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Der heute in Italien lebende
73jährige Theoretiker der Außerparlamentarischen Opposition (APO),
Johannes Agnoli, eröffnete Ende April die Veranstaltungsreihe "Von wegen
68 - Wir sind noch nicht zu Ende" des Autonomen Zentrums Marbach a.N.
Anläßlich seines Besuches entstand das folgende Interview.
Wenn 30 Jahre nach 1968 über den damaligen 'gesellschaftlichen Aufbruch' und
seine Folgen diskutiert wird, gleicht diese Diskussion einem seltsamen
Schattenspiel. Dabei treten die alten 68er unter neuen Frontstellungen
gegeneinander an: Die einen behaupten, damals habe der Durchbruch stattgefunden,
der aus der muffigen BRD der 50er Jahre in die freundliche, bunte, weltoffene
Zivilgesellschaft der Gegenwart geführt habe. Die anderen halten dagegen,
daß die einst von ihnen selbst geforderte (und viel zu selten auch
durchgesetzte) Liberalisierung der Gesellschaft es sei, die die Verantwortung
für den gegenwärtigen Werteverfall trage. Ursache von Neo-Rassismus und
angeblich zunehmender Jugendgewalt sei die antiautoritäre Erziehung der 68er,
und deshalb ginge es nun um die Rückkehr zu Familienwerten, Sicherheit,
Ordnung und Sauberkeit. Wenn sich in dieser Diskussion einmal Nach-68er zu Wort
melden, dann allenfalls, um ihre eigenen Interessen in Abgrenzung zu den
Altvorderen mediengerecht zu inszenieren. Das kümmerlichste Bild gibt dabei
wohl die grüne Jugendbewegung ab, wenn sie die Vorherrschaft der 68er in der
Partei beklagt und einmal mehr 'Politikfähigkeit' fordert.
Uns interessiert anderes, wenn wir 30 Jahre später an Johannes Agnoli die
Frage nach den Folgen von 1968 stellen. Die Revolte der 68er und ihrer Nachfolger
hat zweifellos (wenn auch in viel zu geringem Maße) das gesellschaftliche
Klima der BRD verändert. Sie bezog ihre Durchschlagskraft aus einer
fundamentalen Kritik der bundesdeutschen Verhältnisse, die Agnoli
mitformuliert hat. Die Forderungen von 1968 waren utopisch und ihre Artikulation
bediente sich radikaler Formen, die die kulturellen und politischen Konventionen
ihrer Zeit sprengten.
Angesichts des jämmerlichen Bildes der gegenwärtigen Gesellschaft, die
ihre Zukunft nur noch als 'more of the same' zu denken in der Lage ist, ist daran
zu erinnern, daß Zukunft nur aus der radikalen und utopischen
Überschreitung des Gegenwärtigen heraus Gestalt annehmen kann.
Während die Rede von der 'Politikfähigkeit' auf allen Seiten gebraucht
wird, um die Absage an jede Politik zu rechtfertigen, die sich den kapitalistischen
Sachzwängen entgegenstellt anstatt diese zu legitimieren und zu verwalten,
gilt es nach dem Fortdauern der Ansätze jener fundamentalen Revolte zu fragen.
Das Erbe der 68er, ihrer Kämpfe, Illusionen und Desillusionierungen ist
für die heutige Linke ein Steinbruch von Erfahrungen, die es gilt, für
eine radikale politische Praxis nutzbar zu machen: nicht mehr, und auch nicht
weniger. In einer Situation, in der eine konsequent utopische Politik des
'Unmöglichen' als einzig realistische Alternative zu dem langsamen Weg in die
Barbarei erscheint, muß immer wieder nach Möglichkeiten gesucht werden,
sich dieser Paradoxie zu stellen.
AZ: Im vergangenen Winter demonstrierten weit mehr Studierende in der
Bundesrepublik gegen die Zustände an den deutschen Hochschulen als etwa 1968.
Ungeachtet dessen haben sie nichts erreicht. Wieso war die
außerparlamentarische Opposition von 1967/68 gesellschaftlich wichtiger als
jede Form von Opposition heute?
