transzendentalen Resten der Disziplinargesellschaft, und verlagern sich in die Immanenz der Selbstdisziplin, »das ununterbrochene Flüstern von Disziplinarlogiken in die Subjektivitäten selbst« (Hardt & Negri 2002, 339).37

Widerstand gegen diese Kontrollen scheint komplizierter zu werden. So sind die Kontrollen oftmals »sanft und unmerklich« (Krasmann 2003, 99) und bewegen sich fließend von panoptischer (staatlicher/polizeilicher) zu synoptischer Überwachung, zu einer Technik für Jedermann: Deine nette Nachbarin installiert plötzlich im Hof eine Kamera gegen den Fahrrad-Klau - wirst du intervenieren, wo dein Bike doch auch schon geklaut wurde? Von anderen hörst Du, sie ziehen jetzt in so eine »Gated Community«, wegen der Kinder und der vielen Fixerspritzen hier im Viertel. Und weil es doch kein richtiges Leben im falschen geben kann, schreist Du ihnen hinterher: »Erstickt nicht im Paradies!« Aber sie hören dich eh schon längst nicht mehr... - doch da kommt Gilles Deleuze um die Ecke und versprüht wieder ein wenig Optimismus: Blicke auf die neuen Formen von Sabotage (Computer-Hacker) oder andere Ereignisse, den Kontrollen zu entgehen, schmiede adäquate Waffen gegen die neuen Herrschaftstechniken! - denn: »Die Windungen einer Schlange sind noch viel komplizierter als die Gänge eines Maulwurfbaus« (Deleuze 1993b, 261).38

III.3 Soziale Kontrollen vs. (staatliches) Strafen

VertreterInnen der Kritischen Theorie, die sich in der Tradition von Rusches und Kirchheimers »Strafvollzug und Sozialstruktur«39 verstehen, kritisieren an den Kontroll-Ansätzen und am Ansatz von Foucault, dass diese die Rolle von Strafe als Form des sozialen Ausschlusses völlig vernachlässigen.40 Entgegen der Sichtweise Disziplin = Einschließung, Kontrolle = Ausschließung begreifen Helga Cremer-Schäfer und Heinz Steinert Bestrafung als Mittel des Ausschlusses. Sie betonen, dass soziale Kontrolle nur einen kleinen Teil der Institution »Verbrechen & Strafe« ausmacht.41 Dieses Moment identifizieren sie bei »weichen Technokraten«, welche Bestrafung als eine Gelegenheit zur Integration durch Resozialisierung sehen, gegenüber »harten Technokraten«, die für soziale Ausschließung plädieren (Cremer-Schäfer & Steinert 1998, 44). Neben »Verbrechen & Strafe«, auch als »Ideologie mit Menschenopfern« (ebd., 54) charakterisiert, gesellt sich die Institution »Schwäche & Fürsorge« mit dem Ziel, Menschen Besserung abzuverlangen. Beide Institutionen »definieren damit einen unzulänglichen Menschen: einen bösartigen oder aus Schwäche unfähigen, aber in jedem Fall einen ganzen, dadurch gekennzeichneten Menschen« (ebd., 55) und ermöglichen entweder Ausschließung oder Re-Integration in die Reproduktion von Lohnarbeit. Aber »Schwäche & Fürsorge« kann genauso - entgegen ihrer Auftrags-Intention - soziale Ausschließung legitimieren: bei »Resozialisierungs-Misserfolgen« konstituiert sie so die Kategorie des Rückfalltäters (vgl. ebd., 56f.). Sie organisiert statt der Ausschließung »den Verbindungsprozeß zwischen Inklusion und Exklusion, die Klassifikation«, und die Ordnung dieses Grenzbereiches organisiert sie, »ohne je übersichtlich zu machen, was normal, was eine zu kontrollierende Abweichung wäre« (ebd., 62). »Schwäche & Fürsorge« wurde zur relevanten Institution in der Perspektive von Reformforderungen, sie organisierte sich um die Individuen, die sie zu einem disziplinierten Lebenswandel umformen wollte, »als Bringschuld für ›Integration‹« (ebd., 64). Cremer-Schäfer und Steinert sehen in der derzeitigen Entwicklung keine Konjunktur für »Schwäche & Fürsorge«, sondern einen regressiven Roll-Back von »Verbrechen & Strafe« durch »Law and Order-Kampagnen« und eine zunehmende Angleichung der Kriminalisierungsstrategien und Einsperrungspolitik der Nationalstaaten.

