Peter Heuss

» ... helfen, wo es nur möglich war.«

Das Leben Norbert Wollheims*

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Mein Beitrag steht unter dem Titel »... helfen, wo es nur möglich war«, mit dem Norbert Wollheim das Credo seiner Arbeit für die Rettung jüdischer Kinder zusammenfasste:

»Das, was man für sich selbst tut, ist nicht genug. Man muss versuchen, sich auch um Leute zu kümmern, die weniger Glück haben als man selbst, und Hilfe und Unterstützung brauchen.« [1]

Diese Grundeinstellung von Norbert Wollheim findet ihren Ausdruck in allen Phasen seines Lebens.

Im Folgenden werde ich versuchen, einige Aspekte seines Lebens darzustellen, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, eine vollständige Biographie zu schreiben.

Einen Schwerpunkt werde ich dem Thema Entschädigung für Zwangsarbeiter widmen – ein Thema das Norbert Wollheim bis zu seinem Tode sehr interessiert verfolgte.

Doch werde ich der Übung der Historiker folgen und zuvor über Norbert Wollheim und seine Tätigkeiten vor seiner Deportation aus Berlin im März 1943 referieren.

Norbert Wollheim wurde am 26. April 1913 in Berlin geboren. Er entstammte einer assimilierten Familie – beide Großväter wie auch sein Vater hatten während des I. Weltkrieges im preußischen Heer gedient – und der junge Norbert Wollheim trat nach seiner Bar Mitzwa der Jüdischen Jugendbewegung bei, die sich ausdrücklich als nicht zionistisch verstand. Bereits in dieser Zeit engagierte er sich im Bereich dessen, was heute »Sozialarbeit« genannt wird.

Nach dem Abitur im Jahr 1931 studierte Norbert Wollheim Jura und politische Wissenschaften an der Universität von Berlin: sein Berufsziel war Rechtsanwalt. Doch er korrigierte seine Studien- und Berufswünsche nach der Machtübernahme der Nazis und den frühzeitig verkündeten Gesetzen, die Juden diskriminierten und insbesondere aus den freien Berufen – wie gerade dem Anwaltstand – ausschlossen. Insbesondere das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und jenes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft (beide vom 7. April 1933) und den Beschränkungen für das Studium von Juden (»Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen« vom 25. April 1933) dürften ihn in seinem Entschluss bestärkt haben. Wollheim brach sein Studium ab.

Norbert Wollheim betätigte sich u.a. als Geschäftsführer des Bundes deutsch-jüdischer Jugend im Bereich von sozialen und kulturellen Belangen insbesondere in Berlin, aber auch als Redner des Bundes deutsch-jüdischer Jugend im Deutschen Reich. [2]

Ab 1935 nahm Wollheim eine Stelle in einer Firma an, die sich auf Im- und Export von Eisen und Manganerzen spezialisiert hatte. Mit dieser Stelle verband er die Hoffnung, besser Kontakte für seine Emigration aufbauen zu können. Diese Arbeit machte ihm nach eigener Aussage »überhaupt keinen Spaß«, einen Ausgleich fand er in seiner freiwilligen Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde. [3]

Im September 1938 wurde die Firma »arisiert« und der neue Eigentümer kündigte umgehend allen jüdischen Mitarbeitern. Zuvor hatte Wollheim im Sommer 1938 seine erste Frau Rosa (geb. Mandelbrot) geheiratet. In dieser Situation suchte er nun verstärkt eine Möglichkeit zur Auswanderung.

Der Novemberpogrom des Jahres 1938 stellte für Wollheim eine endgültige Zäsur dar: »Damals begriff ich, dass Rabbiner Leo Baeck, der mein Lehrer und geistiger Mentor war, Recht hatte, als er sagte, dass die historische Stunde des deutschen Judentums zu einem Ende gekommen sei.« [4]

Zugleich eröffnete die Reaktion auf den Novemberpogrom eine Möglichkeit zur Ausreise von Kindern und Jugendlichen nach Großbritannien: die »Kindertransporte«, mit denen es gelang, bis Ende August 1939 ca. 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland nach Großbritannien (und auch nach Schweden) zu retten.

