Theodor W. Adorno
Minima Moralia
Reflexionen
aus dem beschädigten Leben
Für Max
als Dank und Versprechen
Zueignung
Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete,
bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als
der
eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode
aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen
Willkür und am
Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was
einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre
des Privaten und dann
bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des
materiellen
Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz,
mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben
erfahren
will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den
objektiven
Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste
bestimmen.
Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhält man kaum
sich
anders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem
Schmuck mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem
behängen, und
Personen, die nichts mehr sind als Bestandstücke der
Maschinerie,
handeln lassen, als ob sie überhaupt noch als Subjekte handeln
könnten,
und als ob von ihrem Handeln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist
übergegangen in die Ideologie, die darüber
betrügt, daß es keines mehr
gibt.
Aber das Verhältnis von Leben und Produktion, das jenes real
herabsetzt
zur ephemeren Erscheinung von dieser, ist vollendet widersinnig. Mittel
und Zweck werden vertauscht. Noch ist die Ahnung des aberwitzigen quid
pro quo aus dem Leben nicht gänzlich ausgemerzt. Das
reduzierte und
degradierte Wesen sträubt sich zäh gegen seine
Verzauberung in Fassade.
Die Änderung der Produktionsverhältnisse selber
hängt weithin ab von
dem, was sich in der »Konsumsphäre«, der
bloßen Reflexionsform der
Produktion und dem Zerrbild wahren Lebens, zuträgt: im
Bewußtsein und
Unbewußtsein der Einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur
Produktion,
als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, können
die Menschen eine
menschenwürdigere herbeiführen. Wird einmal der
Schein des Lebens ganz
getilgt sein, den die Konsumsphäre selbst mit so schlechten
Gründen
verteidigt, so wird das Unwesen der absoluten Produktion triumphieren.
Trotzdem bleibt so viel Falsches bei Betrachtungen, die vom Subjekt
ausgehen, wie das Leben Schein ward. Denn weil in der
gegenwärtigen
Phase der geschichtlichen Bewegung deren
überwältigende Objektivität
einzig erst in der Auflösung des Subjekts besteht, ohne
daß ein neues
schon aus ihr entsprungen wäre, stützt die
individuelle Erfahrung
notwendig sich auf das alte Subjekt, das historisch verurteilte, das
für sich noch ist, aber nicht mehr an sich. Es meint seiner
Autonomie
noch sicher zu sein, aber die Nichtigkeit, die das Konzentrationslager
den Subjekten demonstrierte, ereilt bereits die Form von
Subjektivität
selber. Der subjektiven Betrachtung, sei sie auch kritisch gegen sich
geschärft, haftet ein Sentimentales und Anachronistisches an:
etwas von
der Klage über den Weltlauf, die nicht um seiner Güte
willen zu
verwerfen wäre, sondern weil das klagende Subjekt sich in
seinem Sosein
zu verhärten droht und damit wiederum das Gesetz des Weltlaufs
zu
erfüllen. Die Treue zum eigenen Stand von Bewußtsein
und Erfahrung ist
allemal in Versuchung, zur Treulosigkeit zu mißraten, indem
sie die
Einsicht verleugnet, welche übers Individuum hinausgreift und
dessen
Substanz selber beim Namen ruft.
So hat Hegel, an dessen Methode die der Minima Moralia sich schulte,
gegen das bloße Fürsichsein der
Subjektivität auf all ihren Stufen
argumentiert. Die dialektische Theorie, abhold jeglichem Vereinzelten,
kann denn auch Aphorismen als solche nicht gelten lassen. Im
freundlichsten Falle dürften sie, nach dem Sprachgebrauch der
Vorrede
der Phänomenologie des Geistes, toleriert werden als
»Konversation«.
Deren Zeit aber ist um. Gleichwohl vergißt das Buch nicht
sowohl den
Totalitätsanspruch des Systems, das nicht dulden
möchte, daß man aus
ihm herausspringt, als daß es dagegen aufbegehrt. Hegel
hält sich dem
Subjekt gegenüber nicht an die Forderung, die er sonst
leidenschaftlich
vorträgt: die, in der Sache zu sein und nicht »immer
darüber hinaus«,
anstatt »in den immanenten Inhalt der Sache
einzugehen«. Verschwindet
heute das Subjekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, daß
»das
Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten« sei. Sie
insistieren in Opposition zu Hegels Verfahren und gleichwohl in
Konsequenz seines Gedankens auf der Negativität:
»Das Leben des Geistes
gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit
sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches
von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist
nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas
anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er
dem
Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.«
Die erledigende Gebärde, mit welcher Hegel im Widerspruch zur
eigenen
Einsicht stets wieder das Individuelle traktiert, rührt
paradox genug
her von seiner notwendigen Befangenheit in liberalistischem Denken. Die
Vorstellung einer durch ihre Antagonismen hindurch harmonischen
Totalität nötigt ihn dazu, der Individuation, mag
immer er sie als
treibendes Moment des Prozesses bestimmen, in der Konstruktion des
Ganzen einzig minderen Rang zuzuerkennen. Daß in der
Vorgeschichte die
objektive Tendenz über den Köpfen der Menschen, ja
vermöge der
Vernichtung des Individuellen sich durchsetzt, ohne daß bis
heute die
im Begriff konstruierte Versöhnung von Allgemeinem und
Besonderem
geschichtlich vollbracht wäre, verzerrt sich bei ihm: mit
überlegener
Kälte optiert er nochmals für die Liquidation des
Besonderen. Nirgends
wird bei ihm der Primat des Ganzen bezweifelt. Je fragwürdiger
der
Übergang von der reflektierenden Vereinzelung zur
verherrlichten
Totalität wie in der Geschichte so auch in der Hegelschen
Logik bleibt,
desto eifriger hängt Philosophie, als Rechtfertigung des
Bestehenden,
sich an den Triumphwagen der objektiven Tendenz. Die Entfaltung eben
des gesellschaftlichen Individuationsprinzips zum Sieg der
Fatalität
bietet ihr dazu Anlaß genug. Indem Hegel die
bürgerliche Gesellschaft
sowohl wie deren Grundkategorie, das Individuum, hypostasiert, hat er
die Dialektik zwischen beiden nicht wahrhaft ausgetragen. Wohl gewahrt
er, mit der klassischen Ökonomik, daß die
Totalität selbst aus dem
Zusammenhang der antagonistischen Interessen ihrer Mitglieder sich
produziert und reproduziert. Aber das Individuum als solches gilt ihm
weithin, naiv, für die irreduzible Gegebenheit, die er in der
Erkenntnistheorie gerade zersetzt. In der individualistischen
Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich durchs
Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist
wesentlich die Substanz des Individuums.
Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen
Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel
konzedierte, während umgekehrt die großen
historischen Kategorien nach
all dem, was mittlerweile mit ihnen angestiftet ward, vorm Verdacht des
Betrugs nicht mehr sicher sind. In den hundertundfünfzig
Jahren, die
seit Hegels Konzeption vergingen, ist von der Gewalt des Protests
manches wieder ans Individuum übergegangen. Verglichen mit der
altväterischen Kargheit, die dessen Behandlung bei Hegel
charakterisiert, hat es an Fülle, Differenziertheit, Kraft
ebensoviel
gewonnen, wie es andererseits von der Vergesellschaftung der
Gesellschaft geschwächt und ausgehöhlt wurde. Im
Zeitalter seines
Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich und dem,
was ihm
widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm
bloß verdeckt
war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich
auslegte. Angesichts der totalitären Einigkeit, welche die
Ausmerzung
der Differenz unmittelbar als Sinn ausschreit, mag temporär
etwas sogar
von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre des
Individuellen sich zusammengezogen haben. In ihr verweilt die kritische
Theorie nicht nur mit schlechtem Gewissen.
All das soll das Anfechtbare des Versuchs nicht verleugnen. Ich habe
das Buch großenteils noch während des Krieges
geschrieben, unter
Bedingungen der Kontemplation. Die Gewalt, die mich vertrieben hatte,
verwehrte mir zugleich ihre volle Erkenntnis. Ich gestand mir noch
nicht die Mitschuld zu, in deren Bannkreis gerät, wer
angesichts des
Unsäglichen, das kollektiv geschah, von Individuellem
überhaupt redet.
In den drei Teilen wird jeweils ausgegangen vom engsten privaten
Bereich, dem des Intellektuellen in der Emigration. Daran
schließen
sich Erwägungen weiteren gesellschaftlichen und
anthropologischen
Umfangs; sie betreffen Psychologie, Ästhetik, Wissenschaft in
ihrem
Verhältnis zum Subjekt. Die abschließenden
Aphorismen jeden Teils
führen auch thematisch auf die Philosophie, ohne je als
abgeschlossen
und definitiv sich zu behaupten: alle wollen Einsatzstellen markieren
oder Modelle abgeben für kommende Anstrengung des Begriffs.
Den unmittelbaren Anlaß zur Niederschrift bot der
fünfzigste Geburtstag
Max Horkheimers am 14. Februar 1945. Die Ausführung fiel in
eine Phase,
in der wir, äußeren Umständen Rechnung
tragend, die gemeinsame Arbeit
unterbrechen mußten. Dank und Treue will das Buch bekunden,
indem es
die Unterbrechung nicht anerkennt. Es ist Zeugnis eines dialogue
intérieur: kein Motiv findet sich darin, das nicht
Horkheimer ebenso
zugehörte wie dem, der die Zeit zur Formulierung fand.
Der spezifische Ansatz der Minima Moralia, eben der Versuch, Momente
der gemeinsamen Philosophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen,
bedingt es, daß die Stücke nicht durchaus vor der
Philosophie bestehen,
von der sie doch selber ein Stück sind. Das will das Lose und
Unverbindliche der Form, der Verzicht auf expliziten theoretischen
Zusammenhang mit ausdrücken. Zugleich möchte solche
Askese etwas von
dem Unrecht wieder gutmachen, daß einer allein an dem
weiterarbeitete,
was doch nur von beiden vollbracht werden kann, und wovon wir nicht
ablassen.
Erster Teil
1944
Das Leben lebt nicht
Ferdinand Kürnberger
1
Für Marcel Proust. - Der Sohn wohlhabender Eltern, der,
gleichgültig ob
aus Talent oder Schwäche, einen sogenannten intellektuellen
Beruf, als
Künstler oder Gelehrter, ergreift, hat es unter denen, die den
degoutanten Namen des Kollegen tragen, besonders schwer. Nicht
bloß,
daß ihm die Unabhängigkeit geneidet wird,
daß man dem Ernst seiner
Absicht mißtraut und in ihm einen heimlichen Abgesandten der
etablierten Mächte vermutet. Solches Mißtrauen zeugt
zwar von
Ressentiment, würde aber meist seine Bestätigung
finden. Jedoch die
eigentlichen Widerstände liegen anderswo. Die
Beschäftigung mit
geistigen Dingen ist mittlerweile selber
»praktisch«, zu einem Geschäft
mit strenger Arbeitsteilung, mit Branchen und numerus clausus geworden.
Der materiell Unabhängige, der sie aus Widerwillen gegen die
Schmach
des Geldverdienens wählt, wird nicht geneigt sein, das
anzuerkennen.
Dafür wird er bestraft. Er ist kein
»professional«, rangiert in der
Hierarchie der Konkurrenten als Dilettant, gleichgültig
wieviel er
sachlich versteht, und muß, wenn er Karriere machen will, den
stursten
Fachmann an entschlossener Borniertheit womöglich noch
übertrumpfen.
Die Suspension der Arbeitsteilung, zu der es ihn treibt, und die in
einigen Grenzen seine ökonomische Lage zu verwirklichen ihn
befähigt,
gilt als besonders anrüchig: sie verrät die
Abneigung, den von der
Gesellschaft anbefohlenen Betrieb zu sanktionieren, und die
auftrumpfende Kompetenz läßt solche Idiosynkrasien
nicht zu. Die
Departementalisierung des Geistes ist ein Mittel, diesen dort
abzuschaffen, wo er nicht ex officio, im Auftrag betrieben wird. Es tut
seine Dienste um so zuverlässiger, als stets derjenige, der
die
Arbeitsteilung kündigt - wäre es auch nur, indem
seine Arbeit ihm Lust
bereitet -, nach deren eigenem Maß Blößen
sich gibt, die von den
Momenten seiner Überlegenheit untrennbar sind. So ist
für die Ordnung
gesorgt: die einen müssen mitmachen, weil sie sonst nicht
leben können,
und die sonst leben könnten, werden draußen
gehalten, weil sie nicht
mitmachen wollen. Es ist, als rächte sich die Klasse, von der
die
unabhängigen Intellektuellen desertiert sind, indem zwangshaft
ihre
Forderungen dort sich durchsetzen, wo der Deserteur Zuflucht sucht.
2
Rasenbank. - Das Verhältnis zu den Eltern beginnt traurig,
schattenhaft
sich zu verwandeln. Durch ihre ökonomische Ohnmacht haben sie
ihre
Schrecken verloren. Einmal rebellierten wir gegen ihre Insistenz auf
dem Realitätsprinzip, die Nüchternheit, die stets
bereit war, in Wut
gegen den Nicht-Entsagenden umzuschlagen. Heute aber finden wir uns
einer angeblich jungen Generation gegenüber, die in jeder
ihrer
Regungen unerträglich viel erwachsener ist, als je die Eltern
es waren;
die entsagt hat, schon ehe es zum Konflikt überhaupt kam, und
daraus
ihre Macht zieht, verbissen autoritär und
unerschütterlich. Vielleicht
hat man zu allen Zeiten die Generation der Eltern als harmlos und
entmächtigt erfahren, wenn ihre physische Kraft
nachließ, während die
eigene selber schon von der Jugend bedroht schien: in der
antagonistischen Gesellschaft ist auch das
Generationsverhältnis eines
von Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht. Heute aber beginnt
es auf einen Zustand zu regredieren, der zwar keinen
Ödipuskomplex
kennt, aber den Vatermord. Es gehört zu den symbolischen
Untaten der
Nazis, uralte Leute umzubringen. In solchem Klima stellt ein
spätes und
wissendes Einverständnis mit den Eltern sich her, das von
Verurteilten
untereinander, gestört nur von der Angst, wir
möchten, selber
ohnmächtig, einmal nicht fähig sein, so gut
für sie zu sorgen, wie sie
für uns sorgten, als sie etwas besaßen. Die Gewalt,
die ihnen angetan
wird, macht die Gewalt vergessen, die sie übten. Noch ihre
Rationalisierungen, die ehemals verhaßten Lügen, mit
denen sie ihr
partikulares Interesse als allgemeines zu rechtfertigen suchten, zeigen
die Ahnung der Wahrheit an, den Drang zur Versöhnung des
Konflikts, den
die positive Nachkommenschaft fröhlich verleugnet. Noch der
verblasene,
inkonsequente und sich selbst mißtrauende Geist der
Älteren ist eher
ansprechbar als die gewitzigte Stupidität von Junior. Noch die
neurotischen Absonderlichkeiten und Mißbildungen der alten
Erwachsenen
repräsentieren den Charakter, das menschlich Gelungene,
verglichen mit
der pathischen Gesundheit, dem zur Norm erhobenen Infantilismus. Mit
Schrecken muß man einsehen, daß man oft
früher schon, wenn man den
Eltern opponierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim das
Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte war. Unpolitische
Ausbruchsversuche aus der bürgerlichen Familie führen
in deren
Verstrickung meist nur um so tiefer hinein, und manchmal will es
scheinen, als wäre die unselige Keimzelle der Gesellschaft,
die
Familie, zugleich auch die hegende Keimzelle des
kompromißlosen Willens
zur anderen. Mit der Familie zerging, während das System
fortbesteht,
nicht nur die wirksamste Agentur des Bürgertums, sondern der
Widerstand, der das Individuum zwar unterdrückte, aber auch
stärkte,
wenn nicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familie lähmt die
Gegenkräfte. Die heraufziehende kollektivistische Ordnung ist
der Hohn
auf die ohne Klasse: im Bürger liquidiert sie zugleich die
Utopie, die
einmal von der Liebe der Mutter zehrte.
3
Fisch im Wasser. - Seit der umfassende Verteilungsapparat der
hochkonzentrierten Industrie die Sphäre der Zirkulation
ablöst, beginnt
diese eine wunderliche Post-Existenz. Während den
Vermittlerberufen die
ökonomische Basis entschwindet, wird das Privatleben
Ungezählter zu dem
von Agenten und Vermittlern, ja der Bereich des Privaten insgesamt wird
verschlungen von einer rätselhaften Geschäftigkeit,
die alle Züge der
kommerziellen trägt ohne daß es eigentlich dabei
etwas zu handeln gibt.
Die Verängstigten, vom Arbeitslosen bis zum Prominenten, der
sich im
nächsten Augenblick den Zorn jener, deren Investition er
darstellt,
zuziehen kann, glauben nur durch Einfühlung, Beflissenheit,
zur
Verfügung Stehen, durch Schliche und Tücke der als
allgegenwärtig
vorgestellten Exekutive sich zu empfehlen, durch
Händlerqualitäten, und
bald gibt es keine Beziehung mehr, die es nicht auf Beziehungen
abgesehen hätte, keine Regung, die nicht einer Vorzensur
unterstünde,
ob man auch nicht vom Genehmen abweicht. Der Begriff der Beziehungen,
eine Kategorie von Vermittlung und Zirkulation, ist nie in der
eigentlichen Zirkulationssphäre am besten gediehen, auf dem
Markt,
sondern in geschlossenen, monopolartigen Hierarchien. Nun die ganze
Gesellschaft hierarchisch wird, saugen die trüben Beziehungen
auch
überall dort sich fest, wo es noch den Schein von Freiheit
gab. Die
Irrationalität des Systems kommt kaum weniger als im
ökonomischen
Schicksal des Einzelnen in dessen parasitärer Psychologie zum
Ausdruck.
Früher, als es noch etwas wie die verrufen
bürgerliche Trennung von
Beruf und Privatleben gab, der man fast schon nachtrauern
möchte, wurde
als unmanierlicher Eindringling mit Mißtrauen gemustert, wer
in der
Privatsphäre Zwecke verfolgte. Heute erscheint der als
arrogant, fremd
und nicht zugehörig, der auf Privates sich
einläßt, ohne daß ihm eine
Zweckrichtung anzumerken wäre. Beinahe ist
verdächtig, wer nichts
»will«: man traut ihm nicht zu, daß er,
ohne durch Gegenforderungen
sich zu legitimieren, im Schnappen nach den Bissen einem behilflich
sein könnte. Ungezählte machen aus einem Zustand,
welcher aus der
Liquidation des Berufs folgt, ihren Beruf. Das sind die netten Leute,
die Beliebten, die mit allen gut Freund sind, die Gerechten, die human
jede Gemeinheit entschuldigen und unbestechlich jede nicht genormte
Regung als sentimental verfemen. Sie sind unentbehrlich durch Kenntnis
aller Kanäle und Abzugslöcher der Macht, erraten ihre
geheimsten
Urteilssprüche und leben von deren behender Kommunikation. Sie
finden
sich in allen politischen Lagern, auch dort, wo die Ablehnung des
Systems für selbstverständlich gilt und damit einen
laxen und
abgefeimten Konformismus eigener Art ausgebildet hat. Oft bestechen sie
durch eine gewisse Gutartigkeit, durch mitfühlenden Anteil am
Leben der
andern: Selbstlosigkeit auf Spekulation. Sie sind klug, witzig,
sensibel und reaktionsfähig: sie haben den alten
Händlergeist mit den
Errungenschaften der je vorletzten Psychologie aufpoliert. Zu allem
sind sie fähig, selbst zur Liebe, doch stets treulos. Sie
betrügen
nicht aus Trieb, sondern aus Prinzip: noch sich selber werten sie als
Profit, den sie keinem anderen gönnen. An den Geist bindet sie
Wahlverwandtschaft und Haß: sie sind eine Versuchung
für Nachdenkliche,
aber auch deren schlimmste Feinde. Denn sie sind es, die noch die
letzten Schlupfwinkel des Widerstands, die Stunden, welche von den
Anforderungen der Maschinerie freibleiben, subtil ergreifen und
verschandeln. Ihr verspäteter Individualismus vergiftet, was
vom
Individuum etwa noch übrig ist.
4
Letzte Klarheit. - Im Zeitungsnachruf für einen
Geschäftsmann stand
einmal: »Die Weite seines Gewissens wetteiferte mit der
Güte seines
Herzens.« Die Entgleisung, die den trauernden Hinterbliebenen
in der
für solche Zwecke aufgesparten, gehobenen Sprache widerfuhr,
das
unfreiwillige Zugeständnis, der gütige Verblichene
sei gewissenlos
gewesen, expediert den Leichenzug auf dem kürzesten Weg ins
Land der
Wahrheit. Wenn von einem Menschen vorgeschrittenen Alters
gerühmt wird,
er sei besonders abgeklärt, so ist anzunehmen, daß
sein Leben eine
Folge von Schandtaten darstellt. Aufregung hat er sich
abgewöhnt. Das
weite Gewissen installiert sich als Weitherzigkeit, die alles verzeiht,
weil sie es gar zu gründlich versteht. Zwischen der eigenen
Schuld und
der der anderen tritt ein quid pro quo ein, das zugunsten dessen
aufgelöst wird, der das bessere Teil davontrug. Nach einem so
langen
Leben weiß man schon gar nicht mehr zu unterscheiden, wer wem
was
angetan hat. In der abstrakten Vorstellung des universalen Unrechts
geht jede konkrete Verantwortung unter. Der Schuft wendet sie so, als
ob es gerade ihm widerfahren wäre: wenn Sie
wüßten, junger Mann, wie
das Leben ist. Die aber schon mitten in jenem Leben durch besondere
Güte sich auszeichnen, sind meist die, welche einen
Vorschußwechsel auf
solche Abgeklärtheit ziehen. Wer nicht böse ist, lebt
nicht abgeklärt,
sondern in einer besonderen, schamhaften Weise verhärtet und
unduldsam.
Aus Mangel an geeigneten Objekten weiß er seiner Liebe kaum
anders
Ausdruck zu verleihen als im Haß gegen die ungeeigneten,
durch den er
freilich wiederum dem Verhaßten sich angleicht. Der
Bürger aber ist
tolerant. Seine Liebe zu den Leuten, wie sie sind, entspringt dem
Haß
gegen den richtigen Menschen.
5
Herr Doktor, das ist schön von Euch. - Es gibt nichts
Harmloses mehr.
Die kleinen Freuden, die Äußerungen des Lebens, die
von der
Verantwortung des Gedankens ausgenommen scheinen, haben nicht nur ein
Moment der trotzigen Albernheit, des hartherzigen sich blind Machens,
sondern treten unmittelbar in den Dienst ihres
äußersten Gegensatzes.
Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in
welchem man sein
Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch das
unschuldige
Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des
Daseins, das anders ist,
und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer
in dem Blick, der
aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten
Bewußtsein der
Negativität die Möglichkeit des Besseren
festhält. Mißtrauen ist
geraten gegenüber allem Unbefangenen, Legeren,
gegenüber allem sich
Gehenlassen, das Nachgiebigkeit gegen die Übermacht des
Existierenden
einschließt. Der böse Hintersinn des Behagens, der
früher einmal auf
das Prosit der Gemütlichkeit beschränkt war, hat
längst freundlichere
Regungen ergriffen. Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der
Eisenbahn,
dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar
Sätze
zustimmt, von denen man weiß, daß sie
schließlich auf den Mord
hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat; kein
Gedanke ist immun
gegen seine Kommunikation, und es genügt bereits, ihn an
falscher
Stelle und in falschem Einverständnis zu sagen, um seine
Wahrheit zu
unterhöhlen. Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller
Wachsamkeit
dümmer und schlechter wieder heraus. Umgänglichkeit
selber ist Teilhabe
am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der
man noch miteinander reden kann, und das lose, gesellige Wort
trägt
bei, das Schweigen zu perpetuieren, indem durch die Konzessionen an den
Angeredeten dieser im Redenden nochmals erniedrigt wird. Das
böse
Prinzip, das in der Leutseligkeit immer schon gesteckt hat, entfaltet
sich im egalitären Geist zu seiner ganzen
Bestialität. Herablassung und
sich nicht besser Dünken sind das Gleiche. Durch die Anpassung
an die
Schwäche der Unterdrückten bestätigt man in
solcher Schwäche die
Voraussetzung der Herrschaft und entwickelt selber das Maß an
Grobheit,
Dumpfheit und Gewalttätigkeit, dessen man zur
Ausübung der Herrschaft
bedarf. Wenn dabei, in der jüngsten Phase, der Gestus der
Herablassung
entfällt und Angleichung allein sichtbar wird, so setzt gerade
in
solcher vollkommenen Abblendung der Macht das verleugnete
Klassenverhältnis um so unversöhnlicher sich durch.
Für den
Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige
Gestalt, in
der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag.
Alles Mitmachen, alle
Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske
fürs
stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man
mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin
ist einer zur Verhärtung des Leidens.
6
Antithese. - Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr,
daß er
sich für besser hält als die andern und seine Kritik
der Gesellschaft
mißbraucht als Ideologie für sein privates
Interesse. Während er danach
tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer
richtigen zu
machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und
wissen,
wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber
widerstrebt die Schwerkraft des Bürgerlichen in ihm selber.
Der
Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat
er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das
Glück
der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt. Die eigene
Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb abwirft.
Darum trägt gerade jede Regung des sich Entziehens
Züge des Negierten.
Die Kälte, die sie entwickeln muß, ist von der
bürgerlichen nicht zu
unterscheiden. Auch wo es protestiert, versteckt sich im
monadologischen Prinzip das herrschende Allgemeine. Die Beobachtung
Prousts, daß die Photographien der
Großväter eines Herzogs und eines
Juden aus dem Mittelstand einander so ähnlich sehen,
daß keiner mehr an
die soziale Rangordnung denkt, trifft einen weit umfassenderen
Sachverhalt: objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle
jene Differenzen, die das Glück, ja die moralische Substanz
der
individuellen Existenz ausmachen. Wir stellen den Verfall der Bildung
fest, und doch ist unsere Prosa, gemessen an der Jacob Grimms oder
Bachofens, der Kulturindustrie in Wendungen ähnlich, von denen
wir
nichts ahnen. Überdies können auch wir
längst nicht mehr Latein und
Griechisch wie Wolf oder Kirchhoff. Wir deuten auf den
Übergang der
Zivilisation in den Analphabetismus und verlernen es selber, Briefe zu
schreiben oder einen Text von Jean Paul zu lesen, wie er zu seiner Zeit
muß gelesen worden sein. Es graut uns vor der Verrohung des
Lebens,
aber die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte zwingt uns auf
Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berechnungen, die nach
dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem
bedenklichen der
guten Gesellschaft taktlos sind. Mit der Auflösung des
Liberalismus ist
das eigentlich bürgerliche Prinzip, das der Konkurrenz, nicht
überwunden, sondern aus der Objektivität des
gesellschaftlichen
Prozesses in die Beschaffenheit der sich stoßenden und
drängenden
Atome, gleichsam in die Anthropologie übergegangen. Die
Unterwerfung
des Lebens unter den Produktionsprozeß zwingt erniedrigend
einem
jeglichen etwas von der Isolierung und Einsamkeit auf, die wir
für die
Sache unserer überlegenen Wahl zu halten versucht sind. Es ist
ein so
altes Bestandstück der bürgerlichen Ideologie,
daß jeder Einzelne in
seinem partikularen Interesse sich besser dünkt als alle
anderen, wie
daß er die anderen als Gemeinschaft aller Kunden für
höher schätzt als
sich selber. Seitdem die alte Bürgerklasse abgedankt hat,
führt beides
sein Nachleben im Geist der Intellektuellen, die die letzten Feinde der
Bürger sind und die letzten Bürger zugleich. Indem
sie überhaupt noch
Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich
gestatten,
verhalten sie sich als Privilegierte; indem sie es beim Denken
belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs. Die private
Existenz, die sich sehnt, der menschenwürdigen
ähnlich zu sehen, verrät
diese zugleich, indem die Ähnlichkeit der allgemeinen
Verwirklichung
entzogen wird, die doch mehr als je zuvor der unabhängigen
Besinnung
bedarf. Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was
sich verantworten läßt, ist, den ideologischen
Mißbrauch der eigenen
Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden,
unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es
längst nicht mehr
die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet,
daß einem in
der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.
7
They, the people. - Der Umstand, daß Intellektuelle meist mit
Intellektuellen zu tun haben, sollte sie nicht dazu verführen,
ihresgleichen für noch gemeiner zu halten als den Rest der
Menschheit.
Denn sie erfahren sich gegenseitig durchweg in der
beschämendsten und
unwürdigsten Situation von allen, der von konkurrierenden
Bittstellern,
und kehren sich damit fast zwangshaft untereinander die abscheulichsten
Seiten zu. Die andern Menschen, insbesondere die einfachen, deren
Vorzüge hervorzuheben der Intellektuelle so geneigt ist,
begegnen ihm
meist in der Rolle dessen, der einem etwas verkaufen will, ohne
daß er
darum fürchtet, der Kunde könne ihm je ins Gehege
kommen. Der
Automechaniker, das Mädchen im Likörladen hat es
leicht, von
Unverschämtheit frei zu bleiben: zur Freundlichkeit wird es
ohnehin von
oben angehalten. Wenn umgekehrt Analphabeten zu Intellektuellen kommen,
um sich von ihnen Briefe aufsetzen zu lassen, so mögen auch
jene
leidlich gute Erfahrungen machen. Sobald aber die einfachen Leute um
ihren Anteil am Sozialprodukt sich raufen müssen,
übertreffen sie an
Neid und Gehässigkeit alles, was unter Literaten oder
Kapellmeistern
beobachtet werden kann. Die Glorifizierung der prächtigen
underdogs
läuft auf die des prächtigen Systems heraus, das sie
dazu macht.
Berechtigte Schuldgefühle derer, die von der physischen Arbeit
ausgenommen sind, sollten nicht zur Ausrede werden für die
»Idiotie des
Landlebens«. Die Intellektuellen, die als einzige
über die
Intellektuellen schreiben und ihnen ihren schlechten Namen in dem der
Echtheit machen, verstärken die Lüge. Ein
großer Teil des herrschenden
Anti-Intellektualismus und Irrationalismus, bis hinauf zu Huxley, wird
in Gang gesetzt, indem die Schreibenden den Konkurrenzmechanismus
anklagen, ohne ihn zu durchschauen, und ihm so verfallen. In ihrer
eigensten Branche haben sie das Bewußtsein des tat twam asi
sich
versperrt. Deshalb laufen sie dann in die indischen Tempel.
8
Wenn dich die bösen Buben locken. - Es gibt einen amor
intellectualis
zum Küchenpersonal, die Versuchung für theoretisch
oder künstlerisch
Arbeitende, den geistigen Anspruch an sich selbst zu lockern, unter das
Niveau zu gehen, in Sache und Ausdruck allen möglichen
Gewohnheiten zu
folgen, die man als wach Erkennender verworfen hat. Da keine Kategorie,
ja selbst die Bildung nicht mehr dem Intellektuellen vorgegeben ist und
tausend Anforderungen der Betriebsamkeit die Konzentration
gefährden,
wird die Anstrengung, etwas zu produzieren, was einigermaßen
stichhält,
so groß, daß kaum einer ihrer mehr fähig
bleibt. Weiter setzt der Druck
der Konformität, der auf jedem Produzierenden lastet, dessen
Forderung
an sich selbst herab. Das Zentrum der geistigen Selbstdisziplin als
solcher ist in Zersetzung begriffen. Die Tabus, die den geistigen Rang
eines Menschen ausmachen, oftmals sedimentierte Erfahrungen und
unartikulierte Erkenntnisse, richten sich stets gegen eigene Regungen,
die er verdammen lernte, die aber so stark sind, daß nur eine
fraglose
und unbefragte Instanz ihnen Einhalt gebieten kann. Was fürs
Triebleben
gilt, gilt fürs geistige nicht minder: der Maler und
Komponist, der
diese und jene Farbenzusammenstellung oder Akkordverbindung als
kitschig sich untersagt, der Schriftsteller, dem sprachliche
Konfigurationen als banal oder pedantisch auf die Nerven gehen,
reagiert so heftig gegen sie, weil in ihm selber Schichten sind, die es
dorthin lockt. Die Absage ans herrschende Unwesen der Kultur setzt
voraus, daß man an diesem selber genug teilhat, um es
gleichsam in den
eigenen Fingern zucken zu fühlen, daß man aber
zugleich aus dieser
Teilhabe Kräfte zog, sie zu kündigen. Diese
Kräfte, die als solche des
individuellen Widerstands in Erscheinung treten, sind darum doch
keineswegs selber bloß individueller Art. Das intellektuelle
Gewissen,
in dem sie sich zusammenfassen, hat ein gesellschaftliches Moment so
gut wie das moralische Überich. Es bildet sich an einer
Vorstellung von
der richtigen Gesellschaft und deren Bürgern.
Läßt einmal diese
Vorstellung nach - und wer könnte noch blind vertrauend ihr
sich
überlassen -, so verliert der intellektuelle Drang nach unten
seine
Hemmung, und aller Unrat, den die barbarische Kultur im Individuum
zurückgelassen hat, Halbbildung, sich Gehenlassen, plumpe
Vertraulichkeit, Ungeschliffenheit, kommt zum Vorschein. Meist
rationalisiert es sich auch noch als Humanität, als den
Willen, anderen
Menschen sich verständlich zu machen, als welterfahrene
Verantwortlichkeit. Aber das Opfer der intellektuellen Selbstdisziplin
fällt dem, der es auf sich nimmt, viel zu leicht, als
daß man ihm
glauben dürfte, daß es eines ist. Drastisch wird die
Beobachtung an
Intellektuellen, deren materielle Lage sich geändert hat:
sobald sie
sich nur einigermaßen einreden können, daß
sie mit Schreiben und nichts
anderem Geld verdienen müßten, lassen sie bis auf
die Nuance genau den
gleichen Schund in die Welt gehen, den sie als Wohlbestallte einmal
aufs heftigste verfemten. Ganz wie Emigranten, die einmal reich waren,
in der Fremde oft nach Herzenslust so geizig sind, wie sie es zu Hause
schon immer gern gewesen wären, so marschieren die Verarmten
im Geiste
begeistert in die Hölle, die ihr Himmelreich ist.
9
Vor allem eins, mein Kind. - Die Unmoral der Lüge besteht
nicht in der
Verletzung der sakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufen hat am
letzten eine Gesellschaft das Recht, die ihre Zwangsmitglieder dazu
verhält, mit der Sprache herauszurücken, um sie dann
desto
zuverlässiger ereilen zu können. Es kommt der
universalen Unwahrheit
nicht zu, auf der partikularen Wahrheit zu bestehen, die sie doch
sogleich in ihr Gegenteil verkehrt. Trotzdem haftet der Lüge
etwas
Widerwärtiges an, dessen Bewußtsein einem zwar von
der alten Peitsche
eingeprügelt ward, aber zugleich etwas über die
Kerkermeister besagt.
Der Fehler liegt bei der allzu großen Aufrichtigkeit. Wer
lügt, schämt
sich, denn an jeder Lüge muß er das
Unwürdige der Welteinrichtung
erfahren, die ihn zum Lügen zwingt, wenn er leben will, und
ihm dabei
auch noch »Üb immer Treu' und Redlichkeit«
vorsingt. Solche Scham
entzieht den Lügen der subtiler Organisierten die Kraft. Sie
machen es
schlecht, und damit wird die Lüge recht eigentlich erst zur
Unmoral am
anderen. Sie schätzt ihn als dumm ein und dient der
Nichtachtung zum
Ausdruck. Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die
Lüge
längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales
zu täuschen. Keiner
glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu
verstehen zu geben, daß einem nichts an ihm liegt,
daß man seiner nicht
bedarf, daß einem gleichgültig ist, was er
über einen denkt. Die Lüge,
einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der
Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder
Einzelne
die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen
kann.
10
Getrennt-vereint. - Die Ehe, deren schmähliche Parodie
fortlebt in
einer Zeit, die dem Menschenrecht der Ehe den Boden entzogen hat, dient
heute meist dem Trick der Selbsterhaltung: daß einer der
beiden
Verschworenen jeweils die Verantwortung für alles
Üble, das er begeht,
nach außen dem andern zuschiebt, während sie in
Wahrheit trüb und
sumpfig zusammen existieren. Eine anständige Ehe wäre
erst eine, in der
beide ihr eigenes unabhängiges Leben für sich haben,
ohne die Fusion,
die von der ökonomisch erzwungenen Interessengemeinschaft
herrührt,
dafür aber aus Freiheit die wechselseitige Verantwortung
füreinander
auf sich nähmen. Die Ehe als Interessengemeinschaft bedeutet
unweigerlich die Erniedrigung der Interessenten, und es ist das Perfide
der Welteinrichtung, daß keiner, wüßte er
auch darum, solcher
Erniedrigung sich entziehen kann. Manchmal könnte man daher
auf den
Gedanken verfallen, daß nur solchen, die der Verfolgung von
Interessen
enthoben sind, also Reichen, die Möglichkeit einer Ehe ohne
Schande
vorbehalten sei. Aber diese Möglichkeit ist ganz formal, denn
jene
Privilegierten sind es gerade, denen die Verfolgung des Interesses zur
zweiten Natur wurde - sonst behaupteten sie nicht das Privileg.
11
Tisch und Bett. - Sobald Menschen, auch gutartige, freundliche und
gebildete, sich scheiden lassen, pflegt eine Staubwolke aufzusteigen,
die alles überzieht und verfärbt, womit sie in
Berührung kommt. Es ist,
als hätte die Sphäre der Intimität, das
unwachsame Vertrauen des
gemeinsamen Lebens sich in einen bösen Giftstoff verwandelt,
wenn die
Beziehungen zerbrochen sind, in denen sie beruhte. Das Intime zwischen
Menschen ist Nachsicht, Duldung, Zuflucht für Eigenheiten.
Wird es
hervorgezerrt, so kommt von selber das Moment der Schwäche
daran zum
Vorschein, und bei der Scheidung ist eine solche Wendung nach
außen
unvermeidlich. Sie bemächtigt sich des Inventars der
Vertrautheit.
Dinge, die einmal Zeichen liebender Sorge, Bilder von
Versöhnung
gewesen sind, machen sich plötzlich als Werte
selbständig und zeigen
ihre böse, kalte und verderbliche Seite. Professoren brechen
nach der
Trennung in die Wohnung ihrer Frau ein, um Gegenstände aus dem
Schreibtisch zu entwenden, und wohldotierte Damen denunzieren ihre
Männer wegen Steuerhinterziehung. Gewährt die Ehe
eine der letzten
Möglichkeiten, humane Zellen im inhumanen Allgemeinen zu
bilden, so
rächt das Allgemeine sich in ihrem Zerfall, indem es des
scheinbar
Ausgenommenen sich bemächtigt, den entfremdeten Ordnungen von
Recht und
Eigentum es unterstellt und die verhöhnt, die davor sich
sicher
wähnten. Gerade das Behütete wird zum grausamen
Requisit des
Preisgegebenseins. Je
»großzügiger« die
Vermählten ursprünglich
zueinander sich verhielten, je weniger sie an Besitz und Verpflichtung
dachten, desto abscheulicher wird die Entwürdigung. Denn es
ist eben
der Bereich des rechtlich Undefinierten, in dem Streit, Diffamierung,
der endlose Konflikt der Interessen gedeihen. All das Dunkle, auf
dessen Grund die Institution der Ehe sich erhebt, die barbarische
Verfügung des Mannes über Eigentum und Arbeit der
Frau, die nicht
minder barbarische Sexualunterdrückung, die den Mann
tendenziell dazu
nötigt, für die sein Leben lang die Verantwortung zu
übernehmen, mit
der zu schlafen ihm einmal Lust bereitete - all das kriecht aus den
Kellern und Fundamenten ins Freie, wenn das Haus demoliert wird. Die
einmal das gute Allgemeine in der beschränkenden
Zugehörigkeit
zueinander erfuhren, werden nun von der Gesellschaft gezwungen, sich
für Schurken zu halten und zu lernen, daß sie dem
Allgemeinen der
unbeschränkten Gemeinheit draußen gleichen. Das
Allgemeine erweist sich
bei der Scheidung als das Schandmal des Besonderen, weil das Besondere,
die Ehe, das wahre Allgemeine in dieser Gesellschaft nicht zu
verwirklichen vermag.
12
Inter pares. - Im Reich der erotischen Qualitäten scheint eine
Umwertung sich zu vollziehen. Unterm Liberalismus, bis in unsere Tage
hinein, pflegten verheiratete Männer aus guter Gesellschaft,
denen ihre
behütet erzogene und korrekte Gattin zu wenig zu bieten
vermochte, an
Künstlerinnen, Bohémiennen,
süßen Mädeln und Kokotten sich schadlos zu
halten. Mit der Rationalisierung der Gesellschaft ist diese
Möglichkeit
von unreglementiertem Glück entschwunden. Die Kokotten sind
ausgestorben, die süßen Mädeln hat es in
angelsächsischen und anderen
Ländern technischer Zivilisation eh nicht gegeben, die
Künstlerinnen
und die um die Massenkultur parasitär angesetzte
Bohème aber sind von
deren Vernunft so vollkommen durchdrungen, daß, wer zu ihrer
Anarchie,
der freien Verfügung über den eigenen Tauschwert,
verlangend sich
flüchtete, in Gefahr stünde, mit der Verpflichtung
aufzuwachen, sie,
wenn nicht als Assistentin engagieren, so wenigstens an einen ihm
bekannten Filmgewaltigen oder Skribenten empfehlen zu müssen.
Die
einzigen, die etwas wie unvernünftige Liebe überhaupt
noch sich leisten
können, sind eben jene Damen, vor denen die Ehegatten einmal
davon und
zu Maxim gingen. Während sie ihren eigenen Männern
durch deren Schuld
noch so langweilig sind wie ihre Mütter, vermögen sie
den andern
wenigstens das zu gewähren, was sonst von allen ihnen
vorenthalten
wird. Die längst frigide Libertine repräsentiert das
Geschäft, die
Korrekte, Wohlerzogene sehnsüchtig und unromantisch die
Sexualität. So
kommen am Ende die Damen der Gesellschaft zur Ehre ihrer Unehre in dem
Augenblick, in dem es keine Gesellschaft mehr gibt und keine Dame.
13
Schutz, Hilfe und Rat. - Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne
alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu
erkennen,
wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner
Selbstachtung
grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt,
die ihm
unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den
Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt;
immerzu ist er in der Irre. Zwischen der Reproduktion des eigenen
Lebens unterm Monopol der Massenkultur und der
sachlich-verantwortlichen Arbeit herrscht ein unversöhnlicher
Bruch.
Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche
Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die
Isolierung wird
um so schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte Gruppen sich
formieren, mißtrauisch gegen die Zugehörigen,
feindselig gegen die
abgestempelten anderen. Der Anteil des Sozialprodukts, der auf die
Fremden entfällt, will nicht ausreichen und treibt sie zur
hoffnungslosen zweiten Konkurrenz untereinander inmitten der
allgemeinen. All das hinterläßt Male in jedem
Einzelnen. Wer selbst der
Schmach der unmittelbaren Gleichschaltung enthoben ist, trägt
als sein
besonderes Mal eben diese Enthobenheit, eine im Lebensprozeß
der
Gesellschaft scheinhafte und irreale Existenz. Die Beziehungen zwischen
den Verstoßenen sind mehr noch vergiftet als die zwischen den
Eingesessenen. Alle Gewichte werden falsch, die Optik
verstört. Das
Private drängt ungebührlich, hektisch, vampyrhaft
sich vor, eben weil
es eigentlich nicht mehr existiert und krampfhaft sein Leben beweisen
will. Das Öffentliche wird zur Sache des unausgesprochenen
Treueids auf
der Plattform. Der Blick nimmt das Manische und zugleich Kalte des
Greifens, Verschlingens, Beschlagnehmens an. Nichts hilft als die
standhaltende Diagnose seiner selbst und der anderen, der Versuch,
durch Bewußtsein wenn schon nicht dem Unheil zu entweichen,
so ihm doch
seine verhängnisvolle Gewalt, die der Blindheit, zu entziehen.
