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"... repressive Moral, wie bei den Pietisten"

Wie Autonomen-Chronist Geronimo autonome Politiken meint kritisieren zu müssen.

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Die allenthalben beklagte Krise 'der Autonomen‘ ist spätestens mit dem Autonomie-Kongreß 1995 zum Allgemeinplatz geworden. Mangelnde Auseinandersetzungsbereitschaft zwischen sich vermeintlich immer mehr abschottenden Szenen bereite über kurz oder lang das Ende 'der Autonomen‘; einer politischen Bewegung, die, so scheint es, ihre Homogenität wie so viele andere erst im Nachhinein zugewiesen bekommt. Die Schuldigen an der 'Krise der Autonomen‘ sind schnell benannt: autonom-feministische Kulturkämpferinnen und die ihnen mit vorauseilendem Gehorsam folgenden autonomen Männergruppen - so zumindest Autonomen-Chronist Geronimo.

Mit Glut & Asche hat Geronimo nach Feuer & Flamme und Feuer & Flamme II im letzten Jahr sein drittes Buch über die autonome Bewegung vorgelegt. Während sich Feuer & Flamme, 1990 erstmalig erschienen und inzwischen in fünfter Auflage zu einem 'Bestseller‘ avanciert, der Beschreibung einer Geschichte der autonomen Bewegung widmete, nimmt sich nun Glut & Asche den autonomen Politikbegriff zum Gegenstand der Kritik. Nicht zuletzt dieser habe zur aktuellen Krise der Autonomen beigetragen.

"Die Bemühungen um einen Begriff des 'Politischen‘ sollen unbedingt dazu dienen, sich in der Beschreibung und Analyse von den umfänglichen, in der autonomen Bewegung selbst vorhandenen, unpolitischen Verfahrens-, Handlungs- und Denkweisen abzugrenzen. Diese Schrift soll das 'Politische‘ gegen als 'politisch‘ maskierte, rassistische, therapeutische, juristische, moralische und auch terroristische Diskurse verteidigen. Dabei werde ich die von 68 ausgehende Entgrenzung des Politischen reflektieren und zum Teil argumentativ zurechtrücken."(Geronimo 1997: 28f)

Für diese "Entgrenzung des Politischen" werden neben antirassistisch und antifaschistisch arbeitenden Gruppen im autonomen Kontext organisierte Feministinnen verantwortlich gemacht, die in den 80er Jahren "die Parole, daß das Private politisch sei" in einer Art und Weise interpretiert hätten, daß eine "Praxis eines dauernden Kontrollblicks auf individuell privates Verhalten organisiert werden konnte. Was dabei (nicht nur) bei 'Autonomen‘ oft rauskam, war gerade nicht 'Politik‘ oder etwas 'Politisches‘, d.h. keine Diskussion, kein Streit, kein Aushandeln, sondern bloß repressive Moral, wie bei den Pietisten." (Ebd.: 181)

Kritisierter "Kontrollblick" ist für Geronimo nicht zu unterscheiden von der Herrschaftsförmigkeit der kapitalistischen Privatsphäre, die eben immer auch mehr ausmache als bloße Reproduktion. Das Private sei ein notwendiger Rückzugsbereich, der anderes biete, als sich lediglich 'Fit for Fun‘ machen zu können und die 'privaten‘ Sexismen und Rassismen ausleben zu können: "Dabei ist das Nicht-Politische keineswegs un-politisch. Es ist einfach nur privat, oder in einer Form öffentlich, die nicht zwangsläufig etwas mit Politik zu tun haben muß. Auch wenn die Begriffe 'privat‘ und 'politisch‘ voneinander völlig unabhängig nicht zu denken sind, weil sie sich bedingen und sich ohnehin nicht statisch oder gar völlig abgeschlossen zueinander verhalten, so lassen sie sich eben doch nicht mit der Forderung: 'das Private ist politisch!‘ einfach so kurzschließen." (Ebd.: 29)

Die massiven Eingriffe herrschender Politik in einen der letzten Rückzugsbereiche der Individuen, das Private, sieht Geronimo als eines der zentralen gesellschaftlichen Probleme an und kritisiert, daß eine politische Bewegung wie die der Autonomen unkritisch eben diese hegemoniale Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft reproduzieren und den direkten politischen Eingriff mittels Kontrolle in diesen Bereich befördern würde.