In dieser Zeit arbeitete Wollheim fast rund um die Uhr für die Organisation der Kindertransporte in der Reichsvertretung der Juden in Deutschland: Telephonische Verbindungen nach Großbritannien benötigten oftmals drei oder vier Stunden, sodass die Gespräche in der Nacht geführt wurden. Die Passierscheine, die Listen für die einzelnen Transporte, die Organisation der Anreise der Kinder und Jugendlichen von außerhalb zu einem zentralen Sammelpunkt in Berlin, und die ständige Überwachung durch die Gestapo: all dies führte zu einem gewaltigen Arbeitsaufwand.

Die Arbeit war nicht nur physisch anstrengend, sondern auch psychisch: denn die Trennung traf nicht nur die Kinder, sondern genauso die Eltern und Geschwister, die im Deutschen Reich zurückbleiben mussten. Für den Abschied hatte Wollheim jeweils einen eigenen Raum am Bahnhof angemietet, denn die Gestapo hatte verboten, dass die Eltern bis an den Zug mitkommen durften.

Die Organisatoren der Kindertransporte mussten nicht allein die abreisenden Kinder betreuen, sondern auch stets den Angehörigen Trost spenden.

Bei den ersten Kindertransporten durften die deutschen Betreuer nur bis zur Reichsgrenze mitreisen, doch schnell konnte erreicht werden, dass Begleiter bis nach London mitreisen durften. Die Auflagen waren aber sehr streng: Alle Begleitpersonen mussten garantieren, dass sie auch ins Deutsche Reich zurückkehrten – im Falle der Flucht würde ansonsten das gesamte Programm der Kindertransporte sofort abgebrochen. Norbert Wollheim konnte es jenen, die ihn drängten, sich selbst auch zu retten, nicht recht verständlich machen, dass er aus Verantwortung für die noch zu rettenden Kinder in das Deutsche Reich zurückkehren musste. Zumal er seine Angehörigen und seine Ehefrau nicht im Stich lassen wollte.

Nach dem Kriegsbeginn im September 1939 wurde eine Auswanderung nahezu unmöglich. Wollheim verblieb in Berlin und betätigte sich bis zum Herbst 1941 in der so genannten Umschichtungstelle der Reichsvereinigung für den Bereich handwerkliche Ausbildung. Er selbst ließ sich in seiner Freizeit erfolgreich zum Schweißer ausbilden.

Im Gefolge der »Fabrik-Aktion« im Februar und März 1943 wurde auch Norbert Wollheim, seine Frau und sein Sohn Uriel verhaftet. Bis dahin hatten sie zu dritt in einem Zimmer in einem Arbeiterwohnhaus in Berlin Halensee gewohnt.

Nach einem kurzen Aufenthalt im Sammellager in der Großen Hamburger Straße wurde die Familie nach Auschwitz deportiert.

Dort angelangt wurde Norbert Wollheim von seiner Frau und seinem dreijährigen Sohn getrennt. Nach dem Krieg wiederholte er stets, dass dies das letzte Mal gewesen sei, dass er seine Frau und seinen Sohn gesehen habe.

Im folgenden stütze ich mich sowohl auf die Aussagen von Norbert Wollheim im Nürnberger Nachfolgeprozess gegen die Verantwortlichen der IG-Farben (Fall 6), als auch auf die biographische Skizze von Sigrun Jochims-Bozic in dem Band Juden in Schleswig-Holstein. [5]

Wollheim selbst wurde mit den anderen Männern, die als »arbeitsfähig« angesehen wurden, auf Lastkraftwagen fortgebracht. In einer Ziegelbaracke mussten sie alle Uhren, Ringe, Geld sowie alle Wertsachen in einen großen Koffer werfen. Als einer der Männer protestierte, hörte Wollheim einen der SS-Männer lapidar sagen: »Hier braucht man nichts.«

Nach Desinfektion und Dusche erhielten sie die gestreifte Häftlingskleidung. Am nächsten Morgen erfolgte die Registrierung, die Häftlingsnummer [107984] wurde ihm in den linken Unterarm tätowiert und auf einem Stück Stoff aufgedruckt auch an Jacke und Hose angebracht.