Äußerste
Vorsicht ist geraten zumal in der Auswahl des privaten Umgangs, soweit
sie einem gelassen ist. Hüten soll man sich vor allem,
Mächtige zu
suchen, von denen man »etwas zu erwarten hat«. Der
Blick auf mögliche
Vorteile ist der Todfeind der Bildung menschenwürdiger
Beziehungen
überhaupt; aus solchen kann Solidarität und
Füreinandereinstehen
folgen, aber nie können sie im Gedanken an praktische Zwecke
entspringen. Kaum minder gefährlich sind die Spiegelbilder der
Macht,
Lakaien, Schmeichler und Schnorrer, die sich dem, der besser dran ist,
in einer archaistischen Weise gefällig machen, wie sie nur
unter den
wirtschaftlich extraterritorialen Verhältnissen der Emigration
gedeihen
kann. Während sie dem Protektor kleine Vorteile bringen,
ziehen sie ihn
herab, sobald er sie annimmt, wozu ihn doch wiederum seine eigene
Unbeholfenheit in der Fremde unablässig verführt.
Wenn in Europa der
esoterische Gestus oft nur ein Vorwand war fürs blindeste
Eigeninteresse, so scheint der abgetakelte und wenig wasserdichte
Begriff der austérité in der Emigration noch das
annehmbarste
Rettungsboot. Nur den wenigsten freilich steht es in gediegener
Ausführung zur Verfügung. Den meisten, die es
besteigen, droht es den
Hungertod an oder den Wahnsinn.
14
Le bourgeois revenant. - Absurd hat in den faschistischen Regimes der
ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die obsolete
Wirtschaftsform
sich stabilisiert und das Grauen vervielfacht, dessen sie bedarf, um
sich aufrecht zu erhalten, nun ihre Sinnlosigkeit offen zutage liegt.
Davon aber ist auch das Privatleben gezeichnet. Mit der
Verfügungsgewalt haben sich zugleich die stickige Ordnung des
Privaten,
der Partikularismus der Interessen, die längst
überholte Form der
Familie, das Eigentumsrecht und seine Reflexion im Charakter nochmals
festgesetzt. Aber mit schlechtem Gewissen, dem kaum verhohlenen
Bewußtsein der Unwahrheit. Was immer am Bürgerlichen
einmal gut und
anständig war, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit,
Vorausdenken, Umsicht,
ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die
bürgerlichen
Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre
ökonomische
Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative
übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture
Festhalten am
je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, daß man es
eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es
anders und
besser möglich wäre. Die Bürger haben ihre
Naivetät verloren und sind
darüber ganz verstockt und böse geworden. Die
bewahrende Hand, die
immer noch ihr Gärtchen hegt und pflegt, als ob es nicht
längst zum
»lot« geworden wäre, aber den unbekannten
Eindringling ängstlich
fernhält, ist bereits die, welche dem politischen
Flüchtling das Asyl
verweigert. Als objektiv bedrohte werden die Machthaber und ihr Anhang
subjektiv vollends unmenschlich. So kommt die Klasse zu sich selbst und
macht den zerstörenden Willen des Weltlaufs sich zu eigen. Die
Bürger
leben fort wie Unheil drohende Gespenster.
15
Le nouvel avare. - Es gibt zweierlei Arten von Geiz. Eine ist die
archaische, die Leidenschaft, die sich und anderen nichts
gönnt, deren
physiognomischen Zug Molière verewigt, Freud als analen
Charakter
erklärt hat. Sie vollendet sich im miser, dem Bettler, der
insgeheim
über Millionen verfügt, gleichsam der puritanischen
Maske des
unerkannten Kalifen aus dem Märchen. Er ist dem Sammler, dem
Manischen,
schließlich dem großen Liebenden verwandt wie
Gobseck der Esther. Man
trifft ihn gerade noch als Kuriosität in den Lokalspalten der
Tagesblätter. Zeitgemäß ist der Geizige,
dem nichts für sich und alles
für die andern zu teuer ist. Er denkt in
Äquivalenten, und sein ganzes
Privatleben steht unter dem Gesetz, weniger zu geben, als man
zurückbekommt, aber doch stets genug, daß man etwas
zurückbekomme.
Jeder Freundlichkeit, die sie gewähren, ist die
Überlegung: »ist das
auch nötig?«, »muß man das
tun?« anzumerken. Ihr sicherstes Kennzeichen
ist die Eile, für empfangene Aufmerksamkeiten sich zu
»revanchieren«,
um nur ja in der Verkettung der Tauschakte, bei denen man auf seine
Kosten kommt, keine Lücke entstehen zu lassen. Weil bei ihnen
alles
rational, mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Harpagon und
Scrooge, nicht zu überführen und nicht zu bekehren.
Ihre
Liebenswürdigkeit ist ein Maß ihrer
Unerbittlichkeit. Wenn es gilt,
setzen sie unwiderleglich sich ins Recht und das Recht ins Unrecht,
während der Wahnsinn der schäbigen Geizhälse
das Versöhnliche hatte,
daß der Tendenz nach das Gold in der Kassette den Dieb schon
herbeizog,
ja, daß erst in Opfer und Verlust ihre Leidenschaft sich
stillte wie
das erotische Besitzenwollen in der Selbstpreisgabe. Die neuen Geizigen
aber betreiben die Askese nicht mehr als Ausschweifung sondern mit
Vorsicht. Sie sind versichert.
16
Zur Dialektik des Takts. - Goethe, der deutlich der drohenden
Unmöglichkeit aller menschlichen Beziehungen in der
heraufkommenden
Industriegesellschaft sich bewußt war, hat in den Novellen
der
Wanderjahre versucht, den Takt als die rettende Auskunft zwischen den
entfremdeten Menschen darzustellen. Diese Auskunft schien ihm eins mit
der Entsagung, mit Verzicht auf ungeschmälerte Nähe,
Leidenschaft und
ungebrochenes Glück. Das Humane bestand ihm in einer
Selbsteinschränkung, die beschwörend den
unausweichlichen Gang der
Geschichte zur eigenen Sache machte, die Inhumanität des
Fortschritts,
die Verkümmerung des Subjekts. Aber was seitdem geschah,
läßt die
Goethesche Entsagung selber als Erfüllung erscheinen. Takt und
Humanität - bei ihm das Gleiche - sind mittlerweile eben den
Weg
gegangen, vor dem sie nach seinem Glauben bewahren sollten. Hat doch
Takt seine genaue historische Stunde. Es ist die, in welcher das
bürgerliche Individuum des absolutistischen Zwangs ledig ward.
Frei und
einsam steht es für sich selber ein, während die vom
Absolutismus
entwickelten Formen hierarchischer Achtung und Rücksicht,
ihres
ökonomischen Grundes und ihrer bedrohlichen Gewalt
entäußert, gerade
noch gegenwärtig genug sind, um das Zusammenleben innerhalb
bevorzugter
Gruppen erträglich zu machen. Solcher gleichsam paradoxe
Einstand von
Absolutismus und Liberalität läßt wie im
Wilhelm Meister noch an
Beethovens Stellung zu den überlieferten Schemata der
Komposition, ja
bis in die Logik hinein, an Kants subjektiver Rekonstruktion der
objektiv verpflichtenden Ideen sich wahrnehmen. Beethovens
regelmäßige
Reprisen nach den dynamischen Durchführungen, Kants Deduktion
der
scholastischen Kategorien aus der Einheit des Bewußtseins
sind in einem
eminenten Sinne »taktvoll«. Voraussetzung des Takts
ist die in sich
gebrochene und doch noch gegenwärtige Konvention. Diese ist
nun
unrettbar verfallen und lebt fort nur noch in der Parodie der Formen,
einer willkürlich ausgedachten oder erinnerten Etikette
für Ignoranten,
wie ungebetene Ratgeber in Zeitungen sie predigen, während das
Einverständnis, das jene Konventionen zu ihrer humanen Stunde
tragen
mochte, an die blinde Konformität der Autobesitzer und
Radiohörer
übergegangen ist. Das Absterben des zeremoniellen Moments
scheint
zunächst dem Takt zugute zu kommen. Er ist von allem
Heteronomen,
schlecht Auswendigen emanzipiert, und taktvolles Verhalten
wäre kein
anderes als eines, das sich allein nach der spezifischen Beschaffenheit
eines jeglichen menschlichen Verhältnisses richtet. Solcher
emanzipierte Takt jedoch gerät in Schwierigkeiten wie der
Nominalismus
allerorten. Takt meinte nicht einfach die Unterordnung unter die
zeremoniale Konvention: die gerade haben alle neueren Humanisten
unablässig unter Ironie gestellt. Die Leistung des Takts war
vielmehr
so paradox wie sein geschichtlicher Standort. Sie verlangte die
eigentlich unmögliche Versöhnung zwischen dem
unbestätigten Anspruch
der Konvention und dem ungebärdigen des Individuums. Anders
als an
jener Konvention ließ Takt gar nicht sich messen. Sie
repräsentierte,
wie sehr auch verdünnt, das Allgemeine, das die Substanz des
individuellen Anspruchs selber ausmacht. Takt ist eine
Differenzbestimmung. Er besteht in wissenden Abweichungen. Indem er
jedoch als emanzipierter dem Individuum als absolutem
gegenübertritt,
ohne ein Allgemeines, wovon er differieren könnte, verfehlt er
das
Individuum und tut endlich Unrecht ihm an. Die Frage nach dem Befinden,
nicht länger von Erziehung geboten und erwartet, wird zum
Ausforschen
oder zur Verletzung; das Schweigen über empfindliche
Gegenstände zur
leeren Gleichgültigkeit, sobald keine Regel mehr angibt,
worüber zu
reden sei und worüber nicht. Die Individuen beginnen denn
auch, nicht
ohne Grund, auf Takt feindselig zu reagieren: eine gewisse Art der
Höflichkeit etwa läßt sie nicht sowohl als
Menschen angesprochen sich
fühlen, als daß sie in ihnen die Ahnung des
unmenschlichen Zustands
erweckt, in welchem sie sich befinden, und der Höfliche
läuft Gefahr,
für den Unhöflichen zu gelten, weil er von der
Höflichkeit wie von
einem überholten Vorrecht noch Gebrauch macht.
Schließlich wird der
emanzipierte, rein individuelle Takt zur bloßen
Lüge. Was von ihm im
Individuum heute eigentlich getroffen wird, ist, was er angelegentlich
verschweigt, die tatsächliche und mehr noch die potentielle
Macht, die
jeder verkörpert. Unter der Forderung, dem Individuum als
solchem, ohne
alle Präambeln, absolut angemessen gegenüber zu
treten, liegt die
eifernde Kontrolle darüber, daß jedes Wort
stillschweigend sich selber
Rechenschaft davon gibt, was der Angeredete in der sich
verhärtenden
Hierarchie, die alle einbegreift, darstellt, und welches seine Chancen
sind. Der Nominalismus des Takts verhilft dem Allgemeinsten, der
nackten Verfügungsgewalt, zum Triumph noch in den intimsten
Konstellationen. Die Abschreibung der Konventionen als
überholten,
nutzlosen und äußerlichen Zierats bestätigt
nur das Alleräußerlichste,
ein Leben unmittelbarer Beherrschung. Daß dennoch der
Fortfall selbst
dieses Zerrbilds von Takt in der Kameraderie der Anrempelei, als Hohn
auf Freiheit, die Existenz noch unerträglicher macht, ist
bloß ein
weiteres Anzeichen dafür, wie unmöglich das
Zusammenleben der Menschen
unter den gegenwärtigen Verhältnissen geworden ist.
17
Eigentumsvorbehalt. - Die Signatur des Zeitalters ist es, daß
kein
Mensch, ohne alle Ausnahme, sein Leben in einem einigermaßen
durchsichtigen Sinn, wie er früher in der Abschätzung
der
Marktverhältnisse gegeben war, mehr selbst bestimmen kann. Im
Prinzip
sind alle, noch die Mächtigsten Objekte. Sogar der Beruf des
Generals
bietet keinen zureichenden Schutz mehr. Keine Abmachungen sind in der
faschistischen Ära bindend genug, um die Hauptquartiere vor
Fliegerangriffen zu schützen, und Kommandanten, die es mit der
traditionellen Vorsicht halten, werden von Hitler gehängt und
von
Chiang Kai-Shek geköpft. Daraus folgt unmittelbar,
daß jeder, der
versucht durchzukommen - und das Weiterleben selbst hat etwas
Widersinniges wie die Träume, in denen man den Weltuntergang
mitmacht
und nach dessen Ende aus einem Kellerloch herauskriecht -, zugleich so
leben sollte, daß er in jedem Augenblick fähig ist,
sein Leben
auszulöschen. Das ist als triste Wahrheit aus Zarathustras
überschwenglicher Lehre vom freien Tode hervorgetreten.
Freiheit hat
sich in die reine Negativität zusammengezogen, und was zur
Zeit des
Jugendstils in Schönheit sterben hieß, hat sich
reduziert auf den
Wunsch, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie die unendliche Qual
des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der es
längst Schlimmeres zu
fürchten gibt als den Tod. - Das objektive Ende der
Humanität ist nur
ein anderer Ausdruck fürs Gleiche. Es besagt, daß
der Einzelne als
Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch repräsentiert, die
Autonomie
verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen könnte.
18
Asyl für Obdachlose. - Wie es mit dem Privatleben heute
bestellt ist,
zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht
mehr
wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß
geworden sind,
haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens
darin ist
mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der
muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. Die neusachlichen,
die tabula rasa gemacht haben, sind von Sachverständigen
für Banausen
angefertigte Etuis, oder Fabrikstätten, die sich in die
Konsumsphäre
verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner: noch der Sehnsucht
nach unabhängiger Existenz, die es ohnehin nicht mehr gibt,
schlagen
sie ins Gesicht. Der moderne Mensch wünscht nahe am Boden zu
schlafen
wie ein Tier, hat mit prophetischem Masochismus ein deutsches Magazin
vor Hitler dekretiert und mit dem Bett die Schwelle von Wachen und
Traum abgeschafft. Die Übernächtigen sind allezeit
verfügbar und
widerstandslos zu allem bereit, alert und bewußtlos zugleich.
Wer sich
in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet,
balsamiert sich
bei lebendigem Leibe ein. Will man der Verantwortung fürs
Wohnen
ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement
zieht,
so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der
Emigration die lebenskluge Norm. Am ärgsten ergeht es wie
überall
denen, die nicht zu wählen haben. Sie wohnen wenn nicht in
Slums so in
Bungalows, die morgen schon Laubenhütten, Trailers, Autos oder
Camps,
Bleiben unter freiem Himmel sein mögen. Das Haus ist
vergangen. Die
Zerstörungen der europäischen Städte ebenso
wie die Arbeits- und
Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die
immanente
Entwicklung der Technik über die Häuser
längst entschieden hat. Diese
taugen nur noch dazu, wie alte Konservenbüchsen fortgeworfen
zu werden.
Die Möglichkeit des Wohnens wird vernichtet von der der
sozialistischen
Gesellschaft, die, als versäumte, der bürgerlichen
zum schleichenden
Unheil gerät. Kein Einzelner vermag etwas dagegen. Schon wenn
er sich
mit Möbelentwürfen und Innendekoration
beschäftigt, gerät er in die
Nähe des kunstgewerblichen Feinsinns vom Schlag der
Bibliophilen, wie
entschlossen er auch gegen das Kunstgewerbe im engeren Sinne angehen
mag. Aus der Entfernung ist der Unterschied von Wiener
Werkstätte und
Bauhaus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben die Kurven der
reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbständigt und
gehen
ebenso ins Ornament über wie die kubistischen Grundgestalten.
Das beste
Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches,
suspendiertes: das Privatleben führen,: solange die
Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht
anders
dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch
gesellschaftlich
substantiell und individuell angemessen. »Es gehört
selbst zu meinem
Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb
Nietzsche bereits in der
Fröhlichen Wissenschaft. Dem müßte man
heute hinzufügen: es gehört zur
Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas
an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu
seinem
Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas
besitzt. Die
Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und
auszudrücken, daß das
Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn,
daß die Fülle der
Konsumgüter potentiell so groß geworden ist,
daß kein Individuum mehr
das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu
klammern; daß
man aber dennoch Eigentum haben muß, wenn man nicht in jene
Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand
des
Besitzverhältnisses zugute kommt. Aber die Thesis dieser
Paradoxie
führt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung
für die Dinge, die
notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist
schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie
für
die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt
kein richtiges Leben im falschen.
19
Nicht anklopfen. - Die Technisierung macht einstweilen die Gesten
präzis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den
Gebärden
alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie
unterstellt sie
den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen
der Dinge.
So wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür
zu
schließen. Die von Autos und Frigidaires muß man
zuwerfen, andere haben
die Tendenz, von selber einzuschnappen und so die Eintretenden zu der
Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das Hausinnere
zu wahren, das sie aufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypus nicht
gerecht ohne das Bewußtsein davon, was ihm
unablässig, bis in die
geheimsten Innervationen hinein, von den Dingen der Umwelt
widerfährt.
Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine
Fensterflügel mehr gibt, die
sich öffnen ließen, sondern nur noch grob
aufzuschiebende Scheiben,
keine sachten Türklinken sondern drehbare Knöpfe,
keinen Vorplatz,
keine Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten?
Und welchen
Chauffierenden hätten nicht schon die Kräfte seines
Motors in
Versuchung geführt, das Ungeziefer der Straße,
Passanten, Kinder und
Radfahrer, zuschanden zu fahren? In den Bewegungen, welche die
Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das
Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der
faschistischen
Mißhandlungen. Am Absterben der Erfahrung trägt
Schuld nicht zum
letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen
Zweckmäßigkeit eine
Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung
beschränkt, ohne einen Überschuß, sei's an
Freiheit des Verhaltens,
sei's an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als
Erfahrungskern
überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der
Aktion.
20
Struwwelpeter. - Als Hume gegen seine weltfreundlichen Landsleute die
erkenntnistheoretische Kontemplation, die unter Gentlemen seit je
anrüchige »reine Philosophie« zu
verteidigen suchte, gebrauchte er das
Argument: »Genauigkeit kommt immer der Schönheit
zugute, und richtiges
Denken dem zarten Gefühl.« Das war selber
pragmatistisch, und doch
enthält es implizit und negativ die ganze Wahrheit
über den Geist der
Praxis. Die praktischen Ordnungen des Lebens, die sich geben, als
kämen
sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das Menschliche
verkümmern, und je mehr sie sich ausbreiten, um so mehr
schneiden sie
alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als
das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier
Beziehungen, das noch
die Zweckverhafteten tröstlich streift; Erbteil alter
Privilegien, das
den privilegienlosen Stand verspricht. Die Abschaffung des Privilegs
durch die bürgerliche ratio schafft am Ende auch dies
Versprechen ab.
Wenn Zeit Geld ist, scheint es moralisch, Zeit zu sparen, vor allem die
eigene, und man entschuldigt solche Sparsamkeit mit der
Rücksicht auf
den andern. Man ist geradezu. Jede Hülle, die sich im Verkehr
zwischen
die Menschen schiebt, wird als Störung des Funktionierens der
Apparatur
empfunden, der sie nicht nur objektiv eingegliedert sind, sondern als
die sie mit Stolz sich selber betrachten. Daß sie, anstatt
den Hut zu
ziehen, mit dem Hallo der vertrauten Gleichgültigkeit sich
begrüßen,
daß sie anstatt von Briefen sich anrede- und
unterschriftslose Inter
office communications schicken, sind beliebige Symptome einer
Erkrankung des Kontakts. Die Entfremdung erweist sich an den Menschen
gerade daran, daß die Distanzen fortfallen. Denn nur solange
sie sich
nicht mit Geben und Nehmen, Diskussion und Vollzug, Verfügung
und
Funktion immerzu auf den Leib rücken, bleibt Raum genug
zwischen ihnen
für das feine Gefädel, das sie miteinander verbindet
und in dessen
Auswendigkeit das Inwendige erst sich kristallisiert.
Reaktionäre wie
die Anhänger C. G. Jungs haben davon etwas gemerkt.
»Es gehört«, heißt
es in einem Eranos-Aufsatz G. R. Heyers, »zur besonderen
Gewohnheit der
von Zivilisation noch nicht völlig Geformten, daß
ein Thema nicht
direkt angegangen, ja nicht einmal bald erwähnt werden darf;
das
Gespräch muß sich vielmehr wie von allein in
Spiralen auf seinen
eigentlichen Gegenstand zu bewegen.« Statt dessen gilt nun
für die
kürzeste Verbindung zwischen zwei Personen die Gerade, so als
ob sie
Punkte wären. Wie man heutzutage Häuserwände
aus einem Stück gießt, so
wird der Kitt zwischen den Menschen ersetzt durch den Druck, der sie
zusammenhält. Was anders ist, wird gar nicht mehr verstanden,
sondern
erscheint, wenn nicht als Wienerische Spezialität mit einem
Stich ins
Oberkellnerhafte, als kindisches Vertrauen oder unerlaubte
Annäherung.
In Gestalt der paar Sätze über Gesundheit und
Befinden der Gattin, die
dem Geschäftsgespräch beim Lunch vorausgehen, ist
noch der Gegensatz
zur Ordnung der Zwecke selber von dieser aufgegriffen, ihr
eingefügt
worden. Das Tabu gegen Fachsimpelei und die Unfähigkeit
zueinander zu
reden sind in Wahrheit das Gleiche. Weil alles Geschäft ist,
darf
dessen Name nicht genannt werden wie der des Stricks im Hause des
Gehenkten. Hinter dem pseudodemokratischen Abbau von Formelwesen,
altmodischer Höflichkeit, nutzloser und nicht einmal zu
Unrecht als
Geschwätz verdächtiger Konversation, hinter der
anscheinenden Erhellung
und Durchsichtigkeit der menschlichen Beziehungen, die nichts
Undefiniertes mehr zuläßt, meldet die nackte Roheit
sich an. Das
direkte Wort, das ohne Weiterungen, ohne Zögern, ohne
Reflexion dem
andern die Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form und Klang des
Kommandos, das unterm Faschismus von Stummen an Schweigende ergeht. Die
Sachlichkeit zwischen den Menschen, die mit dem ideologischen Zierat
zwischen ihnen aufräumt, ist selber bereits zur Ideologie
geworden
dafür, die Menschen als Sachen zu behandeln.
21
Umtausch nicht gestattet. - Die Menschen verlernen das Schenken. Der
Verletzung des Tauschprinzips haftet etwas Widersinniges und
Unglaubwürdiges an; da und dort mustern selbst Kinder
mißtrauisch den
Geber, als wäre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen
Bürsten oder Seife
zu verkaufen. Dafür übt man charity, verwaltete
Wohltätigkeit, die
sichtbare Wundstellen der Gesellschaft planmäßig
zuklebt. In ihrem
organisierten Betrieb hat die menschliche Regung schon keinen Raum
mehr, ja die Spende ist mit Demütigung durch Einteilen,
gerechtes
Abwägen, kurz durch die Behandlung des Beschenkten als Objekt
notwendig
verbunden. Noch das private Schenken ist auf eine soziale Funktion
heruntergekommen, die man mit widerwilliger Vernunft, unter
sorgfältiger Innehaltung des ausgesetzten Budgets, skeptischer
Abschätzung des anderen und mit möglichst geringer
Anstrengung
ausführt. Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der
Imagination des
Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen,
Zeit aufwenden, aus seinem Weg
gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von
Vergeßlichkeit. Eben dazu ist kaum einer mehr fähig.
Günstigenfalls
schenken sie, was sie sich selber wünschten, nur ein paar
Nuancen
schlechter. Der Verfall des Schenkens spiegelt sich in der peinlichen
Erfindung der Geschenkartikel, die bereits darauf angelegt sind,
daß
man nicht weiß, was man schenken soll, weil man es eigentlich
gar nicht
will. Diese Waren sind beziehungslos wie ihre Käufer. Sie
waren
Ladenhüter schon am ersten Tag. Ähnlich der Vorbehalt
des Umtauschs,
der dem Beschenkten bedeutet: hier hast du deinen Kram, fang damit an,
was du willst, wenn dir's nicht paßt, ist es mir einerlei,
nimm dir
etwas anderes dafür. Dabei stellt gegenüber der
Verlegenheit der
üblichen Geschenke ihre reine Fungibilität auch noch
das Menschlichere
dar, weil sie dem Beschenkten wenigstens erlaubt, sich selber etwas zu
schenken, worin freilich zugleich der absolute Widerspruch zum Schenken
gelegen ist.
Gegenüber der größeren Fülle von
Gütern, die selbst dem Armen
erreichbar sind, könnte der Verfall des Schenkens
gleichgültig, die
Betrachtung darüber sentimental scheinen. Selbst wenn es
jedoch im
Überfluß überflüssig wäre
- und das ist Lüge, privat so gut wie
gesellschaftlich, denn es gibt keinen heute, für den Phantasie
nicht
genau das finden könnte, was ihn durch und durch
beglückt -, so blieben
des Schenkens jene bedürftig, die nicht mehr schenken. Ihnen
verkümmern
jene unersetzlichen Fähigkeiten, die nicht in der Isolierzelle
der
reinen Innerlichkeit, sondern nur in Fühlung mit der
Wärme der Dinge
gedeihen können. Kälte ergreift alles, was sie tun,
das freundliche
Wort, das ungesprochen, die Rücksicht, die ungeübt
bleibt. Solche Kälte
schlägt endlich zurück auf jene, von denen sie
ausgeht. Alle nicht
entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am
organischen
Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch die Logik der Konsequenz
unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.
22
Kind mit dem Bade. - Unter den Motiven der Kulturkritik ist von Alters
her zentral das der Lüge: daß Kultur eine
menschenwürdige Gesellschaft
vortäuscht, die nicht existiert; daß sie die
materiellen Bedingungen
verdeckt, auf denen alles Menschliche sich erhebt, und daß
sie mit
Trost und Beschwichtigung dazu dient, die schlechte
ökonomische
Bestimmtheit des Daseins am Leben zu erhalten. Es ist der Gedanke von
der Kultur als Ideologie, wie ihn auf den ersten Blick die
bürgerliche
Gewaltlehre und ihr Widerpart, Nietzsche und Marx, miteinander
gemeinsam haben. Aber gerade dieser Gedanke, gleich allem Wettern
über
die Lüge, hat eine verdächtige Neigung, selber zur
Ideologie zu werden.
Das erweist sich am Privaten. Zwangshaft reicht der Gedanke an Geld und
aller Konflikt, den er mit sich führt, bis in die zartesten
erotischen,
die sublimsten geistigen Beziehungen hinein. Mit der Logik der
Konsequenz und dem Pathos der Wahrheit könnte daher die
Kulturkritik
fordern, daß die Verhältnisse durchaus auf ihren
materiellen Ursprung
reduziert, rücksichtslos und unverhüllt nach der
Interessenlage
zwischen den Beteiligten gestaltet werden müßten.
Ist doch der Sinn
nicht unabhängig von der Genese, und leicht
läßt an allem, was über das
Materielle sich legt oder es vermittelt, die Spur von Unaufrichtigkeit,
Sentimentalität, ja gerade das verkappte und doppelt giftige
Interesse
sich finden. Wollte man aber radikal danach handeln, so würde
man mit
dem Unwahren auch alles Wahre ausrotten, alles was wie immer
ohnmächtig
dem Umkreis der universellen Praxis sich zu entheben trachtet, alle
schimärische Vorwegnahme des edleren Zustands, und
würde unmittelbar
zur Barbarei übergehen, die man als vermittelte der Kultur
vorwirft.
Bei den bürgerlichen Kulturkritikern nach Nietzsche war dieser
Umschlag
stets offenbar: begeistert unterschrieben hat ihn Spengler. Aber die
Marxisten sind nicht davor gefeit. Einmal vom sozialdemokratischen
Glauben an den kulturellen Fortschritt kuriert und der anwachsenden
Barbarei gegenübergestellt, sind sie in ständiger
Versuchung, der
»objektiven Tendenz« zuliebe jene zu advozieren und
in einem Akt der
Desperation das Heil vom Todfeind zu erwarten, der, als
»Antithese«,
blind und mysteriös das gute Ende soll bereiten helfen. Die
Hervorhebung des materiellen Elements gegenüber dem Geist als
Lüge
entwickelt ohnehin eine Art bedenklicher Wahlverwandtschaft mit der
politischen Ökonomie, deren immanente Kritik man betreibt,
vergleichbar
dem Einverständnis zwischen Polizei und Unterwelt. Seitdem mit
der
Utopie aufgeräumt ist und die Einheit von Theorie und Praxis
gefordert
wird, ist man allzu praktisch geworden. Die Angst vor der Ohnmacht der
Theorie liefert den Vorwand, dem allmächtigen
Produktionsprozeß sich zu
verschreiben und damit vollends erst die Ohnmacht der Theorie
zuzugestehen. Züge des Hämischen sind schon der
authentischen
Marxischen Sprache nicht fremd, und heute bahnt eine
Anähnelung von
Geschäftsgeist und nüchtern beurteilender Kritik, von
vulgärem und
anderem Materialismus sich an, in der es zuweilen schwer
fällt, Subjekt
und Objekt recht auseinander zu halten. - Kultur einzig mit
Lüge zu
identifizieren ist am verhängnisvollsten in dem Augenblick, da
jene
wirklich ganz in diese übergeht und solche Identifikation
eifrig
herausfordert, um jeden widerstehenden Gedanken zu kompromittieren.
Nennt man die materielle Realität die Welt des Tauschwerts,
Kultur
aber, was immer dessen Herrschaft zu akzeptieren sich weigert, so ist
solche Weigerung zwar scheinhaft, solange das Bestehende besteht. Da
jedoch der freie und gerechte Tausch selber die Lüge ist, so
steht was
ihn verleugnet, zugleich auch für die Wahrheit ein: der
Lüge der
Warenwelt gegenüber wird noch die Lüge zum Korrektiv,
die jene
denunziert. Daß die Kultur bis heute mißlang, ist
keine Rechtfertigung
dafür, ihr Mißlingen zu befördern, indem
man wie Katherlieschen noch
den Vorrat an schönem Weizenmehl über das
ausgelaufene Bier streut.
Menschen, die zusammengehören, sollten sich weder ihre
materiellen
Interessen verschweigen, noch auf sie nivellieren, sondern sie
reflektiert in ihr Verhältnis aufnehmen und damit
über sie hinausgehen.
23
Plurale tantum. - Wenn wirklich, wie eine zeitgenössische
Theorie
lehrt, die Gesellschaft eine von Rackets ist, dann ist deren treuestes
Modell gerade das Gegenteil des Kollektivs, nämlich das
Individuum als
Monade. An der Verfolgung der absolut partikularen Interessen des je
Einzelnen läßt sich das Wesen der Kollektive in der
falschen
Gesellschaft am genauesten studieren, und wenig fehlt, daß
man die
Organisation der auseinander weisenden Triebe unter dem Primat des
realitätsgerechten Ichs von Anbeginn als eine verinnerlichte
Räuberbande mit Führer, Gefolgschaft, Zeremonial,
Treueid, Treubruch,
Interessenkonflikten, Intrigen und allem anderen Zubehör
aufzufassen
hat. Man muß nur einmal Regungen beobachten, in denen das
Individuum
energisch gegen die Umwelt sich geltend macht, wie etwa die Wut. Der
Wütende erscheint stets als der Bandenführer seiner
selbst, der seinem
Unbewußten den Befehl erteilt, dreinzuschlagen, und aus
dessen Augen
die Genugtuung leuchtet, für die vielen zu sprechen, die er
selber ist.
Je mehr einer die Sache seiner Aggression auf sich selbst gestellt hat,
um so vollkommener repräsentiert er das
unterdrückende Prinzip der
Gesellschaft. In diesem Sinn mehr vielleicht als in jedem anderen gilt
der Satz, das Individuellste sei das Allgemeinste.
24
Tough Baby. - Einem bestimmten Gestus der Männlichkeit, sei's
der
eigenen, sei's der anderer, gebührt Mißtrauen. Er
drückt
Unabhängigkeit, Sicherheit der Befehlsgewalt, die
stillschweigende
Verschworenheit aller Männer miteinander aus. Früher
nannte man das
ängstlich bewundernd Herrenlaunen, heute ist es demokratisiert
und wird
von den Filmhelden noch dem letzten Bankangestellten vorgemacht.
Archetypisch dafür ist der gut Aussehende, der im Smoking,
spät abends,
allein in seine Junggesellenwohnung kommt, die indirekte Beleuchtung
andreht und sich einen Whisky-Soda mischt: das sorgfältig
aufgenommene
Zischen des Mineralwassers sagt, was der arrogante Mund verschweigt;
daß er verachtet, was nicht nach Rauch, Leder und Rasiercreme
riecht,
zumal die Frauen, und daß diese eben darum ihm zufliegen. Das
Ideal
menschlicher Beziehungen ist ihm der Klub, die Stätte eines
auf
rücksichtsvoller Rücksichtslosigkeit
gegründeten Respekts. Die Freuden
solcher Männer, oder vielmehr ihrer Modelle, denen kaum je ein
Lebendiger gleicht, denn die Menschen sind immer noch besser als ihre
Kultur, haben allesamt etwas von latenter Gewalttat. Dem Anschein nach
droht sie den anderen, deren so einer, in seinem Sessel
hingeräkelt,
längst nicht mehr bedarf. In Wahrheit ist es vergangene Gewalt
gegen
sich selber. Wenn alle Lust frühere Unlust in sich aufhebt,
dann ist
hier die Unlust, als Stolz sie zu ertragen, unvermittelt, unverwandelt,
stereotyp zur Lust erhoben: anders als beim Wein,
läßt jedem Glas
Whisky, jedem Zug an der Zigarre der Widerwille noch sich
nachfühlen,
den es den Organismus gekostet hat, auf so kräftige Reize
anzusprechen,
und das allein wird als die Lust registriert. Die He-Männer
wären also
ihrer eigenen Verfassung nach, als was sie die Filmhandlung meist
präsentiert, Masochisten. Die Lüge steckt in ihrem
Sadismus, und als
Lügner erst werden sie wahrhaft zu Sadisten, Agenten der
Repression.
Jene Lüge aber ist keine andere, als daß
verdrängte Homosexualität als
einzig approbierte Gestalt des Heterosexuellen auftritt. In Oxford
unterscheidet man zweierlei Arten von Studenten, die tough guys und die
Intellektuellen; die letzteren seien durch den Gegensatz fast ohne
weiteres den Effeminierten gleichzusetzen. Vieles spricht
dafür, daß
sich die herrschende Schicht auf dem Wege zur Diktatur nach diesen
beiden Extremen hin polarisiert. Solche Desintegration ist das
Geheimnis der Integration, des Glückes der Einigkeit in der
Absenz von
Glück. Am Ende sind die tough guys die eigentlich
Effeminierten, die
der Weichlinge als ihrer Opfer bedürfen, um nicht
zuzugestehen, daß sie
ihnen gleichen. Totalität und Homosexualität
gehören zusammen. Während
das Subjekt zugrunde geht, negiert es alles, was nicht seiner eigenen
Art ist. Die Gegensätze des starken Mannes und des folgsamen
Jünglings
verfließen in einer Ordnung, die das männliche
Prinzip der Herrschaft
rein durchsetzt. Indem es alle ohne Ausnahme, auch die vermeintlichen
Subjekte zu seinen Objekten macht, schlägt es in die totale
Passivität,
virtuell ins Weibliche um.
25
Nicht gedacht soll ihrer werden. - Das Vorleben des Emigranten wird
bekanntlich annulliert. Früher war es der Steckbrief, heute
ist es die
geistige Erfahrung, die für nicht transferierbar und
schlechterdings
artfremd erklärt wird. Was nicht verdinglicht ist, sich
zählen und
messen läßt, fällt aus. Nicht genug damit
aber erstreckt sich die
Verdinglichung selbst auf ihren eigenen Gegensatz, das nicht
unmittelbar zu aktualisierende Leben; was immer bloß als
Gedanke und
Erinnerung fortlebt. Dafür haben sie eine eigene Rubrik
erfunden. Sie
heißt »Hintergrund« und erscheint als
Appendix der Fragebogen, nach
Geschlecht, Alter und Beruf. Das geschändete Leben wird auch
noch auf
dem Triumphauto der vereinigten Statistiker mitgeschleppt, und selbst
das Vergangene ist nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals
dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert.
26
English spoken. - In meiner Kindheit bekam ich häufig von
alten
englischen Damen, zu denen meine Eltern Beziehungen unterhielten,
Bücher als Geschenk: reichillustrierte Jugendschriften, auch
eine
kleine grüne Bibel in Saffian. Alle waren in der Sprache der
Geberinnen: ob ich ihrer mächtig sei, daran dachte keine von
ihnen. Die
eigentümliche Verschlossenheit der Bücher, die mit
Bildern, großen
Titeln und Vignetten mich ansprangen, ohne daß ich den Text
hätte
entziffern können, erfüllte mich mit dem Glauben,
allgemein handle es
bei derartigen Büchern sich niemals um solche, sondern um
Reklamen,
vielleicht für Maschinen, wie mein Onkel in seiner Londoner
Fabrik sie
herstellte. Seitdem ich in angelsächsischen Ländern
lebe und Englisch
verstehe, hat dies Bewußtsein sich nicht behoben, sondern
gesteigert.
Es gibt ein »Mädchenlied« von Brahms, auf
ein Gedicht von Heyse, darin
stehen die Zeilen: »O Herzeleid, du Ewigkeit! / Selbander nur
ist
Seligkeit.« In der verbreitetsten amerikanischen Ausgabe wird
das so
gebracht: »O misery, eternity! / But two in one were
ecstasy.« Aus den
altertümlich leidenschaftlichen Hauptwörtern des
Originals sind
Kennworte für Schlager geworden, welche diesen anpreisen. In
ihrem
angedrehten Licht erstrahlt der Reklamecharakter der Kultur.
27
On parle français. - Wie innig Sexus und Sprache sich
verschränken,
lernt, wer in einer fremden Sprache Pornographie liest. Bei der
Lektüre
Sades im Original braucht man kein Dictionnaire. Noch die entlegensten
Ausdrücke fürs Unanständige, deren Kenntnis
keine Schule, kein
Elternhaus, keine literarische Erfahrung vermittelt, versteht man,
nachtwandelnd, wie in der Kindheit die abseitigsten
Äußerungen und
Beobachtungen des Geschlechtlichen zur rechten Vorstellung
zusammenschießen. Es ist, als sprengten die gefangenen
Leidenschaften,
von jenen Worten beim Namen gerufen, wie den Wall der eigenen
Unterdrückung so den der blinden Worte und schlügen
gewalttätig,
unwiderstehlich in die innerste Zelle des Sinnes, der ihnen selber
gleicht.
28
Paysage. - Der Mangel der amerikanischen Landschaft ist nicht sowohl,
wie die romantische Illusion es möchte, die Absenz
historischer
Erinnerungen, als daß in ihr die Hand keine Spur hinterlassen
hat. Das
bezieht sich nicht bloß auf das Fehlen von Äckern,
die ungerodeten und
oft buschwerkhaft niedrigen Wälder, sondern vor allem auf die
Straßen.
Diese sind allemal unvermittelt in die Landschaft gesprengt, und je
glatter und breiter sie gelungen sind, um so beziehungsloser und
gewalttätiger steht ihre schimmernde Bahn gegen die allzu wild
verwachsene Umgebung. Sie tragen keinen Ausdruck. Wie sie keine Geh-
und Räderspuren kennen, keine weichen Fußwege an
ihrem Rande entlang
als Übergang zur Vegetation, keine Seitenpfade ins Tal
hinunter, so
entraten sie des Milden, Sänftigenden, Uneckigen von Dingen,
an denen
Hände oder deren unmittelbare Werkzeuge das ihre getan haben.
Es ist,
als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren.
Sie ist
ungetröstet und trostlos. Dem entspricht die Weise ihrer
Wahrnehmung.
Denn was das eilende Auge bloß im Auto gesehen hat, kann es
nicht
behalten, und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spuren
abgehen.
29
Zwergobst. - Es ist die Höflichkeit Prousts, dem Leser die
Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten
als den Autor.
Im neunzehnten Jahrhundert haben die Deutschen ihren Traum gemalt, und
es ist allemal Gemüse daraus geworden. Die Franzosen brauchten
nur
Gemüse zu malen, und es war schon ein Traum.
In angelsächsischen Ländern sehen die Dirnen aus, als
ob sie mit der Sünde zugleich die Höllenstrafe
mitlieferten.
Schönheit der amerikanischen Landschaft: daß noch
dem kleinsten ihrer
Segmente, als Ausdruck, die unermeßliche
Größe des ganzen Landes
einbeschrieben ist.
In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als
wäre er vom Freischütz erlegt worden.
An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen.
Ob einer glücklich ist, kann er dem Winde anhören.
Dieser mahnt den
Unglücklichen an die Zerbrechlichkeit seines Hauses und jagt
ihn aus
leichtem Schlaf und heftigem Traum. Dem Glücklichen singt er
das Lied
seines Geborgenseins: sein wütendes Pfeifen meldet,
daß er keine Macht
mehr hat über ihn.
Der lautlose Lärm, der aus unserer Traumerfahrung seit je uns
gegenwärtig ist, tönt dem Wachen aus den Schlagzeilen
der Zeitungen
entgegen.
Die mythische Hiobspost erneuert sich mit dem Radio. Wer etwas
Wichtiges autoritär mitteilt, meldet Unheil. Englisch
heißt solemn
feierlich und bedrohlich. Die Macht der Gesellschaft hinter dem
Redenden wendet von selbst sich gegen die Angeredeten.
Das Jüngstvergangene stellt allemal sich dar, als
wäre es durch Katastrophen zerstört worden.
Der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen ist nichts anderes als der
vergangener Qual.
Bei Hegel war Selbstbewußtsein die Wahrheit der
Gewißheit seiner
selbst, nach den Worten der Phänomenologie das
»einheimische Reich der
Wahrheit«. Als sie das schon nicht mehr verstanden, waren die
Bürger
selbstbewußt wenigstens im Stolz darüber,
daß sie ein Vermögen hatten.
Heute heißt self-conscious nur noch die Reflexion aufs Ich
als
Befangenheit, als Innewerden der Ohnmacht: wissen, daß man
nichts ist.
Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn
sie Ich sagen.
Der Splitter in deinem Auge ist das beste
Vergrößerungsglas.
Noch der armseligste Mensch ist fähig, die Schwächen
des bedeutendsten,
noch der dümmste, die Denkfehler des klügsten zu
erkennen.
Erster und einziger Grundsatz der Sexualethik: der Ankläger
hat immer unrecht.
Das Ganze ist das Unwahre.
30
Pro domo nostra. - Als während des vorigen Krieges, der wie
jeder
gegenüber dem darauffolgenden als friedlich erscheint, den
Symphonieorchestern vieler Länder der bramarbasierende Mund
gestopft
war, schrieb Strawinsky die Histoire du Soldat für eine
spärliche,
schockhaft lädierte Kammerbesetzung. Sie wurde seine beste
Partitur,
das einzig stichhaltige surrealistische Manifest, in dessen
konvulsivisch-traumhaftem Zwang der Musik etwas von der negativen
Wahrheit aufging. Die Voraussetzung des Stückes war Armut: es
demontierte so drastisch die offizielle Kultur, weil mit deren
materiellen Gütern auch ihre kulturfeindliche Ostentation ihm
versperrt
war. Darin liegt ein Hinweis für die geistige Produktion nach
diesem
Krieg, der in Europa ein Maß an Zerstörung
zurückgelassen hat, von dem
selbst die Löcher jener Musik nichts sich träumen
ließen. Fortschritt
und Barbarei sind heute als Massenkultur so verfilzt, daß
einzig
barbarische Askese gegen diese und den Fortschritt der Mittel das
Unbarbarische wieder herzustellen vermöchte. Kein Kunstwerk,
kein
Gedanke hat eine Chance zu überleben, dem nicht die Absage an
den
falschen Reichtum und die erstklassige Produktion, an Farbenfilm und
Fernsehen, an Millionärmagazine und Toscanini innewohnte. Die
älteren,
nicht auf Massenproduktion berechneten Medien gewinnen neue
Aktualität:
die des Unerfaßten und der Improvisation. Sie allein
könnten der
Einheitsfront von Trust und Technik ausweichen. In einer Welt, in der
längst die Bücher nicht mehr aussehen wie
Bücher, sind es nur noch
solche, die keine mehr sind. Stand am Anfang der bürgerlichen
Ära die
Erfindung der Druckerpresse, so wäre bald deren Widerruf durch
Mimeographie fällig, das allein angemessene, das
unauffällige Mittel
der Verbreitung.
31
Katze aus dem Sack. - Auch die ehrwürdigste Verhaltensweise
des
Sozialismus, Solidarität, ist erkrankt. Sie wollte einmal die
Rede von
der Brüderlichkeit verwirklichen, sie aus der Allgemeinheit
herausnehmen, in der sie eine Ideologie war, und dem Partikularen, der
Partei vorbehalten, die in der antagonistischen Welt die Allgemeinheit
einzig vertreten sollte. Solidarisch waren Gruppen von Menschen, die
gemeinsam ihr Leben einsetzten, und denen das eigene, im Angesicht der
greifbaren Möglichkeit, nicht das wichtigste war, so
daß sie, ohne die
abstrakte Besessenheit von der Idee, aber auch ohne individuelle
Hoffnung, doch bereit waren, füreinander sich aufzuopfern.