Private Property

Mit diesem Argumentationsmuster befindet er sich in berühmter Gesellschaft. Schon in der Debatte um eine kritische Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse in den 20er und 30er Jahren wurde von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Erich Fromm und anderen die These vertreten, die Familie, respektive die private Sphäre, als Ort der Charakterbildung sei notwendig, um den direkten Einfluß kapitalistischer Herrschaftszusammenhänge auf die Individuen zumindest in Ansätzen einzudämmen und die Möglichkeit zur Herausbildung eines starken Ichs zu ermöglichen. Der damals analysierte Autoritäre Charakter, ein sich nach den Ge- und Verboten der herrschenden Ordnung orientierender Typus mit starken Ängsten vor den Ansprüchen des eigenen Es, sei unter anderem Ergebnis der Zerrüttung der bürgerlichen Familie. Wenn insbesondere Horkheimer die nicht marktvermittelten Beziehungen in der Familie idealisiert, trifft sich das mit Geronimo, der den 'das Private ist politisch‘-Gedanken letztlich aus genau denselben Gründen für so bedrohlich hält:

"Denkt man den 'das Private ist politisch‘-Gedanken nämlich weiter als nur als richtigen Angriff auf ein offenkundig gewordenes Mißverhältnis zwischen politischen Ansprüchen und Idealen auf der einen und einer eklatant dazu im Widerspruch stehenden Alltagspraxis auf der anderen Seite, so können sich - je nach Kontext - in dieser Parole auch totalitäre Tendenzen ausdrücken, die das 'Private‘, verstanden auch als einen notwendigen Ort des Rückzugs und der intimen Reproduktion des Individuums, zu vernichten drohen." (Ebd.: 180)

Sicherlich, die Auswirkungen, die benannter Kontrollblick und totalitäre Elemente der Kategorie des Verhaltens haben können, tragen durchaus repressive Züge. Diese repressiven Elemente können über die innerhalb von Subkulturen wie der autonomen üblichen, zum Teil äußerst rigiden Codes, Kleider- Sprech- und Themenordnungen hinausgehen. Die Vorstellung vom 'ganzheitlichen Leben‘, welche sich in der Kategorie des Verhaltens wiederfindet, ignoriert, daß gesellschaftliche Widersprüche in die Körper eingeschrieben sind. Produktiver als eine solche Einheit herbeizusehnen wäre sicherlich, sich der Widersprüchlichkeit des eigenen Verhaltens innerhalb der verschiedensten Konflikte zu vergewissern. Kritik gängiger autonomer Praxis- und Theorieformen ist hier auf jeden Fall angebracht, es kommt allerdings darauf an, welche Kritikstrategien bemüht werden.

Indem Geronimo solchen Einheitsvorstellungen entgegenhält, daß es notwendige Orte des "Rückzugs" und der "intimen Reproduktion" geben müsse, ignoriert er, daß die Kritik an der Trennung von "privater" und "politischer" Sphäre nicht etwa behauptet, daß es solche Rückzugsmöglichkeiten nicht geben dürfte, sondern daß es sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft für verschiedene gesellschaftliche Gruppen in den verschiedensten Ausprägungen gibt. Die Vorstellung einer von zahlreichen Maßregelungen durchzogenen öffentlichen und einer von diesen befreiten privaten Sphäre ist Bestandteil bürgerlicher Ideologie. Die Subjekte werden auf eindeutige Identitäten reduziert, kontrolliert, diszipliniert und normalisiert - und das nicht nur im Rahmen 'öffentlicher‘ Herrschaft, sondern gerade innerhalb privater Nischen. Das Private als Ort eines Rückzuges, der das Andere zu öffentlichen und politischen Räumen verkörpern soll, darzustellen, öffnet vielmehr Raum für Projektionen. Ähnlich, wie bei Horkheimer etwa die Mutterfigur, die als Projektionsfläche für alle denkbaren nicht marktvermittelten sozialen Kompetenzen steht, so läßt sich bei Geronimo auch im Umkehrschluß seine kleine Welt herausfiltern: unkontrolliert, unpolitisch und individuell, eben "einfach nur privat".