Agnoli: Es geht nicht nur darum, ob man etwas erreicht hat oder nicht,
sondern um das, was gewissermaßen die Substanz der Bewegung ist. Bei einem
Vortrag in Berlin wurde ich gefragt, was der Unterschied sei zwischen 68 und der
heutigen Studentenbewegung. Meine Antwort war zwar schlicht und naiv, aber meines
Erachtens treffend: Ihr wollt vom Staat mehr Geld haben, eine besser
funktionierende Universität. Aber Ihr wollt die Gesellschaft nicht
verändern, das ist der Unterschied. Es ist das gute Recht der jetzigen
Studenten etwas zu verlangen. Aber ich habe bis jetzt noch nicht erfahren,
daß sie eine gewisse Potentialität zur radikalen Veränderung der
Gesellschaft - zumindestens theoretisch - entwickelt hätten. Sie wollen von
einer Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist, etwas haben, was diese
Gesellschaft wahrscheinlich nicht geben kann, eben weil sie aus den Fugen geraten
ist. Nicht nur der Sozialstaat, sondern auch die Universität wird abgebaut.
Es ist richtig, dagegen zu kämpfen und es mag leider nicht erfolgreich sein,
aber das hat mit der 68er Bewegung wirklich nichts zu tun.
Daß die Studenten sich heute darauf beziehen, ist vollkommen richtig, warum
denn nicht? 1848 hat man sich auf die Französische Revolution bezogen. Die
Franzosen haben sich auf die Cromwellsche Revolution bezogen. Aber Ihr dürft
nicht sagen, Ihr seid jetzt die geschichtliche Nachfolgeerscheinung von '68.
Vielleicht wäre die Frage anders zu stellen: ob der Prozeß heute - 68
und die Folgen - in dieser Form möglich wäre, wenn es 68 nicht gegeben
hätte.
AZ: Wie schätzt Du das ein, daß heute einerseits offensichtlich
mehr Leute auf die Straße gehen, andererseits die heutige Studentenbewegung
unter politischen Gesichtspunkten nichts, aber auch überhaupt nichts erreicht
hat. Also nicht einmal in einem realpolitischen Sinne (wenn man von der Sache mit
der gesellschaftlichen Veränderung von vorneherein einmal absieht). Die
Studenten 1968 waren zahlenmäßig weniger und haben vielleicht eine sehr
viel größere Wirkung gehabt.
Agnoli: Ich weiß nicht, ob es weniger oder mehr waren. Im übrigen
waren es nicht nur Studenten. 68 war eine gesellschaftliche Erscheinung und war
auch nicht auf Deutschland beschränkt. Wenn sie heute mehr Leute auf die
Straße bringen, dann hat das eine gewisse Bedeutung. Nicht etwa in dem Sinne,
daß mehr erreicht wird oder nicht. Aber es kann sein, daß eine solche
Demonstration bewußtseinsbildend wirkt. Denn, wenn sich die Leute auf der
Straße treffen, gilt immer noch mein altes Wort: "Die Vernunft begibt
sich auf die Straße." Die Straße ist heutzutage der Platz der
Vernunft geworden. Möglicherweise setzt ein Vernunftprozeß ein. Wenn die
Leute nach Hause kommen und sie nichts erreicht haben, hat sich dennoch
bewußtseinsmäßig etwas bewegt -, woraus ein Potential der Negation
entstehen kann. Das ist eine Hoffnung. Wenn daraus im Sinne der Bildung eines
Bewußtseins, das auf Veränderung aus ist, etwas wird, ist es im Grunde
gleichgültig, ob sie nun mehr Geld haben wollen, oder ob sie den Kaiser
stürzen wollen. Weder das eine noch das andere ist erreichbar. Aber es besteht
die Möglichkeit, daß man durch mühsame Arbeit versucht -
früher nannte man das politisieren -, die Leute dazu zu bringen, zu merken,
daß es nicht nur darum geht, daß man mehr Geld hat. Die heutige
Gesellschaft ist nicht im Umbruch, sondern sie ist dabei zusammenzubrechen. Was
kann daraus werden? Können wir da irgend etwas bewirken? Aber das ist Eure
Aufgabe.
AZ: Wenn ich mir die Studentenbewegung des letzten Jahres anschaue, dann
habe ich dennoch das Gefühl, daß die Bewegung von '68 und auch die
Personen, die 68 aufgestanden sind, in einem sehr langen und mühseligen
Prozeß wieder in diese Gesellschaft integriert werden mußten.
Demgegenüber hat diese neue Studentenbewegung ihre eigene Integration schon
selbst aktiv vorweggenommen. Im Moment scheint erstaunlicherweise die
Konsensmaschine in dieser Gesellschaft - zumindest an der Oberfläche -
äußerst reibungslos zu funktionieren. Warum war das '68 nicht der Fall?