Solches
Aufgeben der Selbsterhaltung hatte zur Voraussetzung Erkenntnis und
Freiheit des Entschlusses: fehlen diese, so stellt das blinde
Partikularinteresse sogleich wieder sich her. Mittlerweile aber ist
Solidarität übergegangen ins Vertrauen darauf,
daß die Partei tausend
Augen hat, in die Anlehnung an die längst zu
Uniformträgern avancierten
Arbeiterbataillone als die eigentlich stärkeren, ins
Mitschwimmen mit
dem Strom der Weltgeschichte. Was an Sekurität dabei zeitweise
etwa zu
gewinnen ist, wird bezahlt mit permanenter Angst, mit Kuschen, Lavieren
und Bauchrednerei: die Kräfte, mit denen man die
Schwäche des Gegners
ausfühlen könnte, werden dazu verbraucht, die
Regungen der eigenen
Führer zu antizipieren, vor denen man im Innersten mehr
zittert als
vorm alten Feind, ahnend, daß am Ende die Führer
hüben und drüben sich
auf dem Rücken der von ihnen Integrierten
verständigen werden. Davon
ist der Reflex zwischen den Individuen zu spüren. Wer, den
Stereotypen
gemäß, nach denen die Menschen heute vorweg sich
aufteilen, unter die
Progressiven gezählt wird, ohne daß er jenen
imaginären Revers
unterzeichnet hätte, der die Rechtgläubigen zu
verbinden scheint, die
sich an einem Unwägbaren von Gestik und Sprache, einer Art
rauhbautzig-gehorsamen Resignation wie an einem Losungswort erkennen,
der macht immer wieder die gleiche Erfahrung. Rechtgläubige,
oder auch
die ihnen allzu ähnlichen Abweichungen, kommen ihm entgegen
und
erwarten Solidarität von ihm. Sie appellieren
ausdrücklich und
unausdrücklich ans fortschrittliche Einverständnis.
Im Augenblick aber,
wo er von ihnen die kleinsten Beweise der gleichen
Solidarität, oder
auch nur Sympathie für den eigenen Anteil am Sozialprodukt des
Leidens
erhofft, zeigen sie ihm die kalte Schulter, die von Materialismus und
Atheismus im Zeitalter der restaurierten Popen allein
übriggeblieben
ist. Die Organisierten wollen, daß der anständige
Intellektuelle sich
für sie exponiere, aber sobald sie nur von weither
fürchten, sich
selber exponieren zu müssen, ist er ihnen der Kapitalist, und
die
gleiche Anständigkeit, auf die sie spekulierten,
lächerliche
Sentimentalität und Dummheit. Solidarität ist
polarisiert in die
desperate Treue derer, für die es keinen Weg zurück
gibt, und in die
virtuelle Erpressung an jenen, die mit den Bütteln nichts zu
schaffen
haben mögen, ohne doch der Bande sich auszuliefern.
32
Die Wilden sind nicht bessere Menschen. - Man kann an Negerstudenten
der Nationalökonomie, Siamesen in Oxford und allgemein an
beflissenen
Kunsthistorikern und Musikologen kleinbürgerlicher Herkunft
die Neigung
und Bereitschaft finden, mit der Aneignung des je zu Lernenden, Neuen
einen unmäßigen Respekt vor dem Etablierten,
Geltenden, Anerkannten zu
verbinden. Unversöhnliche Gesinnung ist das Gegenteil von
Wildheit,
Neophytentum oder »nicht-kapitalistischen
Räumen«. Sie setzt Erfahrung,
historisches Gedächtnis, Nervosität des Gedankens und
vor allem ein
gründliches Maß an Überdruß
voraus. Immer wieder hat sich beobachten
lassen, wie solche, die blutjung und nichtsahnend in radikale Gruppen
sich einreihten, überliefen, sobald sie einmal der Kraft der
Tradition
gewahr wurden. Man muß diese in sich selber haben, um sie
recht zu
hassen. Daß für avantgardistische Bewegungen in der
Kunst die Snobs
mehr Sinn zeigen als die Proletarier, wirft Licht auch auf die Politik.
Spätkommer und Neukommer haben eine beängstigende
Affinität zum
Positivismus, von den Carnapverehrern in Indien bis zu den tapferen
Verteidigern der deutschen Meister Matthias Grünewald und
Heinrich
Schütz. Es wäre schlechte Psychologie, die
annähme, das, wovon man
ausgeschlossen ist, erwecke nur Haß und Ressentiment; es
erweckt auch
eine beschlagnehmende, unduldsame Art von Liebe, und jene, welche die
repressive Kultur nicht an sich heranließ, werden leicht
genug zu deren
borniertester Schutztruppe. Noch in dem auftrumpfenden Hochdeutsch des
Arbeiters, der als Sozialist »etwas lernen«, am
sogenannten Erbe
teilhaben will, klingt das mit, und die Banausie der Bebels besteht
nicht sowohl in ihrer Fremdheit zur Kultur als in dem Eifer, mit dem
sie sie als Tatsache hinnehmen, mit ihr sich identifizieren und damit
freilich ihren Sinn verkehren. Der Sozialismus ist allgemein vor dieser
Transformation so wenig sicher wie vorm theoretischen Abgleiten in den
Positivismus. Leicht genug kann es geschehen, daß im Fernen
Osten Marx
an die vakante Stelle von Driesch und Rickert gesetze wird. Manchmal
ist zu befürchten, es werde die Einbeziehung der
nichtokzidentalen
Völker in die Auseinandersetzung der Industriegesellschaft, an
sich
längst an der Zeit, weniger der befreiten zugute kommen als
der
rationalen Steigerung von Produktion und Verkehr und der bescheidenen
Hebung des Lebensstandards. Anstatt von den vorkapitalistischen
Völkern
sich Wunder zu erwarten, sollten die reifen vor deren
Nüchternheit,
ihrem faulen Sinn fürs Bewährte und für die
Erfolge des Abendlandes auf
der Hut sein.
33
Weit vom Schuß. - Bei den Meldungen über
Luftangriffe fehlen selten die
Namen der Firmen, welche die Flugzeuge hergestellt haben: Focke-Wulff,
Heinkel, Lancaster erscheinen dort, wo früher einmal von
Kürassieren,
Ulanen und Husaren die Rede war. Der Mechanismus der Reproduktion des
Lebens, seiner Beherrschung und seiner Vernichtung ist unmittelbar der
gleiche, und demgemäß werden Industrie, Staat und
Reklame fusioniert.
Die alte Übertreibung skeptischer Liberaler, der Krieg sei ein
Geschäft, hat sich erfüllt: die Staatsmacht hat
selbst den Schein der
Unabhängigkeit vom partikularen Profitinteresse aufgegeben und
stellt
sich wie stets schon real, nun auch ideologisch in dessen Dienst. Jede
lobende Erwähnung der Hauptfirma in der
Städtezerstörung hilft ihr den
guten Namen machen, um dessentwillen ihr dann die besten
Aufträge beim
Wiederaufbau zufallen.
Wie der Dreißigjährige, so zerfällt auch
dieser Krieg, an dessen Anfang
sich schon keiner mehr erinnern kann, wenn er zu Ende sein wird, in
diskontinuierliche, durch leere Pausen getrennte Feldzüge, den
polnischen, den norwegischen, den französischen, den
russischen, den
tunesischen, die Invasion. Sein Rhythmus, der Wechsel
stoßweiser Aktion
und völligen Stillstands aus Mangel an geographisch
erreichbaren
Feinden, hat selber etwas von dem mechanischen, der die Art der
Kriegsmittel im einzelnen charakterisiert und der wohl auch die
vorliberale Form des Feldzugs nochmals heraufbeschworen hat. Dieser
mechanische Rhythmus aber bestimmt völlig das menschliche
Verhalten zum
Krieg, nicht nur in der Disproportion zwischen der individuellen
Körperkraft und der Energie der Motoren, sondern bis in die
geheimsten
Zellen der Erlebnisweisen hinein. Schon das vorige Mal machte die
Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht eigentliche
Erfahrung unmöglich. Keiner hätte davon
erzählen können, wie noch von
den Schlachten des Artilleriegenerals Bonaparte erzählt werden
konnte.
Das lange Intervall zwischen den Kriegsmemoiren und dem
Friedensschluß
ist nicht zufällig: es legt Zeugnis ab von der
mühsamen Rekonstruktion
der Erinnerung, der in all jenen Büchern etwas
Ohnmächtiges und selbst
Unechtes gesellt bleibt, gleichgültig, durch welche Schrecken
die
Berichtenden hindurchgingen. Der Zweite Krieg aber ist der Erfahrung
schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den
Regungen des
Körpers, der erst in Krankheitszuständen jenem sich
anähnelt. Sowenig
der Krieg Kontinuität, Geschichte, das
»epische« Element enthält,
sondern gewissermaßen in jeder Phase von vorn
anfängt, sowenig wird er
ein stetiges und unbewußt aufbewahrtes Erinnerungsbild
hinterlassen.
Überall, mit jeder Explosion, hat er den Reizschutz
durchbrochen, unter
dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem
Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von
Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte
Zwischenräume
klaffen. Nichts aber ist vielleicht verhängnisvoller
für die Zukunft,
als daß im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wird
daran denken können,
denn jedes Trauma, jeder unbewältigte Schock der
Zurückkehrenden ist
ein Ferment kommender Destruktion. - Karl Kraus tat recht daran, sein
Stück »Die letzten Tage der Menschheit« zu
nennen. Was heute geschieht,
müßte »Nach Weltuntergang«
heißen.
Die vollständige Verdeckung des Krieges durch Information,
Propaganda,
Kommentar, die Filmoperateure in den ersten Tanks und der Heldentod von
Kriegsberichterstattern, die Maische aus
manipuliert-aufgeklärter
öffentlicher Meinung und bewußtlosem Handeln, all
das ist ein anderer
Ausdruck für die verdorrte Erfahrung, das Vakuum zwischen den
Menschen
und ihrem Verhängnis, in dem das Verhängnis recht
eigentlich besteht.
Der verdinglichte, erstarrte Abguß der Ereignisse
substituiert
gleichsam diese selber. Die Menschen werden zu Schauspielern eines
Monstre-Documentairefilms herabgesetzt, der keine Zuschauer mehr kennt,
weil noch der letzte auf der Leinwand mittun muß. Eben dies
Moment
liegt der vielgescholtenen Rede vom phony war zugrunde. Sie entspringt
gewiß aus der faschistischen Stimmung, die Realität
des Grauens als
»bloße Propaganda« von sich zu weisen,
damit das Grauen einspruchslos
sich vollziehe. Aber wie alle Tendenzen des Faschismus hat auch diese
ihren Ursprung in Elementen der Realität, die sich nur eben
gerade
kraft jener faschistischen Haltung durchsetzen, die hämisch
auf sie
hindeutet. Der Krieg ist wirklich phony, aber seine phonyness
schrecklicher als aller Schrecken, und die sich darüber
mokieren,
tragen vorab zum Unheil bei.
Hätte Hegels Geschichtsphilosophie diese Zeit eingeschlossen,
so hätten
Hitlers Robotbomben, neben dem frühen Tod Alexanders und
ähnlichen
Bildern, ihre Stelle gefunden unter den ausgewählten
empirischen
Tatsachen, in denen der Stand des Weltgeists unmittelbar symbolisch
sich ausdrückt. Wie der Faschismus selber sind die Robots
lanciert
zugleich und subjektlos. Wie jener vereinen sie die
äußerste technische
Perfektion mit vollkommener Blindheit. Wie jener erregen sie das
tödlichste Entsetzen und sind ganz vergeblich. -
»Ich habe den
Weltgeist gesehen«, nicht zu Pferde, aber auf
Flügeln und ohne Kopf,
und das widerlegt zugleich Hegels Geschichtsphilosophie.
Der Gedanke, daß nach diesem Krieg das Leben
»normal« weitergehen oder
gar die Kultur »wiederaufgebaut« werden
könnte - als wäre nicht der
Wiederaufbau von Kultur allein schon deren Negation -, ist idiotisch.
Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel
sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur
eigentlich noch? Und selbst wenn Ungezählten Wartezeit bleibt,
könnte
man sich vorstellen, daß das, was in Europa geschah, keine
Konsequenz
hat, daß nicht die Quantität der Opfer in eine neue
Qualität der
gesamten Gesellschaft, die Barbarei, umschlägt? Solange es Zug
um Zug
weitergeht, ist die Katastrophe perpetuiert. Man muß nur an
die Rache
für die Ermordeten denken. Werden ebenso viele von den anderen
umgebracht, so wird das Grauen zur Einrichtung und das
vorkapitalistische Schema der Blutrache, das seit undenklichen Zeiten
bloß noch in abgelegenen Gebirgsgegenden waltete, erweitert
wieder
eingeführt, mit ganzen Nationen als subjektlosem Subjekt.
Werden jedoch
die Toten nicht gerächt und Gnade geübt, so hat der
ungestrafte
Faschismus trotz allem seinen Sieg weg, und nachdem er einmal zeigte,
wie leicht es geht, wird es an anderen Stellen sich fortsetzen. Die
Logik der Geschichte ist so destruktiv wie die Menschen, die sie
zeitigt: wo immer ihre Schwerkraft hintendiert, reproduziert sie das
Äquivalent des vergangenen Unheils. Normal ist der Tod.
Auf die Frage, was man mit dem geschlagenen Deutschland anfangen soll,
wüßte ich nur zweierlei zu antworten. Einmal: ich
möchte um keinen
Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder Rechtstitel
für
Henker liefern. Dann: ich möchte keinem, und gar mit der
Apparatur des
Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes
rächt. Das ist
eine durch und durch unbefriedigende, widerspruchsvolle und der
Verallgemeinerung ebenso wie der Praxis spottende Antwort. Aber
vielleicht liegt der Fehler schon bei der Frage und nicht erst bei mir.
Wochenschau im Kino: die Invasion der Marianas, darunter Guam. Der
Eindruck ist nicht der von Kämpfen, sondern der mit
unermeßlich
gesteigerter Vehemenz vorgenommener mechanischer Straßen- und
Sprengarbeiten, auch von »Ausräuchern«,
Insektenvertilgung im
tellurischen Maßstab. Operationen werden
durchgeführt, bis kein Gras
mehr wächst. Der Feind fungiert als Patient und Leiche. Wie
die Juden
unterm Faschismus gibt er nur noch das Objekt technisch-administrativer
Maßnahmen ab, und wenn er sich zur Wehr setzt, hat seine
Gegenaktion
sogleich denselben Charakter. Dabei das Satanische, daß in
gewisser
Weise mehr Initiative beansprucht wird als im Krieg alten Stils,
daß es
gleichsam die ganze Energie des Subjekts kostet, die Subjektlosigkeit
herbeizuführen. Die vollendete Inhumanität ist die
Verwirklichung von
Edward Greys humanem Traum, dem Krieg ohne Haß.
Herbst 1944
34
Hans-Guck-in-die-Luft. - Zwischen der Erkenntnis und der Macht besteht
nicht nur der Zusammenhang des Lakaientums, sondern auch einer der
Wahrheit. Viele Erkenntnisse sind außer Proportion mit der
Kräfteverteilung nichtig, mögen sie auch formal
zutreffen. Wenn der
ausgewanderte Arzt sagt: »Für mich ist Adolf Hitler
ein pathologischer
Fall«, so mag ihm der klinische Befund am Ende seiner Aussage
bestätigen, aber deren Mißverhältnis zu dem
objektiven Unheil, das im
Namen des Paranoikers über die Welt geht, macht die Diagnose
lächerlich, in der bloß der Diagnostiker sich
aufplustert. Vielleicht
ist Hitler »an sich« ein pathologischer Fall, ganz
gewiß aber nicht
»für ihn«. Die Eitelkeit und Armseligkeit
vieler Kundgaben der
Emigration gegen den Faschismus hängt damit zusammen. Die in
Formen der
freien, distanzierten, desinteressierten Beurteilung Denkenden waren
unfähig, in jene Formen die Erfahrung der Gewalt mit
aufzunehmen,
welche real solches Denken außer Kraft setzt. Die fast
unlösbare
Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der
eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.
35
Rückkehr zur Kultur. - Die Behauptung, daß Hitler
die deutsche Kultur
zerstört habe, ist nichts als ein Reklametrick derer, die sie
von ihren
Telefontischen aus wieder aufbauen wollen. Was Hitler an Kunst und
Gedanken ausgerottet hat, führte längst zuvor die
abgespaltene und
apokryphe Existenz, deren letzte Schlupfwinkel der Faschismus ausfegte.
Wer nicht mittat, mußte schon Jahre vorm Ausbruch des Dritten
Reichs in
die innere Emigration: spätestens seit der Stabilisierung der
deutschen
Währung, die zeitlich mit dem Ende des Expressionismus
zusammenfällt,
hat gerade die deutsche Kultur sich stabilisiert im Geist der Berliner
Illustrierten, der dem von Kraft durch Freude, der Reichsautobahnen und
dem kessen Ausstellungsklassizismus der Nazis nur wenig nachgab. In
ihrer Breite lechzte die deutsche Kultur, gerade wo sie am liberalsten
war, nach ihrem Hitler, und man tut den Redakteuren Mosses und
Ullsteins wie den Reorganisatoren der Frankfurter Zeitung Unrecht, wenn
man ihnen Gesinnungstüchtigkeit vorwirft. Sie waren schon
immer so, und
ihre Linie des geringsten Widerstands gegen die Geisteswaren, die sie
produzierten, setzte sich geradeswegs fort in der Linie des geringsten
Widerstands gegen die politische Herrschaft, unter deren ideologischen
Methoden nach des Führers eigener Aussage am obersten die
Verständlichkeit für die Dümmsten rangiert.
Das hat zu verhängnisvoller
Verwirrung geführt. Hitler hat die Kultur ausgerottet, Hitler
hat Herrn
Ludwig verjagt, also ist Herr Ludwig die Kultur. Er ist es in der Tat.
Ein Blick auf die literarische Produktion jener Emigranten, welche
durch Disziplin und straffe Aufteilung der
Einflußsphären es fertig
gebracht haben, den deutschen Geist zu repräsentieren, zeigt,
was beim
fröhlichen Wiederaufbau alles zu erwarten steht: die
Einführung der
Broadwaymethoden auf dem Kurfürstendamm, der von jenem schon
in den
zwanziger Jahren sich nur durch geringere Mittel, nicht durch bessere
Zwecke unterschied. Wer gegen den Kulturfaschismus anwill,
muß schon
mit Weimar, den »Bomben auf Monte Carlo« und dem
Presseball anfangen,
wenn er nicht am Ende entdecken will, daß zweideutige Figuren
wie
Fallada unter Hitler mehr Wahrheit sagten als die eindeutigen
Prominenzen, denen die Transferierung ihres Prestiges gelang.
36
Die Gesundheit zum Tode. - Wäre etwas wie eine Psychoanalyse
der heute
prototypischen Kultur möglich; spottete nicht die absolute
Vorherrschaft der Ökonomie jeden Versuchs, die
Zustände aus dem
Seelenleben ihrer Opfer zu erklären, und hätten nicht
die
Psychoanalytiker selber jenen Zuständen längst den
Treueid geleistet -
so müßte eine solche Untersuchung dartun,
daß die zeitgemäße Krankheit
gerade im Normalen besteht. Die libidinösen Leistungen, die
vom
Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt,
sind derart, daß sie nur vermöge der tiefsten
Verstümmelung vollbracht
werden können, einer Verinnerlichung der Kastration in den
extroverts,
der gegenüber die alte Aufgabe der Identifikation mit dem
Vater das
Kinderspiel ist, in dem sie eingeübt wurde. Der regular guy,
das
popular girl müssen nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse
verdrängen, sondern auch noch alle die Symptome, die in
bürgerlichen
Zeiten aus der Verdrängung folgten. Wie das alte Unrecht durch
das
generöse Massenaufgebot von Licht, Luft und Hygiene nicht
geändert,
sondern durch die blinkende Durchsichtigkeit des rationalisierten
Betriebs gerade verdeckt wird, so besteht die inwendige Gesundheit der
Epoche darin, daß sie die Flucht in die Krankheit
abgeschnitten hat,
ohne doch an deren Ätiologie das mindeste zu ändern.
Die finsteren
Abtritte wurden als peinliche Raumvergeudung beseitigt und ins
Badezimmer verlegt. Bestätigt ist der Argwohn, den die
Psychoanalyse
hegte, ehe sie selber zu einem Stück Hygiene sich machte. Wo
es am
hellsten ist, herrschen insgeheim die Fäkalien. Der Vers:
»Das Elend
bleibt. So wie es war. / Du kannst es nicht ausrotten ganz und gar, /
Aber du machst es unsichtbar«, gilt im Haushalt der Seele
noch mehr als
dort, wo die Fülle der Güter zeitweilig über
die unaufhaltsam
anwachsenden materiellen Differenzen täuscht. Keine Forschung
reicht
bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen
geprägt werden,
die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit,
Umgänglichkeit, als
gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt
praktischer Sinn zutage kommen. Es ist Grund zur Annahme, daß
sie in
noch frühere Phasen der Kindheitsentwicklung fallen als der
Ursprung
der Neurosen: sind diese Resultate eines Konflikts, in dem der Trieb
geschlagen ward, so resultiert der Zustand, der so normal ist wie die
beschädigte Gesellschaft, der er gleicht, aus einem gleichsam
prähistorischen Eingriff, der die Kräfte schon
bricht, ehe es zum
Konflikt überhaupt kommt, und die spätere
Konfliktlosigkeit reflektiert
das Vorentschiedensein, den apriorischen Triumph der kollektiven
Instanz, nicht die Heilung durchs Erkennen. Unnervosität und
Ruhe,
bereits zur Voraussetzung dafür geworden, daß
Applikanten höher
bezahlte Stellungen zugewiesen bekommen, sind das Bild des erstickten
Schweigens, das die Auftraggeber der Personalchefs politisch
später
erst verhängen. Diagnostizieren läßt die
Krankheit der Gesunden sich
einzig objektiv, am Mißverhältnis ihrer rationalen
Lebensführung zur
möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens. Aber
die Spur der
Krankheit verrät sich doch: sie sehen aus, als wäre
ihre Haut mit einem
regelmäßig gemusterten Ausschlag bedruckt, als
trieben sie Mimikry mit
dem Anorganischen. Wenig fehlt, und man könnte die, welche im
Beweis
ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft aufgehen, für
präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem
nicht
ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen
Rücksichten
vorenthielt. Auf dem Grunde der herrschenden Gesundheit liegt der Tod.
All ihre Bewegung gleicht den Reflexbewegungen von Wesen, denen das
Herz stillstand. Kaum daß gelegentlich einmal die unseligen
Stirnfalten, Zeugnis furchtbarster und längst vergessener
Anstrengung,
daß ein Moment pathischer Dummheit inmitten der fixen Logik,
daß ein
hilfloser Gestus störend die Spur des entwichenen Lebens
bewahrt. Denn
das gesellschaftlich zugemutete Opfer ist so universal, daß
es in der
Tat erst an der Gesellschaft als ganzer und nicht am Einzelnen offenbar
wird. Sie hat die Krankheit aller Einzelnen gleichsam
übernommen, und
in ihr, in dem gestauten Wahnsinn der faschistischen Aktionen und all
ihren zahllosen Vorformen und Vermittlungen wird das im Individuum
vergrabene subjektive Unheil mit dem sichtbaren objektiven integriert.
Trostlos aber der Gedanke, daß der Krankheit des Normalen
nicht etwa
die Gesundheit des Kranken ohne weiteres gegenübersteht,
sondern daß
diese meist nur das Schema des gleichen Unheils auf andere Weise
vorstellt.
37
Diesseits des Lustprinzips. - Die repressiven Züge Freuds
haben nichts
zu tun mit jenem Mangel an Güte, auf den die
geschäftstüchtigen
Revisionisten der strengen Sexualtheorie hinweisen. Die
berufsmäßige
Güte fingiert des Profits wegen Nähe und
Unmittelbarkeit dort, wo
keiner vom andern weiß. Sie betrügt ihr Opfer, indem
sie in seiner
Schwäche den Weltlauf bejaht, der es so machte, und tut so
viel Unrecht
ihm an, wie sie von der Wahrheit nachläßt. Wenn es
Freud an solcher
Güte gebrach, so wäre er hier wenigstens in der
Gesellschaft der
Kritiker der politischen Ökonomie, die besser ist als die von
Tagore
und Werfel. Vielmehr liegt das Fatale darin, daß er, gegen
die
bürgerliche Ideologie, materialistisch das bewußte
Handeln hinab auf
seinen unbewußten Triebgrund verfolgte, zugleich aber in die
bürgerliche Verachtung des Triebs einstimmte, die selber das
Produkt
eben jener Rationalisierungen ist, die er abbaut. Er fügt sich
ausdrücklich, nach den Worten der Vorlesungen, »der
allgemeinen
Schätzung ..., welche soziale Ziele höher stellt als
die im Grunde
selbstsüchtigen sexuellen«. Als Fachmann
für Psychologie nimmt er den
Gegensatz von sozial und egoistisch ungeprüft, statisch hin.
Er erkennt
in ihm so wenig das Werk der repressiven Gesellschaft wie die Spur der
verhängnisvollen Mechanismen, die er selber bezeichnet hat.
Oder
vielmehr, er schwankt, theorielos und in Anpassung ans Vorurteil, ob er
den Triebverzicht als realitätswidrige Verdrängung
negieren oder als
kulturfördernde Sublimierung preisen soll. In diesem
Widerspruch lebt
objektiv etwas vom Januscharakter der Kultur selber, und kein Lob der
gesunden Sinnlichkeit vermöchte ihn zu glätten. Bei
Freud jedoch wird
daraus die Entwertung des kritischen Maßstabs für
das Ziel der Analyse.
Freuds unaufgeklärte Aufklärung spielt der
bürgerlichen Desillusion in
die Hände. Als später Feind der Heuchelei steht er
zweideutig zwischen
dem Willen zur hüllenlosen Emanzipation des
Unterdrückten und der
Apologie hüllenloser Unterdrückung. Die Vernunft ist
ihm ein bloßer
Überbau, nicht sowohl, wie die offizielle Philosophie es ihm
vorwirft,
wegen seines Psychologismus, der tief genug ins geschichtliche Moment
an der Wahrheit eindringt, als vielmehr, weil er den bedeutungsfernen,
vernunftlosen Zweck verwirft, an dem allein das Mittel Vernunft als
vernünftig sich erweisen könnte, die Lust. Sobald
diese geringschätzig
unter die Tricks der Arterhaltung eingereiht, selber gleichsam in
schlaue Vernunft aufgelöst wird, ohne daß das Moment
daran benannt
wäre, das über den Kreis der Naturverfallenheit
hinausgeht, kommt die
ratio auf die Rationalisierung herunter. Wahrheit wird der
Relativität
überantwortet und die Menschen der Macht. Nur wer es
vermöchte, in der
blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte
stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit
fähig,
die standhielte. In Freuds Werk aber reproduziert sich wider Willen die
Doppelfeindschaft gegen Geist und Lust, deren gemeinsame Wurzel zu
erkennen Psychoanalyse gerade das Mittel geliefert hat. Die Stelle aus
der »Zukunft einer Illusion«, an der mit der
nichtswürdigen Weisheit
eines abgebrühten alten Herrn die Commis-voyageur-Sentenz vom
Himmel
zitiert wird, den wir den Engeln und den Spatzen überlassen,
ist das
Seitenstück zu jenem Passus aus den Vorlesungen, wo er die
perversen
Praktiken der Lebewelt schaudernd verdammt. Denen Lust und Himmel
gleichermaßen verekelt wird, die taugen dann in der Tat am
besten zu
Objekten: das Leere und Mechanisierte, das an erfolgreich Analysierten
so oft sich beobachten läßt, kommt nicht nur aufs
Konto ihrer
Krankheit, sondern auch auf das ihrer Heilung, die bricht, was sie
befreit. Die therapeutisch vielgerühmte Übertragung,
deren Lösung nicht
umsonst die crux der analytischen Arbeit ausmacht, die
ausgeklügelte
Situation, in der dann das Subjekt willentlich unheilvoll jene
Durchstreichung seiner selbst vollzieht, die
glücklich-unfreiwillig
einmal von der Hingabe bewirkt wurde, ist bereits das Schema der
reflektorischen Verhaltensweise, die als Marsch hinterm Führer
mit
allem Geist auch die Analytiker liquidiert, die ihm die Treue brachen.
38
Aufforderung zum Tanz. - Die Psychoanalyse tut sich etwas zugute
darauf, den Menschen ihre Genußfähigkeit
wiederzugeben, wie sie durch
die neurotische Erkrankung gestört sei. Als ob nicht das
bloße Wort
Genußfähigkeit genügte, diese, wenn es so
etwas gibt, aufs
empfindlichste herabzusetzen. Als ob nicht ein Glück, das sich
der
Spekulation auf Glück verdankt, das Gegenteil von
Glück wäre, ein
weiterer Einbruch institutionell geplanter Verhaltensweisen ins immer
mehr schrumpfende Bereich der Erfahrung. Welch einen Zustand
muß das
herrschende Bewußtsein erreicht haben, daß die
dezidierte Proklamation
von Verschwendungssucht und Champagnerfröhlichkeit, wie sie
früher den
Attachés in ungarischen Operetten vorbehalten war, mit
tierischem Ernst
zur Maxime richtigen Lebens erhoben wird. Das verordnete Glück
sieht
denn auch danach aus; um es teilen zu können, muß
der beglückte
Neurotiker auch noch das letzte bißchen an Vernunft
preisgeben, das ihm
Verdrängung und Regression übrig ließen,
und dem Psychoanalytiker
zuliebe an dem Schundfilm, dem teuren aber schlechten Essen im French
Restaurant, dem seriösen drink und dem als sex dosierten
Geschlecht
wahllos sich begeistern. Das Schillersche »Das Leben ist doch
schön«,
das immer schon Papiermaché war, ist zur Idiotie geworden,
seitdem es
im Einverständnis mit der omnipräsenten Reklame
ausposaunt wird, zu
deren Fanalen auch die Psychoanalyse, ihrer besseren
Möglichkeit zum
Trotz, Scheite herbeiträgt. Wie die Leute durchweg zu wenig
Hemmungen
haben und nicht zu viele, ohne doch darum um ein Gran gesünder
zu sein,
so müßte eine kathartische Methode, die nicht an der
gelungenen
Anpassung und dem ökonomischen Erfolg ihr Maß
findet, darauf ausgehen,
die Menschen zum Bewußtsein des Unglücks, des
allgemeinen und des davon
unablösbaren eigenen, zu bringen und ihnen die
Scheinbefriedigungen zu
nehmen, kraft derer in ihnen die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben
sich erhält, wie wenn sie sie nicht von außen
bereits fest genug in der
Gewalt hätte. Erst in dem Überdruß am
falschen Genuß, dem Widerwillen
gegens Angebot, der Ahnung von der Unzulänglichkeit des
Glücks, selbst
wo es noch eines ist, geschweige denn dort, wo man es durch die Aufgabe
des vermeintlich krankhaften Widerstands gegen sein positives Surrogat
erkauft, würde der Gedanke von dem aufgehen, was man erfahren
könnte.
Die Ermahnung zur happiness, in der der wissenschaftlich
lebemännische
Sanatoriumsdirektor mit den nervösen Propagandachefs der
Vergnügungsindustrie übereinstimmt, trägt
die Züge des wütenden Vaters,
der die Kinder anbrüllt, weil sie nicht jubelnd die Treppe
hinunterstürzen, wenn er mißlaunisch aus dem
Geschäft nach Hause kommt.
Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des
Leidens,
das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt
vom
Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von
Menschenschlachthäusern
so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen
sich
einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht. Das ist
das Schema
der ungestörten Genußfähigkeit.
Triumphierend darf die Psychoanalyse
dem, der es beim Namen nennt, bestätigen, er habe halt einen
Ödipuskomplex.
39
Ich ist Es. - Man pflegt die Entwicklung der Psychologie mit dem
Aufstieg des bürgerlichen Individuums, in der Antike wie seit
der
Renaissance, zusammenzubringen. Darüber sollte nicht das
konträre
Moment übersehen werden, das die Psychologie ebenfalls mit der
bürgerlichen Klasse gemein hat und das heute zur
Ausschließlichkeit
sich entfaltet: Unterdrückung und Auflösung eben des
Individuums, in
dessen Dienst die Rückbeziehung der Erkenntnis auf ihr Subjekt
stand.
Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen
erhöhte
durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie
damit von
Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und
ihn selber, einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit
überantwortet. Die Verleugnung der objektiven Wahrheit durch
den Rekurs
aufs Subjekt schließt dessen eigene Negation ein: kein
Maß bleibt fürs
Maß aller Dinge, es verfällt der Kontingenz und wird
zur Unwahrheit.
Das aber deutet zurück auf den realen Lebensprozeß
der Gesellschaft.
Das Prinzip der menschlichen Herrschaft, das zum absoluten sich
entfaltete, hat eben damit seine Spitze gegen den Menschen als das
absolute Objekt gekehrt, und die Psychologie hat daran mitgewirkt, jene
Spitze zu schärfen. Das Ich, ihre leitende Idee und ihr
apriorischer
Gegenstand, ist unter ihrem Blick stets zugleich schon zum
Nicht-Existenten geworden. Indem Psychologie sich darauf
stützen
konnte, daß das Subjekt in der Tauschgesellschaft keines ist,
sondern
in der Tat deren Objekt, konnte sie ihr die Waffen liefern, es erst
recht zu einem solchen zu machen und unten zu halten. Die Zerlegung des
Menschen in seine Fähigkeiten ist eine Projektion der
Arbeitsteilung
auf deren vorgebliche Subjekte, untrennbar vom Interesse, sie mit
höherem Nutzen einsetzen, überhaupt manipulieren zu
können.
Psychotechnik ist keine bloße Verfallsform der Psychologie,
sondern
ihrem Prinzip immanent. Hume, dessen Werk mit jedem Satz Zeugnis ablegt
vom realen Humanismus und der zugleich das Ich unter die Vorurteile
verweist, drückt in solchem Widerspruch das Wesen der
Psychologie als
solcher aus. Dabei hat er noch die Wahrheit auf seiner Seite, denn was
als Ich sich selber setzt, ist in der Tat bloßes Vorurteil,
die
ideologische Hypostase der abstrakten Zentren von Beherrschung, deren
Kritik den Abbau der Ideologie von
»Persönlichkeit« erfordert. Aber
dieser Abbau macht zugleich die Residuen um so beherrschbarer. An der
Psychoanalyse wird das flagrant. Sie zieht die Persönlichkeit
als
Lebenslüge ein, als die oberste Rationalisierung, welche die
zahllosen
Rationalisierungen zusammenhält, kraft deren das Individuum
seinen
Triebverzicht zuwege bringt und dem Realitätsprinzip sich
einordnet.
Zugleich aber bestätigt sie dem Menschen in eben solchem
Nachweis sein
Nichtsein. Sie entäußert ihn seiner selbst,
denunziert mit seiner
Einheit seine Autonomie und unterwirft ihn so vollends dem
Rationalisierungsmechanismus, der Anpassung. Die unerschrockene Kritik
des Ichs an sich selbst geht in die Aufforderung über, das der
andern
solle kapitulieren. Am Ende wird die Weisheit der Psychoanalytiker
wirklich zu dem, wofür das faschistische Unbewußte
der Schauermagazine
sie hält, zur Technik eines Spezialrackets unter anderen,
leidende und
hilflose Menschen unwiderruflich an sich zu fesseln, sie zu
kommandieren und auszubeuten. Suggestion und Hypnose, die sie als
apokryph ablehnt, der marktschreierische Zauberer vor der Schaubude,
kehrt in ihrem grandiosen System wieder wie im Großfilm der
Kintopp.
Aus dem, der hilft, weil er es besser weiß, wird der, welcher
den
andern durchs rechthaberische Privileg erniedrigt. Von der Kritik des
bürgerlichen Bewußtseins bleibt nur jenes
Achselzucken, mit dem alle
Ärzte ihr geheimes Einverständnis mit dem Tod
bekundet haben. - In der
Psychologie, dem abgründigen Trug des bloß
Inwendigen, der es nicht
umsonst mit den »properties« der Menschen zu tun
hat, reflektiert sich,
was die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft mit dem
auswendigen
Eigentum von je verübte. Sie hat es, als Resultat des
gesellschaftlichen Tauschs, entwickelt, aber zugleich mit einer
objektiven Vorbehaltsklausel, von der jeder Bürger ahnt. Der
Einzelne
ist damit gleichsam bloß von der Klasse belehnt, und die
Verfügenden
sind bereit, es zurückzunehmen, sobald allgemeines Eigentum
seinem
Prinzip selber gefährlich werden könnte, das gerade
in der
Vorenthaltung besteht. Psychologie wiederholt an den Eigenschaften. was
dem Eigentum widerfuhr. Sie expropriiert den Einzelnen, indem sie ihm
ihr Glück zuteilt.
40
Immer davon reden, nie daran denken. - Seitdem mit Hilfe des Films, der
Seifenopern und der Horney die Tiefenpsychologie in die letzten
Löcher
dringt, wird den Menschen auch die letzte Möglichkeit der
Erfahrung
ihrer selbst von der organisierten Kultur abgeschnitten. Die fertig
gelieferte Aufklärung verwandelt nicht nur die spontane
Reflexion,
sondern auch die analytischen Einsichten, deren Kraft gleich ist der
Energie und dem Leiden, womit sie errungen werden, in Massenprodukte
und die schmerzlichen Geheimnisse der individuellen Geschichte, die
schon die orthodoxe Methode auf Formeln zu reduzieren geneigt ist, in
geläufige Konventionen. Die Auflösung der
Rationalisierungen wird
selbst zu einer Rationalisierung. Anstatt die Arbeit der
Selbstbesinnung zu leisten, erwerben die Belehrten die
Fähigkeit, alle
Triebkonflikte unter Begriffe wie Minderwertigkeitskomplex,
Mutterbindung, extrovert und introvert zu subsumieren, von denen sie im
Grunde sich gar nicht erreichen lassen. Der Schrecken vorm Abgrund des
Ichs wird weggenommen durch das Bewußtsein, daß es
sich dabei um gar
nicht so viel anderes als um Arthritis oder Sinus troubles handle.
Dadurch verlieren die Konflikte das Drohende. Sie werden akzeptiert;
keineswegs aber geheilt, sondern bloß in die
Oberfläche des genormten
Lebens als unumgängliches Bestandstück
hineinmontiert. Zugleich werden
sie, als ein allgemeines Übel, von dem Mechanismus der
unmittelbaren
Identifikation des Einzelnen mit der gesellschaftlichen Instanz
absorbiert, der die angeblich normalen Verhaltensweisen längst
ergriffen hat. Anstelle jener Katharsis, deren Gelingen ohnehin in
Frage steht, tritt der Lustgewinn, in der eigenen Schwäche
auch ein
Exemplar der Majorität zu sein und damit nicht sowohl, wie
ehedem die
Sanatoriumsinsassen, das Prestige des interessanten pathologischen
Falls zu gewinnen, als vielmehr gerade vermöge jener Defekte
sich als
dazugehörig auszuweisen und Macht und Größe
des Kollektivs auf sich zu
übertragen. Der Narzißmus, dem mit dem Zerfall des
Ichs sein
libidinöses Objekt entzogen ist, wird ersetzt durch das
masochistische
Vergnügen, kein Ich mehr zu sein, und über ihrer
Ichlosigkeit wacht die
heraufziehende Generation so eifersüchtig wie über
wenigen ihrer Güter,
als einem gemeinsamen und dauernden Besitz. Das Reich der
Verdinglichung und Normierung wird auf diese Weise bis in seinen
äußersten Widerspruch hinein, das vorgeblich Abnorme
und Chaotische,
ausgedehnt. Das Inkommensurable wird gerade als solches kommensurabel
gemacht, und das Individuum ist kaum einer Regung mehr fähig,
die es
nicht als Beispiel dieser oder jener öffentlich anerkannten
Konstellation benennen könnte. Solche auswendig
übernommene und
gleichsam jenseits der eigenen Dynamik vollzogene Identifizierung
indessen schafft mit dem genuinen Bewußtsein der Regung
schließlich
auch diese selbst ab. Sie wird zum an- und abstellbaren Reflex
stereotyper Atome auf stereotype Reize. Überdies bewirkt die
Konventionalisierung der Psychoanalyse deren eigene Kastration: die
sexuellen Motive, teils verleugnet, teils approbiert, werden
gänzlich
harmlos, aber auch gänzlich nichtig. Mit der Angst, die sie
bereiten,
entschwindet auch die Lust, die sie bereiten könnten. So wird
Psychoanalyse das Opfer eben der Substitution des zugeeigneten
Überichs
durch die verbissene Übernahme eines beziehungslosen
Äußeren, welche
sie selber verstehen lehrte. Das letzte großkonzipierte
Theorem der
bürgerlichen Selbstkritik ist zu einem Mittel geworden, die
bürgerliche
Selbstentfremdung in ihrer letzten Phase zur absoluten zu machen und
noch die Ahnung der uralten Wunde zu vereiteln, bei der die Hoffnung
eines Besseren in der Zukunft liegt.
41
Drinnen und draußen. - Aus Pietät, Schlamperei und
Berechnung läßt man
die Philosophie in immer engerem akademischen Rahmen weiterwursteln und
ist selbst dort stets mehr bestrebt, durch die organisierte Tautologie
sie zu ersetzen. Wer dem beamteten Tiefsinn sich anvertraut,
verfällt
wie vor hundert Jahren dem Zwang, in jedem Augenblick ebenso naiv zu
sein wie die Kollegen, von denen die Karriere abhängt. Aber
dem
außerakademischen Denken, das solchem Zwang und dem
Widerspruch
zwischen hochtrabenden Stoffen und spießbürgerlicher
Behandlung sich
entziehen möchte, droht kaum geringere Gefahr: durch den
ökonomischen
Druck des Marktes, vor dem in Europa wenigstens die Professoren
geschützt waren. Der Philosoph als Schriftsteller, der seinen
Lebensunterhalt erwerben will, muß gleichsam in jedem
Augenblick etwas
Piekfeines, Erlesenes bieten, durchs Monopol der Seltenheit gegen das
des Amtes sich behaupten. Der widerliche Begriff des geistigen
Leckerbissens, den Pedanten sich ausgedacht haben, kommt am Ende an
ihren Widersachern noch zu seinem beschämenden Recht. Wenn der
gute
alte Schmock stöhnt unter der Forderung des Zeitungschefs, er
solle
lauter Brillantes schreiben, so meldet er in aller Unbefangenheit das
Gesetz an, das verschwiegen hinter den Werken über den
kosmogonischen
Eros und den Kosmos Atheos, den Gestaltwandel der Götter und
das
Geheimnis des Johannesevangeliums waltet. Der Lebensstil des
verspäteten Bohemiens, der dem nichtakademischen Philosophen
aufgezwungen wird, bringt ihn ohnehin in fatale Affinität zu
Kunstgewerbe, Seelenkitsch und sektiererischer Halbbildung. Das
München
vorm ersten Weltkrieg war eine Brutstätte jener Geistigkeit,
deren
Protest gegen den Rationalismus der Schulen über die Kulte vom
Kostümfest womöglich noch rascher in den Faschismus
mündete als das
verzagte System des alten Rickert. So groß ist die Macht der
fortschreitenden Organisation des Gedankens, daß sie jene,
die sich
draußen halten wollen, zur Eitelkeit des Ressentiments, zur
Geschwätzigkeit der Selbstanpreisung, schließlich
die Unterlegenen zur
Hochstapelei treibt. Wenn die Ordinarien den Grundsatz Sum ergo cogito
aufstellen und im offenen System der Platzangst, in der Geworfenheit
der Volksgemeinschaft verfallen, so verirren sich ihre Gegner, wenn sie
nicht gar sehr auf der Hut sind, in die Gegend der Graphologie und der
rhythmischen Gymnastik. Den Zwangstypen dort entsprechen die Paranoiker
hier. Der sehnsüchtige Gegensatz zur Tatsachenforschung, das
rechtmäßige Bewußtsein, im Szientivismus
sei das Beste vergessen, kommt
als naives der Spaltung zugute, unter der es leidet. Anstatt die Fakten
zu begreifen, hinter denen die andern sich verschanzen, rafft es davon
zusammen, was in der Eile sich bietet, macht sich auf die Flucht und
spielt mit den apokryphen Kenntnissen, mit ein paar isolierten und
hypostasierten Kategorien und mit sich selber so unkritisch,
daß dann
auch noch der Verweis auf die unnachgiebigen Fakten recht
behält.