Die neuangekommenen Häftlinge gerieten zuerst in das Kommando 4, das sogenannte »Todeskommando«: hier mussten die Häftlinge Züge mit Zementsäcken entladen. Wer die Arbeit nicht im Laufschritt erledigte wurde von den Kapos oder den Aufsehern geprügelt – oftmals solange bis geschwächte Häftlinge tot am Boden lagen. Norbert Wollheim hielt durch. Er berichtete, er habe soviel Elend und Erniedrigung gesehen, dass er eine Zeitlang jegliches Mitgefühl verlor. Doch im Sommer 1943 erwachte in ihm nach eigener Einschätzung wieder Menschlichkeit. Zudem wurde er im Juni einem Metallfacharbeiterkommando zugewiesen, wo er als Schweißer eingesetzt wurde. Damit erhielt er eine Chance, zu überleben.

Zwei enge Freunde aus seiner Zeit in der Jugendbewegung verblieben im Arbeitskommando 4: sie überlebten nicht.

In dem Facharbeiterkommando fand er größere Möglichkeiten, Kontakte mit anderen Häftlingen wie auch mit britischen Kriegsgefangenen zu knüpfen, die wichtig waren, seinen Überlebenswillen zu stärken.

Mitte Januar 1945 wurden die Lager von Auschwitz evakuiert. Für die Gefangenen begannen die Todesmärsche. Bei Minus 18ºC marschierten die Häftlinge nach Gleiwitz, ein Weg, für den sie 36 Stunden benötigten. In Gleiwitz wurden sie in Güterwaggons gepfercht: 200 Mann pro Waggon. Der Zug wurde in Mauthausen wegen der dortigen Überfüllung abgewiesen und weiter nach Sachsenhausen dirigiert. Am 21. April 1945 erfolgte ein erneuter Marschbefehl: diesmal in Richtung Mecklenburg. In der Nacht vom 2./ 3. Mai 1945 beschloss Wollheim mit einigen Freunden zu fliehen. Am nächsten Morgen trafen sie auf amerikanische Soldaten. Sie waren in der Nähe von Schwerin, wohin sie zu Fuß gingen. Die drei Dutzend Überlebenden, die sich nach der Befreiung in Schwerin fanden, wurden von den amerikanischen Truppen vor der Übergabe des Gebietes an die Rote Armee nach Lübeck gebracht.

Um die Hilfe für die Überlebenden zu organisieren, begann Wollheim in Lübeck das jüdische Gemeindeleben wiederaufzubauen. Dabei kam er schnell auch in Kontakt mit dem DP-Camp Belsen und dem dort tätigen Josef (Jossele) Rosensaft.

Im DP-Camp Belsen fand im September 1945 der erste Kongress der befreiten Juden in der Britischen Zone statt. Wollheim wurde zum zweiten Vorsitzenden des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone gewählt. Im folgenden Jahr erfolgte seine Wahl zum Vorsitzenden des Zonenausschusses der jüdischen Gemeinden.

In der britischen Zone bildeten deutsche Juden und osteuropäische DPs gemeinsam eine Organisation (anders als z.B. in der amerikanischen Besatzungszone). Die Herkunft spielte keine Rolle und Wollheim betonte: »Wir waren alle Juden und betrachteten uns nur als Juden.« [6]

Zu seiner Aufbauarbeit gehörte auch die Beteiligung an der Gründung der Jewish Trust Corporation for Germany (JTC) (der Nachfolgeorganisation des britischen Rückerstattungsgesetzes von 1949 für das Vermögen der zerstörten jüdischen Gemeinden und Organisationen sowie für das erbenlose Vermögen, das den Eigentümern aufgrund der NS-Judenverfolgung entzogen wurden war). [7]

Ebenfalls unter das Motto Wiederaufbau jüdischen Lebens möchte ich seine zweite Heirat mit Friedel Löwenberg im Jahr 1947 stellen: in den folgenden Jahren bekam das Paar, das sich im DP-Camp Belsen kennen gelernt hatte, zwei Kinder: Peter Uriel (geb. 12.6.1948) und Ruth (geb. 3.12.1950).