Agnoli: Ich halte den Vergleich schon deshalb für brüchig, weil
die Gesellschaft eine andere geworden ist. Eben das ist das Problem. Ob sie in
diesem Fall integriert sind oder nicht ist egal - gut, sie sind integriert. Aber
auch integrierte Arbeiter können streiken und können eine Bruchsituation
herbeiführen. Das liegt aber nicht am Integriertsein oder Nicht-Integriertsein,
sondern, Du hast die Frage selbst so gestellt, daß liegt daran, daß
diese Integration so weit gediehen ist. Es hat mit dem gesellschaftlichen Konsens
zu tun, daß die berühmte Lehre aus 68 nicht zu ziehen ist. Die
Situation war eine ganz andere. Wenn die Gesellschaft sich derart verändert
hat, kann man nicht nostalgisch sagen: Wie können wir ein '68
herbeiführen. Das ist Geschichte. Die Französische Revolution kann nicht
wiederholt werden. Einige haben es versucht, es ist schief gelaufen. Natürlich
ist es schief gelaufen, weil die Gesellschaft in Wirklichkeit eine andere geworden
war. Gleichzeitig besteht dann die Gefahr, in Resignation zu verfallen, daß
man sagt, da ist sowieso nichts zu machen. Aber schon 1965, also unter Adenauer,
hieß es, man kann sowieso nichts machen. Das war eine völlig verkrustete
Situation. Und genauso 1989: Ebenso wie Anfang Oktober keiner wußte,
daß Ende Oktober die Mauer zusammenbrechen würde, wußte 1965
niemand, daß 1967 in Berlin ein Chaos ausbrechen würde. Aber es gab
diese Kräfte, die unterschwellig, mit vielen Illusionen, daran gearbeitet
haben. Wenn Ihr davon ausgeht, daß es sowieso zum Kladderadatsch kommt, und
es kommt zum Kladderadatsch in der sogenannten Weltgesellschaft, dann muß
man sich überlegen, was sich in dieser Situation machen läßt. Die
großen Pläne der '68er sind gescheitert. Es ist weder ein Vietnamkrieg
da, der war sehr wichtig. Die Sandinisten sind weg. Die Normalität ist wieder
eingekehrt. Was kann man in der Normalität machen?
Ich hatte damals die Parole vom Überwintern geprägt, weil man in der
Normalität nur überwintern kann. Nur, es kommt darauf an, ob man das
Überwintern so versteht, daß man sich ins Private zurückzieht und
in vollem Bewußtsein, ein besserer Mensch zu sein, nichts tut und sich damit
begnügt, daß man sagt: Ja, diese armen Kerle, die glauben an den
allgemeinen Konsens. Wir aber wissen, daß es falsch ist. Das genügt
natürlich nicht, das ist klar. Aber das sind Probleme, auf die ich keine
Antwort weiß. Wenn ich gefragt würde, was heute zu tun sei, dann
müßte ich etwa sinngemäß antworten: Vor einiger Zeit, vor
drei Jahren war ich sehr unsicher, was zu tun wäre. Heute weiß ich
überhaupt nichts mehr. Aber zumindest bei mir entsteht daraus keine
Resignation, ich versuche immer weiterzuwirken.
AZ: Du sagtest, die Gesellschaft sei eine andere geworden. Aber sie hat ja
auch eine Geschichte. Gibt es überhaupt politische oder soziale Impulse aus
der 68er-Bewegung, die heute noch eine Bedeutung haben?
Agnoli: Das ist eine sehr interessante Frage, denn die Frage
müßte ich Euch stellen. Gibt es bei Euch noch diese Impulse, denn bei
mir sind die Impulse nach wie vor da. Aber bei mir hat das keine Bedeutung. Die
Frage ist also, ob etwas geblieben ist von diesen Impulsen. Ich kann es nicht
beurteilen, erstens ist das von Land zu Land verschieden. Es hat eine Verschiebung
stattgefunden und deshalb meine - ich will nicht sagen - Skepsis, aber mein
Fragezeichen gegenüber dieser Studentenbewegung. Ist es nicht zum Beispiel so,
daß die in Italien und Frankreich viel virulentere Arbeitslosenbewegung
heute wichtiger ist, als eine Studentenbewegung hierzulande? Ob sich da nicht ein
Potential entwickelt? Und da müssen die Studenten sich überlegen, ob das
studentische Dasein sinnvoll ist für eine radikale Bewegung, für
radikale Veränderung.