Nils Christie bezeichnet dies als die »Große Einsperrung« der Moderne (Christie 1995, 137). Mit über zwei Millionen Inhaftierten, die meisten davon Schwarze und Hispanics, hat die USA weltweit die größte Gefangenenpopulation.42 Was sich innerhalb dieses Dante'schen Infernos im Diesseits unserer Gegenwart abspielt, hat Harun Farocki in den Notizen zu seinem Film »Gefängnisbilder« geschildert. Er benutzt dabei Kameramaterial aus den Gefängnissen, das ihm die Anwälte zur Verfügung stellten. Die Kameraüberwachung beim Hofgang ist hier gekoppelt mit Wärtern, die nach einem Warnschuss scharf schießen, meist auf Mitglieder verfeindeter Gangs, die manchmal absichtlich wie zum Gladiatorenspiel zusammen auf den Hof geschickt werden (vgl. Farocki 2001, 309). Seine Beobachtungen zeigen, dass es dort nicht mehr um Resozialisierung geht (der Staat von Kalifornien hat diesen Passus aus den Gesetzbüchern gestrichen), sondern nur noch um »nackte« Bestrafung. Auch in Europa verstärkt sich diese »pragmatische Orientierung« an mehr und längerer Einsperrung.43 Den spektakulärsten Fall vom Verlust der Toleranz sieht Christie in den Niederlanden, die ihre reformorientierte Strafpolitik aufgaben (Christie 1995, 29). Das Widersprüchliche an diesen Entwicklungen ist das, was Christie als »Modernität durch Entscheidungen« kennzeichnet: eigentlich gegen etwas zu sein (wie das Gefängnis), aber es trotzdem zu tun. Ein wichtiger Punkt bei dieser Entwicklung, den die Kontroll-Ansätze kaum erfassen, ist sozialer Ausschluss durch Deportation. Hier ist die Rolle des Nationalstaates als strafender und ausschließender Instanz oder der Versuch eines EU-weiten Grenzregimes als transnationales staatliches Gebilde weiter zu betonen. Steinert mutmaßt gar, dass die Gefangenzahlen hier noch nicht so explosivartig steigen wie in den USA aufgrund der hohen Anzahl von Abschiebungen (vgl. Cremer-Schäfer & Steinert 1998, 230).

III.4 Lenkung von Menschen zwischen Selbst- und Fremdkontrolle

Nach dem Blick auf postfordistische Transformationsprozesse und auf das Problem des Staates als strategische Kräfteverhältnisse sowie der Darstellung und Kritik der Kontroll-Ansätze braucht es nun einen gangbaren Weg, Handlung und Praxis zwischen Mikro- und Makro-Prozessen zu analysieren. Zwar kann die Kontrollgesellschafts-These einen Blick eröffnen auf ein mögliches »Werden«, auf ein »Wohin« der Gegenwart und auf die sich darin abzeichnenden Strukturen und Programme, der Begriff der Kontrolle wirkt dagegen auf der Akteursebene noch recht diffus. Es gelingt nicht so recht abzubilden, warum die Akteure so handeln, wie sie handeln. Wer kontrolliert jetzt wen? Wie kommt die Kontrolle in den Körper? Eine Möglichkeit bietet das Konzept der »Gouvernementalität«, auf das ich mich im Folgenden beziehen werde, um es für mein Forschungsfeld produktiv zu machen.

III.4.1 Verinnerlichte Fremdzwänge vs. Macht und Führung in Interaktion

Prozesse der Fremd- und Selbstkontrolle problematisierte schon Max Weber in seiner Analyse zum »Geist des Kapitalismus«. Er unterschied zwischen der Person des Unternehmers, der Selbstdisziplin als Form asketische Lebensführung ausübt: »sich der ›Arbeit gegenüber verpflichtet‹ zu fühlen« (Weber 1947, 47) und den Arbeitenden, für die es eine Form der Fremddisziplinierung ist. Auch Norbert Elias untersuchte dieses Phänomen entlang den Herausbildungen des Zwangs in der höfischen Gesellschaft und formulierte daraus eine allgemeine Zivilisationstheorie. Sicherlich hat Foucault gerade diese Arbeit, zu einer ähnlichen Zeit wie »Überwachen und Strafen« veröffentlicht, zur Kenntnis genommen.44 Allerdings lassen sich beide Ansätze trotz ihrer Ähnlichkeiten nicht so einfach zusammenbringen. So ist es bei Elias der Begriff des »gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang« (Elias 1979, 312ff.), die durch lange dauernden Prozesse der Einschränkung, des Verbots und des Zwanges in die Subjekte eingeschriebenen Praktiken des Affekthaushaltes, beispielsweise des »richtigen« Gebrauchs des Messers von einem Instrument der Bedrohung zu einem standardisierten Essgeschirr (vgl. Elias 1978, 164ff.). Zwar ist Elias dadurch anschlussfähig geworden für kulturanthropologische Arbeiten, da er die Prozesshaftigkeit statt das Statische an Kultur (den Prozess der Rationalisierung der Zwänge und nicht deren Rationalität) betont, doch sind seine Arbeiten zur Psycho- und Sozio-Genese in einem bestimmten Determinismus einer »automatisch arbeitenden Selbstkontrollapparatur« (Elias 1979, 320) verfangen: Äußere gesellschaftliche Anforderungen schlagen sich in den individuellen Verhaltensmuster fast ohne »Übersetzungsproblem« (Lemke 2001, 85) nieder. Michael Sonntag setzt diesen Prozess der Einübung von Verhaltensweisen gleich mit der »Internalisierung von Normen und Haltungen« (zit. n. ebd., 10). Brüche oder Widerstände in diesen sehr langwierigen Entwicklungen, die nach Elias zu immer größer werden gesellschaftlichen (pan-nationalen) Verflechtungszusammenhängen führen, verhandelt er nur als vorübergehende Schübe der Desintegration gegenüber einer zentripetalen Kraft der gesellschaftlichen Integration (vgl. van Benthem van den Bergh 1993, 28).