Das Engagement von Norbert Wollheim führte ihn als Zeugen in den Hamburger Prozess gegen Veit Harlan im Jahr 1949. Der Regisseur des berüchtigten Films »Jud Süß« wollte sich damit verteidigen, sein Film habe nichts zur antijüdischen Propaganda beigetragen – Wollheim erklärte hingegen, welche Auswirkungen der Film auf die im Deutschen Reich lebenden Juden hatte und stellte klar, was die nationalsozialistische Verfolgung für die Juden im Alltag bedeutete. [8]

Hier knüpfte sich auch der Kontakt zu Erich Lüth. Der Pressesprecher der Freien und Hansestadt Hamburg erwähnt in seinen Erinnerungen einen Kreis um Norbert Wollheim, zu dem u.a. Karl Marx (Düsseldorf), Eliahu Livneh (München), Henrik G. van Dam, Harry Goldstein, Dr. Berthold Simonsohn, Konrad Hoffmann, Rudolf Küstermeier und Erich Lüth gehörten.

»In meiner eigenen Erinnerung« schreibt Lüth, »empfinde ich Norbert Wollheim, Lübeck, der das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatte, als einen primus inter pares; er war es nicht in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Verbandes jüdischer Gemeinden der Britischen Besatzungszone, sondern wegen seines Temperaments, seiner Aufgeschlossenheit und seiner Kontaktfreudigkeit.« [9]

In diesem Umfeld und nach einem Vortrag von Wollheim im Deutschen Presseclub (Hamburg) entwickelte Lüth als Ersatz für die ausgebliebene Antwort Adenauers auf Ben Gurions Fragen die Idee für die Aktion »Friede mit Israel«. Diese Initiative wurde u.a. mit einer Radiodiskussion im Nordwestdeutschen Rundfunk am 31. August 1951 einem großen Publikum bekannt gemacht (an dieser Diskussion nahm auch Wollheim teil). Der Aufruf wurde durch eine ganze Reihe von Zeitungen unterstützt. [10]

Bei einem Treffen im Januar 1950 mit dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss in Kiel nutzte Norbert Wollheim die Gelegenheit, um Kontakte zwischen jüdischen Organisationen und deutschen offiziellen Stellen zu fördern. Zugleich warnte er eindringlich vor den Gefahren eines wieder auflebenden Rechtsextremismus. [11] Ein Punkt, der ihn vor seiner Emigration sehr bedrückt haben muss: »Wir stehen am Vorabend einer nazistischen Restauration in Deutschland. Die guten Demokraten können sich hier nicht durchsetzen.« [12]

Bereits im Jahr 1947 war Norbert Wollheim als Zeuge im Prozess gegen die Verantwortlichen von IG-Farben in Nürnberg aufgetreten. Seine Aussagen in diesem Nürnberger Nachfolgeprozess haben mitgeholfen, die Verantwortlichkeit der Manager von IG-Farben für die rücksichtslose Ausbeutung der Häftlingsarbeiter festzustellen. [13] Die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg hatten das Ziel, ein strafrechtliches Urteil über die Hauptverantwortlichen für die verschiedenen Verbrechen des Nazi-Regimes zu fällen (ohne hier in Details gehen zu können stelle ich nur Stichworte in den Raum: Militär, Bürokratie, Wirtschaft, SS, Ärzte).

Im Folgenden widme ich mich dem Thema Entschädigung und Wollheims Prozess gegen IG-Farben in Abwicklung.

Zu diesem Thema liegen bereits ausführliche Darstellungen vor, auf die ich mich im Weiteren stützen werde: zum einen den Aufsatz von Wolfgang Benz über den Wollheim-Prozess und das Kapitel »Auschwitz Surivor vs. IG Farben« in dem Buch von Benjamin B. Ferencz. [14]

Ein Gläubiger-Aufruf durch die Tripartite IG Farben Control Group in der Tagespresse war 1950 Anlass für Wollheim, bei dem Frankfurter Rechtsanwalt Henry Ormond anzufragen, welche Erfolgsaussichten ein Prozess auf zivilrechtlichem Gebiet gegen die IG Farben haben könne.