Gerade das kritische Element geht dem scheinbar unabhängigen
Denken
verloren. Die Insistenz auf dem unter der Schale verborgenen
Weltgeheimnis, die ehrfürchtig dessen Beziehung zur Schale
unausgemacht
läßt, bestätigt dieser oft genug gerade
durch solche Enthaltsamkeit,
daß sie eben doch ihren guten Sinn habe, den man hinnehmen
müsse, ohne
zu fragen. Zwischen der Lust an der Leere und der Lüge von der
Fülle
läßt der herrschende Stand des Geistes kein Drittes
mehr zu.
Trotzdem ist der Blick aufs Entlegene, der Haß gegen
Banalität, die
Suche nach dem Unabgegriffenen, vom allgemeinen Begriffsschema noch
nicht Erfaßten die letzte Chance für den Gedanken.
In einer geistigen
Hierarchie, die unablässig alle zur Verantwortung zieht, ist
Unverantwortlichkeit allein fähig, die Hierarchie unmittelbar
selber
beim Namen zu rufen. Die Zirkulationssphäre, deren Male die
intellektuellen Außenseiter tragen, eröffnet dem
Geist, den sie
verschachert, die letzten Refugien in dem Augenblick, in dem es sie
eigentlich schon gar nicht mehr gibt. Wer ein Unikum anbietet, das
niemand mehr kaufen will, vertritt, selbst gegen seinen Willen, die
Freiheit vom Tausch.
42
Gedankenfreiheit. - Die Verdrängung der Philosophie durch die
Wissenschaft hat, wie man weiß, zu einer Trennung der beiden
Elemente
geführt, deren Einheit Hegel zufolge das Leben von Philosophie
ausmacht, Reflexion und Spekulation. Den Reflexionsbestimmungen wird
ernüchtert das Land der Wahrheit überlassen und die
Spekulation darin
mißmutig bloß zwecks Formulierung von Hypothesen
geduldet, die
außerhalb der Arbeitszeit ausgedacht und so schnell wie
möglich
eingelöst werden müssen. Wer aber darum glaubte,
daß der spekulative
Bereich in seiner außerwissenschaftlichen Gestalt
unangefochten
erhalten, gleichsam vom Betrieb der universalen Statistik in Ruhe
gelassen würde, irrte gründlich. Vorweg bekommt die
Lostrennung von der
Reflexion der Spekulation selber schlecht genug. Diese wird entweder
zum gelehrsamen Nachbeten überlieferter philosophischer
Entwürfe
degradiert oder entartet, in ihrer Distanz von den blind gemachten
Fakten, zum Geschwätz unverbindlich privater Weltanschauung.
Damit
jedoch nicht zufrieden, gliedert der Wissenschaftsbetrieb selber die
Spekulation sich ein. Unter den öffentlichen Funktionen der
Psychoanalyse ist das nicht die letzte. Ihr Medium ist die freie
Assoziation. Der Weg ins Unbewußte der Patienten wird
gebahnt, indem
man ihnen die Verantwortung der Reflexion ausredet, und die analytische
Theoriebildung selber folgt der gleichen Spur, sei's, daß sie
von
Verlauf und Stockung jener Assoziationen ihre Befunde sich vorzeichnen
läßt, sei's, daß die Analytiker, und
gerade die begabtesten wie
Groddeck, der eigenen Assoziation sich anvertrauen. Entspannt wird auf
dem Diwan vorgeführt, was einmal die
äußerste Anspannung des Gedankens
von Schelling und Hegel auf dem Katheder vollbrachte: die
Dechiffrierung des Phänomens. Aber solches Nachlassen der
Spannung
affiziert die Qualität der Gedanken: der Unterschied ist kaum
geringer
als der zwischen der Philosophie der Offenbarung und dem Gequatsche der
Schwiegermutter. Die gleiche Bewegung des Geistes, die einmal dessen
»Material« zum Begriff erheben sollte, wird selber
herabgesetzt zum
bloßen Material für begriffliche Ordnung. Was einem
einfällt, ist
gerade gut genug dazu, daß Geschulte entscheiden, ob der
Produzierende
ein Zwangscharakter, ein oraler Typ, ein Hysteriker sei.
Vermöge der
Lockerung der Verantwortlichkeit, die in der Loslösung von der
Reflexion, der Kontrolle des Verstandes liegt, wird Spekulation selber
als Objekt der Wissenschaft überlassen, deren
Subjektivität mit ihr
erloschen ist. Indem der Gedanke vom Verwaltungsschema der Analyse an
seine unbewußten Ursprünge sich erinnern
läßt, vergißt er, Gedanke zu
sein. Aus dem wahren Urteil wird er zum neutralen Stoff. Anstatt
daß
er, um seiner selbst mächtig zu werden, die Arbeit des
Begriffs
leistete, vertraut er sich ohnmächtig der Bearbeitung durch
den Doktor
an, der ohnehin alles schon weiß. So wird Spekulation
endgültig
gebrochen und selber zur Tatsache, die sich einer der Branchen des
Klassifizierens als Belegstück des Immergleichen
einfügt.
43
Bangemachen gilt nicht. - Was objektiv die Wahrheit sei, bleibt schwer
genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht
sich terrorisieren lassen. Es gibt da Kriterien, die fürs
erste
ausreichen. Eines der zuverlässigsten ist, daß einem
entgegengehalten
wird, eine Aussage sei »zu subjektiv«. Wird das
geltend gemacht und gar
mit jener Indignation, in der die wütende Harmonie aller
vernünftigen
Leute mitklingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden mit sich zufrieden
zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich
völlig
verkehrt. Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der
Erscheinung,
ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten
gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen
sie, was
jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der
geurteilten Convenus darüber sich entschlägt und die
Beziehung auf den
Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die
ihn
nicht einmal anschauen, geschweige denken - also das Objektive. Wie
windig der formale Einwand subjektiver Relativität ist, stellt
sich auf
dessen eigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischen
Urteile. Wer
jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens im Ernst der
Disziplin
eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner
Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des
bloß
Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder
Schritt, den er vermöge seiner extrem subjektiven Innervation
in die
Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel größere
objektive Gewalt
als die umfassenden und wohlbestätigten Begriffsbildungen etwa
des
»Stils«, deren wissenschaftlicher Anspruch auf
Kosten solcher Erfahrung
geht. Das ist doppelt wahr in der Ära des Positivismus und der
Kulturindustrie, deren Objektivität von den veranstaltenden
Subjekten
kalkuliert ist. Ihr gegenüber hat Vernunft vollends, und
fensterlos, in
die Idiosynkrasien sich geflüchtet, denen die Willkür
der Gewalthaber
Willkür vorwirft, weil sie die Ohnmacht der Subjekte wollen,
aus Angst
vor der Objektivität, die allein bei diesen Subjekten
aufgehoben ist.
44
Für Nach-Sokratiker. - Nichts ist dem Intellektuellen, der zu
leisten
sich vornimmt, was früher Philosophie hieß,
unangemessener, als in der
Diskussion, und fast möchte man sagen in der
Beweisführung, recht
behalten zu wollen. Das Rechtbehaltenwollen selber, bis in seine
subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes
von Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von
Philosophie gerade
ausmacht. Ich kannte einen, der alle Zelebritäten aus
Erkenntnistheorie, Natur- und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu
sich einlud, mit jedem einzeln sein System durchdiskutierte und,
nachdem keiner mehr gegen dessen Formalismus ein Argument vorzubringen
wagte, seine Sache für schlechterdings wertbeständig
hielt. Etwas von
solcher Naivetät ist überall dort noch am Werk, wo
Philosophie auch nur
von ferne dem Gestus des Überzeugens ähnelt. Ihm
liegt die
Voraussetzung einer universitas literarum zugrunde, eines apriorischen
Einverständnisses der Geister, die miteinander kommunizieren
können,
und damit schon der ganze Konformismus. Wenn Philosophen, denen
bekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel, aufs
Gespräch sich
einlassen, so sollten sie so reden, daß sie allemal unrecht
behalten,
aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit
überführt. Es käme
darauf an, Erkenntnisse zu haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb-
und stichfest sind - solche laufen unweigerlich auf die Tautologie
hinaus-, sondern solche, denen gegenüber die Frage nach der
Richtigkeit
sich selber richtet. - Damit wird aber nicht Irrationalismus
angestrebt, das Aufstellen willkürlicher, durch den
Offenbarungsglauben
der Intuition gerechtfertigter Thesen, sondern die Abschaffung des
Unterschieds von These und Argument. Dialektisch denken
heißt, unter
diesem Aspekt, daß das Argument die Drastik der These
gewinnen soll und
die These die Fülle ihres Grundes in sich enthalten. Alle
Brückenbegriffe, alle Verbindungen und logischen
Hilfsoperationen, die
nicht in der Sache selber sind, alle sekundären und nicht mit
der
Erfahrung des Gegenstands gesättigten Folgerungen
müßten entfallen. In
einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum
Mittelpunkt stehen. Ohne daß Hegel das je ausgesprochen
hätte, legt
sein ganzes Verfahren Zeugnis ab von dieser Intention. Wie sie kein
Erstes kennen möchte, so dürfte sie streng genommen
kein Zweites und
kein Abgeleitetes kennen, und den Begriff der Vermittlung hat sie
gerade von den formalen Zwischenbestimmungen in die Sachen selber
verlegt und damit deren Unterschied von einem ihnen
äußerlichen,
vermittelnden Denken überwinden wollen. Die Grenzen, die dem
Gelingen
solcher Intention in der Hegelschen Philosophie gesetzt bleiben, sind
zugleich die Grenzen von deren Wahrheit, nämlich die Reste der
prima
philosophia, der Supposition des Subjekts als eines trotz allem
»Ersten«. Zu den Aufgaben der dialektischen Logik
gehört es, die
letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten
advokatorischen Gebärde des Gedankens zu beseitigen.
45
»Wie scheint doch alles Werdende so krank.« - Das
dialektische Denken
widersetzt sich der Verdinglichung auch in dem Sinn, daß es
sich
weigert, ein Einzelnes je in seiner Vereinzelung und Abgetrenntheit zu
bestätigen: es bestimmt gerade die Vereinzelung als Produkt
des
Allgemeinen. So arbeitet es als Korrektiv gegen die manische
Fixiertheit wie gegen den widerstandslosen und leeren Zug des
paranoiden Geistes, der das absolute Urteil mit dem Preis der Erfahrung
der Sache bezahlt. Aber darum ist Dialektik doch nicht, wozu sie in der
englischen Hegelschule und dann vollends im angestrengten Pragmatismus
Deweys wurde. sense of proportions, das Einstellen der Dinge in ihre
rechte Perspektive, der einfache, aber hartnäckige gesunde
Menschenverstand. Wenn Hegel im Gespräch mit Goethe solcher
Auffassung
selber nahezukommen schien, indem er seine Philosophie gegen den
Goetheschen Platonismus damit verteidigte, daß sie
»im Grunde nichts
weiter« sei, »als der geregelte, methodisch
ausgebildete
Widerspruchsgeist, der jedem Menschen innewohnt, und welche Gabe sich
groß erweist in Unterscheidung des Wahren vom
Falschen«, so enthält die
hintersinnige Formulierung eulenspiegelhaft im Lobe des
»jedem Menschen
Innewohnenden« zugleich die Denunziation des common sense, zu
dessen
innerster Bestimmung es gemacht wird, gerade nicht vom common sense
sich leiten zu lassen, sondern diesem zu widersprechen. Common sense,
die Einschätzung der richtigen Verhältnisse, der am
Markt geschulte,
weltläufig geübte Blick, hat mit der Dialektik die
Freiheit von Dogma,
Beschränkung und Verranntheit gemein. Seine
Nüchternheit gibt ein
unabdingbares Moment von kritischem Denken ab. Aber der Verzicht auf
verblendeten Eigensinn ist doch auch wiederum dessen geschworener
Feind. Die Allgemeinheit der Meinung, unmittelbar angenommen als eine
in der Gesellschaft, wie sie ist, hat zum konkreten Inhalt notwendig
das Einverständnis. Es ist kein Zufall, daß im
neunzehnten Jahrhundert
gerade der abgestandene und durch die Aufklärung mit
schlechtem
Gewissen versetzte Dogmatismus auf den gesunden Menschenverstand sich
berief, so daß ein Erzpositivist wie Mill gezwungen war,
gegen diesen
zu polemisieren. Der sense of proportions vollends bezieht sich darauf,
daß man in den Maßverhältnissen und
Größenordnungen des Lebens denken
solle, die feststehen. Man muß nur einmal einen
hartgesottenen
Repräsentanten einer herrschenden Clique haben sagen
hören: »Das ist
nicht so wichtig«, muß nur beobachten, wann die
Bürger von
Übertreibung, Hysterie, Narretei reden, um zu wissen,
daß es gerade an
der Stelle, an der die Berufung auf Vernunft am promptesten eintritt,
unweigerlich um die Apologie der Unvernunft geht. Den gesunden
Widerspruchsgeist hat Hegel mit der Dickköpfigkeit des Bauern
hervorgehoben, der jahrhundertelang lernte, Jagd und Zins der
mächtigen
Feudalherren zu überstehen. Das Anliegen der Dialektik ist es,
den
gesunden Ansichten, die spätere Gewalthaber von der
Unabänderlichkeit
des Weltlaufs hegen, ein Schnippchen zu schlagen und in ihren
»proportions« das treue und reduzierte Spiegelbild
der unmäßig
vergrößerten Mißverhältnisse zu
entziffern. Die dialektische Vernunft
ist gegen die herrschende die Unvernunft: erst indem sie jene
überführt
und aufhebt, wird sie selber vernünftig. Wie verrannt und
talmudistisch
war schon, mitten in der funktionierenden Tauschwirtschaft, die
Insistenz auf dem Unterschied der vom Arbeiter verausgabten Arbeitszeit
und der zur Reproduktion seines Lebens notwendigen. Wie hat nicht
Nietzsche alle Pferde am Schwanz aufgezäumt, auf denen er
seine
Attacken ritt, wie haben nicht Karl Kraus, Kafka, selbst Proust, jeder
auf seine Weise, das Bild der Welt befangen verfälscht, um
Falschheit
und Befangenheit abzuschütteln. Vor den Begriffen des Gesunden
und
Kranken, ja den mit ihnen verschwisterten des Vernünftigen und
Unvernünftigen selber vermag Dialektik nicht Halt zu machen.
Hat sie
einmal das herrschende Allgemeine und seine Proportionen als krank -
und im wörtlichsten Sinn, gezeichnet mit der Paranoia, der
»pathischen
Projektion« -erkannt, so wird ihr zur Zelle der Genesung
einzig, was
nach dem Maß jener Ordnung selber als krank, abwegig,
paranoid -ja als
»verrückt« sich darstellt, und es gilt
heute wie im Mittelalter, daß
einzig die Narren der Herrschaft die Wahrheit sagen. Unter diesem
Aspekt wäre es die Pflicht des Dialektikers, solcher Wahrheit
des
Narren zum Bewußtsein ihrer eigenen Vernunft zu verhelfen,
ohne welches
sie freilich untergehen müßte im Abgrund jener
Krankheit, welche der
gesunde Menschenverstand der andern mitleidslos diktiert.
46
Zur Moral des Denkens. - Naiv und unnaiv, das sind Begriffe, so
unendlich ineinander verschlungen, daß es zu nichts Gutem
taugt, den
einen gegen den andern auszuspielen. Die Verteidigung des Naiven, wie
sie von Irrationalisten und Intellektuellenfressern aller Art betrieben
wird, ist unwürdig. Die Reflexion, welche die Partei der
Naivetät
nimmt, richtet sich selbst: Schlauheit und Obskurantismus sind immer
noch dasselbe. Vermittelt die Unmittelbarkeit behaupten anstatt diese
als in sich vermittelte begreifen, verkehrt Denken in die Apologetik
seines eigenen Gegensatzes, in die unmittelbare Lüge. Sie
dient allem
Schlechten, von der Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins bis
zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Unrechts als Natur. Wollte
man jedoch darum das Entgegengesetzte zum Prinzip erheben und - wie ich
selber einmal es tat - Philosophie die bündige Verpflichtung
zur
Unnaivetät nennen, so führe man kaum besser. Nicht
bloß ist Unnaivetät
im Sinne von Versiertheit, Abgebrühtheit, Gewitzigtsein ein
fragwürdiges Medium der Erkenntnis, durch Affinität
zu den praktischen
Ordnungen des Lebens, allseitigen mentalen Vorbehalt gegen Theorie
selber stets bereit, in Naivetät, das Hinstarren auf Zwecke
zurückzuschlagen. Auch wo Unnaivetät in dem
theoretisch
verantwortlichen Sinn des Erweiternden, des nicht beim isolierten
Phänomen Stehenbleibens, des Gedankens ans Ganze
gefaßt wird, liegt
eine Wolke darüber. Es ist eben jenes Weitergehen und nicht
Verweilenkönnen, jene stillschweigende Zuerkennung des
Vorrangs ans
Allgemeine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nur der Trug
des
Idealismus besteht, der die Begriffe hypostasiert, sondern auch seine
Unmenschlichkeit, die das Besondere, kaum daß sie es
ergreift, schon
zur Durchgangsstation herabsetzt und schließlich mit Leiden
und Tod der
bloß in der Reflexion vorkommenden Versöhnung
zuliebe allzu geschwind
sich abfindet - in letzter Instanz die bürgerliche
Kälte, die das
Unausweichliche allzu gern unterschreibt. Nur dort vermag Erkenntnis zu
erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß
über der Insistenz
seine Isoliertheit zerfällt. Das setzt freilich auch eine
Beziehung zum
Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren
Gegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nicht der Rekurs aufs
Abstraktere, sondern der Auflösungsprozeß des
Konkreten in sich.
Nietzsche, der selber oft in allzu weiten Horizonten dachte, hat davon
doch gewußt: »Wer zwischen zwei entschlossenen
Denkern vermitteln
Wille, heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft, eist
gezeichnet als
mittelmäßig: er hat das Auge nicht dafür,
das Einmalige zu sehen; die
Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher
Augen.« Die
Moral des Denkens besteht darin, weder stur noch souverän,
weder blind
noch leer, weder atomistisch noch konsequent zu verfahren. Die
Doppelschlächtigkeit der Methode, welche der Hegelschen
Phänomenologie
unter vernünftigen Leuten den Ruf abgründiger
Schwierigkeit eingetragen
hat, nämlich die Forderung, gleichzeitig die
Phänomene als solche
sprechen zu lassen - das Reine Zusehen« - und doch in jedem
Augenblick
ihre Beziehung auf das Bewußtsein als Subjekt, die Reflexion
präsent zu
halten, drückt diese Moral am genauesten und in aller Tiefe
des
Widerspruchs aus. Wie viel schwieriger aber ist es geworden, ihr
nachzukommen, wenn man nicht mehr die Identität von Subjekt
und Objekt
sich vorgeben darf, in deren endlicher Annahme Hegel die
antagonistischen Forderungen des Zusehens und Konstruierens noch zur
Deckung brachte. Vom Denkenden heute wird nicht weniger verlangt, als
daß er in jedem Augenblick in den Sachen und außer
den Sachen sein soll
- der Gestus Münchhausens, der sich an dem Zopf aus dem Sumpf
zieht,
wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als entweder
Feststellung oder Entwurf. Und dann kommen noch die angestellten
Philosophen und machen uns zum Vorwurf, daß wir keinen festen
Standpunkt hätten.
47
De gustibus est disputandum. - Auch wer von der Unvergleichbarkeit der
Kunstwerke sich überzeugt hält, wird stets wieder in
Debatten sich
verwickelt finden, in denen Kunstwerke, und gerade solche des obersten
und darum unvergleichlichen Ranges, miteinander verglichen werden und
gegeneinander gewertet. Der Einwand, bei solchen Erwägungen,
die
eigentümlich zwangshaft zustandekommen, handle es sich um
Krämerinstinkte, ums Messen mit der Elle, hat meist nur den
Sinn, daß
solide Bürger, denen die Kunst nie irrational genug sein kann,
von den
Werken die Besinnung und den Anspruch der Wahrheit fernhalten wollen.
Der Zwang zu jenen Überlegungen ist aber in den Kunstwerken
selber
gelegen. So viel ist wahr, vergleichen lassen sie sich nicht. Aber sie
wollen einander vernichten. Nicht umsonst haben die Alten das Pantheon
des Vereinbaren den Göttern oder Ideen vorbehalten, die
Kunstwerke aber
zum Agon genötigt, eines Todfeind dem andern. Die Vorstellung
eines
»Pantheons der Klassizität«, wie noch
Kierkegaard sie hegte, ist eine
Fiktion der neutralisierten Bildung. Denn wenn die Idee des
Schönen
bloß aufgeteilt in den vielen Werken sich darstellt, so meint
doch
jedes einzelne unabdingbar die ganze, beansprucht Schönheit
für sich in
seiner Einzigkeit und kann deren Aufteilung nie zugeben, ohne sich
selber zu annullieren. Als eine, wahre und scheinlose, befreit von
solcher Individuation, stellt Schönheit nicht in der Synthesis
aller
Werke, der Einheit der Künste und der Kunst sich dar, sondern
bloß
leibhaft und wirklich: im Untergang von Kunst selber. Auf solchen
Untergang zielt jedes Kunstwerk ab, indem es allen anderen den Tod
bringen möchte. Daß mit aller Kunst deren eigenes
Ende gemeint sei, ist
ein anderes Wort für den gleichen Sachverhalt. Von solchem
Selbstvernichtungsdrang der Kunstwerke, ihrem innersten Anliegen, das
hintreibt ins scheinlose Bild des Schönen, werden immer wieder
die
angeblich so nutzlosen ästhetischen Streitigkeiten
aufgerührt. Während
sie trotzig und verstockt das ästhetische Recht finden wollen
und eben
damit einer unstillbaren Dialektik verfallen, gewinnen sie wider Willen
ihr besseres Recht, indem sie vermöge der Kraft der
Kunstwerke, die sie
in sich aufnehmen und zum Begriff erheben, jedes einschränken
und so
auf die Zerstörung der Kunst hinarbeiten, die deren Rettung
ist.
Ästhetische Toleranz, wie sie die Kunstwerke unmittelbar in
ihrer
Beschränktheit gelten läßt, ohne sie zu
brechen, bringt ihnen nur den
falschen Untergang, den des Nebeneinander, in dem der Anspruch der
einen Wahrheit verleugnet ist.
48
Für Anatole France. - Tugenden selbst wie die der
Aufgeschlossenheit,
das Vermögen, überall, noch im
Alltäglichsten und Unscheinbarsten des
Schönen sich zu versichern und sich daran zu freuen, beginnen,
ein
fragwürdiges Moment hervorzukehren. Einmal, im Zeitalter der
überströmenden subjektiven Fülle, sprach in
der ästhetischen
Gleichgültigkeit gegen die Wahl des Objekts zugleich mit der
Kraft,
allem Erfahrenen Sinn abzuzwingen, die Beziehung zur
gegenständlichen
Welt selber sich aus, die gleichsam noch in all ihren
Bruchstücken dem
Subjekt antagonistisch zwar, doch nah und bedeutend
gegenübertritt. In
der Phase, in der das Subjekt vor der entfremdeten Übermacht
der Dinge
abdankt, zeigt seine Bereitschaft, Positives oder Schönes
überall zu
gewahren, Resignation wie des kritischen Vermögens so der
interpretierenden Phantasie an, welche von jenem untrennbar ist. Wer
alles schön findet, ist nun in Gefahr, nichts schön
zu finden. Das
Allgemeine der Schönheit vermag nicht anders dem Subjekt sich
mitzuteilen als in der Obsession durchs Besondere. Kein Blick erreicht
das Schöne, dem nicht die Gleichgültigkeit, ja fast
die Verachtung
gegen alles außerhalb des angeschauten Gegenstandes
beigesellt wäre.
Und es ist einzig die Verblendung, das ungerechte
Verschließen des
Blicks gegen den Anspruch, den alles Daseiende erhebt, wodurch dem
Daseienden Gerechtigkeit widerfährt. Indem es, in seiner
Einseitigkeit,
hingenommen wird, als das was es ist, wird seine Einseitigkeit als sein
Wesen begriffen und versöhnt. Der Blick, der ans eine
Schöne sich
verliert, ist ein sabbatischer. Er rettet am Gegenstand etwas von der
Ruhe seines Schöpfungstages. Wird aber die Einseitigkeit
durchs von
außen hineingetragene Bewußtsein des Universalen
aufgehoben, das
Besondere aufgestört, substituiert und abgewogen, so macht der
gerechte
Überblick über das Ganze das universale Unrecht sich
zu eigen, das in
Vertauschbarkeit und Substitution selber gelegen ist. Solche
Gerechtigkeit wird zum Vollstrecker des Mythos an dem Geschaffenen.
Wohl ist kein Gedanke von solcher Verflechtung dispensiert, keiner darf
borniert beharren. Aber alles liegt an der Weise des
Übergangs. Das
Verderben kommt vom Gedanken als Gewalt, dem Abkürzen des
Wegs, der
einzig durchs Undurchdringliche hindurch das Allgemeine findet, dessen
Gehalt in der Undurchdringlichkeit selber bewahrt ist, nicht in der
abgezogenen Übereinstimmung verschiedener
Gegenstände. Fast könnte man
sagen, daß vom Tempo, der Geduld und Ausdauer des Verweilens
beim
Einzelnen, Wahrheit selber abhängt: was darüber
hinausgeht, ohne sich
erst ganz verloren zu haben, was zum Urteil fortschreitet, ohne der
Ungerechtigkeit der Anschauung erst sich schuldig gemacht zu haben,
verliert sich am Ende im Leeren. Liberalität, die
unterschiedslos den
Menschen ihr Recht widerfahren läßt, läuft
auf Vernichtung hinaus wie
der Wille der Majorität, die der Minorität
Böses zufügt und so der
Demokratie Hohn spricht, nach deren Prinzip sie handelt. Aus der
unterschiedslosen Güte gegen alles droht denn auch stets
Kälte und
Fremdheit gegen jedes, die dann wiederum dem Ganzen sich mitteilt.
Ungerechtigkeit ist das Medium wirklicher Gerechtigkeit.
Uneingeschränkte Güte wird zur Bestätigung
all des Schlechten was ist,
indem sie seine Differenz von der Spur des Guten herabsetzt und auf
jene Allgemeinheit nivelliert, die hoffnungslos auf die
bürgerlich-mephistophelische Weisheit herauskommt, alles was
besteht
sei wert, daß es zugrunde geht. Die Rettung des
Schönen noch im
Stumpfen oder Gleichgültigen scheint um so viel edler als das
eigensinnige Beharren auf Kritik und Spezifikation, wie sie in Wahrheit
den Ordnungen des Lebens geneigter sich zeigt.
Dem wird die Heiligkeit des Lebendigen entgegengehalten, die gerade
noch im Häßlichsten und Entstelltesten widerscheint.
Aber ihr
Widerschein ist kein unmittelbarer, sondern einzig ein gebrochener: was
schön sein soll, nur weil es lebt, ist eben darum bereits das
Häßliche.
Der Begriff des Lebens in seiner Abstraktion, auf welchen dabei
rekurriert wird, ist gar nicht zu trennen von dem
Unterdrückenden,
Rücksichtslosen, eigentlich Tödlichen und
Destruktiven. Der Kultus des
Lebens an sich läuft stets auf den jener Mächte
heraus. Was so Äußerung
von Leben heißt, von quellender Fruchtbarkeit und dem
stoßenden Treiben
von Kindern bis hinauf zur Tüchtigkeit derer, die etwas
Rechtes
zustandebringen, und zum Temperament der Frau, die vergöttert
wird,
weil in ihr der Appetit so unvermischt sich darstellt, all das hat,
absolut gefaßt, etwas davon, dem anderen, Möglichen
das Licht
wegzunehmen in blinder Selbstbehauptung. Das Wuchernde des Gesunden ist
als solches immer schon zugleich die Krankheit. Ihr Gegengift ist
Krankheit als ihrer bewußte, die Einschränkung von
Leben selber. Solche
heilsame Krankheit ist das Schöne. Es gebietet dem Leben Halt
und damit
seinem Verfall. Verleugnet man jedoch die Krankheit um des Lebens
willen, so geht das hypostasierte Leben vermöge seiner blinden
Losgetrenntheit vom anderen Moment gerade in dieses, ins
Zerstörende
und Böse über, ins Freche und sich
Brüstende. Wer das Zerstörende haßt,
muß das Leben mithassen: nur das Tote ist das Gleichnis des
nicht
entstellten Lebendigen. Anatole France hat, auf seine
aufgeklärte
Weise, von solchem Widerspruch wohl gewußt.
»Nein«, sagt gerade der
milde Herr Bergeret, »ich will lieber glauben, daß
das organische Leben
eine spezielle Krankheit unseres unschönen Planeten ist. Es
wäre
unerträglich zu glauben, daß man auch im unendlichen
All immer nur
fräße und gefressen würde.« Der
nihilistische Widerwille in seinen
Worten ist nicht bloß die psychologische, sondern die
sachliche
Bedingung der Humanität als Utopie.
49
Moral und Zeitordnung. - Während die Literatur alle
psychologischen
Arten erotischer Konflikte behandelt hat, ist der einfachste auswendige
Konfliktstoff unbeachtet geblieben um seiner
Selbstverständlichkeit
willen. Das ist das Phänomen des Besetztseins: daß
ein geliebter Mensch
sich uns versagt nicht wegen innerer Antagonismen und Hemmungen, wegen
zuviel Kälte oder zuviel verdrängter Wärme,
sondern weil bereits eine
Beziehung besteht, die eine neue ausschließt. Die abstrakte
Zeitordnung
spielt in Wahrheit die Rolle, die man der Hierarchie der
Gefühle
zuschreiben möchte. Es liegt im Vergebensein, außer
der Freiheit von
Wahl und Entschluß, auch ein ganz Zufälliges, das
dem Anspruch der
Freiheit durchaus zu widersprechen scheint. Selbst und gerade in einer
von der Anarchie der Warenproduktion geheilten Gesellschaft
würden
schwerlich Regeln darüber wachen, in welcher Reihenfolge man
Menschen
kennenlernt. Wäre es anders, so müßte ein
solches Arrangement dem
unerträglichsten Eingriff in die Freiheit gleichkommen. Daher
hat denn
auch die Priorität des Zufälligen mächtige
Gründe auf ihrer Seite: wird
einem Menschen ein neuer vorgezogen, so tut man jenem allemal
Böses an,
indem die Vergangenheit des gemeinsamen Lebens annulliert, Erfahrung
selber gleichsam durchstrichen wird. Die Irreversibilität der
Zeit gibt
ein objektives moralisches Kriterium ab. Aber es ist dem Mythos
verschwistert wie die abstrakte Zeit selbst. Die in ihr gesetzte
Ausschließlichkeit entfaltet sich ihrem eigenen Begriff nach
zur
ausschließenden Herrschaft hermetisch dichter Gruppen,
schließlich der
großen Industrie. Nichts rührender als das Bangen
der Liebenden, die
Neue könnte Liebe und Zärtlichkeit, ihren besten
Besitz, eben weil sie
sich nicht besitzen lassen, auf sich ziehen, gerade vermöge
jener
Neuheit, die vom Vorrecht des Älteren selber hervorgebracht
wird. Aber
von diesem Rührenden, mit dem zugleich alle Wärme und
alles
Geborgensein zerginge, führt ein unaufhaltsamer Weg
über die Abneigung
des Brüderchens gegen den Nachgeborenen und die Verachtung des
Verbindungsstudenten für seinen Fuchs zu den
Immigrationsgesetzen, die
im sozialdemokratischen Australien alle Nichtkaukasier
draußen halten,
bis zur faschistischen Ausrottung der Rasseminorität, womit
dann in der
Tat Wärme und Geborgensein ins Nichts explodieren. Nicht nur
sind, wie
Nietzsche es wußte, alle guten Dinge einmal böse
Dinge gewesen: die
zartesten, ihrer eigenen Schwerkraft überlassen, haben die
Tendenz, in
der unausdenkbaren Roheit sich zu vollenden.
Es wäre müßig, aus solcher Verstrickung den
Ausweg weisen zu wollen.
Doch läßt sich wohl das unheilvolle Moment benennen,
das jene ganze
Dialektik ins Spiel bringt. Es liegt beim ausschließenden
Charakter des
Ersten. Die ursprüngliche Beziehung, in ihrer bloßen
Unmittelbarkeit,
setzt bereits eben jene abstrakte Zeitordnung voraus. Historisch ist
der Zeitbegriff selber auf Grund der Eigentumsordnung gebildet. Aber
das Besitzenwollen reflektiert die Zeit als Angst vor dem Verlieren,
der Unwiederbringlichkeit. Was ist, wird in Beziehung zu seinem
möglichen Nichtsein erfahren. Damit wird es erst recht zum
Besitz
gemacht und gerade in solcher Starrheit zu einem Funktionellen, das
für
anderen äquivalenten Besitz sich austauschen ließe.
Einmal ganz Besitz
geworden, wird der geliebte Mensch eigentlich gar nicht mehr angesehen.
Abstraktheit in der Liebe ist das Komplement der
Ausschließlichkeit,
die trügerisch als das Gegenteil, als das sich Anklammern an
dies eine
so Seiende in Erscheinung tritt. Dies Festhalten verliert gerade sein
Objekt aus den Händen, indem es zum Objekt gemacht wird, und
verfehlt
den Menschen, den es auf Meinen Menschen« herunterbringt.
Wären
Menschen kein Besitz mehr, so könnten sie auch nicht mehr
vertauscht
werden. Die wahre Neigung wäre eine, die den anderen
spezifisch
anspricht, an geliebte Züge sich heftet und nicht ans Idol der
Persönlichkeit, die Spiegelung von Besitz. Das Spezifische ist
nicht
ausschließlich: ihm fehlt der Zug zur Totalität.
Aber in anderem Sinne
ist es doch ausschließlich: indem es die Substitution der
unlösbar an
ihm haftenden Erfahrung - zwar nicht verbietet, aber durch seinen
reinen Begriff gar nicht erst aufkommen läßt. Der
Schutz des ganz
Bestimmten ist, daß es nicht wiederholt werden kann, und eben
darum
duldet es das andere. Zum Besitzverhältnis am Menschen, zum
ausschließenden Prioritätsrecht, gehört
genau die Weisheit: Gott, es
sind alles doch nur Menschen, und welcher es ist, darauf kommt es gar
nicht so sehr an. Neigung, die von solcher Weisheit nichts
wüßte,
brauchte Untreue nicht zu fürchten, weil sie gefeit
wäre vor der
Treulosigkeit.
50
Lücken. - Die Aufforderung, man solle sich der intellektuellen
Redlichkeit befleißigen, läuft meist auf die
Sabotage der Gedanken
heraus. Ihr Sinn ist, den Schriftsteller dazu anzuhalten, alle Schritte
explizit darzustellen, die ihn zu seiner Aussage geführt
haben, und so
jeden Leser zu befähigen, den Prozeß
nachzuvollziehen und womöglich -
im akademischen Betrieb - zu duplizieren. Das arbeitet nicht
bloß mit
der liberalen Fiktion der beliebigen, allgemeinen Kommunizierbarkeit
eines jeden Gedankens und hemmt dessen sachlich angemessenen Ausdruck,
sondern ist falsch auch als Prinzip der Darstellung selber. Denn der
Wert eines Gedankens mißt sich an seiner Distanz von der
Kontinuität
des Bekannten. Er nimmt objektiv mit der Herabsetzung dieser Distanz
ab; je mehr er sich dem vorgegebenen Standard annähert, um so
mehr
schwindet seine antithetische Funktion, und nur in ihr, im offenbaren
Verhältnis zu seinem Gegensatz, nicht in seinem isolierten
Dasein liegt
sein Anspruch begründet. Texte, die ängstlich jeden
Schritt bruchlos
nachzuzeichnen unternehmen, verfallen denn auch unweigerlich dem
Banalen und einer Langeweile, die sich nicht nur auf die Spannung bei
der Lektüre, sondern auf ihre eigene Substanz bezieht. Die
Schriften
Simmels etwa kranken allesamt an der Unvereinbarkeit ihrer aparten
Gegenstände mit der peinlich luziden Behandlung. Sie erweisen
das
Aparte als das wahre Komplement jener Durchschnittlichkeit, die Simmel
zu Unrecht für Goethes Geheimnis hielt. Aber weit
darüber hinaus ist
die Forderung nach intellektueller Redlichkeit selber unredlich.
Gäbe
man ihr selbst einmal die fragwürdige Anweisung zu, die
Darstellung
solle den Denkprozeß abbilden, so wäre dieser
Prozeß so wenig einer des
diskursiven Fortschreitens von Stufe zu Stufe, wie umgekehrt dem
Erkennenden seine Einsichten vom Himmel fallen. Erkannt wird vielmehr
in einem Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen, Innervationen,
Selbstkorrekturen, Vorausnahmen und Übertreibungen, kurz in
der
dichten, fundierten, aber keineswegs an allen Stellen transparenten
Erfahrung. Von ihr gibt die Cartesianische Regel, man solle sich nur
den Gegenständen zuwenden, »zu deren klarer und
unzweifelhafter
Erkenntnis unser Geist auszureichen scheine«, samt aller
Ordnung und
Disposition, worauf sie sich bezieht, einen so falschen Begriff wie die
ihr entgegengesetzte und im innersten verwandte Lehre von der
Wesensschau. Verleugnet diese das logische Recht, das trotz allem in
jedem Gedanken sich geltend macht, so nimmt jene es in seiner
Unmittelbarkeit, bezogen auf jeden einzelnen intellektuellen Akt und
nicht vermittelt durch den Strom des ganzen Bewußtseinslebens
des
Erkennenden. Darin aber liegt zugleich das Eingeständnis der
tiefsten
Unzulänglichkeit. Denn wenn die redlichen Gedanken
unweigerlich auf
bloße Wiederholung, sei's des Vorfindlichen, sei's der
kategorialen
Formen hinauslaufen, so bleibt der Gedanke, der der Beziehung zu seinem
Gegenstand zuliebe auf die volle Durchsichtigkeit seiner logischen
Genesis verzichtet, allemal etwas schuldig. Er bricht das Versprechen,
das mit der Form des Urteils selber gesetzt ist. Diese
Unzulänglichkeit
gleicht der der Linie des Lebens, die verbogen, abgelenkt,
enttäuschend
gegenüber ihren Prämissen verläuft und doch
einzig in diesem Verlauf,
indem sie stets weniger ist, als sie sein sollte, unter den gegebenen
Bedingungen der Existenz eine unreglementierte zu vertreten vermag.
Erfüllte Leben geradenwegs seine Bestimmung, so würde
es sie verfehlen.
Wer alt und im Bewußtsein des gleichsam schuldenlosen
Gelingens stürbe,
wäre insgeheim der Musterknabe, der mit unsichtbarem Ranzen
auf dem
Rücken alle Stadien ohne Lücken absolviert. Jedem
Gedanken jedoch, der
nicht müßig ist, bleibt wie ein Mal die
Unmöglichkeit der vollen
Legitimation einbeschrieben, so wie wir im Traum davon wissen,
daß es
Mathematikstunden gibt, die wir um eines seligen Morgens im Bett willen
versäumten, und die nie mehr sich einholen lassen. Der Gedanke
wartet
darauf, daß eines Tages die Erinnerung ans Versäumte
ihn aufweckt und
ihn in die Lehre verwandelt.
Zweiter Teil
1945
51
Hinter den Spiegel. - Erste Vorsichtsmaßregel des
Schriftstellers:
jeden Text, jedes Stück, jeden Absatz daraufhin durchzusehen,
ob das
zentrale Motiv deutlich genug hervortritt. Wer etwas
ausdrücken will,
ist davon so bewegt, daß er sich treiben
läßt, ohne darauf zu
reflektieren. Man ist der Intention zu nah, ein Gedankens, und
vergißt
zu sagen, was man sagen will.
Keine Verbesserung ist zu klein oder geringfügig, als
daß man sie nicht
durchführen sollte. Von hundert Änderungen mag jede
einzelne läppisch
und pedantisch erscheinen; zusammen können sie ein neues
Niveau des
Textes ausmachen.
Nie darf man kleinlich sein beim Streichen. Länge ist
gleichgültig und
die Furcht, es stehe nicht genug da, kindisch. Man soll nichts darum
schon für daseinswert halten, weil es einmal da ist,
niedergeschrieben
ward. Variieren mehrere Sätze scheinbar den gleichen Gedanken,
so
bezeichnen sie oft nur verschiedene Ansätze etwas zu fassen,
dessen der
Autor noch nicht mächtig ist. Dann soll man die beste
Formulierung
auswählen und an ihr weiter arbeiten. Es gehört zur
schriftstellerischen Technik, selbst auf fruchtbare Gedanken verzichten
zu können, wenn die Konstruktion es verlangt. Deren
Fülle und Kraft
kommen gerade unterdrückte Gedanken zugute. Wie bei Tisch soll
man
nicht den letzten Bissen essen, die Neige nicht trinken. Sonst macht
man der Armut sich verdächtig.
Wer Clichés vermeiden will, darf sich nicht auf Worte
beschränken, will
er nicht der vulgären Koketterie verfallen. Die
große französische
Prosa des neunzehnten Jahrhunderts war dagegen besonders empfindlich.
Selten ist das einzelne Wort banal: auch in der Musik trotzt der
einzelne Ton dem Verschleiß. Die abscheulichsten
Clichés sind vielmehr
Wortverbindungen von der Art, wie Karl Kraus sie aufgespießt
hat: voll
und ganz, auf Gedeih und Verderb, ausgebaut und vertieft. Denn in ihnen
plätschert gleichsam der träge Fluß der
abgestandenen Sprache, anstatt
daß der Schriftsteller durch Präzision des Ausdrucks
jene Widerstände
setzte, die gefordert sind, wo die Sprache hervortreten soll. Das gilt
aber nicht nur für Wortverbindungen, sondern hinauf bis zur
Konstruktion ganzer Formen. Wollte etwa ein Dialektiker den Umschlag
des sich fortbewegenden Gedankens dadurch markieren, daß er
jeweils bei
der Zäsur mit einem Aber beginnt, so strafte das literarische
Schema
die unschematische Absicht der Überlegung Lügen.
Das Dickicht ist kein heiliger Hain. Es ist Pflicht, Schwierigkeiten
aufzulösen, die lediglich der Bequemlichkeit der
Selbstverständigung
entstammen. Zwischen dem Willen, dicht und der Tiefe des Gegenstandes
angemessen zu schreiben, der Versuchung zum Aparten und der
prätentiösen Schlamperei läßt
nicht ohne weiteres sich unterscheiden:
mißtrauische Insistenz ist allemal heilsam. Gerade wer der
Dummheit des
gesunden Menschenverstandes keine Konzession machen will, muß
sich
hüten, Gedanken, die selber der Banalität zu
überführen wären,
stilistisch zu drapieren. Die Platitüden Lockes rechtfertigen
nicht
Hamanns Kryptik.
Hat man gegen eine abgeschlossene Arbeit, gleichgültig welcher
Länge,
auch nur die geringsten Einwände, so soll man diese ungemein
ernst
nehmen, außer allem Verhältnis zu der Relevanz, mit
der sie sich
anmelden. Die affektive Besetzung des Textes und die Eitelkeit tendiert
dazu, jedes Bedenken zu verkleinern. Was nur als winziger Zweifel
durchgelassen wird, mag die objektive Wertlosigkeit des Ganzen
anzeigen.
Die Echternacher Springprozession ist nicht der Gang des Weltgeistes;
Einschränkung und Zurücknahme kein Darstellungsmittel
der Dialektik.
Vielmehr bewegt diese sich durch die Extreme und treibt den Gedanken
durch äußerste Konsequenz zum Umschlag, anstatt ihn
zu qualifizieren.
Die Besonnenheit, die es verbietet, in einem Satz zu weit sich
vorzuwagen, ist meist nur Agent der gesellschaftlichen Kontrolle und
damit der Verdummung.
Skepsis gegen den mit Vorliebe erhobenen Einwand, ein Text, eine
Formulierung sei »zu schön«. Die Ehrfurcht
vor der Sache, oder gar vor
dem Leiden, rationalisiert leicht nur Rancune gegen den, welchem an der
verdinglichten Gestalt der Sprache die Spur dessen
unerträglich ist,
was den Menschen widerfährt, der Entwürdigung. Der
Traum eines Daseins
ohne Schande, den die sprachliche Leidenschaft festhält, wenn
ihn als
Inhalt auszumalen schon verwehrt ist, soll hämisch
abgewürgt werden.