Foucault interessieren dagegen die Diskontinuitäten als »Schwelle, Bruch, Einschnitt, Wechsel, Transformation« (Foucault 1981, 13). Epochen sind somit »Verflechtungen zwischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten« (ebd., 251).45 Zur Analytik von Fremd- und Selbstkontrolle führt er das Konzept der Regierungs-Kunst oder -Techniken (Gouvernementalität) ein, das er historisch um 1750 am Wirken sieht. In einer »Gouvernementalität der Gegenwart« wird nach Foucaults Tod versucht, diese Modulationen zum Beispiel in Subjektivierung durch Arbeit zu untersuchen.46 Dabei geht es weniger um das, was sich im Elias'schen Sinne als äußerer Zwang in den Subjekten einlagert oder sich verinnerlicht, sondern was für ein Bild des Subjektes die Individuen von sich selbst machen. Nicht: Wer bin ich, sondern wer könnte ich sein oder wer oder wie wäre ich gerne? Also ein Ziel, auf das es im »lebenslangen Lernen« hinzuarbeiten gilt.47 Für meine Forschung im Bereich neuer Straftechniken eignet sich der gouvernementale Ansatz besser als der von Norbert Elias, weil sich aus einer Akteursperspektive a) Internalisierung relativ schwer erforschen lässt bzw. eher im Bereich psychologischer Forschung mit dem Fokus auf Verhalten angesiedelt wäre; b) meine Forschung, die in erster Linie auf Interviewprotokollen beruht, hingegen Handeln und Praxis in den Vordergrund stellt bzw. dessen diskursive Verhandlung in Kommunikation.