In seinem Einsatz für das Private als persönlichem Ort der Freiheit ist Geronimo, ohne den Begriff selbst im Munde zu führen, mitten in der Debatte um Political Correctness gelandet. In seiner Suche nach einem angemessenen Politikstil für die 90er Jahre lehnt er die Rückkoppelung des oben beschriebenen Privaten an eine wie auch immer geartete politische Sphäre ab und bedient sich dabei einer klassisch zu nennenden Anti-PC Argumentation: "Die im Zusammenhang mit dem Gedanken, daß das Private politisch ist, dargelegten Überlegungen zu totalitärem Kontrollanspruch, Kurzschluß und relativem Scheitern unter veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen läßt mich insgesamt eine große Distanz zu dem Begriff des 'Verhaltens‘ als Kategorie für politische Auseinandersetzungen einnehmen." (Ebd.: 182)

Anti-PC, so wie es sich in den letzten Jahren auf Feuilletonseiten, Kinoleinwänden und 'coolen Partys‘ etablierte, steht für das Zurückdrängen von Öffentlichkeit als kritischer Instanz - einer Idee von Öffentlichkeit freilich, die selbst noch in ihrer Ablehnung völlig überzeichnet wird. Enttabuisierung ist dabei sozusagen der Zwischenschritt zur Privatisierung und bedeutet in diesem Kontext nichts anderes, als das einer als potentiell kritisch und herummäkelnd wahrgenommenen Öffentlichkeit mit rebellischem Pathos ein Recht auf etwas nicht-Kritisierbares entgegengesetzt wird. Die schon klassisch zu nennende Floskel, der sexistische oder der rassistische Scherz sei 'nur Spaß‘ und deswegen unangreifbar, verweist auf den Wunsch, Kritik verbannen zu wollen. PC, das "buzzword der konservativen Gesellschaftskritik" (Adolphs/Karakayali 1998: 21), "wird zum Vernetzungsknoten, mit dem sich verschiedene Diskursstränge zu unterschiedlichen Themen verbinden lassen, u.a. können damit Ausgrenzungsdiskurse gebündelt werden, die dann in den Dienst von Täter-Opfer-Umkehrungen gestellt werden." (Ebd.)

Diese, als konservativ zu bezeichnende Gesellschaftskritik ist freilich nicht nur im rechten Lager zu verorten. Während die Rechten einen angeblich viel zu großen Einfluß von 68ern und Neuen sozialen Bewegungen zurückdrängen wollen, straft eine bestimmte Spielart linker Publizistik inzwischen fast jede Form inhaltlicher Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten mit ihrem berühmten titanic-Zynismus. Sicherlich, der friedensbewegte 'Gutmensch‘ und die 'Betroffenheits‘-Sozialdemokratin, die besonders in den 80er Jahren den immanenten und damit letzlich herrschaftsstabilisierenden Charakter der sogenannten kritischen Öffentlichkeit prägten, verdienen eine linksradikale Kritik. Anti-PC wurde diese Form der Kritik in titanic, jungle World, konkret und anderen Organen dieser Preisklasse erst, als sie sich auf reine Sprachkritik reduzieren ließ, die völlig von den Inhalten des Kritisierten abstrahierten: "Die Kritik an den Gutmenschen [schließt; G.O.] in der Regel von schlechtem und falschem Deutsch auf schlechte und falsche Gesinnung, von klischeehafter Sprache auf naives Denken und von unerträglicher öffentlicher Gestik auf die Falschheit des mit dieser Gestik Unterstrichenen." (Diederichsen: 1996: 113)