Nachdem durch die alliierten Stellen die Klage auf unberechtigte Bereicherung durch vorenthaltenen Lohn zugelassen wurde, konnte im November 1951 die Klage beim Landgericht Frankfurt/Main eingereicht werden. Wollheim und sein Anwalt Ormond hatten die Forderung auf 10.000 DM gestellt. Dieser Betrag war eher prozessualen Formalitäten geschuldet, als dass er eine angemessene Entschädigung für das erlittene Unrecht und die vorhandenen Schäden darstellte.

Das Verfahren erregte damals erhebliches öffentliches Aufsehen. Die Verteidigung von IG-Farben in Abwicklung beharrte lange Zeit auf der Abwehr jeglicher Verantwortung für das Schicksal der Häftlingssklaven in ihrem Werk »IG Auschwitz O/S«. Die Argumentationen der Verteidigung wiederholten die Muster aus den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen: die Wirtschaft habe nur als Erfüllungsgehilfe des Nazi-Regimes gehandelt und nicht aus eigenem Willen. Alle Verantwortung liege daher ausschließlich beim Staat. Für die Behandlung der KZ-Häftlinge seien ausschließlich die Wachen der SS zuständig gewesen. Und schließlich: die Häftlinge seien willig zur Arbeit bei IG Farben gewesen, da es ihnen im Stammlager Auschwitz schlechter ergangen sei und zudem sei an die bei IG Farben beschäftigten Häftlinge die »Buna-Suppe« ausgegeben worden.

Die Darstellungen der vom Landgericht vernommenen Zeugen konnten nicht gegensätzlicher ausfallen: die einen beschrieben die Hölle auf Erden und für die anderen erschien Auschwitz-Monowitz eher wie ein Erholungslager.

Das Urteil des Landgerichtes Frankfurt/M. vom 10. Juni 1953 gab Norbert Wollheim in allen Punkten recht und verurteilte IG Farben zur Zahlung von 10.000DM.

In der Begründung des Urteils bewertete das Gericht auch die Entlastungszeugen von IG-Farben: »Diese Zeugen waren es, die versuchten, alles abzustreiten, sich mit Nichtwissen oder Unzuständigkeit zu entschuldigen oder abwegige theoretische Ausführungen zu machen oder sich angesichts des Unglücks und Todes von vielen Tausenden von Menschen, ihrer Mitarbeiter, auf hässliche Ausflüchte zurückzuziehen oder sogar unverständliche, jedenfalls unmenschliche und auch sachlich unrichtige Berechnungen anzustellen (...) Mit dem Nichtwissen der Beklagten verhalte es sich im übrigen wie es wolle: Aus den erwähnten Aussagen der Beklagten folgert die Kammer in jedem Fall eine entsetzliche Gleichgültigkeit der Beklagten und ihrer Leute gegenüber dem Kläger und den gefangenen Juden, eine Gleichgültigkeit, die nur dann verständlich ist, wenn man mit dem Kläger unterstellt, die Beklagte und ihre Leute hätten damals den Kläger und die jüdischen Häftlinge tatsächlich nicht für vollwertige Menschen gehalten, denen gegenüber eine Fürsorgepflicht bestand.« [15]

Gegen dieses Urteil wurde Berufung eingelegt und zwei Gütetermine im Juli und Oktober 1954 scheiterten. Seitens der Claims Conference war man lebhaft am Ergebnis dieses Testfalles interessiert, da mehrere tausend Sklavenarbeiter von IG Auschwitz ebenfalls Ansprüche angemeldet hatten. [16] Schließlich kam es 1955 zur mündlichen Verhandlung vor dem OLG Frankfurt/M. Die Verteidigung war durch eine Vielzahl von bekannten Rechtsanwälten vertreten (u.a. auch Rechtsanwälte, die bereits in den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg als Verteidiger aufgetreten waren).

Auf der Seite von Norbert Wollheim traten nun auch weitere Anwälte auf, wie z. B. Otto Küster (der u.a. die deutsche Delegation bei den Wiedergutmachungsverhandlungen in Wassenaar leitete, die zu den Luxemburger Abkommen mit Israel und der Claims Conference im Jahr 1952 führten).