III.4.2 Der Ansatz der Gouvernementalität für meine Forschung

Da ich in meiner Ethnographie genauso mit den Akteuren der regelsetzenden Instanz von Justiz und Sozialarbeit gesprochen habe wie mit denen, für die erstere die Fessel als Maßnahme anordnen, also mit der Seite der »Lenkung« und den »Gelenkten«, möchte ich nun schauen, welche Teile des Gouvernementalitäts-Konzeptes für mein Feld fruchtbar sein könnten. Das gleichzeitige Denken von Mikro- und Makro-Physiken der Macht veranschaulicht Foucault im Dreieck Souveränität - Disziplin - Regierung. Der Staat stellt darin eine zentrale politische Macht dar, während Foucault die individualisierende Macht mit »Pastorat« bezeichnet, das er aus der christlichen Vorstellung herleitet (Foucault 1994a, 67ff.). Da ist zuerst die Figur des pastoralen Hirten, der für seine Herde nur ein Ziel kennt: »Sie muß entweder zu guten Weidegründen geführt oder ins Gehege zurückgebracht werden. [...] Wenn sie schläft, hält er Wache« (ebd., 69). Dies weist vor allem auf die Staatskunst, wie in der vergleichbaren Metapher, ein großes Schiff zu navigieren (vgl. Foucault 2000, 51), aber es lässt sich auch sehr schön auf pädagogische Praktiken wie Bewährungshilfe oder andere Arten von Sozialarbeit übertragen. So sei hier schon angedeutet, dass im Projekt Elektronische Fußfessel ein Mitarbeiter nachts im Bereitschaftsdienst über alle Gefesselten wacht. Ein Effekt der Beziehung zwischen dem Hirten und seinen Schafen besteht in der »individualisierenden Kenntnis«, welches der Hirte über seine einzelnen Herdentiere erlangt. Für die Gelenkten bedeutet dies ein Verhältnis zum Hirten zwischen Gehorsam, Selbsterkenntnis und Beichte. Die den Schafen auferlegte Selbstprüfung bedeutet da nicht mehr (und hier ist ein gradueller Unterschied zur in sich gekehrten klösterlichen Askese oder ihrem Strafmodell in der Einzelhaft), »sich in sich selbst zu verschließen, sondern es in den Stand zu setzen, sich seinem Lenker völlig zu öffnen« (Foucault 1994a, 77). Dieses Modell der Beichte verweist auf eine spezielle Interaktion zwischen Lenkern und Gelenkten, die vom christlichen Pastorat ausgehend, sich in neue politische Formen integrierend, einen bestimmten Rationalitätstyp von Macht begründet, geprägt durch »eine so verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren innerhalb ein und derselben politischen Struktur« (Foucault 1987, 247). An dieser Stelle weist Foucault mit der Frage: »Wie werden solche Machtbeziehungen rationalisiert?« (Foucault 1994a, 92) deutlich über die Disziplinarinstitutionen hinaus: Diese Machtbeziehungen setzen Verhältnisse ins Spiel, Macht kann in diesen Interaktionen als ein »Verhältnis zwischen Partnern«, weniger ein Spielsystem, sondern ein »Ensemble von Handlungen« hervorrufen (Foucault 1987, 251), sie ist weniger von Konfrontation zweier Gegner als »der Verpflichtung des einen gegenüber dem anderen« geprägt (ebd., 254). Dieses »Handeln auf ein Handeln« ordnet Ulrich Bröckling hierbei als Kontrollstrategie ein, die nicht in erster Linie als Überwachen, sondern als Verhaltensteuerung einzuordnen ist (vgl. Bröckling 2003, 81). Hier wird noch mal deutlich, dass Macht bei Foucault kein Stoff jedweder Molekularform ist, Macht gibt es nur »als von den ›einen‹ auf die ›anderen‹ ausgeübte. Macht existiert nur in actu« (Foucault 1987, 253). Dieser Machtbegriff bezieht sich allerdings nur auf Subjekte, die eine gewisse Option von Reaktionen und Handlungsoptionen haben. Wenn Menschen, wie z. B. in Ketten gelegte Sklaven, keinerlei Bewegungsmöglichkeit mehr haben, existiert kein Machtverhältnis mehr. Ein Machtverhältnis muss die Möglichkeit implizieren, im Grenzfall entweichen zu können (vgl. ebd., 254f.). Da dies bei der Elektronischen Fußfessel eben noch möglich wäre, lässt sich diese Machttheorie, die Foucault mit dem Begriff der »Führung« bezeichnet, gerade außerhalb »totaler Institutionen« (hier in meinem Forschungsfeld im Kontext der Bewährungshilfe) anwenden. Es lassen sich mit Foucault zwei Lesarten dieser Machtsituation aufzeigen. Positiv ausgedrückt (und damit eher den Interaktionscharakter der Maßnahme betonend): Die »Freiheit« der Überwachten bedeutet eben dann, sich auf diese Art der Interaktion in ihrer ganzen Ambivalenz von Fremdkontrolle und Selbstkontrolle einzulassen. Negativ ausgedrückt (und damit eher den Einsatz der zwischengeschalteten Überwachungs-Technik, die unabhängig vom Machtausübenden wirkt, betonend): Sie sind »Gefangene einer Machtsituation die sie selber stützen« (Foucault 1977, 258). Beide Lesarten, die sich auch nicht unbedingt gegenüber stehen müssen, sondern in »verwickelter Kombination« koexistieren können, haben den Vorteil, mit der Struktur zu operieren, sie lassen den Umgang mit ihr aber durch die Akteursperspektive analysieren. Die Analyse moderner Gouvernementalität hat als Untersuchungsinteresse die systematischen Verbindungen zwischen Rationalitätsformen und Führungstechnologien, eine Aufmerksamkeit auf Mikro-Praktiken (vgl. Lemke 2000, 44), sie sieht ein unreduzierbares Zwangsverhältnis innerhalb der liberalen Beziehung. Daraus folgt die Ambivalenz der Gouvernementalität: die Parallelität von Techniken der Selbsttechnologie und den Zwangsmitteln für die »Zurückgebliebenen« (ebd., 42). Nikolas Rose charakterisiert diese marginalisierten Personengruppen nicht als einheitliche Bevölkerungsgruppe, sondern als zunehmend »fragmentiert und voneinander getrennt« (Rose 2000, 102) lebend. Regiert wird diese Marginalität von einer »Vielzahl von Mikrosektoren« (ebd., 103), mit Spezialisten, von denen jeder »ein Experte für ein bestimmtes Problem ist« (ebd., 102). Ich denke, dieser Ansatz ist näher an einer sozialen Realität, einem Inventar des sozialen Scheiterns als der »Hype« um »gefährliche Klassen« - denn »die Verhältnisse« sind trotz Sozialabbau, »Hartz IV« etc. relativ stabil und seit der Legalisierung der ehemals besetzten Häuser in der Hamburger Hafenstraße ist mir zumindest in Deutschland kein »rechtsfreier Raum« mehr bekannt, den die Agenten des Souveräns, die Polizei, sich nicht zu betreten trauen.