Anti-Feminismus

Anti-PC ist in diesem Sinne eine originär antifeministische Position, da Feminismus, ungeachtet seiner vielen verschiedenen Spielarten und Fraktionen, in seiner Gesamtheit für die kritische Thematisierung von patriarchaler Herrschaft, die nicht ohne die Aufteilung in eine private und eine öffentliche Sphäre zu denken ist, steht. (Vgl. Frank 1996) Diese Art der Thematisierung von Herrschaft, von Geronimo als "Entgrenzung des Politischen" beschrieben, soll im Diskurs der Anti Political Correctness zurückgedrängt werden. Wer wie Geronimo von "Entgrenzung" spricht, hat eine gewisse "Normalität" vor Augen, zu der er gerne wieder zurückkehren möchte. Ähnlich wie in den großen Anti-PC Attacken in Zeit, Spiegel oder FAZ ist auch hier der Ruf nach Normalität die Kernaussage, deren Bedeutung über den vermeintlichen Inhalt hinausgeht. Normalität wird zur Chiffre für den Wunsch nach klaren politischen Fronten und Gewißheiten in einer komplexen, von verschiedensten Herrschaftsmechanismen durchzogenen Welt. Schon allein die Beteiligung neuer sozialer Gruppen am Kampf um Vormachtstellungen wirkt bedrohlich auf diejenigen, die die Bedeutung ihres den bisherigen Einfluß absichernden sozialen und kulturellen Kapitals schwinden sehen. (Vgl. Adolphs/Karakayali 1998: 21f)

Obwohl Geronimo eine '80er Jahre-Bequemlichkeit‘ autonomer Feministinnen an den Pranger stellt, produktive Unruhe, Streit und Auseinandersetzung einfordert - sich somit selbst auf der progressiven Seite verortet - ist es sein Standpunkt, der von einem Normalismus durchzogen ist. Eine Situation auf dem Abschlußplenum des Autonomie-Kongresses erscheint ihm symptomatisch: "gegen jede Art von 'Benimmregeln'" (Geronimo 1997: 169) wollte er "rebellieren" (ebd.) was ihm jedoch keine produktive Unruhe, sondern lediglich den Entzug des Rederechtes einbrachte. Einer Kritik an Formen folgte eine formale Reaktion, könnte an dieser Stelle eingewandt werden, Geronimo sieht hier allerdings den Untergang emanzipativer Politik aufscheinen. Unhinterfragt bleibt indes der Standpunkt seiner Rede: Worin besteht denn das gemeinsame politische Projekt, welches eine inhaltliche Erwiderung auf die 'Benimmregel-Kritik‘ notwendig gemacht hätte? Wer bestimmt denn, welche Positionen Bestandteil einer Debatte sein sollen? Indem Geronimo Definitionen des Politischen setzt, die sich an einem gemeinsamen autonomen Projekt orientieren, von dem wiederum andere "Notwehridentitäten" behaupten, daß es als gemeinsames nicht mehr existiert, versucht er eine autonome Identität durchzusetzen, die seiner eigenen Argumentation folgend doch auch nur eine unter anderen 'Notwehr-Identitäten‘ ist.