Der Schriftsteller darf auf die Unterscheidung von schönem und
sachlichem Ausdruck sich nicht einlassen. Weder darf er sie dem
besorgten Kritiker glauben, noch bei sich selber dulden. Gelingt es
ihm, ganz das zu sagen, was er meint, so ist es schön.
Schönheit des
Ausdrucks um ihrer selbst willen ist keineswegs »zu
schön«, sondern
ornamental, kunstgewerblich, häßlich. Wer jedoch
unter dem Vorwand,
selbstvergessen der Sache zu dienen, von der Reinheit des Ausdrucks
abläßt, verrät damit immer auch die Sache.
Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben: dicht,
konzentrisch,
transparent, wohlgefügt und befestigt. Sie ziehen alles in
sich hinein,
was da kreucht und fleucht. Metaphern, die flüchtig sie
durcheilen,
werden ihnen zur nahrhaften Beute. Materialien kommen ihnen angeflogen.
Die Stichhaltigkeit einer Konzeption läßt danach
sich beurteilen, ob
sie die Zitate herbeizitiert. Wo der Gedanke eine Zelle der
Wirklichkeit aufgeschlossen hat, muß er ohne Gewalttat des
Subjekts in
die nächste Kammer dringen. Er bewährt seine
Beziehung zum Objekt,
sobald andere Objekte sich unkristallisieren. Im Licht, das er auf
seinen bestimmten Gegenstand richtet, beginnen andere zu funkeln.
In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein.
Wie er mit
Papieren, Büchern, Bleistiften, Unterlagen, die er von einem
Zimmer ins
andere schleppt, Unordnung anrichtet, so benimmt er sich in seinen
Gedanken. Sie werden ihm zu Möbelstücken, auf denen
er sich niederläßt,
wohlfühlt, ärgerlich wird. Er streichelt sie
zärtlich, nutzt sie ab,
bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstet sie. Wer
keine
Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen. Und dabei
produziert er, wie einst die Familie, unvermeidlicherweise auch Abfall
und Bodenramsch. Aber er hat keinen Speicher mehr, und es ist
überhaupt
nicht leicht, vom Abhub sich zu trennen. So schiebt er ihn denn vor
sich her und ist in Gefahr, am Ende seine Seiten damit
auszufüllen. Die
Forderung, sich hart zu machen gegens Mitleid mit sich selber,
schließt
die technische ein, mit äußerster Wachsamkeit dem
Nachlassen der
gedanklichen Spannkraft zu begegnen und alles zu eliminieren, was als
Kruste der Arbeit sich ansetzt, was leer weiterläuft, was
vielleicht in
einem früheren Stadium als Geschwätz die warme
Atmosphäre bewirkte, in
der es wächst, jetzt aber muffig, schal zurückbleibt.
Am Ende ist es
dem Schriftsteller nicht einmal im Schreiben zu wohnen gestattet.
52
Woher der Storch die Kinder bringt. - Für jeden Menschen gibt
es ein
Urbild aus dem Märchen, man muß nur lange genug
suchen. Da fragt eine
Schöne den Spiegel, ob sie auch die Allerschönste sei
wie die Königin
aus Schneewittchen. Die schnäubig ist und wählerisch
bis in den Tod,
ward nach der Ziege geschaffen, die den Vers wiederholt: »Ich
bin so
satt, ich mag kein Blatt, meh, meh.« Ein sorgenvoller doch
unverdrossener Mann gleicht dem alten zerknitterten Holzweiblein, das
dem lieben Gott begegnet, ohne ihn zu erkennen, und gesegnet wird mit
all den Seinen, weil es ihm half. Ein anderer ist als junger Geselle in
die Welt gezogen, um sein Glück zu machen, ist auch mit vielen
Riesen
fertig geworden, hat aber doch in New York sterben müssen.
Eine geht
durch die Wildnis der Stadt wie Rotkäppchen und bringt der
Großmutter
ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, wieder eine entkleidet
sich bei
der Liebe so kindlich schamlos wie das Mädchen mit den
Sterntalern. Der
Kluge wird seiner starken Tierseele inne, mag mit seinen Freunden nicht
zugrunde gehen, bildet die Gruppe der Bremer Stadtmusikanten,
führt sie
in die Räuberhöhle, überlistet die Gauner
dort, will aber wieder nach
Haus. Mit sehnsüchtigen Augen blickt der Froschkönig,
ein
unverbesserlicher Snob, zur Prinzessin auf und kann von der Hoffnung
nicht ablassen, daß sie ihn erlöse.
53
Schwabenstreiche. - Der sprachliche Habitus Schillers gemahnt an den
jungen Mann, der von unten kommt und, befangen, in guter Gesellschaft
zu schreien anfängt, um sich vernehmlich zu machen: power und
patzig.
Die deutsche Tirade und Sentenz ist den Franzosen nachgeahmt, aber am
Stammtisch eingeübt. In den unendlichen und unerbittlichen
Forderungen
spielt der Kleinbürger sich auf, der mit der Macht sich
identifiziert,
die er nicht hat, und durch Arroganz sie überbietet bis in den
absoluten Geist und das absolute Grauen hinein. Zwischen dem
allmenschlich Grandiosen und Erhabenen, das sämtliche
Idealisten gemein
haben, und das stets unmenschlich das Kleine als bloße
Existenz
zertrampeln will, und der rohen Prunksucht bürgerlicher
Gewaltmenschen
besteht das innigste Einverständnis. Zur Würde der
Geistesriesen gehört
es, hohl dröhnend zu lachen, zu explodieren, zu zerschmettern.
Sagen
sie Schöpfung, so meinen sie den krampfhaften Willen, mit dem
sie sich
aufplustern und die Frage einschüchtern: vom Primat der
praktischen
Vernunft war stets nur ein Schritt zum Haß gegen die Theorie.
Solche
Dynamik wohnt aller idealistischen Gedankenbewegung inne: selbst Hegels
unermeßliche Anstrengung, sie durch sich selber zu heilen,
ward ihr
Opfer. Die Welt in Worten aus einem Prinzip ableiten wollen, ist die
Verhaltensweise dessen, der die Macht usurpieren möchte,
anstatt ihr zu
widerstehen. Usurpatoren haben denn auch Schiller am meisten
beschäftigt. In der klassizistischen Verklärung, der
Souveränität über
die Natur, spiegelt das Vulgäre und Mindere durch beflissene
Negation
sich wider. Dicht hinter dem Ideal steht das Leben. Die
Rosendüfte von
Elysium, viel zu wortselig, als daß man ihnen die Erfahrung
einer
einzigen Rose glauben dürfte, riechen nach dem Tabak
Amtsstube, und das
schwärmerische Mondrequisit ward nach der Ölfunzel
geschaffen, in deren
sparsamem Licht der Student fürs Examen büffelt. Als
Kraft hat Schwäche
den Gedanken des angeblich aufsteigenden Bürgertums zu der
Zeit schon
an die Ideologie verraten, da es gegen die Tyrannei wetterte. Im
innersten Gehäuse des Humanismus, als dessen eigene Seele,
tobt
gefangen der Wüterich, der als Faschist die Welt zum
Gefängnis macht.
54
Die Räuber. - Der Kantianer Schiller ist um ebensoviel
unsinnlicher wie
sinnlicher als Goethe: um so abstrakter wie der Sexualität
verfallener.
Diese, als unmittelbares Begehren, macht alles zum Aktionsobjekt und
damit gleich. »Amalia für die Bande« -
darum bleibt Louise matt wie
Limonade. Die Frauen Casanovas, die nicht umsonst oft Buchstaben
anstatt Namen tragen, sind kaum voneinander zu unterscheiden und auch
nicht die Figurinen, die nach Sades mechanischer Orgel komplizierte
Pyramiden stellen. Etwas von solcher sexuellen Roheit, der
Unfähigkeit
zu unterscheiden, lebt aber in den großen spekulativen
Systemen des
Idealismus, allen Imperativen zum Trotz, und kettet deutschen Geist und
deutsche Barbarei aneinander. Bauerngier, nur mühsam von der
Pfaffendrohung im Schach gehalten, verficht als Autonomie in der
Metaphysik ihr Recht, alles Begegnende auf sein Wesen so umstandslos zu
reduzieren wie Landsknechte die Frauen der eroberten Stadt. Die reine
Tathandlung ist die auf den gestirnten Himmel über uns
projizierte
Schändung. Der lange, kontemplative Blick jedoch, dem Menschen
und
Dinge erst sich entfalten, ist immer der, in dem der Drang zum Objekt
gebrochen, reflektiert ist. Gewaltlose Betrachtung, von der alles
Glück
der Wahrheit kommt, ist gebunden daran, daß der Betrachtende
nicht das
Objekt sich einverleibt: Nähe an Distanz. Nur weil Tasso, den
die
Psychoanalytiker einen destruktiven Charakter nennen würden,
vor der
Prinzessin sich fürchtet und als zivilisiertes Opfer der
Unmöglichkeit
des Unmittelbaren fällt, sprechen Adelheid, Klärchen
und Gretchen die
angeschaute, unbedrängte Sprache, die zum Gleichnis von
Urgeschichte
sie macht. Der Schein des Lebendigen an Goethes Frauen ward mit
Zurücktreten, Ausweichen bezahlt, und es liegt mehr darin als
bloß die
Resignation vorm Sieg der Ordnung. Der absolute Gegensatz dazu, Symbol
der Einheit des Sinnlichen und Abstrakten, ist Don Juan. Wenn
Kierkegaard sagt, in ihm sei die Sinnlichkeit als Prinzip
aufgefaßt, so
rührt er ans Geheimnis der Sinnlichkeit selber. Ihrem starren
Blick
haftet, solange ihm nicht Selbstbesinnung aufgeht, eben jenes Anonyme,
unglücklich Allgemeine an, das in ihrem Negativ, der
schaltenden
Souveränität des Gedankens, verhängnisvoll
sich reproduziert.
55
Darf ich's wagen. - Wenn der Dichter im Schnitzlerschen Reigen dem
süßen Mädel, das als das freundliche
Gegenteil einer Puritanerin
vorgestellt wird, zärtlich sich nähert, sagt sie:
»Geh, willst nicht
Klavier spielend Weder kann sie über den Zweck des
Arrangements im
Ungewissen sein, noch leistet sie eigentlich Widerstand. Ihre Regung
führt tiefer als die konventionellen oder psychologischen
Verbote. Sie
bekundet archaische Frigidität, die Angst des weiblichen Tiers
vor der
Begattung, die ihm nichts als Schmerz antut. Lust ist eine
späte
Errungenschaft, kaum älter als das Bewußtsein. Sieht
man, wie Tiere
zwangshaft, unter einem Bann, zusammenkommen, so durchschaut man den
Satz »Wollust ward dem Wurm gegebene als ein Stück
idealistischer Lüge,
zumindest was die Weibchen anlangt, denen die Liebe aus Unfreiheit
widerfährt, und die sie nicht anders kennen denn als Objekte
der
Gewalt. Etwas davon ist den Frauen, zumal denen des kleinen
Bürgertums,
bis in die spätindustrielle Ära hinein geblieben. Das
Gedächtnis an die
alte Verletzung lebt noch fort, während der physische Schmerz
und die
unmittelbare Angst durch Zivilisation behoben sind. Die Gesellschaft
wirft die weibliche Hingebung stets wieder auf die Situation des Opfers
zurück, aus der sie die Frauen befreite. Kein Mann, der einem
armen
Mädchen zuredet, mit ihm zu gehen, wird, solange er sich nicht
ganz
stumpf macht, das leise Moment des Rechts in ihrem Widerstreben
verkennen, dem einzigen Prärogativ, welches die patriarchale
Gesellschaft der Frau läßt, die, einmal
überredet, nach dem kurzen
Triumph des Nein sogleich die Zeche zu bezahlen hat. Sie
weiß, daß sie
als die Gewährende seit Urzeiten zugleich die Betrogene ist.
Geizt sie
jedoch darum mit sich, so wird sie erst recht betrogen. Das steckt im
Rat an die Novizin, den Wedekind einer Bordellwirtin in den Mund legt:
»Es gibt eben nur einen Weg in dieser Welt, um
glücklich zu sein, das
ist, daß man alles tut, um andere so glücklich wie
möglich zu machen.«
Die eigene Lust hat zur Voraussetzung das schrankenlose sich Wegwerfen,
dessen die Frauen um ihrer archaischen Angst willen so wenig
mächtig
sind wie die Männer in ihrer Aufgeblasenheit. Nicht
bloß die objektive
Möglichkeit - auch die subjektive Fähigkeit zum
Glück gehört erst der
Freiheit an.
56
Stammbaumforschung. - Zwischen Ibsen und dem Struwwelpeter besteht die
tiefste Wahlverwandtschaft. Sie ist von solcher Art wie die erstarrte
Ähnlichkeit der Blitzlichtaufnahmen aller Angehörigen
aus allen Alben
des neunzehnten Jahrhunderts. Ist nicht der Zappel-Philipp wahrhaft,
wofür die Gespenster sich ausgeben, ein Familiendrama?
Beschreibt nicht
»und die Mutter blickte stumm / auf dem ganzen Tisch
herum« die Miene
der Frau Bankdirektor Borkmann? Wovon anders kann die Auszehrung des
Suppen-Kaspars herrühren als von den Sünden seiner
Väter und dem
ererbten Gedächtnis der Schuld? Friederich dem
Wüterich wird die
bittere, aber heilsame Medizin vom Volksfeind, jenem Doktor Stockmann
verordnet, der dafür dem Hund seine Leberwurst gönnt.
Das tanzende
Paulinchen mit dem Feuerzeug ist eine angemalte Photographie der
kleinen Hilde Wangel aus der Zeit, da ihre Stiefmutter, die Frau vom
Meere, sie allein zu Haus ließ, und der fliegende Robert hoch
überm
Kirchturm ihr Baumeister in eigener Person. Und was möchte
Hans
Guck-in-die-Luft anderes haben als die Sonne? Wer sonst hat ihn ins
Wasser gelockt als Klein Eyolfs Rattenmamsell, aus der Sippe des
Schneiders mit der Scher'? Der strenge Dichter aber verhält
sich wie
der große Nikolas, der die Kinderbilder der Moderne in sein
großes
Tintenfaß tunkt, sie anschwärzt mit ihrer
Vorgeschichte, als zappelnde
Marionetten wiederum herauszerrt und dergestalt Gerichtstag
hält über
sich selbst.
57
Ausgrabung. - Sobald ein Name wie der Ibsens fällt, werden
sogleich
Stimmen laut, die ihn und seine Gegenstände veraltet und
überholt
schelten. Das sind die gleichen, die vor sechzig Jahren über
das
modernistisch Zersetzende und unmoralisch Verstiegene der Nora und der
Gespenster sich entrüsteten. Ibsen, der verbissene
Bürger, hat seine
Verbissenheit auf die Gesellschaft losgelassen, deren eigenem Prinzip
er Unerbittlichkeit und Ideale entlehnte. Er hat Deputierte der
kompakten Majorität, die den Volksfeind niederbrüllt,
auf einem
pathetischen, aber wetterfesten Denkmal portraitiert, und sie finden
sich immer noch nicht geschmeichelt. Daher gehen sie zur Tagesordnung
über. Wo die vernünftigen Leute übers
Verhalten der unvernünftigen sich
einig sind, darf man stets unerledigt Abgeschobenes, schmerzhafte
Narben vermuten. So steht es um die Frauenfrage. In der Tat ist sie
durch die Auflösung der
»männlich«-liberalen Konkurrenzwirtschaft,
durch den Anteil der Frauen am Angestelltentum, in dem sie so
selbständig sind wie die unselbständigen
Männer, durch die Entzauberung
der Familie und die Lockerung der Sexualtabus an der
Oberfläche nicht
mehr »akut«. Zugleich aber hat der Fortbestand der
traditionellen
Gesellschaft die Emanzipation der Frau verbogen. Weniges ist so
symptomatisch für den Zerfall der Arbeiterbewegung, wie
daß sie davon
keine Notiz nimmt. In der Zulassung der Frauen zu allen
möglichen
überwachten Tätigkeiten verbirgt sich die Fortdauer
ihrer
Entmenschlichung. Sie bleiben im Großbetrieb, was sie in der
Familie
waren, Objekte. Nicht nur an ihren armseligen Werktag im Beruf und an
ihr Leben daheim, das geschlossen-hauswirtschaftliche
Arbeitsbedingungen inmitten der industriellen widersinnig
festhält, ist
zu denken, sondern an sie selber. Willig, ohne Gegenimpuls spiegeln sie
die Herrschaft zurück und identifizieren sich mit ihr. Anstatt
die
Frauenfrage zu lösen, hat die männliche Gesellschaft
ihr eigenes
Prinzip so ausgedehnt, daß die Opfer die Frage gar nicht mehr
zu fragen
vermögen. Wofern ihnen nur eine gewisse Fülle von
Waren gewährt wird,
stimmen sie in ihr Los begeistert ein, überlassen das Denken
den
Männern, diffamieren jegliche Reflexion als Verstoß
gegen das von der
Kulturindustrie propagierte weibliche Ideal und lassen
überhaupt es
sich wohl sein in der Unfreiheit, die sie für die
Erfüllung ihres
Geschlechts halten. Die Defekte, mit denen sie dafür zu zahlen
haben,
obenan die neurotische Dummheit, tragen zur Fortdauer des Zustands bei.
Schon zu Ibsens Zeit waren die meisten Frauen, die bürgerlich
etwas
vorstellten, bereit, über die hysterische Schwester
herzufallen, die an
ihrer Statt den hoffnungslosen Versuch auf sich nahm, aus dem
Gefängnis
der Gesellschaft auszubrechen, das ihnen allen seine vier
Wände so
nachdrücklich zukehrt. Die Enkelinnen aber würden
über die Hysterikerin
nachsichtig lächeln, ohne sich nur betroffen zu
fühlen, und sie der
Sozialfürsorge zur freundlichen Behandlung
überweisen. Die
Hysterikerin, die das Wunderbare wollte, ist denn auch von der
wütend
betriebsamen Närrin abgelöst, die den Triumph des
Unheils gar nicht
erwarten kann. - Vielleicht ist es aber derart um alles Veralten
bestellt. Es erklärt sich nicht aus der bloßen
zeitlichen Distanz,
sondern aus dem Urteilsspruch der Geschichte. Sein Ausdruck an Dingen
ist die Scham, die den Nachgeborenen im Angesicht der früheren
Möglichkeit ergreift, der er zum Leben zu helfen
versäumte. Was
vollbracht war, mag vergessen werden und bewahrt sein in der Gegenwart.
Veraltet ist stets nur was mißlang, das gebrochene
Versprechen eines
Neuen. Nicht umsonst heißen die Frauen Ibsens
»modern«. Der Haß gegen
die Moderne und der gegens Veraltete sind unmittelbar das Gleiche.
58
Die Wahrheit über Hedda Gabler. - Der Ästhetizismus
des neunzehnten
Jahrhunderts kann nicht geistesgeschichtlich aus sich heraus verstanden
werden, sondern einzig im Verhältnis zur tragenden
Realität, den
sozialen Konflikten. Auf dem Grunde der Amoralität liegt das
schlechte
Gewissen. Die Kritik konfrontierte die bürgerliche
Gesellschaft wie
ökonomisch so moralisch mit ihren eigenen Normen. Dagegen
blieb der
herrschenden Schicht, wollte sie nicht einfach der apologetischen
Lüge
und ihrer Ohnmacht verfallen wie die Hofpoeten und staatserhaltenden
Romanciers, nichts anderes übrig, als das Prinzip selber zu
verwerfen,
an dem die Gesellschaft gemessen wird, also ihre eigene Moral. Die neue
Position, welche das bürgerlich radikale Denken unterm Druck
des
nachstoßenden bezog, erschöpfte sich aber nicht im
bloßen Ersatz des
ideologischen Scheins durch eine mit der Wut von
Selbstzerstörung
proklamierte, trotzig aufbegehrende und kapitulationsbereite Wahrheit.
Der Aufruhr des Schönen gegen das bürgerlich Gute war
Aufruhr gegen die
Güte. Güte selber ist die Deformation des Guten.
Indem sie das
moralische Prinzip vom gesellschaftlichen abtrennt und in die private
Gesinnung verlegt, beschränkt sie es im doppelten Sinn. Sie
verzichtet
auf die Verwirklichung des im moralischen Prinzip mitgesetzten
menschenwürdigen Zustands. Jeder ihrer Handlungen ist etwas
von
tröstender Resignation einbeschrieben: sie zielt auf Milderung
ab,
nicht auf Heilung, und das Bewußtsein der Unheilbarkeit
paktiert am
Ende mit dieser. Damit wird Güte beschränkt auch bei
sich selber. Ihre
Schuld besteht in Vertraulichkeit. Sie spiegelt unmittelbare
Beziehungen zwischen den Menschen vor und überspringt die
Distanz, in
der allein der Einzelne vor dem Angetastetwerden durchs Allgemeine sich
zu schützen vermag. Gerade im engsten Kontakt erfährt
er die
unaufgehobene Differenz am schmerzlichsten. Nur Fremdheit ist das
Gegengift gegen Entfremdung. Das ephemere Bild von Harmonie, in dem
Güte sich genießt, hebt einzig das Leiden an der
Unversöhnlichkeit um
so grausamer hervor, das sie töricht verleugnet. Der
Verstoß gegen
Geschmack und Rücksicht, von dem keine gütige
Handlung sich freihält,
vollzieht die Nivellierung, der die ohnmächtige Utopie des
Schönen sich
widersetzt. So ward seit den Anfängen der hochindustriellen
Gesellschaft das Bekenntnis zum Bösen nicht nur zum Vorboten
der
Barbarei, sondern auch zur Maske des Guten. Seine Würde ging
ans Böse
über, indem es allen Haß und alles Ressentiment der
Ordnung auf sich
zog, die ihren Angehörigen das Gute einbläute, damit
sie ungestraft
böse sein konnte. Wenn Hedda Gabler Tante Julle, die es bis
ins
Innerste wohl meint, tödlich kränkt; wenn sie den
abscheulichen Hut,
den jene zu Ehren der Generalstochter sich zugelegt hat, absichtlich
für den des Dienstmädchens hält, so
läßt die Unzufriedene nicht bloß
ihren Haß wider die klebrige Ehe sadistisch an der Wehrlosen
aus.
Sondern sie versündigt sich am Besten, womit sie zu tun hat,
weil sie
im Besten die Schande des Guten erkennt. Bewußtlos und absurd
vertritt
sie gegen die alte Frau, die den stümperhaften Neffen anbetet,
das
Absolute. Hedda ist das Opfer und nicht Julle. Das Schöne, von
dessen
fixer Idee Hedda beherrscht wird, steht gegen die Moral, schon ehe es
diese verhöhnt. Denn es verstockt sich gegen jegliches
Allgemeine und
setzt die Differenzbestimmung des bloßen Daseins absolut, den
Zufall,
der das Eine geraten ließ und das Andere nicht. Im
Schönen behauptet
das undurchsichtig Besondere sich als Norm, als einzig Allgemeines,
weil die normale Allgemeinheit allzu durchsichtig geworden ist. So
fordert es diese, die Gleichheit alles Unfreien heraus. Aber es wird
damit selbst schuldig, indem es mit dem Allgemeinen auch wiederum die
Möglichkeit abschneidet, über jenes bloße
Dasein hinauszugehen, dessen
Undurchsichtigkeit die Unwahrheit des schlechten Allgemeinen
bloß
spiegelt. So gerät das Schöne ins Unrecht gegen das
Recht und hat doch
Recht dagegen. Im Schönen bringt die hinfällige
Zukunft dem Moloch des
Gegenwärtigen ihr Opfer dar: weil in dessen Reich kein Gutes
sein kann,
macht es sich selber schlecht, um als Unterliegendes den Richter zu
überführen. Der Einspruch des Schönen gegen
das Gute ist die bürgerlich
säkularisierte Gestalt der Verblendung des Heros aus der
Tragödie. In
der Immanenz der Gesellschaft ist das Bewußtsein ihres
negativen Wesens
versperrt, und nur die abstrakte Negation steht für die
Wahrheit ein.
Indem Antimoral das Unmoralische der Moral, Repression, verwirft, macht
sie zugleich ihr Innerstes Anliegen sich zu eigen: daß mit
jeder
Beschränkung auch jede Gewalt verschwinde. Darum fallen in der
Tat die
Motive der unnachgiebigen bürgerlichen Selbstkritik zusammen
mit den
materialistischen, welche jene zum Bewußtsein ihrer selbst
bringen.
59
Seit ich ihn gesehen. - Der weibliche Charakter und das Ideal der
Weiblichkeit, nach dem er modelliert ist, sind Produkte der
männlichen
Gesellschaft. Das Bild der unentstellten Natur entspringt erst in der
Entstellung als ihr Gegensatz. Dort, wo sie human zu sein vorgibt,
züchtet die männliche Gesellschaft in den Frauen
souverän ihr eigenes
Korrektiv und zeigt sich durch die Beschränkung als
unerbittlicher
Meister. Der weibliche Charakter ist ein Abdruck des Positivs der
Herrschaft. Damit aber so schlecht wie diese. Was überhaupt im
bürgerlichen Verblendungszusammenhang Natur heißt,
ist bloß das Wundmal
gesellschaftlicher Verstümmelung. Wenn das psychoanalytische
Theorem
zutrifft, daß die Frauen ihre physische Beschaffenheit als
Folge von
Kastration empfinden, so ahnen sie in ihrer Neurose die Wahrheit. Die
sich als Wunde fühlt, wenn sie blutet, weiß mehr von
sich als die,
welche sich als Blume vorkommt, weil das ihrem Mann in den Kram
paßt.
Nicht darin erst steckt die Lüge, daß Natur dort
behauptet wird, wo sie
geduldet und eingebaut ist, sondern was in der Zivilisation
für Natur
einsteht, ist seiner Substanz nach aller Natur am fernsten, das reine
sich selber zum Objekt Werden. Jene Art Weiblichkeit, die auf den
Instinkt sich beruft, ist stets genau das, wozu eine jegliche Frau mit
aller Gewalt - mit männlicher Gewalt - sich zwingen
muß: die Weibchen
sind die Männchen. Man muß nur einmal als
Eifersüchtiger wahrgenommen
haben, wie solche weiblichen Frauen über ihre Weiblichkeit
verfügen,
sie nach Bedarf einsetzen, ihre Augen blitzen machen, ihr Temperament
bedienen, um zu wissen, was es mit dem gehüteten, vom
Intellekt
unversehrten Unbewußten auf sich hat. Seine Unversehrtheit
und Reinheit
gerade ist die Leistung des Ichs, der Zensur, des Intellekts, und eben
darum schickt sie sich so konfliktlos ins Realitätsprinzip der
rationalen Ordnung. Ohne alle Ausnahme konformieren die weiblichen
Naturen. Daß Nietzsches Insistenz davor Halt machte und das
Bild
weiblicher Natur ungeprüft und unerfahren von der christlichen
Zivilisation übernahm, der er sonst so gründlich
mißtraute, hat die
Anstrengung seines Gedankens schließlich doch der
bürgerlichen
Gesellschaft unterworfen. Er verfiel dem Schwindel, Das Weib«
zu sagen,
wenn er von Frauen spricht. Daher allein der perfide Rat, die Peitsche
nicht zu vergessen: das Weib selber ist bereits der Effekt der
Peitsche. Befreiung der Natur wäre es, ihre Selbstsetzung
abzuschaffen.
Die Glorifizierung des weiblichen Charakters schließt die
Demütigung
aller ein, die ihn tragen.
60
Ein Wort für die Moral. - Der Amoralismus, mit dem Nietzsche
dem alten
Unwahren zuleibe rückte, verfällt selber dem Verdikt
der Geschichte.
Mit der Auflösung der Religion und ihrer handgreiflichen
philosophischen Säkularisierungen hatten die
beschränkenden Verbote ihr
bestätigtes Wesen, ihre Substantialität verloren.
Zunächst jedoch war
die materielle Produktion noch so unentwickelt, daß mit
einigem Grunde
sich verkünden ließ, es sei nicht genug für
alle da. Wer nicht die
politische Ökonomie als solche kritisierte, mußte am
beschränkenden
Prinzip festhalten, das dann als unrationalisierte Aneignung auf Kosten
des Schwächeren ausgesprochen wurde. Die objektiven
Voraussetzungen
dafür haben sich verwandelt. Nicht erst dem sozialen
Nonkonformisten,
noch dem beschränkten Bürger muß die
Beschränkung als überflüssig
erscheinen im Angesicht der unmittelbaren Möglichkeit von
Überfluß. Der
implizite Sinn der Herrenmoral, wer leben wolle, müsse
zupacken, ist
mittlerweile zu einer armseligeren Lüge geworden als die
Pastorenweisheit im neunzehnten Jahrhundert. Wenn in Deutschland die
Spießbürger als blonde Bestien sich bewährt
haben, so rührt das
keineswegs von nationalen Eigentümlichkeiten her, sondern
davon, daß
die blonde Bestialität selber, der gesellschaftliche Raub, vor
der
offenbaren Fülle zur Haltung des Hinterwäldlers, des
verblendeten
Philisters, eben des »Zu kurz Gekommenen« geworden
ist, gegen den die
Herrenmoral erfunden war. Stünde Cesare Borgia heute auf, so
gliche er
David Friedrich Strauß und hieße Adolf Hitler.
Amoralität predigen ward
zur Sache derselben Darwinisten, die Nietzsche verachtete, und die den
barbarischen Kampf ums Dasein krampfhaft als Maxime proklamieren,
gerade weil es seiner nicht mehr bedürfte. Die Tugend der
Vornehmheit
wäre längst nicht mehr, vor den andern das Bessere
sich zu nehmen,
sondern des Nehmens überdrüssig zu werden und die
schenkende Tugend
real zu üben, die bei Nietzsche einzig als vergeistigte
vorkommt. Die
asketischen Ideale schließen heute ein
größeres Maß an Widerstand gegen
den Wahnsinn der Profitökonomie ein als vor sechzig Jahren das
sich
Ausleben gegen die liberale Repression. Der Amoralist dürfte
endlich
sich gestatten, so gütig, zart, unegoistisch und
aufgeschlossen zu sein
wie Nietzsche damals schon. Zur Bürgschaft seiner
unveränderten
Resistenz bleibt er damit stets noch so einsam wie in den Tagen, als er
der normalen Welt die Maske des Bösen entgegenkehrte, um die
Norm das
Fürchten vor ihrer eigenen Verkehrtheit zu lehren.
61
Berufungsinstanz. - Nietzsche hat im Antichrist das stärkste
Argument
nicht bloß gegen die Theologie, sondern auch gegen die
Metaphysik
ausgesprochen: daß Hoffnung mit Wahrheit verwechselt werde;
daß die
Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken,
glücklich zu leben oder
überhaupt nur zu leben, nicht für die
Legitimität jenes Gedankens
zeuge. Er widerlegt den christlichen »Beweis der
Kraft«, daß der Glaube
wahr sei, weil er selig mache. Denn »wäre Seligkeit
- technischer
geredet, Lust - jemals ein Beweis der Wahrheit? So wenig, daß
es
beinahe den Gegenbeweis, jedenfalls den höchsten Argwohn gegen
'Wahrheit' abgibt, wenn Lustempfindungen über die Frage 'was
ist wahr?'
mitreden. Der Beweis der 'Lust' ist ein Beweis für 'Lust' -
nichts
mehr; woher um alles in der Welt stünde es fest, daß
gerade wahre
Urteile mehr Vergnügen machten als falsche und,
gemäß einer
prästabilierten Harmonie, angenehme Gefühle mit
Notwendigkeit hinter
sich dreinzögen?« (Der Antichrist, Aph. 50) Aber
Nietzsche selber hat
den amor fati gelehrt, »du sollst dein Schicksal
lieben«. Das, heißt es
im Epilog der Götzendämmerung, sei seine Innerste
Natur. Und es wäre
wohl die Frage zu stellen, ob irgend mehr Grund ist, das zu lieben, was
einem widerfährt, das Daseiende zu bejahen, weil es ist, als
für wahr
zu halten, was man sich erhofft. Führt nicht von der Existenz
der
stubborn facts zu deren Installierung als höchstem Wert der
gleiche
Fehlschluß, den er dem Übergang von der Hoffnung zur
Wahrheit vorwirft?
Wenn er die »Seligkeit aus einer fixen Idee« ins
Irrenhaus verweist, so
könnte man den Ursprung des amor fall im Gefängnis
aufsuchen. Auf die
Liebe zu Steinmauern und vergitterten Fenstern verfällt jener,
der
nichts anderes zum Lieben mehr sieht und hat. Beide Male waltet die
gleiche Schmach der Anpassung, die, um nur überhaupt im Grauen
der Welt
aushalten zu können, dem Wunsch Wirklichkeit zuschreibt und
dem
Widersinn des Zwangs Sinn. Nicht weniger als im credo quia absurdum
kriecht Entsagung im amor fati, der Verherrlichung des
Allerabsurdesten, vor der Herrschaft zu Kreuz. Am Ende ist Hoffnung,
wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die
einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre
die Idee
der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Unwahrheit,
das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben,
nur weil
es einmal erkannt ward. Hier viel eher als im Gegenteil liegt das
Verbrechen der Theologie, gegen das Nietzsche den Prozeß
anstrengte,
ohne je zur letzten Instanz zu gelangen. An einer der
mächtigsten
Stellen seiner Kritik hat er das Christentum der Mythologie geziehen:
»Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten,
barbarischsten
Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der
Schuldigen! Welches
schauderhafte Heidentum!« (Der Antichrist, Aph. 41) Nichts
anderes aber
ist die Liebe zum Schicksal als die absolute Sanktionierung der
Unendlichkeit solchen Opfers. Der Mythos trennt Nietzsches Kritik an
den Mythen von der Wahrheit.
62
Kürzere Ausführungen. - Liest man von neuem eines der
betrachtenden
Bücher von Anatole France, wie den Jardin d'Epicure, so kann
man bei
aller Dankbarkeit für die erbittliche Aufklärung
eines Gefühls des
Peinlichen nicht sich erwehren, das weder durch jenes Veraltete
hinlänglich erklärt wird, das renegatenhafte
französische
Irrationalisten am eifrigsten hervorheben, noch mit der
persönlichen
Eitelkeit. Indem diese aber dem Neid zum Vorwand dient, weil notwendig
an allem Geist ein eitles Moment erscheint, sobald er sich darstellt,
wird der Grund des Peinlichen offenbar. Es haftet am Kontemplativen,
dem sich Zeitlassen, der wie immer auch gebrochenen Homiletik, dem
nachsichtig erhobenen Zeigefinger. Der kritische Gehalt der Gedanken
wird dementiert vom Gestus des sich Verbreitens, der von
staatserhaltenden Professoren her vertraut ist, und die Ironie, mit der
der Schauspieler Voltaires auf seinen Titelblättern die
Zugehörigkeit
zur Académie Française eingesteht,
schlägt auf den Witzigen zurück. In
seinem Vortrag versteckt sich bei aller pointierten Humanität
ein
Gewaltsames: man kann es sich leisten, so zu reden, weil keiner den
Meister unterbricht. Etwas von der Usurpation, die allem Dozieren und
schon allem lauten Lesen innewohnt, ist in den luziden Periodenbau
gedrungen, der so viel Muße für die
ungemütlichsten Dinge reserviert.
Untrügliches Zeichen latenter Menschenverachtung beim letzten
Advokaten
der Menschenwürde ist die Unerschrockenheit, mit der er
Platituden
ausspricht, als dürfe niemand sie zu bemerken wagen:
»L'artiste doit
aimer la vie et nous montrer qu'elle est belle. Sans lui, nous en
douterions.« Was aber an den archaistisch stilisierten
Meditationen von
France hervortritt, betrifft insgeheim bereits jede
Überlegung, die das
Vorrecht in Anspruch nimmt, der Unmittelbarkeit der Zwecke sich zu
entziehen. Die Gelassenheit als solche wird zur gleichen Lüge,
der die
Hast der Unmittelbarkeit ohnehin verfällt. Während
der Gedanke, seinem
Inhalt nach, der unaufhaltsam ansteigenden Flut des Grauens
widerstrebt, vermögen die Nerven, das Tastorgan des
historischen
Bewußtseins, an der Form desselben Gedankens, ja daran,
daß er es sich
überhaupt noch gestattet, Gedanke zu sein, die Spur des
Einverständnisses mit der Welt zu gewahren, der man schon in
dem
Augenblick etwas konzediert, in dem man so weit von ihr
zurücktritt, um
sie zum philosophischen Gegenstand zu machen. In der
Souveränität, ohne
welche überhaupt nicht gedacht werden kann, wird auf das
Privileg
gepocht, das es einem erlaubt. Die Aversion dagegen ist nachgerade zum
schwersten Hindernis der Theorie geworden: folgt man ihr, so
müßte man
verstummen, und folgt man ihr nicht, so wird man plump und gemein
durchs Vertrauen auf die eigene Kultur. Noch die abscheuliche
Aufspaltung der Rede in berufliche Gespräche und strikt
konventionelle
zeugt von der Ahnung der Unmöglichkeit, Gedachtes ohne
Arroganz, ohne
Frevel an der Zeit des anderen zu sagen. Es ist das dringendste
Anliegen einer Darstellungsweise, die im mindesten standhalten soll,
daß sie solche Erfahrungen nicht aus den Augen
läßt, sondern sie durch
Tempo, Gedrängtheit, Dichte und doch wiederum
Unverbindlichkeit selber
zum Ausdruck bringt.
63
Tod der Unsterblichkeit. - Flaubert, von dem ein Ausspruch
überliefert
ist, er verachte den Ruhm, an den er sein Leben setze, hat es im
Bewußtsein solchen Widerspruchs noch so gut gehabt wie der
behäbige
Bürger, der die Madame Bovary schrieb. Gegenüber der
korrupten
öffentlichen Meinung, der Presse, auf die er schon wie Kraus
reagierte,
glaubte er auf die Nachwelt sich verlassen zu können, ein vom
Bann der
Dummheit befreites Bürgertum, das deren authentischen Kritiker
zu Ehren
brächte. Aber er hat die Dummheit unterschätzt: die
Gesellschaft, die
er vertritt, kann sich nicht selbst beim Namen nennen, und mit ihrer
Entfaltung zur Totalität hat gleich der Intelligenz auch die
Dummheit
zur absoluten sich entfaltet. Das zehrt an den Kräftezentren
des
Intellektuellen. Selbst auf die Nachwelt darf er nicht mehr hoffen,
ohne dem Konformismus, wäre es auch bloß
Einverständnis mit den großen
Geistern, zu verfallen. Sobald er aber solcher Hoffnung entsagt, geht
in seine Arbeit ein Element des Verblendeten und Verbohrten ein, bereit
schon, in zynische Kapitulation umzuschlagen. Ruhm als Resultat
objektiver Prozesse in der Marktgesellschaft, der etwas
Zufälliges und
oftmals Angedrehtes hatte, aber auch den Abglanz von Gerechtigkeit und
freier Wahl, ist liquidiert. Er ist ganz zur Funktion bezahlter
Propagandastellen geworden und mißt sich an der Investition,
die vom
Träger des Namens oder der Interessengruppe, die hinter ihm
steht,
riskiert wird. Der Claqueur, der noch dem Auge Daumiers wie ein
Auswuchs erschien, hat mittlerweile als offizieller Beauftragter des
Kultursystems seine Irrespektabilität abgelegt.
Schriftsteller, die
Karriere machen wollen, reden so unbefangen von ihren Agenten wie die
Vorfahren vom Verleger, der auch schon etwas in die Reklame steckte.
Man nimmt das Bekanntwerden und damit gewissermaßen auch das
Nachleben
- denn was hätte in der durchorganisierten Gesellschaft Chance
erinnert
zu werden, was nicht schon bekannt wäre - in eigene Regie und
kauft
sich wie ehedem bei der Kirche so nun bei den Lakaien der Trusts die
Anwartschaft auf Unsterblichkeit. Aber es ist kein Segen daran. Wie
willkürliches Gedächtnis und spurlose Vergessenheit
stets
zusammengehörten, so führt die geplante
Verfügung über Ruhm und
Andenken unweigerlich ins Nichts, dessen Vorgeschmack schon am
hektischen Wesen aller Zelebrität sich wahrnehmen
läßt. Den Berühmten
ist nicht wohl zumute. Sie machen sich zu Markenartikeln, sich selber
fremd und unverständlich, als lebende Bilder ihrer selbst wie
Tote. In
der prätentiösen Sorge um ihren Nimbus vergeuden sie
die sachliche
Energie, die einzig fortzubestehen vermöchte. Die
unmenschliche
Gleichgültigkeit und Verachtung, die gefallenen
Größen der
Kulturindustrie sogleich zuteil wird, enthüllt die Wahrheit
über ihren
Ruhm, ohne daß doch jene, die daran teilzuhaben
verschmähen, bessere
Hoffnung auf die Nachwelt hegen dürften. So erfährt
der Intellektuelle
die Hinfälligkeit seines geheimen Motivs und vermag nichts
anderes
dagegen, als auch diese Einsicht auszusprechen.
64
Moral und Stil. - Man wird als Schriftsteller die Erfahrung machen,
daß, je präziser, gewissenhafter, sachlich
angemessener man sich
ausdrückt, das literarische Resultat für um so
schwerer verständlich
gilt, während man, sobald man lax und verantwortungslos
formuliert, mit
einem gewissen Verständnis belohnt wird. Es hilft nichts, alle
Elemente
der Fachsprache, alle Anspielungen auf die nicht mehr vorgegebene
Bildungssphäre asketisch zu vermeiden. Vielmehr bewirken
Strenge und
Reinheit des sprachlichen Gefüges, selbst bei
äußerster Einfachheit,
ein Vakuum. Schlamperei, das mit dem vertrauten Strom der Rede
Schwimmen, gilt für ein Zeichen von Zugehörigkeit und
Kontakt: man
weiß, was man will, weil man weiß, was der andere
will. Beim Ausdruck
auf die Sache schauen, anstatt auf die Kommunikation, ist
verdächtig:
das Spezifische, nicht bereits dem Schematismus Abgeborgte erscheint
rücksichtslos, ein Symptom der Eigenbrötelei, fast
der Verworrenheit.
Die zeitgemäße Logik, die auf ihre Klarheit so viel
sich einbildet, hat
naiv solche Perversion in der Kategorie der Alltagssprache rezipiert.
Der vage Ausdruck erlaubt dem, der ihn vernimmt, das ungefähr
sich
vorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohnehin meint. Der strenge
erzwingt Eindeutigkeit der Auffassung, die Anstrengung des Begriffs,
deren die Menschen bewußt entwöhnt werden, und mutet
ihnen vor allem
Inhalt Suspension der gängigen Urteile, damit ein sich
Absondern zu,
dem sie heftig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu verstehen
brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in
Wahrheit Entfremdete,
das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als
vertraut. Weniges trägt
so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei. Wer ihr entgehen
will, muß jeden Rat, man solle auf Mitteilung achten, als
Verrat am
Mitgeteilten durchschauen.
65
Kohldampf. - Die Dialekte der Arbeiter gegen die Schriftsprache
ausspielen ist reaktionär. Muße, sogar Hochmut und
Arroganz hat der
Rede der Oberschicht etwas von Unabhängigkeit und
Selbstdisziplin
verliehen. Dadurch wird sie in Gegensatz zu ihrem eigenen sozialen
Bereich gebracht. Sie wendet sich wider die Herren, welche sie zum
Befehl mißbrauchen, indem sie ihnen befehlen will, und
kündigt ihren
Interessen den Dienst. In der Sprache der Unterworfenen aber hat einzig
Herrschaft ihren Ausdruck hinterlassen und sie noch der Gerechtigkeit
beraubt, die das unverstümmelte, autonome Wort all denen
verheißt, die
frei genug sind, ohne Rancune es zu sagen. Die proletarische Sprache
ist vom Hunger diktiert. Der Arme kaut die Worte, um an ihnen sich
sattzuessen. Von ihrem objektiven Geist erwartet er die
kräftige
Nahrung, welche die Gesellschaft ihm verweigert; er nimmt den Mund
voll, der nichts zu beißen hat. So rächt er sich an
der Sprache. Er
schändet den Sprachleib, den sie ihn nicht lieben lassen, und
wiederholt mit ohnmächtiger Stärke die Schande, die
ihm selber angetan
ward. Selbst das Beste der Dialekte des Berliner Nordens oder der
Cockneys, Schlagfertigkeit und Mutterwitz, krankt noch daran,
daß es,
um verzweifelte Situationen ohne Verzweiflung überstehen zu
können, mit
dem Feind zugleich auch sich selbst verlacht und so dem Weltlauf
rechtgibt. Wenn die Schriftsprache die Entfremdung der Klassen
kodifiziert, dann läßt diese nicht durch Regression
auf die gesprochene
sich widerrufen, sondern nur in der Konsequenz der strengsten
sprachlichen Objektivität. Erst das Sprechen, das die Schrift
in sich
aufhebt, befreit die menschliche Rede von der Lüge, sie sei
schon
menschlich.