AZ: Aber es gibt ja gesellschaftliche Entwicklungen, wenn man diese 30 Jahre
einmal Revue passieren läßt. Du sagtest, die Situation war 1965
verkrustet. Keiner hätte sich vorstellen können, daß etwas passiert.
Und heute hast du gesagt, vielleicht ist es die Folge von '68, daß die
Studenten sich überhaupt bewegen. Also, was für Impulse sind davon
ausgegangen und was ist heute noch geblieben?
Agnoli: Ihr dürft nicht vergessen, daß '68 nicht auf der
Straße begonnen hat. Die Vernunft ging zwar auf die Straße, aber
begonnen hat die Sache in Wahrheit in ganz langwieriger Vorbereitungsarbeit. In
Deutschland gab es die Kritische Theorie. In Italien fing es Anfang der 60er Jahre
an. Dort hatte sich mit Unterstützung der Faschisten eine Regierung gebildet.
Daraufhin gingen die Arbeiter, die Arbeiter wohlgemerkt, in Norditalien auf die
Straße. Das war eine halbe Revolution. So fing es an. Da haben die Leute das
Bewußtsein gewonnen, daß die Straße etwas bewirken kann. Aber
als Begleitform, oder vielmehr nicht als Begleitform, sondern zusammenhängend
damit gab es in Italien die ganzen Überlegungen in den Quaderni Rossi-Heften.
Da wurden die "Grundrisse" von Marx wieder entdeckt, da wurde wieder die
Frage nach dem revolutionären Subjekt gestellt: wer macht die Revolution?
Und das war in Deutschland genauso. Denn die Anfänge waren eigentlich ganz
bescheiden. Am Anfang lautete die Frage: Kann man überhaupt etwas machen? Man
hat sich keine Gedanken darüber gemacht, ob man Fensterscheiben einschlagen
kann, ob man Tausende von Leuten auf die Straße bringen kann, sondern man
hat angefangen sich Gedanken zu machen, wie das geschlossene System aufgebrochen
werden kann, wo die Schwachpunkte dieses Systems sind. Und die Universität
war in dieser Hinsicht ein Schwachpunkt: "Unter den Talaren der Muff von 1000
Jahren!" Es hat völlig universitär angefangen. Es ging um Bildung,
um Beteiligung der Studenten an den universitären Entscheidungen etc. So fing
es an. Und das ist vielleicht ein Gedanke, den man heute auch ein bißchen
zur Kenntnis nehmen muß, der Anfang im kleinem. Also vielleicht wäre es
heute falsch - ich sage vielleicht, weil ich es genau nicht weiß - mit
großen revolutionären Parolen anzufangen. Es ist wahrscheinlich viel
besser, auch viel schwieriger, einen Weg zu beschreiten, der zugleich zwei Dinge
erreichen soll: auf der einen Seite die Entwicklung, das Festhalten und die
Ausbreitung dieses Gedankens, der radikale Veränderung, also auf deutsch
Revolution meint. Und auf der anderen Seite nicht in die Falle des Reformismus
hineinzugeraten. Denn die Gefahr ist sehr groß, daß man sagt,
verändern können wir nicht, also verbessern wir. Nicht, daß das
unberechtigt wäre: für diejenigen, denen es wirklich schlecht geht, ist
viel gewonnen, wenn etwas verbessert wird. Aber erstens ist das Verbessern etwas
prekär, und zweitens löst es das Problem nicht. Man kann sich Gedanken
machen, ob eine Form von Existenzminimum vom Staat garantiert werden kann. Da ist
viel gewonnen für diejenigen, die nichts haben. Aber zugleich ist das ist das
ein mächtiges Integrationsinstrument. Nicht von ungefähr stammt in
Deutschland die Sozialversicherung von Bismarck.
AZ: 1967 hast Du mit Peter Brückner zusammen die "Transformation
der Demokratie" geschrieben und die politischen Herrschaftsmechanismen der
repräsentativen Demokratie bürgerlicher Provinienz analysiert. Auch im
"Staat des Kapital" geht es um die Rolle der politischen Macht in
Nationalstaaten im Spätkapitalismus. Und zur Zeit erleben wir in Europa eine
ganz andere Transformation der Demokratie, im Rahmen der europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion.