Geronimos Kritik an der vermeintlichen Verbotspolitik von feministischer Seite ist aber durchaus ambivalent. Einerseits sieht er sich bedroht, andererseits findet er die vermeintlichen Denkverbote und moralischen Tabus lächerlich, da sie angesichts eines realen Mangels an Sanktionsmöglichkeiten wirkungslos seien: "Das Errichten von moralischen Tabus ist immer eine defensive und autoritäre Angelegenheit, die auch in diesem Fall, da sie teilweise auch noch von politischen Verlierern praktiziert wird, lächerlich und hilflos bleibt." (Geronimo 1997: 201) Gerade durch die Betonung dieser Lächerlichkeit und Hilflosigkeit, die doch zumindest die Frage aufwirft, ob denn überhaupt so etwas wie ein feministisches moralisches Tabu besteht, versucht Geronimo seinen Ansatz von "Gegen-Politik" im Glanze einer rationalen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen erscheinen zu lassen: "In der 'großen Politik‘ von oben sollen die kleinen Leute, d.h. wir heute zum Verschwinden gebracht werden. Dagegen hilft keine 'große‘, sondern nur eine andere Gegen-Politik [...]." (Ebd.) Wer hier Wen zum Verschwinden bringen will und wer sich hier selbst als Opfer konstruiert, wird vor dem angedeuteten antifeministischen Hintergrund mehr als deutlich. Insbesondere die Zuschreibung "moralisch" zu sein, dient dazu, Kritik zurückzuweisen und die als moralisch Klassifizierten aus dem politischen Diskurs auszugrenzen: "Der Begriff wird einerseits benutzt, um einem politischen Einwand genau diese Dimension zu nehmen, zum anderen, um den politischen Gegner als von inneren, 'moralischen‘, d.h. letztlich privaten Zuständen her argumentierend zu denunzieren - als weich und feminin, moralisch im Sinne von 'einen moralischen haben‘, weinerlich und nicht männlich-pragmatisch-politisch." (Diederichsen 1996: 17)


Feminismus

Das, was Geronimo mit "Entgrenzung des Politischen" durch die 68er beschreibt, ist indes nicht durch, sondern in Kritik an diesen entstanden. Die neue Frauenbewegung hat in ihren Ursprüngen kritisiert, daß die antiautoritäre Bewegung entgegen ihren kulturrevolutionären Ansprüchen eben nicht die Politisierung des Persönlichen betrieben habe, sondern auf Grundlage eines individualistischen Befreiungsmythos weiterhin alte reaktionäre Verhaltensmuster reproduzierte. Die von Wilhelm Reich inspirierte 'Befreiungspsychoanalyse‘ der 68er wollte der attestierten "Negation der Sexualiät" in der bürgerlichen Gesellschaft, so die antiautoritäre Fraktion, eine "sexuelle Aktion" entgegenhalten, welche die Emanzipation der Individuen voranbringen sollte. Grundlage einer solchen Argumentation ist die von Foucault kritisierte "Repressionshypothese": Herrschaft werde ausschließlich über Repression ausgeübt, Sexualität als einer der am meisten mit Verboten belegten gesellschaftlichen Bereiche sei der Hebel zur Befreiung der Individuen. Der "Sozialismus in einem Haus" (Reimut Reiche) der Kommunen und frühen Wohngemeinschaften führte aber nicht zur Befreiung sondern zur Etablierung eines neuen linken Machismo, dessen Ausläufer heute noch zu beobachten sind.

In Kritik daran hat sich eine feministische Bewegung entwickelt, die sich in ihren Anfängen auf eine spezifisch weibliche Identität stützte, um sich in Abgrenzung zu anderen Identitäten als eigenständige politische Größe zu etablieren. Ansätze wie die von Luce Irigaray, Julia Kristeva oder Monique Wittig machten den Unterschied zwischen einem biologischen Geschlecht (sex) und einem sozialen Geschlecht (gender) thematisierbar und boten somit die Möglichkeit, einem kritisierten Biologismus der weiblichen Identität zu entkommen. Vom Poststrukturalismus inspirierte Theoretikerinnen wie etwa Judith Butler schließlich radikalisierten die sex/gender-Debatte, indem sie der Konstruktionsthese ihren idealistischen Beigeschmack nahmen und nicht nur davon sprachen, daß das soziale Geschlecht im Sinne etwa von Verhaltensweisen konstruiert sei, sondern daß Konstruktion als materieller Prozeß zu verstehen sei, der auch die geschlechtlichen Körper als materielle Basis erst herstellt. Sowohl biologisches, als auch soziales Geschlecht ist demnach als geschlechtliche Identität sozial hergestellt und somit auch potentiell veränderbar beziehungsweise anders thematisierbar als in den bislang hegemonialen Kategorien.