In seinem Plädoyer am 1. März 1955 führte Otto Küster aus:

»Es wäre viel daran gelegen, dass gerade die Beklagte eingesehen hätte, was ja das deutsche Volk als Ganzes in der Wiedergutmachungsgesetzgebung auch einzusehen sich entschlossen hat: man ist ganz gewiss ohne viel eigene Bosheit da hineingeraten, ohne mehr Bosheit, als den Menschenherzen durchschnittlich und von Natur eben innewohnt – aber diese Gefühl der eigener Harmlosigkeit ändert doch nichts daran, dass das entsetzlichste Unrecht im deutschen Namen begangen wurde, und ändert im Fall dieser Beklagten nichts daran, dass ein Werk der IG den Namen des Ortes trug, der – es sei denn, die bisherige Geschichte habe ein Ende – in die Jahrhunderte hinaus als der Ort der irdischen Hölle bekannt bleiben wird.

Sie hat sich nicht ermannen können, daraus die Konsequenz zu ziehen, die Konsequenz, mit der unter Menschen Unrecht gesühnt wird.

So war es meine Aufgabe, unter absichtlicher Isolierung einer Position einen ergänzenden Nachweis dafür zu führen, dass zunächst einmal der heute verhandelte Klageanspruch begründet ist:

dass nach einer Grundvorschrift unseres alltäglichen bürgerlichen Gesetzbuches für einen bis auf unsere Tage ganz und gar außeralltäglichen Schaden Entschädigung geschuldet wird, und zwar diesem Kläger von diesem Beklagten.« [17]

Nach dem Sieg in der ersten Instanz hatten sich Wollheim und sein Anwalt Ormond an Nahum Goldmann und die Claims Conference gewandt, da sie die Schwierigkeiten sahen, die noch vor ihnen lagen. Eine große Anzahl von weiteren Überlebenden hatten sich in der Zwischenzeit bei der Kanzlei von Ormond und anderen Stellen gemeldet.

Im Februar 1957 kam schließlich eine außergerichtliche Einigung zu Stande: IG Farben verpflichtete sich 30 Mio. DM an die Überlebenden von IG Auschwitz zu zahlen. Ein eigenes Bundesgesetz musste geschaffen werden, um die nötige Rechtssicherheit für IG Farben i. A. zu schaffen, danach waren alle früheren Zwangsarbeiter aufgerufen, ihre Forderungen bis zum 31. Dezember 1957 geltend zu machen , anderenfalls verfielen sie.

Von diesem Fonds behielt die IG Farben einen Betrag von 3 Mio. DM zurück für die Entschädigung der nichtjüdischen Zwangsarbeiter, 27 Mio. DM gingen über die eigens dafür gegründete Compensation Treuhand GmbH (Frankfurt/Main) an die Berechtigten in 42 Ländern zu den fast 5.900 Überlebenden, die eine Zahlung von 5.000 DM erhielten (bei weniger als 6 Monaten Haft 2.500 DM); hinzu kamen Zahlungen an über 1.800 notleidende Hinterbliebene aus den Zinseinkünften, die ca. 3,5 Mio. DM ausmachten. [18]

Norbert Wollheim nahm auch nach seiner Emigration in die USA 1951 aktiv teil am Prozess wie auch an der Verteilung der Mittel aus dem Vergleich mit IG Farben. Er gehörte zu dem New Yorker Prüfteam ehemaliger Auschwitz-Häftlinge, das die Anträge auf die individuelle Berechtigung überprüfte (für Antragsteller aus den Vereinigten Staaten). [19]

Doch auch nach dem Abschluss der Auszahlungen von Entschädigungen nach dem Vergleich mit der IG-Farben blieb Norbert Wollheim ein aufmerksamer Beobachter der Entwicklungen in Deutschland, neben seiner beruflichen Tätigkeit als Buchprüfer und Wirtschaftsberater in New York.