66
Melange. - Das geläufige Argument der Toleranz, alle Menschen,
alle
Rassen seien gleich, ist ein Bumerang. Es setzt sich der bequemen
Widerlegung durch die Sinne aus, und noch die zwingendsten
anthropologischen Beweise dafür, daß die Juden keine
Rasse seien,
werden im Falle des Pogroms kaum etwas daran ändern,
daß die
Totalitären ganz gut wissen, wen sie umbringen wollen und wen
nicht.
Wollte man demgegenüber die Gleichheit alles dessen, was
Menschenantlitz trägt, als Ideal fordern, anstatt sie als
Tatsache zu
unterstellen, so würde das wenig helfen. Die abstrakte Utopie
wäre
allzu leicht mit den abgefeimtesten Tendenzen der Gesellschaft
vereinbar. Daß alle Menschen einander glichen, ist es gerade,
was
dieser so paßte. Sie betrachtet die tatsächlichen
oder eingebildeten
Differenzen als Schandmale, die bezeugen, daß man es noch
nicht weit
genug gebracht hat; daß irgend etwas von der Maschinerie
freigelassen,
nicht ganz durch die Totalität bestimmt ist. Die Technik der
Konzentrationslager läuft darauf hinaus, die Gefangenen wie
ihre
Wächter zu machen, die Ermordeten zu Mördern. Der
Rassenunterschied
wird zum absoluten erhoben, damit man ihn absolut abschaffen kann,
wäre
es selbst, indem nichts Verschiedenes mehr überlebt. Eine
emanzipierte
Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die
Verwirklichung
des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik,
der es
darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der
Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte statt dessen auf
die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit
den
Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den,
in dem man ohne Angst verschieden sein kann. Attestiert man dem Neger,
er sei genau wie der Weiße, während er es doch nicht
ist, so tut man
ihm insgeheim schon wieder Unrecht an. Man demütigt ihn
freundschaftlich durch einen Maßstab, hinter dem er unter dem
Druck der
Systeme notwendig zurückbleiben muß, und dem zu
genügen überdies ein
fragwürdiges Verdienst wäre. Die Fürsprecher
der unitarischen Toleranz
sind denn auch stets geneigt, intolerant gegen jede Gruppe sich zu
kehren, die sich nicht anpaßt: mit der sturen Begeisterung
für die
Neger verträgt sich die Entrüstung über
jüdische Unmanieren. Der
melting pot war eine Einrichtung des losgelassenen
Industriekapitalismus. Der Gedanke, in ihn hineinzugeraten,
beschwört
den Martertod, nicht die Demokratie.
67
Unmaß für Unmaß. - Was die Deutschen
begangen haben, entzieht sich dem
Verständnis, zumal dem psychologischen, wie denn in der Tat
die Greuel
mehr als planvoll-blinde und entfremdete Schreckmaßnahmen
verübt zu
sein scheinen denn als spontane Befriedigungen. Nach den Berichten der
Zeugen ward lustlos gefoltert, lustlos gemordet und darum vielleicht
gerade so über alles Maß hinaus. Dennoch sieht das
Bewußtsein, das dem
Unsagbaren standhalten möchte, immer wieder auf den Versuch zu
begreifen sich zurückgeworfen, wenn es nicht subjektiv dem
Wahnsinn
verfallen will, der objektiv herrscht. Es drängt der Gedanke
sich auf,
das deutsche Grauen sei etwas wie vorweggenommene Rache. Das
Kreditsystem, in dem alles bevorschußt werden kann, selbst
die
Welteroberung, bestimmt auch die Aktionen, welche ihm und der gesamten
Marktwirtschaft ihr Ende bereiten bis zum Selbstmord der Diktatur. In
den Konzentrationslagern und Gaskammern wird gleichsam der Untergang
von Deutschland diskontiert. Keiner, der die ersten Monate der
nationalsozialistischen Herrschaft I933 in Berlin beobachtete, konnte
das Moment tödlicher Traurigkeit, des halbwissend einem
Unheilvollen
sich Anvertrauens übersehen, das den angedrehten Rausch, die
Fackelzüge
und Trommeleien begleitete. Wie hoffnungslos klang nicht das deutsche
Lieblingslied jener Monate, »Volk ans Gewehre, in der Passage
Unter den
Linden. Die von einem Tag zum andern anberaumte Rettung des Vaterlandes
trug den Ausdruck der Katastrophe vom ersten Augenblick an, und diese
ward in den Konzentrationslagern eingeübt, während
der Triumph in den
Straßen die Ahnung davon übertäubte. Solche
Ahnung braucht gar nicht
erst mit dem kollektiven Unbewußten erklärt zu
werden, das freilich
vernehmlich genug mag mitgesprochen haben. Die deutsche Position in der
imperialistischen Konkurrenz war nach dem Maß des
verfügbaren
Rohmaterials wie des industriellen Potentials verzweifelt im Frieden
und Krieg. Das zu erkennen waren alle zu dumm und keiner. Dem Endkampf
der Konkurrenz sich ausliefern, hieß in den Abgrund springen,
und man
hat vorweg die anderen hinabgestoßen, des Glaubens, damit von
sich
selber es abwenden zu können. Die Chance des
nationalsozialistischen
Unternehmens, durch eine Terrorspitze und zeitliche Priorität
den
Nachteil im Gesamtvolumen der Produktion wettzumachen, war winzig. An
sie hatten eher die anderen geglaubt als die Deutschen, die sich nicht
einmal der Eroberung von Paris freuten. Während sie alles
gewannen,
wüteten sie schon als die, welche nichts zu verlieren haben.
Am Anfang
des deutschen Imperialismus steht die Wagnersche
Götterdämmerung, die
begeisterte Prophetie des eigenen Untergangs, deren Komposition
gleichzeitig mit dem siegreichen siebziger Krieg in Angriff genommen
wurde. Im selben Geiste hat man zwei Jahre vor dem zweiten Weltkrieg
dem deutschen Volk den Untergang seines Zeppelins in Lakehurst gefilmt
vorgeführt. Ruhig, unbeirrt zieht das Schiff seine Bahn, um
plötzlich
senkrecht herabzustürzen. Bleibt kein Ausweg, so wird dem
Vernichtungsdrang vollends gleichgültig, worin er nie ganz
fest
unterschied: ob er gegen andere sich richtet oder gegens eigene
Subjekt.
68
Menschen sehen dich an. - Die Entrüstung über
begangene Grausamkeiten
wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den
normalen Lesern
sind, je brunetter, »schmutziger«, dagohafter. Das
besagt über die
Greuel selbst nicht weniger als über die Betrachter.
Vielleicht ist der
gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so
geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als
Menschen sehen. Die
stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen
Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum
Pogrom. Über
dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem
das Auge
eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der
Trotz, mit dem
er diesen Blick von sich schiebt - »es ist ja bloß
ein Tier« -,
wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen
die Täter das »Nur ein Tier« immer wieder
sich bestätigen müssen, weil
sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten. In der repressiven
Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber die Parodie der
Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der »pathischen
Projektion«,
daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes Spiegelbild
wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene
zurückzuspiegeln. Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn
solcher
falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer
wieder in Vernunft
zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist,
wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick
mehr widerlegen kann.
69
Kleine Leute. - Wer die objektiven historischen Kräfte
leugnet, hat es
leicht, den Ausgang des Krieges als Argument in Anspruch zu nehmen.
Eigentlich hätten die Deutschen gewonnen: daß es
ihnen mißlang, daran
sei die Dummheit der Führer schuld. Nun haben die
entscheidenden
»Dummheiten« Hitlers, seine Weigerung, mitten im
Kriege, gegen England
Krieg zu führen, sein Angriff auf Rußland und
Amerika, ihren sozial
genauen Sinn, der sich in seiner eigenen Dialektik unausweichlich von
jedem vernünftigen Schritt zum nächsten und bis zur
Katastrophe
entfaltete. Wäre es jedoch selbst Dummheit gewesen, so bliebe
sie
geschichtlich faßbar; Dummheit ist überhaupt keine
Naturqualität,
sondern ein gesellschaftlich Produziertes und Verstärktes. Die
deutsche
herrschende Clique drängte zum Krieg, weil sie von den
imperialistischen Machtpositionen ausgeschlossen war. In solchem
Ausgeschlossensein aber lag zugleich der Grund eben jener
Provinzialität, Täppischkeit und Verblendung, die
Hitlers und
Ribbentrops Politik konkurrenzunfähig und ihren Krieg zum
Hasard
machte. Daß sie über die Balance zwischen dem
ökonomischen Gesamt- und
dem britischen Sonderinteresse bei den Tories und über die
Stärke der
roten Armee so schlecht informiert waren wie ihre eigenen Massen
hinterm Cordon des Dritten Reiches, ist von der historischen Bestimmung
des Nationalsozialismus, ja beinahe von dessen Kraft nicht zu trennen.
Die Chance der verwegenen Aktion bestand einzig darin, daß
sie es nicht
besser wußten, und das war zugleich der Grund ihres
Mißlingens.
Deutschlands industrielle Zurückgebliebenheit hat die
Politiker, die
den Vorsprung einholen wollten und dazu gerade als Habenichtse
qualifiziert waren, auf ihre unmittelbare, enge Erfahrung verwiesen,
die der politischen Fassade. Sie sahen nicht mehr vor sich als die
Versammlung, die ihnen zujubelte, und den verängstigten
Verhandlungspartner: das verstellte ihnen die Einsicht in die objektive
Gewalt der größeren Kapitalmasse. Es ist die
immanente Rache an Hitler,
daß er, der Henker der liberalen Gesellschaft, doch seinem
eigenen
Bewußtseinsstand nach zu »liberal«war, um
zu erkennen, wie unter der
Hülle des Liberalismus draußen die unwiderstehliche
Herrschaft des
industriellen Potentials sich bildete. Er, der wie kein anderer
Bürger
das Unwahre im Liberalismus durchschaute, durchschaute doch nicht ganz
die Macht hinter ihm, eben die gesellschaftliche Tendenz, die in Hitler
wirklich bloß ihren Trommler hatte. Sein Bewußtsein
ist auf den
Standpunkt des unterlegenen und kurzsichtigen Konkurrenten
zurückgeschlagen, von dem er ausging, um ihn in
abgekürztem Verfahren
zu sanieren. Notwendig fiel die Stunde der Deutschen solcher Dummheit
zu. Denn nur solche, die den in Weltwirtschaft und Weltkenntnis
gleichermaßen Beschränkten glichen, konnten diese
für den Krieg
einspannen und ihre Sturheit in den Zug des von keiner Reflexion
gehemmten Unternehmens. Die Dummheit Hitlers war eine List der
Vernunft.
70
Meinung des Dilettanten. - Dem Dritten Reich ist kein Kunstwerk, kein
gedankliches Gebilde gelungen, das auch nur der armseligen
liberalistischen Forderung nach »Niveau«
hätte Genüge tun können. Der
Abbau der Humanität und die Konservierung der
Geistesgüter waren so
wenig vereinbar wie Luftschutzkeller und Storchnest, und die
kämpferisch erneuerte Kultur sah schon am ersten Tag aus wie
die Städte
an ihrem letzten, ein Schutthaufen. Ihr wenigstens hat die
Bevölkerung
passive Resistenz entgegengesetzt. Keineswegs aber sind die
vermeintlich freigesetzten kulturellen Energien vom technischen,
politischen und militärischen Bereich aufgesogen worden.
Barbarei ist
wirklich das Ganze und triumphiert noch über ihren eigenen
Geist. Man
kann das an der Strategie wahrnehmen. Die faschistische Ära
hat sie
nicht zur Blüte gebracht, sondern abgeschafft. Die
großen militärischen
Konzeptionen waren untrennbar von List, Phantasie: fast von privater
Klugheit und Initiative. Sie gehörten einer vom
Produktionsprozeß
relativ unabhängigen Disziplin an. Es galt, aus
spezialistischen
Innovationen, wie der schrägen Schlachtordnung oder der
Zielfähigkeit
der Artillerie die Entscheidung herauszuholen. Etwas von
bürgerlich
selbständiger Unternehmertugend war in alldem. Hannibal kam
von den
Händlern, nicht von den Helden, und Napoleon von der
demokratischen
Revolution. Das Moment bürgerlicher Konkurrenz in der
Kriegführung hat
mit dem Faschismus sich überschlagen. Er hat die Grundidee der
Strategie zum Absoluten erhoben, die Ausnutzung des temporären
Mißverhältnisses zwischen der zum Mord organisierten
Spitze einer
Nation und dem Gesamtpotential der anderen. Indem jedoch die
Faschisten, als Konsequenz dieser Idee, den totalen Krieg erfanden und
die Differenz von Armee und Industrie beseitigten, haben sie selber die
Strategie liquidiert. Sie ist veraltet wie der Klang der
Militärkapellen und das Bild der Schlachtschiffe. Hitler
suchte
Weltherrschaft durch konzentrierten Terror. Die Mittel aber, derer er
sich dabei bediente, waren bereits unstrategische, die Häufung
übermächtigen Materials an einzelnen Stellen, der
grob frontale
Durchbruch, das mechanische Einkreisen der hinter den
Durchbruchsstellen zurückgebliebenen Gegner. Dies Prinzip,
ganz und gar
quantitativ, positivistisch, ohne Überraschung, daher
überall
»öffentlich« und mit Reklame fusioniert,
reichte nicht mehr aus. Die an
wirtschaftlichen Ressourcen unendlich viel reicheren Alliierten
brauchten nur die deutsche Taktik zu übertrumpfen, um Hitler
niederzuwerfen. Stumpfheit und Lustlosigkeit des Krieges, der
allgemeine Defaitismus, der dem Überdauern des Unheils zugute
kommt,
waren vom Verfall der Strategie bedingt. Während alle Aktionen
mathematisch ausgerechnet werden, nehmen sie zugleich etwas Stupides
an. Wie zum Hohn auf den Gedanken, jeder Beliebige müsse den
Staat
verwalten können, wird mit Hilfe von Radar und
künstlichen Häfen der
Krieg doch so geführt, wie ein Fähnchen steckender
Gymnasiast es sich
vorstellt. Spengler erhoffte vom Untergang des Abendlandes das goldene
Zeitalter der Ingenieure. Als dessen Perspektive aber wird der
Untergang selbst der Technik absehbar.
71
Pseudomenos. - Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien
über die
Menschen ausüben, während sie ihnen bereits ganz
fadenscheinig geworden
sind, erklärt sich jenseits der Psychologie aus dem objektiv
bestimmten
Verfall der logischen Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen,
daß
Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede
Aussage, jede
Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der
Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher
Präformation
trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die
Institutionen der
öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend
faktische
Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale
Verfügung
habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte,
trägt nicht
bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist
überdies zu arm,
um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat
durchzudringen. Über den gesamten Mechanismus belehrt das
deutsche
Extrem. Als die Nationalsozialisten zu foltern begannen, terrorisierten
sie damit nicht nur die Völker drinnen und draußen,
sondern waren
zugleich vor der Enthüllung um so sicherer, je wilder das
Grauen
anstieg. Dessen Unglaubwürdigkeit machte es leicht, nicht zu
glauben,
was man um des lieben Friedens willen nicht glauben wollte,
während man
zugleich davor kapitulierte. Die Zitternden reden sich darauf hinaus,
es werde doch viel übertrieben: bis in den Krieg hinein waren
in der
englischen Presse Einzelheiten über die Konzentrationslager
unerwünscht. Jedes Greuel in der aufgeklärten Welt
wird notwendig zum
Greuelmärchen. Denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen
Kern, auf den
das Unbewußte begierig anspricht. Nicht nur wünscht
es die Greuel
herbei. Sondern der Faschismus ist in der Tat weniger
»ideologisch«,
insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das
anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm
entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis
darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität,
sondern bloß ihr
Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte. So
desperat aber sind
die Menschen in der Kultur geworden, daß sie auf Abruf das
hinfällige
Bessere fortwerfen, wenn nur die Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut zu
bekennen, wie böse sie ist. Die politischen
Gegenkräfte jedoch sind
gezwungen, selbst immer wieder der Lüge sich zu bedienen, wenn
nicht
gerade sie als destruktiv völlig ausgelöscht werden
wollen. Je tiefer
ihre Differenz vom Bestehenden, das ihnen doch Zuflucht
gewährt vor der
ärgeren Zukunft, um so leichter fällt es den
Faschisten, sie auf
Unwahrheiten festzunageln. Nur die absolute Lüge hat noch die
Freiheit,
irgend die Wahrheit zu sagen. In der Vertauschung von Wahrheit und
Lüge, die es fast ausschließt, die Differenz zu
bewahren, und die das
Festhalten der einfachsten Erkenntnis zur Sisyphusarbeit macht,
kündet
der Sieg des Prinzips in der logischen Organisation sich an, das
militärisch am Boden liegt. Lügen haben lange Beine:
sie sind der Zeit
voraus. Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht,
der Wahrheit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nicht von der
Macht vernichtet werden will, unterdrückt sie nicht
bloß, wie in
früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die
Disjunktion von
Wahr und Falsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söldlinge
der Logik
ohnehin emsig mitwirken. So überlebt Hitler, von dem keiner
sagen kann,
ob er starb oder entkam.
72
Zweite Lese. - Begabung ist vielleicht überhaupt nichts
anderes als
glücklich sublimierte Wut, die Fähigkeit, jene
Energien, die einmal zur
Zerstörung widerspenstiger Objekte ins Ungemessene sich
steigerten, in
die Konzentration geduldiger Betrachtung umzusetzen und so wenig
abzulassen vom Geheimnis der Objekte, wie man einmal zufrieden war, ehe
man nicht dem mißhandelten Spielzeug die quäkende
Stimme entriß. Wer
hätte nicht auf dem Gesicht des in Gedanken Versunkenen, von
den
praktischen Gegenständen Abgelösten Züge
derselben Aggression bemerkt,
die sonst praktisch sich betätigt? Erfährt nicht der
Produzierende sich
selber mitten in seinem Überschwang als verliert, als
Wütend
Arbeitenden«? Ja bedarf es nicht gerade solcher Wut, um vom
Befangensein sich zu befreien und von der Wut des Befangenseins?
Wäre
nicht gerade das Versöhnende dem Zerstörenden erst
abgetrotzt?
Heute löken die meisten mit dem Stachel.
Wie manchen Dingen Gesten, und damit Weisen des Verhaltens
einbeschrieben sind. Pantoffel- »Schlappen«,
Slippers -sind darauf
berechnet, daß man ohne Hilfe der Hand mit den
Füßen hineinschlüpft.
Sie sind Denkmale des Hasses gegen das sich Bücken.
Daß in der repressiven Gesellschaft Freiheit und
Unverschämtheit aufs
gleiche hinauslaufen, bezeugen die sorgenlosen Gesten der
Halbwüchsigen, die »Was Lost' die Welt«
fragen, solange sie ihre Arbeit
noch nicht verkaufen. Zum Zeichen dessen, daß sie auf niemand
angewiesen sind und darum keinen Respekt haben müssen, stecken
sie die
Hände in die Hosentaschen. Die Ellenbogen aber, die sie dabei
nach
außen kehren, sind schon bereit, jeden zu stoßen,
der ihnen in den Weg
kommt.
Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann,
Olme sie selbst zu glauben.
Die Phrase: »Kommt überhaupt gar nicht in Frager,
die im Berlin der
zwanziger Jahre aufgekommen sein dürfte, ist potentiell schon
die
Machtergreifung. Denn sie prätendiert, daß der
private Wille, gestützt
manchmal auf wirkliche Verfügungsrechte, meist auf
bloße Frechheit,
unmittelbar die objektive Notwendigkeit darstelle, die keinen Einspruch
zuläßt. Im Grunde ist es die Weigerung des
bankrotten
Verhandlungspartners, dem andern einen Pfennig zu zahlen, im stolzen
Bewußtsein, daß es bei ihm ja doch nichts mehr zu
holen gibt. Der Trick
des betrügerischen Advokaten tut sich
großmäulig als heldische
Unbeugsamkeit auf: sprachliche Formel der Usurpation. Solcher Bluff
definiert gleichermaßen den Erfolg und den Sturz des
Nationalsozialismus.
Daß im Angesicht der Existenz von Brotfabriken die Bitte um
unser
tägliches Brot zu einer bloßen Metapher und zugleich
zur hellen
Verzweiflung geworden ist, besagt mehr gegen die Möglichkeit
des
Christentums als alle aufgeklärte Kritik am Leben Jesus.
Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.
Fremdwörter sind die Juden der Sprache.
An einem Abend der fassungslosen Traurigkeit ertappte ich mich
über dem
Gebrauch des lächerlich falschen Konjunktivs eines selber
schon nicht
recht hochdeutschen Verbs, der dem Dialekt meiner Vaterstadt
angehört.
Ich hatte die zutrauliche Mißform seit den ersten Schuljahren
nicht
mehr vernommen, geschweige denn verwandt. Schwermut, die
unwiderstehlich in den Abgrund der Kindheit hinunterzog, weckte auf dem
Grunde den alten, ohnmächtig verlangenden Laut. Wie ein Echo
warf mir
die Sprache die Beschämung zurück, die das
Unglück mir antat, indem es
vergaß, was ich bin.
Der zweite Teil des Faust, als dunkel und allegorisch verschrien,
steckt so voll von geläufigen Zitaten wie nur Wilhelm Tell.
Durchsichtigkeit, Einfachheit eines Textes steht in keinem geraden
Verhältnis dazu, ob er in die Überlieferung eingeht.
Das Verschlossene,
stets erneute Interpretation Begehrende mag eben die Autorität
abgeben,
die sei's einen Satz, sei's ein Werk den Nachlebenden zueignet.
Jedes Kunstwerk ist eine abgedungene Untat.
Die Tragödien, welche durch »Stil« die
Entfernung vom bloß Daseienden
am strengsten festhalten, sind zugleich diejenigen, die mit kollektiven
Umzügen, Masken und Opfern das Gedächtnis an die
Dämonologie der Wilden
am treuesten bewahren.
Die Armseligkeit des Sonnenaufgangs der Alpensymphonie von Richard
Strauss wird nicht bloß von den banalen Sequenzen, sondern
vom Glanz
selber bewirkt. Denn kein Sonnenaufgang, auch nicht der im Hochgebirge,
ist pompös, triumphal, herrschaftlich, sondern jeder geschieht
schwach
und zaghaft wie die Hoffnung, es könne einmal noch gut werden,
und
gerade in solcher Unscheinbarkeit des mächtigsten Lichtes
liegt das
rührend Überwältigende.
Der Stimme einer jeden Frau läßt am Telephon sich
anhören, ob die
Sprechende hübsch ist. Der Klang spiegelt als Sicherheit,
Selbstverständlichkeit, sich selber Lauschen alle Blicke von
Bewunderung und Begehren zurück, die ihr jemals galten. Sie
drückt den
lateinischen Doppelsinn von Grazie, Dank und Gnade, aus. Das Ohr nimmt
wahr, was des Auges ist, weil beide leben von der Erfahrung des einen
Schönen. Es wird wiedererkannt schon beim erstenmal:
vertrautes Zitat
des nie Gesehenen.
Wacht man inmitten eines Traumes auf, und wäre es der
ärgste, so ist
man enttäuscht und kommt sich vor, als wäre man um
das Beste betrogen
worden. Glückliche Träume aber, erfüllte,
gibt es eigentlich so wenig,
wie, nach Schuberts Wort, fröhliche Musik. Noch dem
schönsten bleibt
wie ein Makel seine Differenz von der Wirklichkeit gesellt, das
Bewußtsein vom bloßen Schein dessen, was er
gewährt. Daher sind gerade
die schönsten Träume wie beschädigt. Diese
Erfahrung ist
unübertrefflich in der Beschreibung des Naturtheaters von
Oklahoma in
Kafkas Amerika festgehalten.
Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man
hat es
nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das
Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann
kein Glücklicher je wissen, daß er es ist. Um das
Glück zu sehen, müßte
er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. Wer sagt,
er sei
glücklich, lügt, indem er es beschwört, und
sündigt so an dem Glück.
Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war
glücklich. Das einzige
Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist
der Dank: das macht dessen
unvergleichliche Würde aus.
Dem Kinde, das aus den Ferien heimkommt, liegt die Wohnung neu, frisch,
festlich da. Aber nichts hat darin sich geändert, seit es sie
verließ.
Nur daß die Pflicht vergessen ward,an die jedes
Möbel, jedes Fenster,
jede Lampe sonst mahnt, stellt ihren sabbatischen Frieden wieder her,
und für Minuten ist man im Einmaleins von Zimmern, Kammern und
Korridor
zu Hause, wie es ein ganzes Leben lang nur die Lüge behauptet.
Nicht
anders wird einmal die Welt, unverändert fast, im stetigen
Licht ihres
Feiertags erscheinen, wenn sie nicht mehr unterm Gesetz der Arbeit
steht, und dem Heimkehrenden die Pflicht leicht ist wie das Spiel in
den Ferien war.
Seitdem man Blumen nicht mehr brechen kann zum Schmuck der Geliebten,
als Opfer, das versöhnt wird, indem der Überschwang
für die eine das
Unrecht an allen frei auf sich nimmt, ist aus dem
Blumenpflücken etwas
Böses geworden. Es taugt allein noch dazu, das
Vergängliche zu
verewigen, indem man es dingfest macht. Nichts aber ist verderblicher:
das duftlose Bukett, das veranstaltete Eingedenken tötet, was
bleibt,
gerade indem es konserviert wird. Zu leben vermag der
flüchtige
Augenblick im murmelnden Vergessen, darauf einmal der Strahl
fällt, der
es aufblitzen macht; den Augenblick besitzen wollen hat ihn schon
verloren. Der üppige Strauß, den das Kind aufs
Geheiß der Mutter nach
Hause schleppt, könnte hinterm Spiegel stecken wie der
künstliche vor
sechzig Jahren, und am Ende wird daraus die gierig geknipste
Momentaufnahme von der Reise, worin jene sich wie Abfall in die
Landschaft streuen, die nichts von ihr sahen, und als Erinnerung
mitraffen, was erinnerungslos ins Nichts fiel. Wer aber, hingerissen,
Blumen sendet, wird unwillkürlich nach denen greifen, die
sterblich
erscheinen.
Unser Leben haben wir der Differenz zwischen dem ökonomischen
Gerüst,
dem späten Industrialismus, und der politischen Fassade zu
verdanken.
Der theoretischen Kritik ist der Unterschied geringfügig:
allerorten
läßt sich der Scheincharakter etwa der angeblichen
öffentlichen
Meinung, der Primat der Ökonomie in den eigentlichen
Entscheidungen
dartun. Für ungezählte Einzelne aber ist die
dünne und ephemere Hülle
der Grund ihrer ganzen Existenz. Gerade die, von deren Denken und
Handeln die Änderung, das einzig Wesentliche,
abhängt, schulden ihr
Dasein dem Unwesentlichen, dem Schein, ja dem, was nach dem
Maß der
großen historischen Entwicklungsgesetze als bloßer
Zufall zutage kommen
mag. Wird aber dadurch nicht die gesamte Konstruktion von Wesen und
Erscheinung berührt? Gemessen am Begriff ist das Individuelle
in der
Tat ganz so nichtig geworden, wie die Hegelsche Philosophie es
vorwegnahm; sub specie individuationis aber ist die absolute
Kontingenz, das geduldete, gleichsam abnorme Weiterleben selber das
Essentielle. Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr
noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes
Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die
Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein
durchsetzt. Ihr
Wesen ist das Unwesen; ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren
sie
fortbesteht, der Platzhalter der Wahrheit.
73
Abweichung. - Für den Verfall der Arbeiterbewegung spricht der
offizielle Optimismus ihrer Anhänger. Er scheint mit der
eisernen
Konsolidierung der kapitalistischen Welt anzuwachsen. Die Inauguratoren
haben niemals das Gelingen für garantiert gehalten und darum
den
Arbeiterorganisationen ihr Leben lang Unannehmlichkeiten gesagt. Heute,
da die Position des Gegners und seine Verfügung übers
Bewußtsein der
Massen unendlich verstärkt sind, gilt der Versuch, durch
Kündigung des
Einverständnisses dies Bewußtsein jäh zu
verändern, für reaktionär.
Jeder macht sich verdächtig, der mit der Kritik am
Kapitalismus die am
Proletariat verbindet, das mehr und mehr die kapitalistischen
Entwicklungstendenzen selber bloß reflektiert. Über
die Klassengrenzen
hinweg ist das negative Element des Gedankens verpönt. Die
Weisheit des
Kaisers Wilhelm, »Schwarzseher dulde ich nicht«,
ist in die Reihen
derer eingedrungen, die er zerschmettern wollte. Wer etwa auf das
Ausbleiben eines jeglichen spontanen Widerstands der deutschen Arbeiter
hinwies, dem ward entgegengehalten, alles sei derart im Fluß,
daß kein
Urteil möglich sei; wer nicht an Ort und Stelle, unter den
armen
deutschen Opfern des Luftkriegs sich befinde, der doch diesen ganz gut
gefiel, solange es gegen die andern ging, habe überhaupt den
Mund zu
halten, und außerdem stünden Agrarreformen in
Rumänien und Jugoslawien
unmittelbar bevor. Je weiter jedoch die rationale Erwartung
entschwindet, daß das Verhängnis der Gesellschaft
wirklich gewendet
werde, um so ehrfürchtiger beten sie dafür die alten
Namen: Masse,
Solidarität, Partei, Klassenkampf her. Während kein
Gedanke aus der
Kritik der politischen Ökonomie bei den Anhängern der
linken Plattform
mehr feststeht; während ihre Zeitungen ahnungslos
täglich Thesen
ausposaunen, die allen Revisionismus übertrumpfen, aber gar
nichts
bedeuten und morgen auf Abruf durch die umgekehrten ersetzt werden
können, zeigen die Ohren der Linientreuen musikalische
Schärfe, sobald
es sich um die leiseste Respektlosigkeit gegen die der Theorie
entäußerten Parolen handelt. Zum Hurra-Optimismus
schickt sich der
internationale Patriotismus. Der Loyale muß zu einem Volk
sich
bekennen, gleichgültig welchem. Im dogmatischen Begriff des
Volkes
aber, der Anerkennung des vorgeblichen Schicksalszusammenhangs zwischen
Menschen als der Instanz fürs Handeln, ist die Idee einer vom
Naturzwang emanzipierten Gesellschaft implizit verneint.
Selbst der Hurra-Optimismus ist die Perversion eines Motivs, das einmal
andere Tage sah: dessen, daß nicht gewartet werden
könne. Im Vertrauen
auf den Stand der Technik wurde die Veränderung als
unmittelbar
bevorstehend, als nächste Möglichkeit gedacht.
Konzeptionen, welche
sich an lange Zeiträume, Kautelen, umständliche
bevölkerungspädagogische Maßnahmen banden,
waren verdächtig, das Ziel
preiszugeben, zu dem sie sich bekannten. Damals hatte im Optimismus,
der der Todesverachtung gleichkam, der autonome Wille sich
ausgedrückt.
Übriggeblieben ist nur die Hülle davon, der Glaube an
Macht und Größe
der Organisation an sich, ohne Bereitschaft zum eigenen Tun, ja
durchtränkt mit der destruktiven Überzeugung,
Spontaneität sei zwar
nicht mehr möglich, aber am Ende gewinne doch die rote Armee.
Die
beharrliche Kontrolle darüber, daß jeder zugibt, es
werde schon gut
werden, verdächtigt den Unnachgiebigen als Defaitisten und
Abtrünnigen.
Im Märchen waren die Unken, die aus der Tiefe kamen, Boten des
großen
Glücks. Heute, da die Preisgabe der Utopie deren
Verwirklichung so
ähnlich sieht wie der Antichrist dem Parakleten, ist Unke zum
Schimpfwort unter denen geworden, die selber drunten sind. Der linke
Optimismus wiederholt den tückischen bürgerlichen
Aberglauben, man
solle den Teufel nicht an die Wand malen, sondern sich ans Positive
halten. »Dem Herrn gefällt die Welt nicht? Dann
muß er sich eine
bessere suchen« - das ist die Umgangssprache des
sozialistischen
Realismus.
74
Mammut. - Vor einigen Jahren ging durch die amerikanischen Zeitungen
die Meldung vom Fund eines wohlerhaltenen Dinosaurus im Staate Utah.
Betont war, das Exemplar habe seinesgleichen überlebt und sei
um
Millionen Jahre jünger als die bisher bekannten. Solche
Nachrichten,
ebenso wie die abstoßend humoristische Mode des
Loch-Ness-Ungeheuers
und wie der King-Kong-Film, sind Kollektivprojektionen des
monströsen
totalen Staates. Man bereitet auf seine Schrecken sich vor durch die
Gewöhnung an Gigantenbilder. In der absurden Neigung, diese zu
akzeptieren, versucht die in Ohnmacht liegende Menschheit verzweifelt,
das jeglicher Erfahrung Spottende doch der Erfahrung zuzueignen. Aber
die Vorstellung von lebenden oder erst wenige Jahrmillionen
ausgestorbenen Urtieren erschöpft sich nicht darin. Die
Hoffnung,
welche die Gegenwart des Ältesten begehrt, geht darauf, es
möchte die
animalische Schöpfung das Unrecht überleben, das ihr
vom Menschen
angetan ward, wenn nicht ihn selber, und eine bessere Gattung
hervorbringen, der es endlich gelingt. Der gleichen Hoffnung entstammen
schon die zoologischen Gärten. Sie sind nach dem Muster der
Arche Noah
angelegt, denn seit sie existieren, wartet die Bürgerklasse
auf die
Sintflut. Der Nutzen der Tiergärten zur Unterhaltung und
Belehrung
scheint ein dünner Vorwand. Sie sind Allegorien dessen,
daß ein
Exemplar oder ein Paar dem Verhängnis trotze, das die Gattung
als
Gattung ereilt. Daher wirken die allzu reich besetzten zoologischen
Gärten großer europäischer Städte
als Verfallsformen: mehr als zwei
Elefanten, zwei Giraffen, ein Nilpferd sind von Übel. Kein
Segen auch
ist an den Hagenbeckschen Anlagen mit Gräben und ohne Gitter,
welche
die Arche verraten, indem sie die Rettung vortäuschen, die
erst der
Ararat verheißt. Sie verneinen die Freiheit der Kreatur so
vollkommener, je unsichtbarer sie die Schranken halten, an deren
Anblick die Sehnsucht ins Weite sich entzünden
könnte. Zu den
anständigen Zoos verhalten sie sich wie die botanischen zu den
Palmengärten. Je reiner Zivilisation die Natur erhält
und
transplantiert, um so unerbittlicher wird diese beherrscht. Man kann es
sich gestatten, immer größere Natureinheiten zu
umgreifen und innerhalb
solchen Griffs scheinbar intakt zu lassen, während ehedem
Auswahl und
Bändigung einzelner Stücke noch von der Not zeugten,
mit Natur fertig
zu werden. Der Tiger, der endlos in seinem Käfig auf und ab
schreitet,
spiegelt negativ durch sein Irresein etwas von Humanität
zurück, nicht
aber der hinter dem unüberspringbaren Graben sich tummelnde.
Die
altertümliche Schönheit von Brehms Tierleben
rührt daher, daß es alle
Tiere so beschreibt, wie sie durch die Gitter der zoologischen
Gärten
sich darstellen, auch und gerade wenn phantasievolle Forscher mit
Berichten über das Leben in der Wildnis zitiert werden.
Daß aber
zugleich das Tier im Käfig wirklich mehr leidet als in der
Freianlage,
daß also Hagenbeck tatsächlich einen Fortschritt der
Humanität
darstellt, besagt etwas über die Unausweichlichkeit des
Gefängnisses.
Sie ist eine Konsequenz der Geschichte. Die zoologischen
Gärten in
ihrer authentischen Gestalt sind Produkte des Kolonialimperialismus des
neunzehnten Jahrhunderts. Sie blühten auf seit der
Erschließung wilder
Gegenden von Afrika und Innerasien, die in den Tiergestalten
symbolische Tribute entrichteten. Der Wert der Tribute maß
sich am
Exotischen, schwer Erreichbaren. Die Entwicklung der Technik hat damit
aufgeräumt und die Exotik abgeschafft. Der auf der Farm
gezüchtete Löwe
ist so gebändigt wie das längst der Geburtenkontrolle
unterworfene
Pferd. Aber das Millenium ist nicht hereingebrochen. Nur in der
Irrationalität der Kultur selber, dem Gewinkel und
Gemäuer, dem auch
die Wälle, Türme und Bastionen der in die
Städte versprengten
zoologischen Gärten zuzählen, vermag Natur sich zu
erhalten. Die
Rationalisierung der Kultur, welche der Natur die Fenster aufmacht,
saugt sie dadurch vollends auf und beseitigt mit der Differenz auch das
Prinzip von Kultur, die Möglichkeit zur Versöhnung.
75
Kalte Herberge. - Ahnungsvoll hat Schuberts Desillusionsromantik in dem
Zyklus, in dessen Mittelpunkt die Worte »Ich bin zu Ende mit
allen
Träumen« stehen, den Namen des Wirtshauses einzig
noch dem Friedhof
zubestimmt. Die Fata Morgana des Schlaraffenlandes ist von der
Totenstarre befallen. Gäste und Wirt sind verhext. Jene sind
in Eile.
Am liebsten möchten sie den Hut aufbehalten. Auf unbequemen
Sitzen
werden sie durch hingeschobene Schecks und den moralischen Druck
wartender Hintermänner dazu verhalten, den Ort, der zum Hohn
auch noch
Café heißt, so schnell wie möglich zu
verlassen. Der Wirt aber samt all
seinen Mitarbeitern ist gar nicht er selber, sondern ein Angestellter.
Wahrscheinlich datiert der Verfall des Hotelwesens zurück bis
zur
Auflösung der antiken Einheit von Herberge und Bordell, deren
Erinnerung sehnsüchtig fortlebt in jedem Blick auf die zur
Schau
gestellte Kellnerin und die verräterischen Gesten der
Zimmermädchen.
Seit aber aus dem Gastgewerbe, dem ehrwürdigsten
Zirkulationsberuf, die
letzte Vieldeutigkeit vertrieben ward, wie sie dem Wort Verkehr noch
anhaftet, ist es ganz schlimm geworden. Zug um Zug, und stets mit
unwiderleglichen Gründen, vernichten die Mittel den Zweck. Die
Arbeitsteilung, das System automatisierter Verrichtungen, bewirkt,
daß
keinem am Behagen des Kunden etwas gelegen ist. Keiner vermag seinem
Gesicht abzulesen, wonach etwa sein Sinn stünde, denn der
Kellner kennt
die Speisen nicht mehr, und schlüge er selbst etwas vor, so
müßte er
sich auf Vorwürfe wegen Kompetenzüberschreitung
gefaßt machen. Keiner
beeilt sich, den lang wartenden Gast zu bedienen, wenn der für
ihn
Zuständige beschäftigt ist: die Sorge um die
Institution, die im
Gefängnis sich vollendet, geht wie in der Klinik der ums
Subjekt vor,
das als Objekt verwaltet wird. Daß das
»Restaurant« durch feindliche
Abgründe vom Hotel, der leeren Hülse der Zimmer,
geschieden ist,
versteht sich von selbst, ebenso die Zeitbeschränkungen beim
Essen und
im unleidlichen »room service«, vor dem man in den
Drugstore flüchtet,
den offenbaren Laden, hinter dessen ungastlicher Theke ein Jongleur mit
Spiegeleiern, knusprigem Speck und Eiskegeln als letzter Gastfreund
sich bewährt. Im Hotel aber wird vom Portier selbst jede
unvorgesehene
Frage mit dem mißmutigen Hinweis auf andere, meist
geschlossene
Schalter abgefertigt. Der Einwand, bei all dem handle es sich um eine
raunzende laudatio temporis acti, schlägt nicht durch. Wer
würde nicht
den Prager Blauen Stern oder den Österreichischen Hof in
Salzburg
vorziehen, selbst wenn er ins Badezimmer über den Flur gehen
müßte und
wenn ihn nicht länger die unfehlbare Zentralheizung in aller
Frühe
weckte? Je näher man der Sphäre des unmittelbaren,
leiblichen Daseins
rückt, um so fragwürdiger wird der Fortschritt,
Pyrrhussieg der
fetischisierten Produktion. Manchmal graut solchem Fortschritt vor sich
selber, und er sucht die kalkulatorisch getrennten Arbeitsfunktionen,
wenngleich bloß symbolisch, wieder zusammenzufügen.
Dabei entstehen
Figuren wie die Hostess, eine synthetische Frau Wirtin. So wie sie in
Wirklichkeit für gar nichts sorgt, durch keine reale
Verfügung die
abgespaltenen und erkalteten Verrichtungen zusammenbringt, sondern sich
auf die nichtige Gebärde des Willkommens und allenfalls die
Kontrolle
der Angestellten beschränkt, so sieht sie auch aus, verdrossen
hübsch,
eine schlanke aufrechte, angestrengt jugendliche und fanierte Frau. Ihr
wahrer Zweck ist, darüber zu wachen, daß der
eintretende Gast sich
nicht einmal mehr den Tisch selber aussucht, an dem der Betrieb
über
ihn ergeht. Ihre Anmut ist das Reversbild der Würde des
Hinauswerfers.
76
Galadiner. - Wie Fortschritt und Regression heute sich
verschränken,
ist am Begriff der technischen Möglichkeiten zu lernen. Die
mechanischen Reproduktionsverfahren haben sich unabhängig von
dem zu
Reproduzierenden entfaltet und verselbständigt. Sie gelten
für
fortschrittlich, und was an ihnen nicht teilhat für
reaktionär und
krähwinklerisch. Solcher Glaube wird um so
gründlicher gefördert, als
die Superapparaturen, sobald sie irgend ungenützt bleiben, in
Fehlinvestitionen sich zu verwandeln drohen. Da aber ihre Entwicklung
wesentlich das betrifft, was unterm Liberalismus Aufmachung
hieß, und
zugleich durch ihr Eigengewicht die Sache selber erdrücke, der
ohnehin
die Apparatur äußerlich bleibe, so hat die Anpassung
der Bedürfnisse an
diese den Tod des sachlichen Anspruchs zur Folge. Der faszinierte
Eifer, die jeweils neuesten Verfahren zu konsumieren, macht nicht nur
gegen das Übermittelte gleichgültig, sondern komme
dem stationären
Schund und der kalkulierten Idiotie entgegen. Sie bestätigt
den alten
Kitsch in immer neuen Paraphrasen als haute nouveauté. Auf
den
technischen Fortschritt antwortet der trotzige und bornierte Wunsch,
nur ja keinen Ladenhüter zu kaufen, hinter dem losgelassenen
Produktionsprozeß nicht zurückzubleiben, ganz
gleichgültig, was der
Sinn des Produzierten ist. Mitläufertum, das sich
Drängeln, Schlange
Stehen substituiert allenthalben das einigermaßen rationale
Bedürfnis.
Kaum geringer als der Haß gegen eine radikale, allzu moderne
Komposition ist der gegen einen schon drei Monate alten Film, dem man
den jüngsten, obwohl er von jenem in nichts sich
unterscheidet, um
jeden Preis vorzieht. Wie die Kunden der Massengesellschaft sogleich
dabei sein wollen, können sie auch nichts auslassen. Wenn der
Kenner
des neunzehnten Jahrhunderts sich nur einen Akt der Oper ansah, mit dem
barbarischen Seitenaspekt, daß er sein Diner von keinem
Spektakel sich
mochte verkürzen lassen, so kann mittlerweile die Barbarei,
der die
Auswegsmöglichkeit zum Diner abgeschnitten ist, an ihrer
Kultur sich
gar nicht sattfressen. Jedes Programm muß bis zu Ende
abgesessen, jeder
best seller gelesen, jeder Film während seiner
Blütetage im Hauptpalast
beguckt werden. Die Fülle des wahllos Konsumierten wird
unheilvoll. Sie
macht es unmöglich, sich zurechtzufinden, und wie man im
monströsen
Warenhaus nach einem Führer sucht, wartet die zwischen
Angeboten
eingepeilte Bevölkerung auf den ihren.