Im Gegensatz zum 'Befreiungsmythos‘ der 68er konnte in der feministischen Debatte ein differenziertes Verständnis von gesellschaftlicher Herrschaft entwickelt werden. Die feministische ist eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige politische Bewegung, die genau das vollzieht, was von Geronimo eingefordert wird: die Thematisierung von und Auseinandersetzung mit Identitätskategorien und den verschiedenen Unterdrückungsverhältnissen. Aber dennoch oder vielleicht gerade wegen dieser Bereitschaft zur Infragestellung eigener politischer Positionen, werden feministische Gruppen beziehungsweise Spielarten des Feminismus immer wieder Gegenstand einer harschen Kritik aus der radikalen und autonomen Linken.


Benimmregeln rules o.k.?

Je mehr sich Geronimo durch eine angebliche feministische Hegemonie bedroht sieht, umso stärker versucht er das Thema Benimmregeln in den Mittelpunkt zu stellen, wohl wissend, daß wirksame Verbote nur eine mit Macht ausgestattete Institution aussprechen kann. Begriffe wie 'Zensur‘, 'Kontrolle‘ oder 'repressives Regelwerk‘ werden bezeichnenderweise häufig im Kontext der Kritik an feministischen Gruppen eingeführt, dienen diese doch immer wieder als Paradebeispiel für repressive 'Benimmregel-Politik'. Eine berechtigte Kritik an der mehr als verklemmten und durch die Herkunft vieler Bewegter aus dem Mittelstand maßgeblich beeinflußten Thematisierung von Sexualität innerhalb der Reste der autonomen Szene - angeführt seien hier nur die diversen Sexualitätdebatten in der interim - sollte sich allerdings nicht in antifeministische Auswege flüchten. Indem immer und immer wieder feministische Gruppen für das gescholten werden, was sie einer angeblich so befreiten Szene angetan haben, wird der Zusammenhang zwischen Macht und Begehren ausgeblendet und einer freien sexuellen Lust und Begierde gehuldigt, die genauso wenig frei ist wie die private Sphäre eine Trutzburg gesellschaftlicher Härten.

Daß die Durchführung von Verboten in szenemäßig organisierten Kulturen nahezu unmöglich ist und somit Verbote, Boykottaufrufe und "Zensur"-Aktionen zu einem hohen Grad symbolisch codiert sind, darauf verweist Diedrich Diederichsen (1996: 162f). Er betont, daß die Thematisierung vermeintlicher Verbote vielmehr der De-Thematisierung des angeblich Verbotenen dient. Die Chimäre des "lustfeindlichen Feminismus" oder der "repressiven Moral" dient demnach der Negativ-Codierung feministischer Positionen im Kampf um die Hegemonie auch innerhalb der autonomen Szene. Wenn Geronimo davon spricht, daß die "Entgrenzung" der Politik es unmöglich mache, politisch zu agieren, so ist davon auszugehen, daß es zuallererst für ihn als Individuum angesichts feministischer Interventionen unmöglich scheint, innerhalb autonomer Zusammenhänge weiterhin unhinterfragt hegemoniale Positionen einnehmen zu können.

Auch die attestierte Politikunfähigkeit der Autonomen ist in diesem Kontext zu entschlüsseln. Ein Begriff aus der Realpolitik, der in der Regel dazu dient, den politischen Gegner zu desavouieren, soll hier dazu herhalten, Feministinnen einer Identitätspolitik zu schelten, die nicht mehr auf dem dekonstruktivistischen Stand der Dinge sei. Diese Kritik, sozusagen aus dem Althusser-Seminar frisch auf den Tisch, fällt angesichts des oben beschriebenen Standes der Diskussion in feministischen Zusammenhängen eher auf die theoretisierenden Kritiker zurück, bleibt sie doch gänzlich abstrakt und somit für einen politischen Kontext unbrauchbar. Wenn Geronimo an diesem Punkt den "Bankrott der feministischen Kritik" (164) erklärt und davon spricht, daß eine "getrennte Geschlechter-Organisierung" (ebd.) nur als "Notwehrorganisierung" (ebd.) zu verstehen sei, sonst münde sie "in eine in jeder Hinsicht antiemanzipatorische Identitätspolitik" (ebd.), so bringt er den abstrakten Charakter dieser Art Dekonstruktivismus auf den Punkt. Welche Art der Organisierung ist denn eine "Notwehrorganisierung"? Wann ist eine solche zu beenden? Ist jegliche Identität ein "Notopfer" in harten Zeiten, dann ist doch auch die "autonome" Identität" eine in Frage zu stellende Organisierung vermeintlich oder tatsächlich Marginalisierter? Was Geronimo als Identitätskritik präsentiert, beantwortet die Frage, wie sich Identitätskritik und eine zwangsläufig auf Identitäten zurückgeworfene Praxis verbinden läßt, nicht.