Bei verschiedenen Gelegenheiten besuchte er Deutschland wieder. So kam er als Mitglied der Verhandlungsdelegation der Claims Conference im September 1992 zu den Diskussionen über den Artikel-II-Fonds mit dem Bundesfinanzministerium in Berlin. Er betonte bei dieser Gelegenheit, dass es nicht um abstrakte Beträge ginge, sondern um das Schicksal von einzelnen Menschen. Die Hilfe für diese Überlebenden, blieb ihm stets ein Herzensanliegen. [20]

Ich möchte mit einem Zitat enden: dem Schlusssatz aus Dr. Karl Broziks Nachruf auf seinen Freund Wollheim:

»Norbert Wollheim s. A. ist ein Vorbild in seinem Engagement für Menschlichkeit und Gerechtigkeit, sein Tod am 1. November 1998 ein Verlust für uns alle.« [21]

 



*    Der Text ist eine überarbeitete und mit Fußnoten versehene Fassung des Vortrages vom 28. April 2005, IG Farben-Haus, Casino, Frankfurt am Main. Ich danke Werner Renz (Fritz Bauer Institut) für seine wichtigen Literaturhinweise.

[1]    Mark J. Harris, Deborah Oppenheimer: Kindertransport in eine fremde Welt. München 2000, S. 130.

[2]    Z. B.: Vortrag in Hildesheim am 24.04.1934. Seite der Jugend. Blätter des Bundes Deutsch-jüdischer Jugend. Beilage der CV-Zeitung. Nr. 11, v. 03.05.1934 (zit. nach: Jörg Schneider: Die jüdische Gemeinde in Hildesheim von 1871 – 1942. Göttingen 1999).

[3]    Kindertransport, S. 64.

[4]    Kindertransport, S. 113.

[5]    Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals. Washington 1952, Bd. VIII, S. 589-603; sowie Sigrun Jochims-Bozic: «Lübeck ist nur eine kurze Station auf dem jüdischen Wanderweg”. Jüdisches Leben in Schleswig-Holstein 1945–1950. Berlin 2004, S. 58 ff.

[6]    Michael Brenner: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950. München 1995, S. 144.

[7]    Zur JTC vgl: C. I. Kapralik: Reclaiming the Nazi Loot. London 1962.

[8]    Norbert Wollheim: »Die Behandlung der Judenfrage durch die nationalsozialistische Regierung«, in: Herbert Prado, Siegfried Schiffner: Jud Süss. Historisches und juristisches Material zum Fall Veit Harlan. Hamburg 1949, S. 11–14. Vgl. auch : Thomas Henne, Arne Riedlinger (Hrsg.): Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Berlin 2005.

[9]    Erich Lüth: Die Friedensbitte an Israel 1951. Eine Hamburger Initiative. Hamburg 1976, S. 17.

[10] Lüth: Friedensbitte, S. 20.

[11] Yeshayahu A. Jelinek: Zwischen Moral und Realpolitik. Gerlingen 1997, Dok. Nr. 4 und Dok. Nr. 7.

[12] Allgemeine jüdische Wochenzeitung vom 20.07.1951, S. 7.

[13] Vgl. die eidesstattliche Erklärung Wollheims vom 3.6.1947, Nürnb. Dok. NI-9807.

[14] Wolfgang Benz: »Der Wollheim-Prozess. Zwangsarbeit für I.G. Farben in Auschwitz«, in: Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Ludolf Herbst und Constantin Goschler. München 1989, S. 301–326 und Benjamin B. Ferencz: Less Than Slaves. Jewish Forced Labor and the Quest for Compensation. Cambrigde/MA 1979, S. 33–67 (dt.: Lohn des Grauens. Die verweigerte Entschädigung für jüdische Zwangsarbeiter. Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Frankfurt/M. 1986).

[15]   Zitiert nach: Benz: »Wollheim-Prozess«, S. 311.

[16]   Conference on Jewish Material Claims Against Germany. Annual Report 1955, S. 194.

[17]   Otto Küster: »Das Minimum der Menschlichkeit. Plädoyer«, abgedruckt in: Sklavenarbeit im KZ. Dachauer Hefte, 2, Dachau 1886, S. 173 f.

[18]   Ferencz, S. 210 f.

[19]   Ferencz, S. 52 f.

[20] Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Göttingen 2005, S. 442.

[21] Karl Brozik: »Nachruf auf Norbert Wollheim«, in: NEWSLETTER. Informationen des Fritz Bauer Instituts. Nr. 16, 8. Jg., Frühjahr 1999, S. 22.


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