Für kriminologische Forschung sieht Krasmann die Stärke des Gouvernementalitäts-Ansatzes darin, die Beteiligung der Kriminologie an dem Diskurs über Kriminalität zu erkennen, »den Experten aus Wissenschaft und der so genannten Praxis formieren« und damit »Subjektivierungsformen konstituiert werden« (Krasmann 1999, 116). Die Individuen sollen wieder fit gemacht und mobilisiert werden (vgl. ebd., 118). Übertragen auf die Praxis der Bewährungshilfe heißt das, der Erfolg von »Besserung« wird davon abhängig gemacht, inwieweit der Verurteilte Engagement einbringt und so zum »eigenverantwortlichen Unternehmer seiner Therapie« wird (Krasmann 2000, 201f.). Krasmann beschreibt dies im Vergleich zur klassischen, auf die Biografie des Täters eingehender Maßnahme, als Techniken, welche die Oberfläche trainieren, also bestimmte Verhaltenskomponenten verändern oder modulieren sollen.

III.5 Fazit: Disziplin, Normalisierung, Kontrollen, Regierung

Mit dem Auffächern von Begriffen aus den Konzeptionen von Foucault und anderen ging es mir darum, für meine empirische Arbeit Werkzeuge bereitzustellen; weniger darum, die »perfekte Blaupause« zu finden, unter die sich dann alles subsumieren lässt. So kann der Kontroll-Ansatz, indem er vor allem »weichere« und »sanfte« Formen der Kontrolle in den Vordergrund rückt, blind gegenüber nackter Repression sein, wie sie sich in den USA in der »Großen Einsperrung« seit Mitte der 70er Jahre äußert.48 Umgekehrt scheinen andere Ansätze blind zu sein für die kleinlichen Details der unteren und mittleren Straftechniken als Refugien der Besserungstechnologie. Es stellt sich vielmehr die Frage, was sind die Begründungen für beides und welches Dispositiv bzw. welche bio-politische Maßnahme setzt sich wann durch. Es sollte in dieser Analyse darum gehen, die vitalen Interessen aufzuzeigen oder die Möglichkeitspotentiale, welche in diesen verhängnisvollen Modulationen schlummern, statt in der Art klassischer Strukturanalysen Ordnungen (heiß-kalt) und Taxonomien zu erstellen, um Disziplinen und Kontrollen artifiziell einzusortieren, ohne dies durch empirische Forschung zu belegen. Lindenberg ordnet so die elektronische Überwachung auch nicht in ein klares Tableau ein, denn es »verschwimmen in diesem Bereich der Steuerung und Erfassung menschlichen Verhaltens die Begriffe: Disziplinierende Kontrolle oder kontrollierende Disziplin?« (Lindenberg 1992, 22). Abschließend eine Zusammenfassung im Schnelldurchlauf des bisher Gesagten:

Die Disziplinen vereinen Wissenstechniken und Machtpraktiken, sie schreiben sich durch ihre teils unsichtbaren Verfahren in die individuellen Körper ein, sie sind der Subjektivität immanent (durch Unterwerfungen und Erzeugung von Gewohnheiten). Mit der Metapher des Panoptikums stellt Foucault den Übergang von den Disziplinarinstitutionen auf die gesamte Bevölkerung dar: es entsteht eine bio-politische Normalisierungsmacht. Bürgerliche Gesellschaft wird mit dem Ideal eines souveränen Rechtes assoziiert. Doch unter das Recht »schiebt« sich der Diskurs der Normalisierung. Er leitet sich von der »natürlichen Regel« ab, welche von den Humanwissenschaften wie der Kriminologie etabliert wird: Verurteilt wird nicht nur die Tat, sondern auch die Lebensführung.