Kathederdekonstruktivismus

Geronimo versteht demnach seine Feminismuskritik als Kritik an totalitären Identitätskategorien. Er spricht von der "faszinierenden Vision einer revolutionären Einheit zwischen Leben, Politik, Theorie, Kultur, Alltag und Handeln-Können" (Geronimo 1997: 179), die allzu schnell umschlage in Begriffe wie Glaubwürdigkeit und Verhalten, die aufgrund ihres hochgradig ideologischen Charakters im politischen Diskurs als "politische Kategorien" (ebd.) unbrauchbar seien. "Wer in der Politik wessen Privatleben auch immer öffentlich und damit in diesem Zusammenhang 'politisch‘ machen kann, hat die Macht inne. Und vor so einem muß man sich unbedingt in Acht nehmen!" (Ebd: 181) So stellt Geronimo schließlich selbst die Verbindung zwischen Identitätspolitik und dem Streben nach Hegemonie her und verweist somit auf das grundlegende Dilemma: Eine Chance auf hegemoniale Positionen haben letzlich nur identitätspolitisch abgesicherte Interventionen; die geschilderte Abwehr gegen feministische Positionen innerhalb der Autonomen Szene zeigt dies nur zu deutlich. Abstrakte Kritiken an Identität berücksichtigen nicht das politische Feld, innerhalb dessen diese in die bestehenden Strukturen eingepasst werden. Wenn sich eine solche Kritik auch noch in die klassischen Argumente neokonservativer Anti-PC Strategen kleidet, dann kann der antifeministische Kontext nicht mehr von der Hand gewiesen werden.

Es kann hier jedoch nicht darum gehen, jegliche Kritik an feministischen Positionen zu verbieten und in einer Art Trotzreaktion den Benimmregel-Vorwurf nachträglich wahr werden zu lassen. Aber Identitätskritik beziehungsweise Dekonstruktion als theoretische Position, die es erlaubt gesellschaftliche Konstruktionen von vermeintlich vorgängigen Identitäten offenzulegen, muß berücksichtigen, daß es ihr lediglich gelingen kann, diese Dekonstruktion zunächst auf einer beschreibenden Ebene zu vollziehen. Nicht zuletzt verweisen dekonstruktivistische und antiessentialistische Theoretikerinnen wie Gayatri Chakravorty Spivak deshalb darauf, daß diese Art der Kritik nicht ohne Übersetzungsschwierigkeiten in die Praxis umzusetzen ist, sondern lediglich den Unterschied zwischen abstrakter Identitätskritik und einer auf Identitäten aufbauenden Politik markieren kann: "Dekonstruktion ist nicht die Offenlegung von Irrtümern, sondern eine Wachsamkeit angesichts der Tatsache, daß wir ständig genötigt werden, Wahrheiten zu produzieren." (Spivak, zitiert nach Diederichsen: 139)

Gottfried Oy

Superdanke an Astrid, Malou und Micha für Diskussion und Material.


Literatur

Adolphs, Stephan / Serhat Karakayali (1998). "PC-Terror in Campus-World". diskus 1+2, 19-23.

Diederichsen, Diedrich (1996). Politische Korrekturen. Köln.

Frank, Karsta (1996). "PC-Diskurs und neuer Antifeminismus in der Bundesrepublik". Das Argument 213, 25-38.

Geronimo (1997). Glut & Asche: Reflexionen zur Politik der Autonomen Bewegung. Münster.