77
Auktion. - Die entfesselte Technik eliminiert den Luxus, aber nicht,
indem sie das Privileg zum Menschenrecht erklärt, sondern
indem sie bei
allgemeiner Hebung des Standards die Möglichkeit der
Erfüllung
abschneidet. Der Schnellzug, der in drei Nächten und zwei
Tagen den
Kontinent durchrast, ist ein Mirakel, aber die Fahrt in ihm hat nichts
vom verblichenen Glanz des train bleu. Was die Wollust des Reisens
ausmachte, vom Abschiedwinken durchs offene Fenster angefangen, die
Sorge freundlicher Trinkgeldempfänger, das Zeremonial des
Essens, das
unablässige Gefühl der Vergünstigung, die
keinem etwas entzieht, ist
verschwunden samt den eleganten Leuten, die vor der Abfahrt auf den
Perrons zu promenieren pflegten, und die man nachgerade selbst in den
Hallen der anspruchsvollsten Hotels vergebens sucht. Daß in
der
Eisenbahn die Treppchen eingezogen werden, bedeutet dem Reisenden noch
im teuersten Expreß, daß er den bündigen
Anordnungen der Kompanie wie
ein Gefangener zu gehorchen hat. Sie gibt ihm zwar den genau
kalkulierten Gegenwert seines Geldes, aber nichts, was nicht als
durchschnittlicher Anspruch ermittelt wäre. Wer käme
auf den Einfall,
im Bewußtsein solcher Bedingungen mit seiner Geliebten so zu
reisen wie
einst von Paris nach Nizza? Aber man wird den Verdacht nicht los,
daß
auch dem abweichenden Luxus, wie er als solcher geräuschvoll
sich
annonciert, ein Element des Willkürlichen, künstlich
Hochgehaltenen
mehr stets sich beimengt. Er soll eher, im Sinne von Veblens Theorie,
den Zahlungsfähigen erlauben, sich und anderen ihren Status zu
beweisen, als ihren ohnehin immer undifferenzierteren
Bedürfnissen
entgegenkommen. Während sicherlich der Cadillac um ebensoviel
vorm
Chevrolet voraus hat, wie er mehr kostet, geht doch diese
Superiorität,
anders als die des alten Rolls Royce, selber aus einem Gesamtplan
hervor, der schlau dort bessere und hier schlechtere Zylinder,
Schräubchen, Zutaten anbringt, ohne daß am
Grundschema des
Massenprodukts etwas sich änderte: es bedürfte nur
kleiner
Verschiebungen in der Produktion, um den Chevrolet in den Cadillac zu
verwandeln. So wird der Luxus ausgehöhlt. Denn inmitten der
allgemeinen
Fungibilität haftet Glück ausnahmslos am
Nichtfungibeln. Es ist durch
keine Anstrengung der Humanität, durch kein formales
Raisonnement davon
zu trennen, daß das märchenschöne Kleid von
der Einen, nicht von
zwanzigtausend getragen wird. den Fetischcharakter flüchtet
sich unterm
Kapitalismus die Utopie des Qualitativen: was vermöge seiner
Differenz
und Einzigkeit nicht eingeht ins herrschende Tauschverhältnis.
Aber
dies Glücksversprechen im Luxus setzt wiederum Privileg
voraus,
ökonomische Ungleichheit, eben die Gesellschaft, die auf
Fungibilität
beruht. Darum wird das Qualitative selber ein Spezialfall der
Quantifizierung, das Nichtfungible fungibel, der Luxus zum Komfort und
am Ende zum sinnlosen Gadget. In solchem Zirkel ginge das Prinzip des
Luxus zugrunde selbst ohne die Nivellierungstendenz der
Massengesellschaft, über welche die Reaktionäre
sentimental sich
entrüsten. Die innere Zusammensetzung des Luxus ist nicht
gleichgültig
gegen das, was dem Nutzlosen durch den totalen Einbau ins Reich des
Nutzens widerfährt. Seine Überbleibsel, auch Objekte
der größten
Qualität, sehen bereits aus wie Ramsch. Die Kostbarkeiten, mit
denen
die Allerreichsten ihre Wohnungen anfüllen, verlangen hilflos
nach dem
Museum, das doch Valerys Einsicht zufolge den Sinn der Plastiken und
Bilder tötet, denen einzig ihre Mutter, die Architektur, den
rechten
Ort zuwies. Festgehalten aber in den Häusern derer, an die
nichts sie
bindet, schlagen sie der Existenzweise ins Gesicht, die das
Privateigentum unterdessen ausgebildet hat. Wenn die
Antiquitäten, mit
denen Millionäre bis zum Ersten Krieg sich einrichteten, noch
angingen,
weil sie die Idee der bürgerlichen Wohnung zum Traum - dem
Angsttraum -
steigerten, ohne sie zu sprengen, so dulden die Chinoiserien, zu denen
man mittlerweile übergegangen ist, mißmutig
bloß den Privatbesitzer,
der sich nur in dem Licht und der Luft wohlfühlt, die vom
Luxus
versperrt werden. Neusachlicher Luxus ist ein Widersinn, von dem gerade
noch falsche russische Prinzen leben mögen, die sich als
Innendekorateure an Hollywoodleute verdingen. Die Linien des
avancierten Geschmacks konvergieren in der Askese. Dem Kind, das
über
der Lektüre von Tausendundeiner Nacht an Rubinen und Smaragden
sich
berauschte, stieg die Frage auf, worin eigentlich die Seligkeit im
Besitz solcher Steine bestehe, die ja doch gerade nicht als
Tauschmittel, sondern als Hort beschrieben werden. In dieser Frage
spielt alle Dialektik der Aufklärung. Sie ist so
vernünftig wie
unvernünftig: vernünftig,indem sie der
Vergötzung gewahr wird,
unvernünftig, indem sie gegen ihr eigenes Ziel sich kehrt, das
dort nur
gegenwärtig ist, wo es vor keiner Instanz, ja vor keiner
Intention sich
zu bewähren hat: kein Glück ohne Fetischismus.
Allgemach aber hat die
skeptische Kinderfrage auf jeglichen Luxus sich ausgebreitet, und noch
die nackte sinnliche Lust ist nicht vor ihr gefeit. Dem
ästhetischen
Auge, welches das Unnütze gegen die Utilität
vertritt, wird das mit
Gewalt von den Zwecken abgelöste Ästhetische zum
Antiästhetischen, weil
es Gewalt ausdrückt: Luxus zur Roheit. Am Ende wird er von der
Fron
verschluckt oder im Zerrbild konserviert. Was an Schönem
unterm Grauen
noch gedeiht, ist Hohn und häßlich bei sich selber.
Dennoch steht seine
ephemere Gestalt für die Vermeidbarkeit des Grauens ein. Etwas
von
dieser Paradoxie liegt auf dem Grunde aller Kunst; heute kommt sie
daran zutage, daß Kunst überhaupt noch existiert.
Die festgehaltene
Idee des Schönen verlangt, Glück zu verwerfen
zugleich und zu
behaupten.
78
Über den Bergen. - Vollkommener als jedes Märchen
drückt Schneewittchen
die Wehmut aus. Ihr reines Bild ist die Königin, die durchs
Fenster in
den Schnee blickt und ihre Tochter sich wünscht nach der
leblos
lebendigen Schönheit der Flocken, der schwarzen Trauer des
Fensterrahmens, dem Stich des Verblutens; und dann bei der Geburt
stirbt. Davon aber nimmt auch das gute Ende nichts hinweg. Wie die
Gewährung Tod heißt, bleibt die Rettung Schein. Denn
die tiefere
Wahrnehmung glaubt nicht, daß die erweckt ward, die gleich
einer
Schlafenden im gläsernen Sarg liegt. Ist nicht der giftige
Apfelgrütz,
der von der Erschütterung der Reise ihr aus dem Hals
fährt, viel eher
als ein Mittel des Mordes der Rest des versäumten, verbannten
Lebens,
von dem sie nun erst wahrhaft genest, da keine trügenden
Botinnen sie
mehr locken? Und wie hinfällig klingt nicht das
Glück: »Da war ihm
Schneewittchen gut und ging mit ihm.« Wie wird es nicht
widerrufen von
dem bösen Triumph über die Bosheit. So sagt uns eine
Stimme, wenn wir
auf Rettung hoffen, daß Hoffnung vergeblich sei, und doch ist
es sie,
die ohnmächtige, allein, die überhaupt uns erlaubt,
einen Atemzug zu
tun. Alle Kontemplation vermag nicht mehr, als die Zweideutigkeit der
Wehmut in immer neuen Figuren und Ansätzen geduldig
nachzuzeichnen. Die
Wahrheit ist nicht zu scheiden von dem Wahn, daß aus den
Figuren des
Scheins einmal doch, scheinlos, die Rettung hervortrete.
79
Intellectus sacrificium intellectus. - Anzunehmen, daß das
Denken vom
Verfall der Emotionen durch anwachsende Objektivität
profitiere oder
auch nur indifferent dagegen bleibe, ist selber Ausdruck des
Verdummungsprozesses. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung
schlägt auf
den Menschen zurück, wie sehr sie auch die anbefohlene
Leistung fördern
mag. Die Fähigkeiten, selber durch Wechselwirkung entwickelt,
schrumpfen ein, wenn sie voneinander losgerissen werden. Nietzsches
Aphorismus »Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines
Menschen reicht
bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf« trifft mehr
als bloß
einen psychologischen Sachverhalt. Weil noch die fernsten
Objektivierungen des Denkens sich nähren von den Trieben,
zerstört es
in diesen die Bedingung seiner selbst. Ist nicht das
Gedächtnis
unabtrennbar von der Liebe, die bewahren will, was doch vergeht? Ist
nicht jede Regung der Phantasie aus dem Wunsch gezeugt, der
übers
Daseiende in Treue hinausgeht, indem er seine Elemente versetzt? Ja ist
nicht die einfachste Wahrnehmung an der Angst vorm Wahrgenommenen
gebildet oder der Begierde danach? Wohl hat der objektive Sinn der
Erkenntnisse mit der Objektivierung der Welt vom Triebgrund immer
weiter sich gelöst; wohl versagt Erkenntnis, wo ihre
vergegenständlichende Leistung im Bann der Wünsche
bleibt. Sind aber
die Triebe nicht im Gedanken, der solchem Bann sich entwindet, zugleich
aufgehoben, so kommt es zur Erkenntnis überhaupt nicht mehr,
und der
Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wird von der
Rache der
Dummheit ereilt. Gedächtnis wird als unberechenbar,
unzuverlässig,
irrational tabuiert. Die daraus folgende intellektuelle Kurzatmigkeit,
die im Ausfall der historischen Dimension des Bewußtseins
sich
vollendet, setzt unmittelbar die synthetische Apperzeption herab, die
Kant zufolge von der »Reproduktion in der
Einbildung«, dem Erinnern,
nicht zu trennen ist. Phantasie, heute dem Ressort des
Unbewußten
zugeteilt und in der Erkenntnis als kindisch urteilsloses Rudiment
verfemt, stiftet allein jene Beziehung zwischen Objekten, in der
unabdingbar alles Urteil entspringt: wird sie ausgetrieben, so wird
zugleich das Urteil, der eigentliche Erkenntnisakt, exorziert. Die
Kastration der Wahrnehmung aber durch die Kontrollinstanz, die jegliche
begehrende Antizipation ihr verweigert, zwingt sie eben damit ins
Schema der ohnmächtigen Wiederholung von je schon Bekanntem.
Daß
eigentlich nicht mehr gesehen werden darf, läuft aufs Opfer
des
Intellekts hinaus. Wie unterm losgelösten Primat des
Produktionsprozesses das Wozu der Vernunft entschwindet, bis sie auf
den Fetischismus ihrer selbst und der auswendigen Macht herunterkommt,
so bildet sie sich zugleich selbst als Instrument zurück und
gleicht
sich ihren Funktionären an, deren Denkapparat nur noch dem
Zweck dient,
Denken zu verhindern. Ist einmal die letzte emotionale Spur getilgt,
bleibt vom Denken einzig die absolute Tautologie übrig. Die
ganz reine
Vernunft derer, die der Fähigkeit, reinen Gegenstand auch ohne
dessen
Gegenwart vorzustellen«, vollends sich entschlagen haben,
wird mit der
reinen Bewußtlosigkeit, dem Schwachsinn im
wörtlichsten Sinn
konvergieren, denn gemessen am verstiegen realistischen Ideal
kategorienfreier Gegebenheit ist jede Erkenntnis falsch, und richtig
nur, worauf nicht einmal die Frage nach richtig oder falsch mehr
angewandt werden könnte. Daß es dabei um weit
vorgedrungene Tendenzen
sich handelt, zeigt sich auf Schritt und Tritt an dem
Wissenschaftsbetrieb, der im Begriff ist, auch die Reste der Welt,
wehrlose Trümmerstätten, zu unterjochen.
80
Diagnose. - Daß die Welt mittlerweile das System geworden
ist, als
welches die Nationalsozialisten die laxe Weimarer Republik zu Unrecht
beschimpften, wird offenbar an der prästabilierten Harmonie
zwischen
den Institutionen und denen, die sie bedienen. Im stillen ist eine
Menschheit herangereift, die nach dem Zwang und der
Beschränkung
hungert, welche der widersinnige Fortbestand der Herrschaft ihr
auferlegt. Jene Menschen haben aber, von der objektiven Einrichtung
begünstigt, nachgerade selbst die Funktionen an sich gerissen,
welche
von Rechts wegen gegen die prästabilierte Harmonie die
Dissonanz setzen
sollten. Unter all den kassierten Sprichwörtern steht auch
»Druck
erzeugt Gegendruck«: wird jener groß genug, so
verschwindet dieser, und
die Gesellschaft scheint mit dem tödlichen Ausgleich der
Spannungen
beträchtlich der Entropie zuvorkommen zu wollen. Der
Wissenschaftsbetrieb hat seine genaue Entsprechung in der Geistesart,
die er einspannt: sie brauchen sich gar keine Gewalt mehr anzutun, um
als die freiwilligen und eifrigen Kontrolleure ihrer selbst sich zu
bewähren. Selbst wenn sie außerhalb des Betriebs als
ganz humane und
vernünftige Wesen sich erweisen, erstarren sie zur pathischen
Dummheit
in dem Augenblick, in dem sie von Berufs wegen denken. Weit entfernt
davon aber, daß sie in den Denkverboten ein Feindseliges
empfinden,
fühlen sich die Stellenanwärter - und alle
Wissenschaftler sind solche
- erleichtert. Weil Denken eine subjektive Verantwortung ihnen
aufbürdet, die ihre objektive Stellung im
Produktionsprozeß zu erfüllen
ihnen verwehrt, verzichten sie darauf, schütteln sich und
laufen zum
Gegner über. Rasch wird aus der Unlust zum Denken die
Unfähigkeit dazu:
Leute, welche mühelos die raffiniertesten statistischen
Einwände
finden, sobald es darum geht, eine Erkenntnis zu sabotieren,
vermögen
es nicht, ex cathedra die einfachsten inhaltlichen Voraussagen zu
machen. Sie schlagen auf die Spekulation und töten in ihr den
gesunden
Menschenverstand. Die Intelligenteren unter ihnen ahnen die Erkrankung
ihres Denkvermögens, weil sie zunächst nicht
universal, sondern nur an
den Organen ausbricht, deren Dienste sie verkaufen. Manche warten noch
mit Angst und Scham darauf, ihres Defekts überführt
zu werden. Alle
aber finden ihn öffentlich zum moralischen Verdienst erhoben
und sehen
sich für eine wissenschaftliche Askese anerkannt, die ihnen
gar keine
ist, sondern die geheime Linie ihrer Schwäche. Ihr
Ressentiment wird
gesellschaftlich rationalisiert unter der Form: Denken ist
unwissenschaftlich. Dabei ward ihre geistige Kraft nach manchen
Dimensionen durch den Kontrollmechanismus aufs
äußerste gesteigert. Die
kollektive Dummheit der Forschungstechniker ist nicht einfach Absenz
oder Rückbildung intellektueller Fähigkeiten, sondern
eine Wucherung
der Denkfähigkeit selber, die diese mit der eigenen Kraft
zerfrißt. Die
masochistische Bosheit der jungen Intellektuellen rührt von
der
Bösartigkeit ihrer Erkrankung her.
81
Groß und klein. - Zu den verhängnisvollen
Übertragungen aus dem Bereich
wirtschaftlicher Planung in das der Theorie, die eigentlich gar nicht
mehr vom Grundriß des Ganzen unterschieden wird,
zählt der Glaube an
die Verwaltbarkeit geistiger Arbeit, nach den
Maßstäben dessen, womit
sich zu beschäftigen notwendig oder vernünftig sei.
Es wird über die
Rangordnung des Dringlichen befunden. Indem man aber den Gedanken des
Moments der Unwillkürlichkeit beraubt, wird gerade seine
Notwendigkeit
kassiert. Er reduziert sich auf ablösbare, auswechselbare
Dispositionen. Wie in der Kriegswirtschaft über
Prioritäten in der
Zuteilung von Rohmaterial, in der Herstellung dieses oder jenes
Waffentypus entschieden wird, so schleicht sich in die Theorienbildung
eine Hierarchie der Wichtigkeiten ein, mit Bevorzugung der sei's
besonders aktuellen, sei's besonders relevanten Themen, und
Hintanstellung oder nachsichtiger Duldung des nicht
Hauptsächlichen,
das bloß als Verzierung der Grundtatsachen, als Finesse
passieren darf.
Die Vorstellung vom Relevanten ist nach organisatorischen
Gesichtspunkten geschaffen, die des Aktuellen mißt sich an
der jeweils
objektiv mächtigsten Tendenz. Die Schematisierung nach wichtig
und
nebensächlich unterschreibt der Form nach die Wertordnung der
herrschenden Praxis, selbst wenn sie ihr inhaltlich widerspricht. In
den Ursprüngen der progressiven Philosophie, bei Bacon und
Descartes,
ist der Kultus des Wichtigen schon mitgesetzt. Am Ende aber offenbart
er ein Unfreies, Regressives. Wichtigkeit wird dargestellt von dem
Hund, der auf dem Spaziergang an irgendeiner Stelle minutenlang
angespannt, unnachgiebig, unwillig-ernsthaft schnüffelt, um
dann seine
Notdurft zu verrichten, mit den Füßen zu scharren
und weiterzulaufen,
als wäre nichts geschehen. In wilden Zeiten mag davon Leben
und Tod
abgehangen haben; nach Jahrtausenden der Domestizierung ist ein irres
Ritual daraus geworden. Wer müßte nicht daran
denken, wenn er ein
seriöses Gremium die Dringlichkeit von Problemen
prüfen sieht, ehe der
Stab der Mitarbeiter auf die sorgsam designierten und befristeten
Aufgaben losgelassen wird. Etwas von solcher anachronistischen Sturheit
hat alles Wichtige, und als Kriterium des Gedankens kommt es dessen
gebannter Fixierung, dem Verzicht auf Selbstbesinnung gleich. Die
großen Themen aber sind nichts anderes als die urzeitlichen
Gerüche,
die das Tier veranlassen, innezuhalten und sie womöglich
nochmals
hervorzubringen. Das bedeutet nicht, daß die Hierarchie der
Wichtigkeiten zu ignorieren sei. Wie ihre Banausie die des Systems
widerspiegelt, so ist sie gesättigt mit all seiner Gewalt und
Stringenz. Jedoch der Gedanke sollte sie nicht repetieren, sondern im
Nachvollzug auflösen. Die Aufteilung der Welt in Haupt- und
Nebensachen, die schon immer dazu gedient hat, die
Schlüsselphänomene
des äußersten gesellschaftlichen Unrechts als
bloße Ausnahmen zu
neutralisieren, ist soweit zu befolgen, daß sie ihrer eigenen
Unwahrheit überführt wird. Sie, die alles zu Objekten
macht, muß selber
zum Objekt des Gedankens werden, anstatt ihn zu steuern. Die
großen
Themen werden dabei auch vorkommen, aber kaum im traditionellen Sinn
»thematisch«, sondern gebrochen und exzentrisch.
Die Barbarei der
unmittelbaren Größe blieb der Philosophie als
Erbteil von ihrem frühen
Bündnis mit Administratoren und Mathematikern: was nicht den
Stempel
des aufgeblähten welthistorischen Betriebs trägt,
wird den Prozeduren
der positiven Wissenschaften überantwortet. Philosophie
benimmt sich
dabei wie schlechte Malerei, die sich einbildet, die Dignität
eines
Werkes und der Ruhm, den es erwirbt, hinge ab von der Würde
der
Gegenstände; ein Bild der Völkerschlacht bei Leipzig
tauge mehr als ein
Stuhl in schräger Perspektive. Der Unterschied des
begrifflichen
Mediums vom künstlerischen ändert nichts an der
schlechten Naivetät.
Wenn der Abstraktionsprozeß alle Begriffsbildung mit dem Wahn
der Größe
schlägt, so ist zugleich in ihm, durch Distanz vom
Aktionsobjekt, durch
Reflexion und Durchsichtigkeit, das Gegengift aufbewahrt: die
Selbstkritik der Vernunft ist deren eigenste Moral. Ihr Gegenteil in
der jüngsten Phase eines über sich selbst
verfügenden Denkens ist
nichts anderes als die Abschaffung des Subjekts. Der Gestus der
theoretischen Arbeit, der über die Themen nach ihrer
Wichtigkeit
disponiert, sieht ab von dem Arbeitenden. Die Entwicklung einer immer
geringeren Anzahl technischer Fähigkeiten soll dazu
genügen, ihn für
die Behandlung jeder bezeichneten Aufgabe hinlänglich zu
equipieren.
Denkende Subjektivität ist aber gerade, was nicht in den von
oben her
heteronom gestellten Aufgabenkreis sich einordnen
läßt: selbst diesem
ist sie nur soweit gewachsen, wie sie selber ihm nicht
angehört, und
damit ist ihre Existenz die Voraussetzung einer jeglichen objektiv
verbindlichen Wahrheit. Die souveräne Sachlichkeit, die das
Subjekt der
Ermittlung der Wahrheit opfert, verwirft zugleich Wahrheit und
Objektivität selber.
82
Drei Schritt vom Leibe. - Der Positivismus setzt nochmals die Distanz
des Gedankens zur Realität herab, welche von der
Realität selber schon
nicht mehr toleriert wird. Indem die eingeschüchterten
Gedanken nicht
mehr sein wollen als Provisorien, bloße Abkürzungen
für darunter
befaßtes Tatsächliches, schwindet ihnen mit der
Selbständigkeit der
Realität gegenüber auch die Kraft, diese zu
durchdringen. Nur im
Abstand zum Leben spielt das des Gedankens sich ab, welches in das
empirische eigentlich einschlägt. Während der Gedanke
auf Tatsachen
sich bezieht und in der Kritik an ihnen sich bewegt, bewegt er sich
nicht minder durch die festgehaltene Differenz. Er spricht eben dadurch
genau das aus was ist, daß es nie ganz so ist, wie er es
ausspricht.
Ihm ist wesentlich ein Element der Übertreibung, des
über die Sachen
Hinausschießens, von der Schwere des Faktischen sich
Loslösens, kraft
dessen er anstelle der bloßen Reproduktion des Seins dessen
Bestimmung,
streng und frei zugleich, vollzieht. Darin ähnelt jeder
Gedanke dem
Spiel, mit welchem Hegel nicht weniger als Nietzsche das Werk des
Geistes verglichen hat. Das Unbarbarische an Philosophie beruht in dem
stillschweigenden Bewußtsein jenes Elements von
Unverantwortlichkeit,
der Seligkeit, die von der Flüchtigkeit des Gedankens stammt,
der stets
dem entrinnt, was er urteilt. Solche Ausschweifung wird vom
positivistischen Geiste geahndet und der Narrheit
überantwortet. Die
Differenz von den Tatsachen wird zur bloßen Falschheit, das
Moment des
Spiels zum Luxus in einer Welt, vor der die intellektuellen Funktionen
nach der Stechuhr über jede Minute Rechenschaft ablegen
müssen. Sobald
aber der Gedanke seine unaufhebbare Distanz verleugnet und sich mit
tausend subtilen Argumenten auf die buchstäbliche Richtigkeit
herausreden will, gerät er ins Hintertreffen. Fällt
er aus dem Medium
des Virtuellen heraus, einer Antizipation, die von keiner einzelnen
Gegebenheit ganz zu erfüllen ist, kurz, sucht er anstelle von
Deutung
einfache Aussage zu werden, so wird alles, was er aussagt, in der Tat
falsch. Seine Apologetik, von Unsicherheit und schlechtem Gewissen
inspiriert, läßt sich auf Schritt und Tritt mit dem
Nachweis eben der
Nichtidentität widerlegen, die er nicht Wort haben will, und
die ihn
doch allein zum Gedanken macht. Würde er sich hingegen auf die
Distanz
wie auf ein Privileg herausreden, so führe er nicht besser,
sondern
proklamierte zweierlei Wahrheiten, die der Fakten und die der Begriffe.
Das löste Wahrheit selber auf und denunzierte das Denken erst
recht.
Die Distanz ist keine Sicherheitszone sondern ein Spannungsfeld. Sie
manifestiert sich nicht sowohl im Nachlassen des Wahrheitsanspruches
der Begriffe als in der Zartheit und Zerbrechlichkeit, womit gedacht
wird. Dem Positivismus gegenüber ziemt weder Rechthaberei noch
Vornehmtun, sondern der erkenntniskritische Nachweis der
Unmöglichkeit
einer Koinzidenz zwischen dem Begriff und dem ihn Erfüllenden.
Die Jagd
nach dem Ineinander-Aufgehen des Ungleichnamigen ist nicht das immer
strebende Bemühen, dem am Ende Erlösung winkt,
sondern naiv und
unerfahren. Was der Positivismus dem Denken vorwirft, hat das Denken
tausendmal gewußt und vergessen, und erst an solchem Wissen
und
Vergessen ist es zum Denken geworden. Jene Distanz des Gedankens von
der Realität ist selber nichts anderes als der Niederschlag
von
Geschichte in den Begriffen. Distanzlos mit diesen operieren ist bei
aller Resignation, oder vielleicht gerade um ihretwillen, Sache von
Kindern. Denn der Gedanke muß über seinen Gegenstand
hinauszielen,
gerade weil er nicht ganz hinkommt, und der Positivismus ist
unkritisch, indem er das Hinkommen sich zutraut und bloß aus
Gewissenhaftigkeit zu zaudern sich einbildet. Der transzendierende
Gedanke trägt seiner eigenen Unzulänglichkeit
gründlicher Rechnung als
der durch den wissenschaftlichen Kontrollapparat gesteuerte. Er
extrapoliert, um vermöge der überspannten Anstrengung
des Zuviel wie
immer hoffnungslos das unausweichliche Zuwenig zu meistern. Was man der
Philosophie als illegitimen Absolutismus vorwirft, die angeblich
abschlußhafte Prägung, entspringt gerade im Abgrund
der Relativität.
Die Übertreibungen der spekulativen Metaphysik sind Narben des
reflektierenden Verstandes, und einzig das Unbewiesene
enthüllt den
Beweis als Tautologie. Dagegen entzieht der unmittelbare Vorbehalt der
Relativität, das Einschränkende, im je abgesteckten
begrifflichen
Umfang Verbleibende genau durch solche Vorsicht sich der Erfahrung der
Grenze, die zu denken und zu überschreiten nach Hegels
großartiger
Einsicht das Gleiche ist. Sonach wären die Relativisten die
wahren -
die schlechten Absolutisten und überdies die Bürger,
die ihrer
Erkenntnis wie eines Besitzes sich versichern wollten, nur um ihn desto
gründlicher zu verlieren. Einzig der Anspruch des Unbedingten,
der
Sprung über den Schatten, läßt dem
Relativen Gerechtigkeit widerfahren.
Indem er Unwahrheit auf sich nimmt, führt er an die Schwelle
von
Wahrheit im konkreten Bewußtsein der Bedingtheit menschlicher
Erkenntnis.
83
Vizepräsident. - Rat an Intellektuelle: laß dich
nicht vertreten. Die
Fungibilität aller Leistungen und Menschen und der daraus
abgeleitete
Glaube, alle müßten alles tun können,
erweisen sich innerhalb des
Bestehenden als Fessel. Das egalitäre Ideal der Vertretbarkeit
ist ein
Schwindel, wenn es nicht getragen wird vom Prinzip der Abberufbarkeit
und der Verantwortung vor rank and file. Der gerade ist der
Mächtigste,
der möglichst wenig selber tun, möglichst viel von
dem, wofür er den
Namen hergibt und den Vorteil einstreicht, anderen aufbürden
kann. Es
scheint Kollektivismus und kommt nur auf das sich zu gut
Dünken, das
Ausgenommensein von Arbeit kraft der Verfügung über
fremde hinaus. In
der materiellen Produktion freilich ist Vertretbarkeit sachlich
angelegt. Die Quantifizierung der Arbeitsprozesse setzt tendenziell den
Unterschied zwischen dem vom Generaldirektor und dem vom Mann in der
Gasolinstation zu Besorgenden herab. Es ist eine armselige Ideologie,
daß zur Verwaltung eines Trusts unter den
gegenwärtigen Bedingungen
irgend mehr Intelligenz, Erfahrung, selbst Vorbildung gehört
als dazu,
einen Manometer abzulesen. Während man aber in der materiellen
Produktion an eben dieser Ideologie zäh festhält,
wird der Geist der
entgegengesetzten unterworfen. Das ist die auf den Hund gekommene Lehre
von der universitas literarum, von der Gleichheit aller in der Republik
der Wissenschaften, die einen jeglichen nicht bloß als
Kontrolleur des
anderen anstellt, sondern auch ihn befähigen soll, ebensogut
zu tun,
was der andere tut. Vertretbarkeit unterwirft die Gedanken derselben
Prozedur wie der Tausch die Dinge. Das Inkommensurable wird
ausgeschieden. Da aber der Gedanke vorab die vom
Tauschverhältnis
herrührende, allumfassende Kommensurabilität zu
kritisieren hat, so
kehrt diese, als geistiges Produktionsverhältnis, sich gegen
die
Produktivkraft. Im materiellen Bereich ist Vertretbarkeit das bereits
Mögliche und Unvertretbarkeit der Vorwand, der es verhindert;
in der
Theorie, der solches quid pro quo zu durchschauen ziemt, dient
Vertretbarkeit der Apparatur dazu, dort noch sich fortzusetzen, wo ihr
objektiver Gegensatz läge. Unvertretbarkeit allein
könnte der
Eingliederung des Geistes in die Angestelltenschaft Einhalt tun. Die
als selbstverständlich unterschobene Forderung, es
müsse jede geistige
Leistung von jedem qualifizierten Mitglied der Organisation ebenso sich
bewältigen lassen, macht den borniertesten wissenschaftlichen
Techniker
zum Maß des Geistes: woher sollte gerade dieser die
Fähigkeit zur
Kritik seiner eigenen Technifizierung nehmen? So bewirkt die Wirtschaft
jene Gleichmacherei, über die sie mit der Geste
»Haltet den Diebe sich
entrüstet. Die Frage nach der Individualität
muß im Zeitalter von deren
Liquidation aufs neue aufgeworfen werden. Während das
Individunm, wie
alle individualistischen Produktionsverfahren, hinter dem Stand der
Technik zurückgeblieben und historisch veraltet ist,
fällt ihm als
Verurteiltem gegen den Sieger die Wahrheit wiederum zu. Denn es allein
bewahrt in wie immer auch entstellter Weise die Spur dessen, was aller
Technifizierung ihr Recht verleiht, und wovon diese doch zugleich
selber das Bewußtsein sich abschneidet. Indem der
losgelassene
Fortschritt als nicht unmittelbar identisch mit dem der Menschheit sich
erweist, vermag sein Gegenteil dem Fortschritt Unterschlupf zu
gewähren. Bleistift und Radiergummi nützen dem
Gedanken mehr als ein
Stab von Assistenten. Jene, die weder dem Individualismus der geistigen
Produktion ungebrochen sich überlassen, noch dem
Kollektivismus der
egalitär-menschenverachtenden Vertretbarkeit kopfüber
sich verschreiben
möchten, sind auf freie und solidarische Zusammenarbeit unter
gemeinsamer Verantwortung angewiesen. Alles andere verschachert den
Geist an die Formen des Geschäfts und damit
schließlich an dessen
Interessen.
84
Stundenplan. - Weniges unterscheidet die Lebensweise, die dem
Intellektuellen anstünde, so tief von der des
Bürgers, wie daß jener
die Alternative von Arbeit und Vergnügen nicht anerkennt.
Arbeit, die
nicht, um der Realität gerecht werden zu können, erst
ihrem Subjekt all
das Böse antun muß, das sie nachher den andern antun
soll, ist Lust
noch in der verzweifelten Anstrengung. Die Freiheit, die sie meint, ist
dieselbe, welche die bürgerliche Gesellschaft einzig der
Erholung
vorbehält und durch solche Reglementierung zugleich
zurücknimmt.
Umgekehrt ist dem, der von Freiheit weiß, alles von dieser
Gesellschaft
tolerierte Vergnügen unerträglich, und
außerhalb seiner Arbeit, die
freilich einschließt, was die Bürger als
»Kultur« auf den Feierabend
verlegen, mag er auf keine Ersatzlust sich einlassen. Work while you
work, play while you play - das zählt zu den Grundregeln der
repressiven Selbstdisziplin. Eltern, denen es Prestigesache war,
daß
ihr Kind gute Zeugnisse nach Hause brachte, konnten es am wenigsten
leiden, wenn es abends zu lange las oder überhaupt, nach ihren
Begriffen, geistig sich überanstrengte. Aus ihrer Torheit aber
sprach
das Ingenium ihrer Klasse. Die seit Aristoteles eingeschliffene Lehre
vom Maßhalten als der vernunftgemäßen
Tugend ist neben anderm ein
Versuch, die gesellschaftlich notwendige Aufteilung des Menschen in
voneinander unabhängige Funktionen so fest zu
begründen, daß es keiner
von diesen mehr beikommt, in die andere überzugehen und an den
Menschen
zu erinnern. Man könnte aber Nietzsche so wenig in einem
Büro, in
dessen Vorraum die Sekretärin das Telefon betreut, bis
fünf Uhr am
Schreibtisch sich vorstellen, wie nach vollbrachtem Tagewerk Golf
spielend. Einzig listige Verschränkung von Glück und
Arbeit läßt unterm
Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung noch offen. Sie wird stets
weniger geduldet. Auch die sogenannten geistigen Berufe werden durch
Anähnelung ans Geschäft der Lust vollends
entäußert. Die Atomisierung
schreitet nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch im einzelnen
Individuum, zwischen seinen Lebenssphären, fort. Keine
Erfüllung darf
an die Arbeit sich heften, die sonst ihre funktionelle Bescheidenheit
in der Totalität der Zwecke verlöre, kein Funke der
Besinnung darf in
die Freizeit fallen, weil er sonst auf die Arbeitswelt
überspringen und
sie in Brand setzen könnte. Während der Struktur nach
Arbeit und
Vergnügen einander immer ähnlicher werden, trennt man
sie zugleich
durch unsichtbare Demarkationslinien immer strenger. Aus beiden wurden
Lust und Geist gleichermaßen ausgetrieben. Hier wie dort
waltet
tierischer Ernst und Pseudoaktivität.
85
Musterung. - Wer, wie das so heißt, in der Praxis steht,
Interessen zu
verfolgen, Pläne zu verwirklichen hat, dem verwandeln die
Menschen, mit
denen er in Berührung kommt, automatisch sich in Freund und
Feind.
Indem er sie daraufhin ansieht, wie sie seinen Absichten sich
einfügen,
reduziert er sie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sind
verwendbar, die andern hinderlich. Jede abweichende Meinung erscheint
auf dem Bezugssystem je einmal vorgegebener Zwecke, ohne welches keine
Praxis auskommt, als lästiger Widerstand, Sabotage, Intrige;
jede
Zustimmung, und käme sie aus dem gemeinsten Interesse, wird
zur
Förderung, zum Brauchbaren, zum Zeugnis der
Bundesgenossenschaft. So
tritt Verarmung im Verhältnis zu anderen Menschen ein: die
Fähigkeit,
den andern als solchen und nicht als Funktion des eigenen Willens
wahrzunehmen, vor allem aber die des fruchtbaren Gegensatzes, die
Möglichkeit, durch Einbegreifen des Widersprechenden
über sich selber
hinauszugehen, verkümmert. Sie wird ersetzt durch beurteilende
Menschenkenntnis, für die schließlich noch der Beste
das kleinere Übel
ist und der Schlechteste nicht das größte. Diese
Reaktionsweise aber,
das Schema aller Administration und
»Personalpolitik«, tendiert bereits
von sich aus, vor aller politischen Willensbildung und aller Festlegung
auf ausschließende Tickets, zum Faschismus. Wer es einmal zu
seiner
Sache macht, Eignungen zu beurteilen, sieht die Beurteilten aus
gewissermaßen technologischer Notwendigkeit als
Zugehörige oder
Außenseiter, Arteigene oder Artfremde, Helfershelfer oder
Opfer. Der
starr prüfende, bannende und gebannte Blick, der allen
Führern des
Entsetzens eigen ist, hat sein Modell im abschätzenden des
Managers,
der den Stellenbewerber Platz nehmen heißt und sein Gesicht
so
beleuchtet, daß es ins Helle der Verwendbarkeit und ins
Dunkle,
Anrüchige des Unqualifizierten erbarmungslos
zerfällt. Das Ende ist die
medizinische Untersuchung nach der Alternative: Arbeitseinsatz oder
Liquidation. Der neutestamentliche Satz: »Wer nicht
für mich ist, ist
wider mich« war von jeher dem Antisemitismus aus dem Herzen
gesprochen.
Es gehört zum Grundbestand der Herrschaft, jeden, der nicht
mit ihr
sich identifiziert, um der bloßen Differenz willen ins Lager
der Feinde
zu verweisen: nicht umsonst ist Katholizismus nur ein griechisches Wort
für das lateinische Totalität, das die
Nationalsozialisten realisiert
haben. Sie bedeutet die Gleichsetzung des Verschiedenen, sei's der
»Abweichung«, sei's des Andersrassigen, mit dem
Gegner. Der
Nationalsozialismus hat auch darin das historische Bewußtsein
seiner
selbst erreicht: Carl Schmitt definierte das Wesen des Politischen
geradezu durch die Kategorien Freund und Feind. Der Fortschritt zu
solchem Bewußtsein macht die Regression auf die
Verhaltensweise des
Kindes sich zu eigen, das gern hat oder sich fürchtet. Die
apriorische
Reduktion auf das Freund-Feind-Verhältnis ist eines der
Urphänomene der
neuen Anthropologie. Freiheit wäre, nicht zwischen schwarz und
weiß zu
wählen, sondern aus solcher vorgeschriebenen Wahl
herauszutreten.
86
Hänschen klein. - Der Intellektuelle, und gar der
philosophisch
gerichtete, ist von der materiellen Praxis abgeschnitten: der Ekel vor
ihr trieb ihn zur Befassung mit den sogenannten geistigen Dingen. Aber
die materielle Praxis ist nicht nur die Voraussetzung seiner eigenen
Existenz, sondern liegt auch auf dem Grunde der Welt, mit deren Kritik
seine Arbeit zusammenfällt. Weiß er nichts von der
Basis, so zielt er
ins Leere. Er steht vor der Wahl, sich zu informieren oder dem
Verhaßten den Rücken zu kehren. Informiert er sich,
so tut er sich
Gewalt an, denkt gegen seine Impulse und ist obendrein in Gefahr,
selber so gemein zu werden wie das, womit er sich abgibt, denn die
Ökonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auch nur
verstehen will, muß
»ökonomisch denken«.
Läßt er sich aber nicht darauf ein, so
hypostasiert er seinen an der ökonomischen Realität,
dem abstrakten
Tauschverhältnis überhaupt erst gebildeten Geist als
Absolutes, während
er zum Geist werden könnte einzig in der Besinnung auf die
eigene
Bedingtheit. Der Geistige wird dazu verführt, eitel und
beziehungslos
den Reflex für die Sache unterzuschieben. Die
einfältig-verlogene
Wichtigkeit, wie sie Geistesprodukten im öffentlichen
Kulturbetrieb
zugewiesen wird, fügt Steine zu der Mauer hinzu, welche die
Erkenntnis
von der wirtschaftlichen Brutalität absperrt. Dem
Geistesgeschäft
verhilft die Isolierung des Geistes vom Geschäft zur bequemen
Ideologie. Das Dilemma teilt sich den intellektuellen Verhaltensweisen
bis in die subtilsten Reaktionen hinein mit. Nur wer
gewissermaßen sich
rein erhält, hat Haß, Nerven, Freiheit und
Beweglichkeit genug, der
Welt zu widerstehen, aber gerade vermöge der Illusion der
Reinheit -
denn er lebt als Dritte Person« - läßt er
die Welt nicht draußen bloß,
sondern noch im Innersten seiner Gedanken triumphieren. Wer aber das
Getriebe allzu gut kennt, verlernt darüber es zu erkennen; ihm
schwinden die Fähigkeiten der Differenz, und wie den anderen
der
Fetischismus der Kultur, so bedroht ihn der Rückfall in die
Barbarei.
Daß die Intellektuellen zugleich Nutznießer der
schlechten Gesellschaft
und doch diejenigen sind, von deren gesellschaftlich unnützer
Arbeit es
weithin abhängt, ob eine von Nützlichkeit
emanzipierte Gesellschaft
gelingt - das ist kein ein für allemal akzeptabler und dann
irrelevanter Widerspruch. Er zehrt unablässig an der
sachlichen
Qualität. Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch.
Er
erfährt drastisch, als Lebensfrage die schmähliche
Alternative, vor
welche insgeheim der späte Kapitalismus all seine
Angehörigen stellt:
auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben.
87
Ringverein. - Es gibt einen Typus von Intellektuellen, dem um so
gründlicher zu mißtrauen ist, je mehr er durch
Redlichkeit des
Bemühens, Geistigen Ernste, oft auch durch bescheidene
Sachlichkeit für
sich einnimmt. Das sind die ringenden Menschen, die permanent im Kampf
mit sich selbst, in Entscheidungen unter Einsatz der ganzen Person
leben. Aber so schrecklich geht es gar nicht zu. Steht ihnen doch
für
ihr radikales sich aufs Spiel Setzen eine zuverlässige Armatur
zur
Verfügung, deren Lügen straft: man braucht nur in den
Büchern des
Verlegers Eugen Diederichs zu blättern oder in denen einer
gewissen Art
muckerhaft-emanzipierter Theologen. Das markige Vokabular weckt Zweifel
an der Fairness der von der Innerlichkeit arrangierten und
ausgefochtenen Ringkämpfe. Die Ausdrücke sind
allesamt von Krieg,
leibhafter Gefahr, wirklicher Vernichtung entlehnt, aber sie
beschreiben bloß Vorgänge der Reflexion, die zwar
bei Kierkegaard und
Nietzsche, auf welche die Ringer mit Vorliebe hinweisen, mit dem
tödlichen Ausgang zusammenhängen mochten, ganz
gewiß aber nicht bei
ihren unerbetenen Gefolgsleuten, die sich selber aufs Wagnis berufen.
Während sie die Sublimierung des Daseinskampfs sich zur
doppelten Ehre,
der der Vergeistigung und des Mutes anrechnen, ist zugleich durch die
Verinnerlichung das Gefahrmoment neutralisiert, zu einem Ingredienz
selbstgefällig wurzelhafter, kerngesunder Weltanschauung
herabgesetzt.