Agnoli: Nein, das Prinzip bleibt gültig. Es gibt auf jeden Fall eine
politische Form, die die abhängigen Klassen aus allen Entscheidungsmechanismen
entfernt. Wie sich das dann insitutionell umsetzt, das ist im Grunde relativ
belanglos. Denn ich bin überzeugt, daß es in dieser Gesellschaft auch
weiterhin freie Wahlen und alles mögliche andere geben wird, was unter
Liberaldemokratie läuft. Nur wird es wie die sogenannte notwendige Fiktion
noch mehr Fiktion sein als heute. Die Leute werden mitmachen, obwohl die
Entscheidungen nicht mehr von ihnen gefällt werden. Aber insofern ist das,
was dieses alte Buch meinte - es ist ja schon 30 Jahre alt -, das was weiterhin
gültig ist, die Tatsache, daß die politische Form in einer
kapitalistisch produzierenden Gesellschaft immer diese zwei Fragen lösen
muß: Wie kann man die Massen politisch befriedigen und sie zugleich von
allen Entscheidungen fernhalten. Das Problem bleibt nach wie vor bestehen. Der
institutionelle Weg des bürgerlichen Verfassungsstaats war gewissermaßen
eine geniale Erfindung und ich nehme an, daß man weiter nach dieser Formel
vorgehen wird. Ralf Dahrendorf hat in einer italienischen Zeitung von der Gefahr
zwar keines faschistischen Staates gesprochen, aber angesichts der großen
Schwierigkeiten von der eines autoritären Staats. Aber dieser autoritäre
Staat wird wahrscheinlich keine Konzentrationslager bauen. Wir hoffen es
jedenfalls. Er wird sie nicht nötig haben, wenn er Konsens erreicht. Aber was
ist die Funktion der Parteien heute? In ihrer ursprünglichen Fassung waren
die Parteien die Übersetzer von gesellschaftlichen Bedürfnissen und
Tendenzen des gesellschaftlichen Wollens ins Politische. Heute sind die Parteien
die Organisatoren des allgemeinen Konsensus. Darauf reduziert sich ihre politische
Aufgabe, und die werden sie nach wie vor haben.
AZ: 1968 war nicht bloß eine politische Bewegung, sondern wenn man so
will, auch eine kulturelle Bewegung. Angeblich gab es eine kulturelle Revolution,
und auch die 68er, die heute mit ihrer Vergangenheit hausieren gehen, sagen:
Damals haben wir die Kultur in der Bundesrepublik verändert und verbessert.
Hat sich für Dich auf der kulturellen Ebene tatsächlich eine
fundamentale Veränderung ergeben, oder war das nur eine Art Modernisierung?
Agnoli: Ich akzeptiere das Wort Modernisierung. Ob sich wirklich etwas
verändert hat und hoffentlich ins Bessere, das kann man nur beurteilen, wenn
man weiß, wie die Atmosphäre vor 68 war. Davon könnt Ihr Euch
keine Vorstellungen machen. Wenn Ihr von Repression redet heute, dann ist bei
euch diese geschichtliche Erinnerung natürlich einfach nicht vorhanden. Ich
war 1961 Assistent in Köln. Ich hielt damals einen Vortrag vor Studenten und
sprach mich für die Anerkennung der DDR aus. In der darauf folgenden Woche
war ich schon entlassen. Das war damals die Situation. Und kein Mensch hat sich
darüber geärgert. Wohlgemerkt, das war gang und gäbe.
Als Kohl vor ungefähr zehn Jahren sagte, man müsse '68
rückgängig machen, dann wohl deshalb, weil die Konservativen
festgestellt haben, daß tatsächlich etwas anders geworden ist. Die
Frage ist, ist etwas Besseres daraus geworden, und da habe ich einige Zweifel.
Nehmen wir die Universität als Beispiel. Was ist heute aus der Bewegung
für die Demokratisierung der Universität und der Gesellschaft geworden?
Inzwischen ist eine Verschulung der Universität eingetreten, die ihresgleichen
sucht. Aus der Demokratisierung der Universität ist eine Bürokratisierung
geworden.