Der Inhalt der Disziplinierungsmaßnahmen ist der Versuch einer Integration der Individuen in den Produktionsprozess. Dazu sind das Erlernen von den Gewohnheiten einer »methodischen Lebensführung« und das Durchsetzen von »Arbeit als dem Wesen der Menschen« notwendig (Zwangsarbeit ist wesentlicher Teil am Straf-Zweck). Die Institution des Gefängnisses unterliegt dem »Disziplinierungs-Paradox«: sie produziert statt der behaupteten Resozialisierung ein Milieu der Delinquenz und gescheiterter Subjekte, was dann nutzbar für die Klassengesellschaft gemacht wird. Die grundlegenden Ideen des Gefängnisses sind so permanent in der Krise, die Realität des Einsperrens hat sich dennoch durchgesetzt, die Existenz von Gefängnissen ist so »normal« wie das tägliche Zähneputzen.

Veränderte Kapitalstrategien, wie auch Kämpfe und Verweigerungen führen zur Transformation von Fordismus zu Postfordismus: Werden neue Formen von Staatlichkeit und veränderte Regierungsformen in die Perspektive integriert, so wird die Ökonomie der Macht in den Blick genommen. Der Beitrag der Theorie einer Kontrollgesellschaft ermöglicht den Blick auf ein mögliches Werden und Verändern der Dispositive: Es scheint sich die Immanenz von Selbstdisziplin und »Fit-Bleiben« durch die Anforderungen permanenter Weiterbildung und dem Arbeiten an seinen »Selbsten« und »Oberflächen« abzuzeichnen. Wirken in der Disziplinargesellschaft zentripetale Kräfte, so schleudern die Modulationen der Kontrollen wie in einer Zentrifuge bestimmte Subjekte in eine imaginäre Randzone, die allerdings noch schemenhaft und metaphorisch bleibt. Parallel findet eine Rückkehr zu »nackten« Zwangsmitteln statt: Die Große Einsperrung und die Haft-Situation in überfüllten Gefängnissen verweist auf zunehmenden sozialen Ausschluss durch Strafen. Umgekehrt kann Resozialisierung bei Erfolglosigkeit auch gegen die Subjekte als Klassifikation und Stigmatisierung des »Rückfalls« gewendet werden.

Die intermediaten Straftechniken deuten auf eine »neue Ponölogie«: Sie umgeben sich mit dem Hauch von Effektivität und koppeln sich (zumindest in ihren europäischen Versionen) dabei noch einmal stark an den Resozialisierungsgedanken (wie in der Darstellung des Projekts Elektronische Fußfessel). Die elektronische Fußfessel ist so ein Produkt, was sehr »vielseitig« einsetzbar ist. Hat sich in den USA ein Fall- und Kriminalitätsmanagement durchgesetzt, was auf die Kontrollgesellschaft verweist, ist ihre Anwendung in Schweden und Deutschland intendiert als Maßnahme zur Initiation von Selbstdisziplin, generiert durch die Interaktion in der Bewährungsarbeit. Die neuen Straftechniken schaffen das Gefängnissystem nicht ab, sie schieben sich dazwischen. In ihnen durchkreuzen sich vielfältige Interessen, ökonomisch-rationale, konservativ-moralische, Reformorientierung vs. Management, Teile der alten Disziplinarpraktiken und Normalisierungen, aber auch reine Reaktions- und Verwaltungsmodelle.

Der Begriff der Assemblage ermöglicht es die Gestalt und Gestaltung (Form/Ereignis) des Gefüges Elektronische Fußfessel zu fassen, also die Technik, Pädagogik, den Modellcharakter in seiner Praxis. Das Konzept der Gouvernementalität scheint der produktivste Weg für die Analytik dieses Forschungsfeld: Es bündelt die Frage von Fremd- und Selbstkontrolle, von Makro- und Mikropraktiken und ermöglicht, Macht und Subjektivierungsprozesse in Handlung und Interaktion zu untersuchen - hier die Modulierung der Überwachten und das erfolgreiche Management der Bewährungshilfe. Das heißt nicht, dass ich bei aller Kritik die anderen in diesem Kapitel skizzierten Ansätze verwerfe, es gilt sie jetzt auf die Praktiken und diskursiven Aussagen rund um den hessischen Modellversuch zu überprüfen. Was sich auf jeden Fall ändert, ist das Verständnis der Disziplinartechniken in Bezug auf Körper, Raum und Zeit bei der Festsetzung von Menschen in ihren eigenen oder fremd geordneten Alltagen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die eingesetzte Technik. Deshalb erfolgt im nächsten Kapitel nun eine Erweiterung durch kulturanthropologische Konzepte von Alltag, Raum und Zeit und dem Umgang mit Technik.

 

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32 Der Fordismus bezeichnet das nach dem ersten Weltkrieg einsetzende Akkumulationsregime, gekennzeichnet durch tayloristische Massenproduktion und Massenkonsum, einen hohen Grad an staatlicher Wirtschaftssteuerung und die sozialpartnerschaftliche Integration der Arbeiterklassen (vgl. Hirsch 1998, 19ff.). Die Krise des Fordismus beginnt in den 1970er Jahren mit dem Abschied vom Bretton Woods-Abkommen (1944), das den Dollar als stabile Leitwährung durchsetzte und die monetäre Kontrolle an Regierungs- und Regulierungsinstitutionen wie IWF und Weltbank übergab (vgl. Hard & Negri 2000, 275ff.). Technische und ökonomische Transformationen des Kapitals und der Produktionsweise, wie die Informationstechnologien und die Internationalisierung der Märkte und des Kapitalverkehrs, markieren schließlich den Übergang zur postfordistischen Globalisierung, der politisch mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus möglich wurde.

33 Diese drei Ansätze zu diskutieren bedeutet hier für mich nicht, das Feld unbedingt noch breiter aufzufächern, vielmehr sehe ich in allen dreien bestimmte »Wahrheiten« aufblitzen, die ich eher kombinatorisch einsetzen will, als am »Schulenstreit« zu partizipieren (auch ein Mittel um stabile kollektive Identitäten zu formieren).

34 Schon Poulantzas konstatierte 1977 einen Übergang von krimineller Handlung zur »kriminogenen Situation«, von individueller Einschließung zur allgemeinen Überwachung mit dem Effekt, dass dann jeder Bürger potentiell kriminell ist. Allerdings sieht er darin keine rein symbolische Repression, vielmehr ist die intendierte Wirkung das Mitmachen der Bevölkerung in Form von Denunziation (vgl. Poulantzas 2002, 217f.).

35 Der Widerspruch bleibt, zwar die Entgarantierung zu kritisieren aber ebenso die fordistische Disziplinierung. Vierzig Jahre in Fabrik oder Büro wären für mich die absolute Horrorvorstellung. Die Erfahrungen durch Jobs in diesen Räumen waren immer wie ein freiwilliges Begeben in einen mehrstündigen Einschluss, einen temporären »Offenen Vollzug«. Diese subjektiven Wahrnehmungen gründen sich auf lebensweltliche Erfahrungen, welchen Formen von Routine und Gewöhnungen man sich aussetzt oder aussetzen muss. Joachim Hirsch bezeichnet den fordistischen Wohlfahrtsstaat als »nationalen Sicherheitsstaat« (Hirsch 1998), was ich für einen treffenden Begriff der Ambivalenz von materieller Sicherheit aber auch Disziplinarzwängen halte. Allerdings bot gerade diese Phase der kapitalistischen Akkumulation den »Raum« für die Entwicklung von Verweigerungen der Disziplin in erkämpften Freiräumen.

36 Als Beispiele werden »No-Go-Areas« von Mega Cities wie Rio de Janeiro oder auch französische Banlieues genannt. Dazu scheint es mehr filmische Repräsentation wie »La Haine« (1995) oder »Ciudade de Deus« (2002) als empirische Forschung zu geben, die fragt, welche Regimes sich dort ohne Polizei und staatliche Souveränität ausbilden. Und hierin liegt das Problem an derlei Kartierung. Sie bietet Unsicherheits- und Angst-Szenarien eine Materialität durch das Nebulöse der Außenzone, um »gefährliche Klassen« oder »Ghettos« herbeizureden durch die Inkorporierung dieser Fremdrepräsentationen. So fühlt sich die Zeitschrift »Der Spiegel« mittlerweile zum Organ dieser Visionen berufen, immer verbunden mit dem Hinweis auf die »Schattenseiten« oder die Produktivität von Migration. So schwankt das Magazin zwischen dem Abfeiern einer neuen Hybridität von erfolgreichen MigrantInnen in Ökonomie und Kulturbusiness der Neuen Mitte und dem Gerede von »Scheitern der Multikultur« und dem Aufziehen von »Parallelgesellschaften« in sozial schwachen Vierteln mit überwiegend migrantischer Bevölkerung (vgl. Ayata 1999; Römhild 2003, 12). Und das ist keine egalitäre Passformlogik, sondern eine Klassifikation entlang rassistischer Stratifikationen.

37 Bei Hardt und Negri lösen sich Dispositive nicht einfach ab, sondern es verschieben sich die Dominanzen: so ist die Parallele zum Kontrolldispositiv die immaterielle Arbeit, die nicht impliziert, dass sich industrielle Arbeit völlig auflöst, eher ziehen auch in diesen Sektor Modulationen von Flexibilität und Affektivität ein, »vermischen sich zu einer hybriden zusammengesetzten Ökonomie« (vgl. Hard & Negri 2002, 300).