Ich kann es zwar von mir aus nicht genau beurteilen, aber ich nehme an, schon die
Tatsache, daß wir heute darüber diskutieren können, ist ein
Zeichen dafür daß sich etwas geändert hat. Autonome Zentren, das
war Anfang der 60er Jahre undenkbar. In den 50er Jahren wäre die Polizei
eingeschritten, aber nicht um Fensterscheiben zu schützen, das wäre
unverständlich gewesen, sondern dagegen, daß sich so etwas bildet. Da
stellt sich natürlich wiederum die Frage, ob das Substanz hat oder ob das
eine andere Form von Selbstbestätigung ist.
AZ: Vielleicht ist es kein Verdienst, aber es ist zumindest ein Fakt,
daß die 68er-Bewegung - das ging dann weiter in der Autonomenbewegung - den
Slogan "Das Private ist politisch" geprägt hat. Es ging darum,
Politik in der ersten Person zu machen. Das hat zu einem weiten Politikbegriff
geführt. Das heißt, daß eben nicht nur Programme und Theorien
unter den Politikbegriff fielen, sondern auch die Lebensweise als ein Politikum
gefaßt wurde. Das hat ja zumindest die autonome Bewegung und die
Frauenbewegung sehr entscheidend ausgezeichnet. Die Frage lautet: Wie ist das von
heute aus zu beurteilen?.
Agnoli: Moment, zunächst einmal eine kleine Korrektur: Daß das
Private politisch sei, ist eine deutsche Erfindung. Denn weltweit hieß es:
"Das Persönliche ist politisch", nicht das Private. Wenn das
Private politisch ist, dann ist auch das Privateigentum zu schützen. Das
Persönliche ist politisch, das bedeutete den Einbruch der Subjektivität
in die Politik. Nun, was heißt Politik? Die Frage ist wichtig: Ich meine,
das ist ein sehr zweideutiger Begriff. Zum einen kritisiere ich die Politik.
Nehmen wir den Marxschen Begriff: hier ist Politik die Herrschaft des Menschen
über den Menschen. Auf der anderen Seite bin ich aber auch für
Politisierung.
Man muß also an diesem Begriff zwei Dinge sehr scharf unterscheiden. Zum
einen die Politik als Herrschaftssystem und zum anderen Politik verstanden als
Negation der Herrschaft. Das ist aber keine Politik im klassischen Sinne, das ist
Antipolitik. Bei dieser Antipolitik besteht die Gefahr, daß anstelle der
Politisierung die Privatisierung eintritt. Das scheint mir so eine allgemein
Tendenz zu sein, in der sogenannten Postmoderne. Das Café ohne Zukunft; alles ist
privat. Mit diesem Widerspruch müssen wir uns abfinden. Auf der einen Seite
die Politik kritisieren, auf der anderen Seite wissen, daß man die Leute
politisieren muß. Aber was heißt politisieren? Vergessen wir nicht,
daß politisieren im klassischen Verständnis mehr Beteiligung an den
Wahlen bedeutet. Das heißt im Grunde: Anerkennung des Systems. Und das
wollen wir nicht. Insofern ist die von mir gemeinte Politisierung Antipolitik,
wenn man unter Politik erstens das Konsenssystem und zweitens die Festigung der
Institutionalisierung versteht.
Zu den Autonomen: Es gibt da Schwierigkeiten mit dem Begriff, denn in Italien ist
die Autonomiebewegung im Arbeitermilieu entstanden, in Deutschland ist sie das
Produkt von Lehrern, Intellektuellen, Klein- oder Großbürgern, hat also
eine ganz andere Bedeutung. Ich habe einmal irgendwo gesagt, die machen alles
falsch, die Autonomen, aber sie geben Hoffnung. Ich meine das in dem Sinne,
daß wahrscheinlich die Perspektive falsch ist, aber wenn schon in dieser
Gesellschaft ein Element des Bruchs vorhanden ist, dann ist das diese
Autonomiebewegung. Ihr macht alles falsch, aber das ist sozusagen ein Funke
Hoffnung. Die Autonomen als die Realisierung des Prinzips Hoffnung von Ernst Bloch
in einer wieder geschlossen gewordenen Gesellschaft.
Die Kritik am utopischen Sozialismus war richtig, aber wahrscheinlich sind wir
geschichtlich und gesellschaftlich in eine Situation geraten, in der der einzige
Ausweg aus der Aporie, aus der Auswegslosigkeit in der Utopie besteht; es gibt
keinen anderen Ausweg. Oder man paßt sich an und ist glücklich darin,
als angepaßter Mensch.
Das Interview wurde am 26.
April 1998 vom Autonomen Zentrum Marbach a.N. geführt. |