38 Der letzte Absatz ist weniger eine besserwisserische Polemik als ein Hinweis auf die heterogenen moralischen Landschaften, wenn eine Überwachungs-Rationalität sich von einer souveränen Logik in synoptische Formen deterritorialisiert. Insofern hilft das Abschlusszitat zwar nicht wirklich weiter, aber es hebt eine (antagonistische) Moral.

39 Die 1939 in New York veröffentlichte Arbeit war eine der ersten Veröffentlichung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im US-amerikanischen Exil.

40 Die Institution Gefängnis »verschwindet« nicht, zudem bildet sie einen eigenen Wirtschaftsfaktor. Die boomende Sicherheitsbranche macht ihre größten Geschäfte mit National-Staaten. Ein Blick auf die Internet-Seite der »American Correctional Association« (www.aca.org) und in ihre Zeitschrift »Corrections Today« zeigt diese ökonomisch-politischen Verflechtungen entlang der geschalteten Hochglanz-Anzeigen.

41 »Institutionen nach der Kategorisierung, die sie verwalten, und der ihr eigenen Herrschaftstechnik zu benennen, ist eine Idee von Heinz Steinert« (Cremer-Schäfer 2003, 8).

42 Um es am Verhältnis von der Gefangenzahl von schwarzen Männern per 100.000 EinwohnerInnen zu verdeutlichen: »South Africa under Apartheid was internationally condemned as a racist society. South Africa under Apartheid (1993), Black adult men: 851 per 100,000 - U.S. under George Bush (2002): Black adult men: 7,150 per 100,000« (PrisonSucks.com). In Deutschland liegt die Rate bei etwa 83 Gefangene auf 100.000 Einwohner (vgl. Ostendorf 2001, 34). Es sind dies ja nicht mal Zustände, über die man nichts weiß. Trotzdem finde ich es nach wie vor richtig, sie zu skandalisieren. Einen Einblick in dieses Panoptikum des Grauens bietet zum Beispiel die Homepage (www.msco.org) des »toughest Sheriff of America«, Joe Arpaio, der »chain gangs« und verdorbenes Essen in seinen County Jails als Strafmittel einsetzt. Sein Kommentar: »If you don't like it, don't come back« (CNN.com, 29.10.2003).

43 Gegenüber Resozialisierung treten Strafzwecke wie Abschreckung (durch Wirkung auf die Allgemeinheit) und damit »Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung« sowie »Sicherung« durch die »Verwahrung des Täters« (Schöch 1994, 46ff.) mehr in den Vordergrund. Dabei ist zu beachten, dass alle diese Straftheorien bereits vorher im Umlauf waren und kombinatorisch auftraten. Ich will damit eher die vorherrschende Regression der repressiven Maßnahmen betonen, die meist im Rahmen von Innerer Sicherheit mit Hilfe von Angst- und Bedrohungsszenarien artikuliert werden.

44 So beispielsweise in der Analyse der Transformation von Gewaltverbrechen hin zu Eigentumsdelikten einhergehend mit einer zunehmenden Kontrolle der gewaltsamen Triebe (vgl. Foucault 1977, 95).

45 In späteren Interviews favorisiert er gegenüber »Diskontinuität« den Begriff »Ereignis« (vgl. Foucault 1978, 24ff.).

46 Einen guten Überblick dieser zuerst im englischsprachigen Raum entstandenen »Gouvernementality Studies« geben Lemke (2000) sowie Bröckling, Krasmann & Lemke (2000)

47 »Im Gegensatz zu Mechanismen der Verinnerlichung von Normen und Vorstellungen, auch der Unabhängigkeit, die sich verselbständigen zu einem Regiment der Selbstdisziplin, beruhen Technologien der Selbstmobilisierung eher auf äußerlichen Anreizen wie der Aussicht auf Erfolg oder Selbstrealisierung oder kommen als schlichte, äußerliche Zwangsläufigkeiten gleich den Spielregeln des (sozialen) Lebens selbst daher, die man kennen und befolgen muss, wenn man daran teilhaben will.« (Krasmann 2000, 199, kursiv i. O.)

48 Wobei sich auch die »Große Einsperrung« als Exklusion in eine nebelhafte Zone der krassen unkontrollierten Gefängnisburgen interpretieren ließe. Der Streitpunkt scheint ja eher der zu sein, ob Strafe als ausschließende oder einschließende Praktik zu interpretieren sei (vgl. Cremer-Schäfer 2003, 8ff.), was wahrscheinlich auch mit der Befürchtung, dadurch könnte die abolotionistische Position (Konfliktbewältigung ohne Strafgewalt) in der Kritischen Kriminologie geschwächt werden, zusammenhängt. Lindenberg schafft es darüber hinaus, eine abolotionistische Position mit der Untersuchung der mittleren Straftechniken nicht aufzugeben.

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