Der Außenwelt steht man indifferent-überlegen
gegenüber, vorm Ernst der
Entscheidung kommt sie gar nicht in Betracht; so wird sie gelassen, wie
sie ist, und am Ende doch anerkannt. Die wilden Ausdrücke sind
kunstgewerblicher Schmuck wie die Kaurimuscheln der
Gymnastikmädchen,
mit denen die Ringer so gern sich zusammenfinden. Der Schwertertanz ist
vorentschieden. Ganz gleich, ob der Imperativ siegt oder das Recht des
Individuums - ob es dem Kandidaten gelingt, vom persönlichen
Gottesglauben sich zu befreien oder ihn wieder zu gewinnen, ob er dem
Abgrund des Seins gegenübersteht oder dem
erschütternden Erlebnis des
Sinnes, er fällt auf die Füße. Denn die
Macht, welche die Konflikte
lenkt, das Ethos von Verantwortung und Aufrichtigkeit, ist allemal
autoritärer Art, eine Maske des Staates. Wählen sie
die anerkannten
Güter, dann ist sowieso alles in Ordnung. Kommen sie zu
rebellischen
Beschlüssen, so entsprechen sie auftrumpfend der Nachfrage
nach
prächtigen, unabhängigen Männern. In jedem
Fall billigen sie als gute
Söhne die Stelle, welche sie zur Verantwortung ziehen
könnte, und in
deren Namen doch eigentlich der ganze inwendige Prozeß
angestrengt
ward: der Blick, unter dem man wie zwei ungezogene Schuljungen sich zu
balgen scheint, ist von vornherein der strafende. Kein Ringkampf ohne
Richter: die ganze Balgerei ist inszeniert von der ins Individuum
eingewanderten Gesellschaft, die zugleich den Kampf überwacht
und
mitspielt. Sie triumphiert um so fataler, je oppositioneller die
Resultate sind: Pfaffen und Oberlehrer, deren Gewissen ihnen
weltanschauliche Konfessionen abnötigte, die sie mit ihren
Behörden in
Schwierigkeiten brachten, sympathisierten stets mit Verfolgung und
Gegenrevolution. Wie dem sich selbst bestätigenden Konflikt
ein
wahnhaftes Element beigesellt ist, so liegt in der angedrehten Dynamik
der Selbstquälerei die Repression auf dem Sprunge. Sie
entfalten den
ganzen seelischen Betrieb nur, weil es ihnen nicht erlaubt ward, Wahn
und Wut draußen loszulassen, und sind bereit, den Kampf mit
dem inneren
Feind wiederum in die Tat umzusetzen, die nach ihrer Meinung ohnehin am
Anfang war. Ihr Prototyp ist Luther, der Erfinder der Innerlichkeit,
der sein Tintenfaß dem leibhaftigen Teufel, den es nicht
gibt, an den
Kopf warf und schon die Bauern und Juden meinte. Nur der
verkrüppelte
Geist braucht den Selbsthaß, um sein geistiges Wesen, das die
Unwahrheit ist, mit Brachialgewalt zu demonstrieren.
88
Dummer August. - Daß das Individuum mit Haut und Haaren
liquidiert
werde, ist noch zu optimistisch gedacht. Wäre doch in seiner
bündigen
Negation, der Abschaffung der Monade durch Solidarität,
zugleich die
Rettung des Einzelwesens angelegt, das gerade in seiner Beziehung aufs
Allgemeine erst ein Besonderes würde. Weit entfernt davon ist
der
gegenwärtige Zustand. Das Unheil geschieht nicht als radikale
Auslöschung des Gewesenen, sondern indem das geschichtlich
Verurteilte
tot, neutralisiert, ohnmächtig mitgeschleppt wird und
schmählich
hinunterzieht. Mitten unter den standardisierten und verwalteten
Menscheneinheiten West das Individuum fort. Es steht sogar unter Schutz
und gewinnt Monopolwert. Aber es ist in Wahrheit bloß noch
die Funktion
seiner eigenen Einzigkeit, ein Ausstellungsstück wie die
Mißgeburten,
welche einstmals von Kindern bestaunt und belacht wurden. Da es keine
selbständige ökonomische Existenz mehr
führt, gerät sein Charakter in
Widerspruch mit seiner objektiven gesellschaftlichen Rolle. Gerade um
dieses Widerspruchs willen wird es im Naturschutzpark gehegt, in
müßiger Kontemplation genossen. Die nach Amerika
importierten
Individualitäten, die durch den Import bereits keine mehr
sind, heißen
colorful personality. Ihr eifrig hemmungsloses Temperament, ihre
quicken Einfälle, ihre
»Originalität«,wäre es auch nur
besondere
Häßlichkeit, selbst ihr Kauderwelsch verwerten das
Menschliche als
Clownskostüm. Da sie dem universalen Konkurrenzmechanismus
unterliegen
und durch nichts anderes dem Markt sich angleichen und durchkommen
können als durch ihr erstarrtes Anderssein, so
stürzen sie sich
passioniert ins Privileg ihres Selbst und übertreiben sich
dermaßen,
daß sie vollends ausrotten, wofür sie gelten. Sie
pochen schlau auf
ihre Naivetät, welche, wie sie rasch herausbekommen, die
Maßgebenden so
gern mögen. Sie verkaufen sich als Herzenswärmer in
der kommerziellen
Kälte, schmeicheln sich ein durch aggressive Witze, die von
den
Protektoren masochistisch genossen werden, und bestätigen
durch
lachende Würdelosigkeit die ernste Würde des
Wirtsvolkes. Ähnlich mögen
die Graeculi im römischen Imperium sich benommen haben. Die
ihre
Individualität feilhalten, machen als ihr eigener Richter
freiwillig
den Urteilsspruch sich zu eigen, den die Gesellschaft über sie
verhängt
hat. So rechtfertigen sie auch objektiv das Unrecht, das ihnen
widerfuhr. Die allgemeine Regression unterbieten sie als privat
Regredierte, und selbst ihr lauter Widerstand ist meist nur ein
verschlageneres Mittel der Anpassung aus Schwäche.
89
Schwarze Post. - Wem nicht zu raten ist, ist nicht zu helfen, sagten
die Bürger, die mit dem Rat, der nichts kostet, von der Hilfe
sich
loskaufen und zugleich Macht über den Erledigten gewinnen
wollten, der
zu ihnen kam. Aber es steckte wenigstens noch der Appell an die
Vernunft darin, die im Bittenden und im nicht Gewährenden als
die
gleiche vorgestellt war und von fern an Gerechtigkeit erinnerte: wer
den klugen Rat befolgte, dem mochte zuweilen selbst ein Ausweg sich
zeigen. Das ist vorbei. Wer nicht helfen kann, sollte darum auch nicht
raten: in einer Ordnung, in der alle Mauselöcher verstopft
sind, wird
der bloße Rat unmittelbar zum Verdammungsurteil. Er
läuft unweigerlich
darauf hinaus, daß der Bittende genau das tun muß,
wogegen am
heftigsten sich sträubt, was von seinem Ich etwa noch
übrigblieb. Durch
tausend Situationen gewitzigt, weiß er denn auch schon alles,
was man
ihm raten möchte, und kommt erst, wenn er mit der Klugheit zu
Ende ist
und etwas geschehen müßte. Er wird nicht besser
dabei. Wer einmal Rat
wollte und keine Hilfe mehr findet, schließlich
überhaupt der
Schwächere, erscheint vorweg als Erpresser, dessen
Verhaltensweise in
der Tat mit der Vertrustung unaufhaltsam sich ausbreitet. Man kann das
am schärfsten an einem bestimmten Typus Fron Hilfsbereiten
beobachten,
welche die Interessen bedürftiger und ohnmächtiger
Freunde wahren, in
ihrem Eifer jedoch etwas finster Drohendes annehmen. Noch ihre letzte
Tugend, Selbstlosigkeit, ist zweideutig. Während sie zu Recht
für den
eintreten, der nicht zugrunde gehen soll, steht hinter dem beharrlichen
»Du mußt helfend schon schweigende Berufung auf die
Übermacht der
Kollektive und Gruppen, mit denen es zu verderben keiner mehr sich
leisten kann. Indem sie den Unbarmherzigen nicht auslassen, werden die
Barmherzigen zu Sendboten der Unbarmherzigkeit.
90
Taubstummenanstalt. - Während die Schulen die Menschen im
Reden drillen
wie in der ersten Hilfe für die Opfer von
Verkehrsunfällen und im Bau
von Segelflugzeugen, werden die Geschulten immer stummer. Sie
können
Vorträge halten, jeder Satz qualifiziert sie fürs
Mikrophon, vor das
sie als Stellvertreter des Durchschnitts plaziert werden, aber die
Fähigkeit miteinander zu sprechen erstickt. Sie setzte
mitteilenswerte
Erfahrung, Freiheit zum Ausdruck, Unabhängigkeit zugleich und
Beziehung
voraus. Im allumgreifenden System wird Gespräch zur
Bauchrednerei.
Jeder ist sein eigener Charlie McCarthy: daher dessen
Popularität.
Insgesamt werden die Worte den Formeln gleich, die ehedem der
Begrüßung
und dem Abschied vorbehalten waren. Ein mit Erfolg auf die
jüngsten
Desiderate hin erzogenes Mädchen etwa müßte
in jedem Augenblick genau
sagen, Evas diesem als einer »Situation« angemessen
ist, und wofür
probate Anweisungen vorliegen. Solcher Determinismus der Sprache durch
Anpassung aber ist ihr Ende: die Beziehung zwischen Sache und Ausdruck
ist durchschnitten, und wie die Begriffe der Positivisten
bloß noch
Spielmarken sein sollen, so sind die der positivistischen Menschheit
buchstäblich zu Münzen geworden. Es geschieht den
Stimmen der Redenden,
Evas der Einsicht der Psychologie zufolge der des Gewissens widerfuhr,
von deren Resonanz alle Rede lebt: sie werden bis in den feinsten
Tonfall durch einen gesellschaftlich präparierten Mechanismus
ersetzt.
Sobald er nicht mehr funktioniert, Pausen eintreten, die in den
ungeschriebenen Gesetzbüchern nicht vorgesehen waren, folgt
Panik. Um
ihretwillen hat man sich auf umständliches Spiel und andere
Freizeitbeschäftigungen verlegt, die von der Gewissenslast der
Sprache
dispensieren sollen. Der Schatten der Angst aber fällt
verhängnisvoll
über die Rede, die noch übrig ist. Unbefangenheit und
Sachlichkeit in
der Erörterung von Gegenständen verschwinden noch im
engsten Kreis, so
wie in der Politik längst die Diskussion vom Machtwort
abgelöst ward.
Das Sprechen nimmt einen bösen Gestus an. Er wird
sportifiziert. Man
will möglichst viele Punkte machen: keine Unterhaltung, in die
nicht
wie ein Giftstoff die Gelegenheit zur Wette sich eindrängte.
Die
Affekte, die im menschenwürdigen Gespräch dem
Behandelten galten,
heften sich verbohrt ans pure Rechtbehalten, außer allem
Verhältnis zur
Relevanz der Aussage. Als reine Machtmittel aber nehmen die
entzauberten Worte magische Gewalt über die an, die sie
gebrauchen.
Immer wieder kann man beobachten, daß einmal Ausgesprochenes,
mag es
noch so absurd, zufällig oder unrecht sein, weil es einmal
gesagt ward,
den Redenden als sein Besitz so tyrannisiert, daß er nicht
davon
ablassen kann. Wörter, Zahlen, Termine machen, einmal
ausgeheckt und
geäußert, sich selbständig und bringen
jedem Unheil, der in ihre Nähe
kommt. Sie bilden eine Zone paranoischer Ansteckung, und es bedarf
aller Vernunft, um ihren Bann zu brechen. Die Magisierung der
großen
und nichtigen politischen Schlagworte wiederholt sich privat, bei den
scheinbar neutralsten Gegenständen: die Totenstarre der
Gesellschaft
überzieht noch die Zelle der Intimität, die vor ihr
sich geschützt
meint. Nichts wird der Menschheit nur von außen angetan: das
Verstummen
ist der objektive Geist.
91
Vandalen. - Was seit dem Aufkommen der großen Städte
als Hast,
Nervosität, Unstetigkeit beobachtet wurde, breitet nun so
epidemisch
sich aus wie einmal Pest und Cholera. Dabei kommen Kräfte zum
Vorschein, von denen die dressierten Passanten des neunzehnten
Jahrhunderts nichts sich träumen ließen. Alle
müssen immerzu etwas
vorhaben. Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden. Sie wird
geplant,
auf Unternehmungen verwandt, mit Besuch aller möglichen
Veranstaltungen
oder auch nur mit möglichst rascher Fortbewegung
ausgefüllt. Der
Schatten davon fällt über die intellektuelle Arbeit.
Sie geschieht mit
schlechtem Gewissen, als wäre sie von irgendwelchen
dringlichen,
wenngleich nur imaginären Beschäftigungen
abgestohlen. Um sich vor sich
selbst zu rechtfertigen, praktiziert sie den Gestus des Hektischen, des
Hochdrucks, des unter Zeitnot stehenden Betriebs, der jeglicher
Besinnung, ihr selber also, im Wege steht. Oft ist es, als reservierten
die Intellektuellen für ihre eigentliche Produktion nur eben
die
Stunden, die ihnen von Verpflichtungen, Ausgängen,
Verabredungen und
unvermeidlichen Vergnügungen übrig bleiben.
Widerwärtig, doch
einigermaßen rational ist noch der Prestigegewinn dessen, der
als so
wichtiger Mann sich präsentieren kann, daß er
überall dabei sein muß.
Er stilisiert sein Leben mit absichtlich schlecht gespielter
Unzufriedenheit als einen einzigen arte de présence. Die
Freude, mit
der er eine Einladung unter Hinweis auf eine bereits akzeptierte
ablehnt, meldet den Triumph in der Konkurrenz an. Wie darin, so
wiederholen sich allgemein die Formen des Produktionsprozesses im
Privatleben oder in den von jenen Formen ausgenommenen Bereichen der
Arbeit. Das ganze Leben soll wie Beruf aussehen und durch solche
Ähnlichkeit verbergen, was noch nicht unmittelbar dem Erwerb
gewidmet
ist. Die Angst, die darin sich äußert, reflektiert
aber nur eine viel
tiefere. Die unbewußten Innervationen, die jenseits der
Denkprozesse
die individuelle Existenz auf den historischen Rhythmus einstimmen,
gewahren die heraufziehende Kollektivierung der Welt. Da jedoch die
integrale Gesellschaft nicht sowohl die Einzelnen positiv in sich
aufhebt, als vielmehr zu einer amorphen und fügsamen Masse sie
zusammenpreßt, so graut jedem Einzelnen vor dem als
unausweichlich
erfahrenen Prozeß des Aufgesaugtwerdens. Doing things and
going places
ist ein Versuch des Sensoriums, eine Art Reizschutz gegen die drohende
Kollektivierung herzustellen, auf diese sich einzuüben, indem
man
gerade in den scheinbar der Freiheit überlassenen Stunden sich
selber
als Mitglied der Masse schult. Die Technik dabei ist, die Gefahr
womöglich zu überbieten. Man lebt
gewissermaßen noch schlimmer, also
mit noch weniger Ich, als man erwartet leben zu müssen.
Zugleich lernt
man durch das spielerische Zuviel an Selbstaufgabe, daß einem
im Ernst
ohne Ich zu leben nicht schwerer fallen könnte sondern
leichter. Dabei
hat man es sehr eilig, denn beim Erdbeben wird nicht geläutet.
Wenn man
nicht mitmacht, und das will sagen, wenn man nicht leibhaft im Strom
der Menschen schwimmt, fürchtet man, wie beim allzu
späten Eintritt in
die totalitäre Partei, den Anschluß zu verpassen und
die Rache des
Kollektivs auf sich zu ziehen. Pseudoaktivität ist eine
Rückversicherung, der Ausdruck der Bereitschaft zur
Selbstpreisgabe,
durch die einzig man noch die Selbsterhaltung zu garantieren ahnt.
Sekurität winkt in der Anpassung an die
äußerste Insekurität. Sie wird
als Freibrief auf die Flucht vorgestellt, die einen möglichst
rasch an
einen anderen Ort bringt. In der fanatischen Liebe zu den Autos
schwingt das Gefühl physischer Obdachlosigkeit mit. Es liegt
dem
zugrunde, was die Bürger zu Unrecht die Flucht vor sich
selbst, vor der
inneren Leere zu nennen pflegten. Wer mit will, darf sich nicht
unterscheiden. Psychologische Leere ist selber erst das Ergebnis der
falschen gesellschaftlichen Absorption. Die Langeweile, vor der die
Menschen davonlaufen, spiegelt bloß den Prozeß des
Davonlaufens zurück,
in dem sie längst begriffen sind. Darum allein erhält
der monströse
Vergnügungsapparat sich am Leben und schwillt immer mehr auf,
ohne daß
ein einziger Vergnügen davon hätte. Er kanalisiert
den Drang dabei zu
sein, der sonst wahllos, anarchisch, als Promiskuität oder
wilde
Aggression dem Kollektiv sich an den Hals werfen würde, das
zugleich
doch aus niemand anderem besteht als aus denen unterwegs. Am
nächsten
verwandt sind sie den Süchtigen. Ihr Impuls reagiert exakt auf
die
Dislokation der Menschheit, wie sie von der trüben Verwischung
des
Unterschieds von Stadt und Land, der Abschaffung des Hauses,
über die
Züge von Millionen Erwerbsloser, bis zu den Deportationen und
Völkerverschiebungen im verwüsteten
europäischen Kontinent führt. Das
Nichtige, Inhaltslose aller kollektiven Rituale seit der Jugendbewegung
stellt nachträglich als tastende Vorwegnahme
übermächtiger historischer
Schläge sich dar. Die Unzähligen, die
plötzlich der eigenen abstrakten
Quantität und Mobilität, dem von der Stelle Kommen in
Schwärmen wie
einem Rauschgift verfallen, sind Rekruten der Völkerwanderung,
in deren
verwilderten Räumen die bürgerliche Geschichte zu
verenden sich
anschickt.
92
Bilderbuch ohne Bilder. - Der objektiven Tendenz der
Aufklärung, die
Macht aller Bilder über die Menschen zu tilgen, entspricht
kein
subjektiver Fortschritt des aufgeklärten Denkens zur
Bilderlosigkeit.
Indem der Bildersturm nach den metaphysischen Ideen unaufhaltsam die
ehedem als rational verstandenen, die eigentlich gedachten Begriffe
demoliert, geht das von Aufklärung entbundene und gegen Denken
geimpfte
Denken in zureite Bildlichkeit, eine bilderlose und befangene,
über.
Mitten im Netz der ganz abstrakt gewordenen Beziehungen der Menschen
untereinander und zu den Sachen entschwindet die Fähigkeit zur
Abstraktion. Die Entfremdung der Schemata und Klassifikationen von den
darunter befaßten Daten, ja die reine Quantität des
verarbeiteten
Materials, die dem Umkreis der einzelmenschlichen Erfahrung ganz
inkommensurabel geworden ist, zwingt unablässig zur
archaischen
Rückübersetzung in sinnliche Zeichen. Die
Männchen und Häuschen, die
hieroglyphenhaft die Statistik durchsetzen, mögen in jedem
Einzelfall
akzidentiell, als bloße Hilfsmittel erscheinen. Aber sie
sehen nicht
umsonst ungezählten Reklamen, Zeitungsstereotypen,
Spielzeugfiguren so
ähnlich. In ihnen siegt die Darstellung übers
Dargestellte. Ihre
übergroße, simplistische und daher falsche
Verständlichkeit bekräftigt
die Unverständlichkeit der intellektuellen Verfahren selber,
die von
deren Falschheit - der blinden begriffslosen Subsumtion - nicht
getrennt werden kann. Die allgegenwärtigen Bilder sind keine,
weil sie
das ganz Allgemeine, den Durchschnitt, das Standardmodell als je Eines,
Besonderes präsentieren zugleich und verlachen. Aus der
Abschaffung des
Besonderen wird auch noch hämisch das Besondere gemacht. Das
Verlangen
danach hat sich bereits im Bedürfnis sedimentiert und wird
allerorten
von der Massenkultur, nach dem Muster der Funnies, vervielfacht. Was
einmal Geist hieß, wird von Illustration abgelöst.
Nicht bloß daß die
Menschen sich nicht mehr vorzustellen vermögen, was ihnen
nicht
abgekürzt gezeigt und eingedrillt wird. Sogar der Witz, in dem
einmal
die Freiheit des Geistes mit den Fakten zusammenstieß und
diese
explodieren machte, ist an die Illustration übergegangen. Die
Bildwitze, welche die Magazine füllen, sind
großenteils ohne Pointe,
sinnleer. Sie bestehen in nichts anderem als in der Herausforderung des
Auges zum Wettkampf mit der Situation. Man soll, durch
ungezählte
Präzedenzfälle geschult, rascher sehn, was
»los ist«, als die
Bedeutungsmomente der Situation sich entfalten. Was von solchen Bildern
vorgemacht, vom gewitzigten Betrachter nachvollzogen wird, ist, im
Einschnappen auf die Situation, in der widerstandslosen Unterwerfung
unter die leere Übermacht der Dinge alles Bedeuten wie einen
Ballast
abzuwerfen. Der zeitgemäße Witz ist der Selbstmord
der Intention. Wer
ihn begeht, findet sich belohnt durch Aufnahme ins Kollektiv der
Lacher, welche die grausamen Dinge auf ihrer Seite haben. Wollte man
solche Witze denkend zu verstehen trachten, so bliebe man hilflos
hinterm Tempo der losgelassenen Sachen zurück, die in der
einfachsten
Karikatur noch rasen wie in der Hetzjagd am Ende des Trickfilms.
Gescheitheit wird ganz unmittelbar zur Dummheit im Angesicht des
regressiven Fortschritts. Dem Gedanken bleibt kein Verstehen als das
Entsetzen vorm Unverständlichen. Wie der besonnene Blick, der
dem
lachenden Plakat einer Zahnpastaschönheit begegnet, in ihrem
angestellten Grinsen der Qual der Folter gewahr wird, so springt ihm
aus jedem Witz, ja eigentlich aus jeder Bilddarstellung das Todesurteil
übers Subjekt das im universalen Sieg der subjektiven Vernunft
eingeschlossen liegt.
93
Intention und Abbild. - Der Pseudorealismus der Kulturindustrie, ihr
Stil, bedarf nicht erst der betrügerischen Veranstaltung der
Filmmagnaten und ihrer Lakaien, sondern wird unter den herrschenden
Bedingungen der Produktion vom Stilprinzip des Naturalismus selber
erzwungen. Wollte nämlich, etwa nach der Forderung Zolas, der
Film sich
blind der Darstellung des alltäglichen Lebens
überlassen, wie es mit
den Mitteln der bewegten Photographie und der Klangaufnahme in der Tat
durchzuführen wäre, so entstünde ein den
Sehgewohnheiten des Publikums
fremdes, diffuses, nach außen unartikuliertes Gebilde. Der
radikale
Naturalismus, den die Technik des Films nahelegt, würde
jeglichen
Sinnzusammenhang an der Oberfläche auflösen und in
den äußersten
Gegensatz zum vertrauten Realismus geraten. Der Film würde in
den
assoziativen Strom der Bilder übergehen und seine Form einzig
als deren
reine, immanente Konstruktion empfangen. Bemüht er sich jedoch
aus
kommerzieller Rücksicht, oder selbst einer sachlichen
Intention
zuliebe, statt dessen Worte und Gesten so zu wählen,
daß sie auf eine
sinnverleihende Idee bezogen werden, so gerät der vielleicht
unvermeidliche Versuch in ebenso unvermeidlichen Widerspruch mit der
naturalistischen Voraussetzung. Die geringere Dichte der Abbildlichkeit
in der naturalistischen Literatur ließ für
Intentionen noch Raum: in
dem lückenlosen Gefüge der Verdoppelung der
Realität durch die
technische Apparatur des Films wird jede Intention, und wäre
es selbst
die Wahrheit, zur Lüge. Das Wort, das dem Zuhörer den
Charakter des
Redenden oder gar die Bedeutung des Ganzen einhämmern soll,
klingt,
verglichen mit der buchstäblichen Treue des Abbilds,
»unnatürlich«. Es
rechtfertigt schon die Welt als selber gleichermaßen
sinnvolle, ehe nur
der erste planvolle Schwindel, die erste eigentliche Entstellung
begangen ist. So redet kein Mensch, so bewegt sich kein Mensch,
während
der Film immerzu urgiert, so täten es alle. Man ist in einer
Falle: der
Konformismus wird a priori vom Bedeuten an sich bewirkt,
gleichgültig
was die konkrete Bedeutung sein mag, während doch nur durch
Bedeuten
der Konformismus, die respektvolle Wiederholung des Faktischen,
erschüttert werden könnte. Wahre Intentionen
wären möglich erst beim
Verzicht auf die Intention. Daß diese und der Realismus
unvereinbar,
daß die Synthese zur Lüge wurde, liegt am Begriff
der Deutlichkeit. Er
ist zweideutig. Ungeschieden bezieht er sich auf die Organisation der
Sache als solcher und auf ihre Übermittlung ans Publikum.
Diese
Zweideutigkeit aber ist kein Zufall. Deutlichkeit bezeichnet den
Indifferenzpunkt von objektiver Vernunft und Kommunikation. In ihr ist
das Recht enthalten, daß die objektive Gestalt, der
realisierte
Ausdruck aus sich heraus nach außen sich wendet und spricht,
und das
Unrecht, die Gestalt durch Einrechnung des Angeredeten zu verderben.
Eine jede künstlerische, auch theoretische Arbeit
muß der Not solchen
Doppelsinns gewachsen sich zeigen. Deutliche Gestaltung, sei sie noch
so esoterisch, gibt dem Konsum nach; undeutliche ist dilettantisch nach
ihren immanenten Kriterien. Die Qualität entscheidet sich nach
der
Tiefe, in der das Gebilde die Alternative in sich selbst aufnimmt und
so sie meistert.
94
Staatsaktion. - Fürs Absterben der Kunst spricht die
zunehmende
Unmöglichkeit der Darstellung des Geschichtlichen.
Daß es kein
zureichendes Drama über den Faschismus gibt, liegt nicht am
Mangel an
Talent, sondern das Talent verkümmert an der
Unlösbarkeit der
dringlichsten Aufgabe des Dichters. Er hat zwischen zwei Prinzipien zu
wählen, die beide der Sache gleich unangemessen sind: der
Psychologie
und dem Infantilismus. Jene, mittlerweile ästhetisch veraltet,
ist von
den bedeutenden Künstlern als Trip und mit schlechtem Gewissen
gehandhabt worden, seitdem das neuere Drama seinen Gegenstand in der
Politik zu erblicken lernte. In Schillers Vorrede zu Fiesco
heißt es:
»Wenn es wahr ist, daß nur Empfindung Empfindung
weckt, so müßte,
däucht mich, der politische Held in eben dem Grade kein
Subjekt für die
Bühne seyn, in welchem er den Menschen hintansetzen
muß, um der
politische Held zu seyn. Es stand dabei nicht bei mir, meiner Fabel
jene lebendige Glut einzuhauchen, welche durch das lautere Produkt der
Begeisterung herrscht, aber die kalte, unfruchtbare Staatsaktion aus
dem menschlichen Herzen herauszuspinnen, und eben dadurch an das
menschliche Herz wieder anzuknüpfen - den Mann durch den
staatsklugen
Kopf zu verwickeln - und von der erfinderischen Intrigue Situationen
für die Menschheit zu entlehnen - das stand bei mir. Mein
Verhältnis
mit der bürgerlichen Welt machte mich auch mit dem Herzen
bekannter,
als mit dem Kabinett, und vielleicht ist eben diese politische
Schwäche
zu einer poetischen Tugend geworden.« Schwerlich. Die
Anknüpfung der
entfremdeten Geschichte ans menschliche Herz war schon bei Schiller ein
Vorwand, die Unmenschlichkeit der Geschichte als
menschlich-verständlich zu rechtfertigen, und wurde
dramaturgisch Lügen
gestraft, wann immer die Technik den »Mann« und den
»staatsklugen Kopf«
in eins setzte; so bei der buffonesk-zufälligen Ermordung
Leonores
durch den Verräter seiner eigenen Verschwörung. Die
Tendenz zur
ästhetischen Reprivatisierung zieht der Kunst den Boden unter
den Füßen
fort, während sie den Humanismus zu konservieren trachtet. Die
Kabalen
der allzu gut gebauten Stücke Schillers sind
ohnmächtige
Hilfskonstruktionen zwischen den Leidenschaften der Menschen und der
ihnen bereits inkommensurablen und darum in menschlichen Motivationen
nicht mehr greifbaren sozialen und politischen Realität.
Jüngst ist
daraus der Eifer der biographischen Schundliteratur geworden,
berühmte
Leute unberühmten menschlich näher zu bringen. Dem
gleichen Drang zur
falschen Vermenschlichung entspringt die berechnende
Wiedereinführung
des Plots, der Handlung als eines einstimmigen, nachvollziehbaren
Sinnzusammenhangs. Dieser wäre unter den Voraussetzungen des
photographischen Realismus im Film nicht zu halten. Indem man ihn
willkürlich restauriert, fällt man hinter die
Erfahrungen der großen
Romane zurück, von denen der Film parasitär lebt; sie
besaßen ihren
Sinn gerade in der Auflösung des Sinnzusammenhangs.
Macht man jedoch mit all dem reinen Tisch und sucht die politische
Sphäre in ihrer Abstraktheit und Außermenschlichkeit
darzustellen,
unter Ausschluß der trugvollen Vermittlungen des Inwendigen,
so fährt
man nicht besser. Denn es ist gerade die essentielle Abstraktheit
dessen, was wirklich sich ereignet, die dem ästhetischen Bilde
schlechterdings sich verweigert. Um sie überhaupt
ausdrucksfähig zu
machen, sieht der Dichter sich gezwungen, sie in eine Art
Kindersprache, in Archetypen zu übersetzen und so ein zweites
Mal
»nahezubringen« - nicht länger der
Einfühlung, aber jenen Instanzen der
auffassenden Betrachtung, die noch vor der Konstitution der Sprache
liegen, deren selbst das epische Theater nicht entraten kann. Der
Appell an diese Instanzen sanktioniert formal bereits die
Auflösung des
Subjekts in der kollektiven Gesellschaft. Das Objekt aber wird von
solcher Übersetzungarbeit kaum weniger verfälscht als
ein
Religionskrieg durch die Deduktion aus den erotischen Nöten
einer
Königin. Denn so infantil wie die simplistische Dramatik sind
heute
gerade die Menschen, deren Darstellung sie abschwört. Die
politische
Ökonomie jedoch, deren Darstellung sie sich statt dessen zur
Aufgabe
setzt, ist unverändert im Prinzip, doch in jedem ihrer Momente
so
differenziert und fortgeschritten, daß sie der schematischen
Parabel
sich entzieht. Vorgänge innerhalb der großen
Industrie als solche
zwischen gaunerhaften Gemüsehändlern zu
präsentieren, reicht eben aus
für den schnell verbrauchten Schock, nicht aber für
die dialektische
Dramatik. Die Illustration des späten Kapitalismus durch
Bilder aus dem
agraren oder kriminalistischen Vorstellungsschatz
läßt nicht das
Unwesen der heutigen Gesellschaft aus seiner Vermummung durch
komplizierte Phänomene rein hervortreten. Sondern die
Unbesorgtheit um
die Phänomene, die selber aus dem Wesen zu entfalten
wären, entstellt
das Wesen. Sie interpretiert die Machtübernahme durch die
Größten
harmlos als Machination von Rackets außerhalb der
Gesellschaft, nicht
als das Zusichselbstkommen der Gesellschaft an sich. Die
Undarstellbarkeit des Faschismus aber rührt daher,
daß es in ihm so
wenig wie in seiner Betrachtung Freiheit des Subjekts mehr gibt.
Vollendete Unfreiheit läßt sich erkennen, nicht
darstellen. Wo in
politischen Erzählungen heute Freiheit als Motiv vorkommt, wie
beim Lob
heroischen Widerstands, hat es das Beschämende der
ohnmächtigen
Versicherung. Der Ausgang wirkt allemal als durch die große
Politik
vorgezeichnet, und Freiheit selber tritt ideologisch, als Rede
über
Freiheit, mit stereotypen Deklamationen, nicht in menschlich
kommensurablen Handlungen hervor. Kunst läßt nach
der Auslöschung des
Subjekts am wenigsten durch dessen Ausstopfung sich retten, und das
Objekt, das heute ihrer allein würdig wäre, das reine
Unmenschliche,
entzieht sich ihr zugleich durch Unmaß und Unmenschlichkeit.
95
Dämpfer und Trommel. - Geschmack ist der treueste Seismograph
der
historischen Erfahrung. Wie kaum ein anderes Vermögen ist er
fähig,
sogar das eigene Verhalten aufzuzeichnen. Er reagiert gegen sich selber
und erkennt sich als geschmacklos. Künstler, die
abstoßen, schockieren,
Sprecher der ungemilderten Grausamkeit lassen in ihrer Idiosynkrasie
vom Geschmack sich leiten: das Genre Still und Fein jedoch, die
Domäne
der neuromantisch Nervösen, Sensiblen liegt selbst bei ihren
Protagonisten als so derb und ahnungslos zutage wie der Rilkevers
»Denn
Armut ist ein großer Glanz aus Innen ...« Der zarte
Schauder, das
Pathos des Verschiedenseins sind nur noch genormte Masken im Kult der
Unterdrückung. Gerade den ästhetisch avancierten
Nerven ist das
selbstgerecht Ästhetische unerträglich geworden. So
durch und durch
geschichtlich ist das Individuum, daß es mit dem feinen
Gefädel seiner
spätbürgerlichen Organisation gegen das feine
Gefädel spätbürgerlicher
Organisation zu rebellieren vermag. Im Widerwillen gegen allen
künstlerischen Subjektivismus, gegen Ausdruck und Beseeltheit
sträuben
sich die Haare gegen den Mangel an historischem Takt, nicht anders als
nur je der Subjektivismus selber vor den bürgerlichen Convenus
zurückzuckte. Noch die Absage an die Mimesis, das Innerste
Anliegen der
neuen Sachlichkeit, ist mimetisch. Das Urteil über den
subjektiven
Ausdruck wird nicht von außen gefällt, in
politisch-gesellschaftlicher
Reflexion, sondern in unmittelbaren Regungen, deren jegliche, im
Angesicht der Kulturindustrie zur Scham gezwungen, ihr Antlitz abwendet
von ihrem Spiegelbild. Obenan steht die Verfemung des erotischen
Pathos, von der die Verschiebung der lyrischen Akzente nicht weniger
Zeugnis ablegt, als die unter einem kollektiven Bann stehende
Sexualität in den Dichtungen Kafkas. In der Kunst seit dem
Expressionismus ist die Hure zur Schlüsselfigur geworden,
während sie
in der Realität ausstirbt, weil einzig an der Schamlosen das
Geschlecht
ohne ästhetische Beschämung noch gestaltet werden
kann. Solche
Verschiebungen der tiefsten Reaktionsweise haben es dahin gebracht,
daß
Kunst in ihrer individualistischen Gestalt verfiel, ohne daß
sie als
kollektive möglich wäre. Es steht nicht bei der Treue
und
Unabhängigkeit des einzelnen Künstlers, unbeirrt an
der Sphäre des
Expressiven festzuhalten und dem brutalen Zwang der Kollektivierung
sich entgegenzusetzen, sondern er muß diesen Zwang noch in
den
geheimsten Zellen seiner Isoliertheit, und wäre es gegen
seinen Willen,
verspüren, wenn er nicht durch anachronistische
Humanität hinterm
Inhumanen unwahr und hilflos zurückbleiben will. Selbst der
intransigente literarische Expressionismus, die Lyrik Stramms, die
Dramen Kokoschkas zeigen als Kehrseite ihres echten Radikalismus einen
naiven, liberal-vertrauensvollen Aspekt. Der Fortschritt über
sie
hinaus aber ist nicht weniger fragwürdig. Kunstwerke, die
wissend die
Harmlosigkeit der absoluten Subjektivität beseitigen wollen,
erheben
damit den Anspruch einer positiven Gemeinsamkeit, die nicht in ihnen
selbst gegenwärtig, sondern willkürlich zitiert ist.
Das macht sie zum
bloßen Sprachrohr des Verhängnisses und zur Beute
der letzten Naivetät,
die sie aufhebt, der, überhaupt noch Kunst zu sein. Die Aporie
der
verantwortlichen Arbeit kommt der unverantwortlichen zugute. Gelingt es
einmal, die Nerven ganz abzuschaffen, so ist gegen die Renaissance des
Liederfrühlings kein Kraut gewachsen, und der Volksfront vom
barbarischen Futurismus bis zur Ideologie des Films steht nichts mehr
im Wege.
96
Januspalast. - Wollte man sich darauf einlassen, das System der
Kulturindustrie in große welthistorische Perspektiven zu
stellen, so
wäre es als die planmäßige Ausbeutung des
uralten Bruchs zwischen den
Menschen und ihrer Kultur zu definieren. Der Doppelcharakter des
Fortschritts, der stets zugleich das Potential der Freiheit und die
Wirklichkeit der Unterdrückung entwickelte, hat es mit sich
gebracht,
daß die Völker immer vollständiger der
Naturbeherrschung und
gesellschaftlichen Organisation eingeordnet wurden, daß sie
aber
zugleich vermöge des Zwangs, den Kultur ihnen antat,
unfähig wurden,
das zu verstehen, womit Kultur über solche Integration
hinausging.
Fremd ist den Menschen das Menschliche an der Kultur geworden, das
Nächste, das ihre eigene Sache gegen die Welt vertritt. Sie
machen mit
der Welt gemeinsame Sache gegen sich, und das Entfremdetste, die
Allgegenwart der Waren, ihre eigene Herrichtung zu Anhängseln
der
Maschinerie wird ihnen zum Trugbild der Nähe. Die
großen Kunstwerke und
philosophischen Konstruktionen sind nicht um ihrer allzu
großen Distanz
vom Kern der menschlichen Erfahrung, sondern um des Gegenteils willen
unverstanden geblieben, und das Unverständnis selber
ließe leicht genug
auf allzu großes Verständnis sich
zurückführen: Scham über die Teilhabe
am universalen Unrecht, die übermächtig
würde, sobald man zu verstehen
sich gestattete. Dafür klammern sie sich an das, was ihrer
spottet,
indem es die verstümmelte Gestalt ihres Wesens durch die
Glätte seiner
eigenen Erscheinung bestätigt. Von solcher unausweichlichen
Verblendung
haben zu allen Zeiten städtischer Zivilisation Lakaien des
Bestehenden
parasitär existiert: die spätere attische
Komödie, das hellenistische
Kunstgewerbe sind schon Kitsch, auch wenn sie noch nicht über
die
Technik der mechanischen Reproduktion und jene industrielle Apparatur
verfügen, deren Urbild die Ruinen von Pompeji geradeswegs zu
beschwören
scheinen. Liest man hundert Jahre alte Unterhaltungsromane wie die
Coopers, so findet man darin rudimentär das ganze Schema von
Hollywood.
Die Stagnation der Kulturindustrie ist wahrscheinlich nicht erst das
Resultat ihrer Monopolisierung, sondern war der sogenannten
Unterhaltung von Anbeginn eigen. Der Kitsch ist jenes Gefüge
von
Invarianten, das die philosophische Lüge ihren feierlichen
Entwürfen
zuschreibt. Nichts darin darf sich grundsätzlich
ändern, weil der ganze
Unfug der Menschheit einhämmern muß, daß
nichts sich ändern darf.
Solange aber der Gang der Zivilisation planlos und anonym sich vollzog,
ist der objektive Geist jenes barbarischen Elements als eines ihm
notwendig innewohnenden sich nicht bewußt gewesen. Im Wahn,
unmittelbar
der Freiheit zu helfen, wo er die Herrschaft vermittelte, hat er es
wenigstens verschmäht, unmittelbar zu deren Reproduktion
herzuhalten.
Er hat den Kitsch, der ihn wie sein Schatten begleitete, mit einem
Eifer verfemt, in dem freilich selber wieder das schlechte Gewissen der
hohen Kultur sich ausspricht, die ahnt, daß sie es unter der
Herrschaft
nicht ist, und die vom Kitsch an ihr eigenes Unwesen erinnert wird.
Heute, da das Bewußtsein der Herrschenden mit der
Gesamttendenz der
Gesellschaft zusammenzufallen beginnt, zergeht die Spannung von Kultur
und Kitsch. Kultur schleift nicht länger ohnmächtig
ihren verachteten
Widersacher hinter sich her, sondern nimmt ihn in Regie. Indem sie die
ganze Menschheit verwaltet, verwaltet sie auch den Bruch zwischen
Menschheit und Kultur. Noch über Roheit, Stumpfheit und
Beschränktheit,
die den Unterworfenen objektiv auferlegt sind, wird mit subjektiver
Souveränität im Humor verfügt. Nichts
bezeichnet den zugleich
integralen und antagonistischen Zustand genauer als solcher Einbau der
Barbarei. Dabei aber kann der Wille der Verfügenden auf den
Weltwillen
sich berufen. Ihre Massengesellschaft hat nicht erst den Schund
für die
Kunden, sondern die Kunden selber hervorgebracht. Diese haben nach
Film, Radio und Magazin gehungert; was immer in ihnen unbefriedigt
blieb durch die Ordnung, die ihnen nimmt, ohne dafür zu geben,
was sie
verspricht, hat nur darauf gebrannt, daß der Kerkermeister
ihrer sich
erinnere und ihnen endlich mit der linken Hand Steine anbietet
für den
Hunger, dem die Rechte das Brot vorenthält. Widerstandslos
laufen seit
einem Vierteljahrhundert ältere Bürger, die noch vom
andern wissen
sollten, der Kulturindustrie zu, welche die darbenden Herzen so genau
auskalkuliert. Sie haben keinen Grund, über jene Jugend sich
zu
entrüsten, die vom Faschismus bis ins Mark verdorben worden
sei. Die
Subjektlosen, kulturell Enterbten sind die echten Erben der Kultur.
97
Monade. - Das Individuum verdankt seine Kristallisation den Formen der
politischen Ökonomie, insbesondere dem städtischen
Marktwesen. Noch als
Opponent des Drucks der Vergesellschaftung bleibt es deren eigenstes
Produkt und ihr ähnlich. Was ihm den Widerstand erlaubt, jeder
Zug von
Unabhängigkeit, entspringt im monadologischen Einzelinteresse
und
dessen Niederschlag als Charakter. Das Individuum spiegelt gerade in
seiner Individuation das vorgeordnete gesellschaftliche Gesetz der
sei's noch so sehr vermittelten Exploitation wider. Das besagt aber
auch, daß sein Verfall in der gegenwärtigen Phase
selber nicht
individualistisch, sondern aus der gesellschaftlichen Tendenz
abgeleitet werden muß, wie sie vermöge der
Individuation und nicht als
deren bloßer Feind sich durchsetzt. Daran scheidet sich die
reaktionäre
Kritik der Kultur von der anderen. Die reaktionäre erreicht
oft genug
die Einsicht in den Verfall der Individualität und die Krise
der
Gesellschaft, aber bürdet die ontologische Verantwortung
dafür dem
Individuum an sich, als einem losgelösten und inwendigen, auf:
daher
ist der Einwand der Flachheit, Glaubenslosigkeit, Substanzlosigkeit das
letzte Wort, das sie zu sagen hat, und Umkehr ihr Trost.
Individualisten wie Huxley und Jaspers verdammen das Individunm um
seiner mechanischen Leere und neurotischen Schwäche willen,
aber es ist
der Sinn ihres Verdammungsurteils, lieber noch es selber zu opfern als
Kritik am gesellschaftlichen principium individuationis zu
üben. Ihre
Polemik ist als halbe Wahrheit schon die ganze Unwahrheit. Die
Gesellschaft wird dabei als das unmittelbare Zusammenleben von Menschen
angesprochen, aus deren Haltung gleichsam das Ganze folgt, anstatt als
ein System, das sie nicht bloß umklammert und deformiert,
sondern noch
in jene Humanität hinabreicht, die sie einmal als Individuen
bestimmte.
Durch die allmenschliche Interpretation des Zustands, wie er ist, wird
noch in der Anklage die krude materielle Realität hingenommen,
die das
Menschsein an die Unmenschlichkeit bindet. In seinen besseren Tagen hat
das Bürgertum, wo es historisch reflektierte, von solcher
Verflochtenheit sehr wohl gewußt, und erst seitdem seine
Doktrin zur
sturen Apologetik gegen den Sozialismus entartet ist, hat sie daran
vergessen. Unter den Verdiensten von Jakob Burckhardts Griechischer
Kulturgeschichte ist nicht das geringste, daß er die
Verödung der
hellenistischen Individualität nicht bloß mit dem
objektiven Verfall
der Polis, sondern gerade mit dem Kultus des Individuums
zusammenbringt: »An politischen Persönlichkeiten
aber wird die Stadt
seit dem Tode des Demosthenes und des Phokion erstaunlich arm, und
nicht bloß an diesen, sondern der schon 342 in einer
attischen
Kleruchenfamilie auf Samos geborene Epikur ist überhaupt der
letzte
weltgeschichtliche Athener.« (Jakob Burckhardt, Griechische
Kulturgeschichte. Hrsg. von Jakob Oeri. Bd. 4. 3. Aufl., Stuttgart
1909, S. 515.) Der Zustand, in dem das Individuum verschwindet, ist
zugleich der fessellos individualistische, in dem Alles
möglich« ist:
»Vor allem feiert man jetzt Individuen statt
Götter.« (ibd., S. 516)
Daß die Freisetzung des Individuums durch die
ausgehöhlte Polis nicht
etwa den Widerstand stärkt, sondern ihn, ja die
Individualität selber
eliminiert, wie es dann in Diktaturstaaten sich vollendet, ist das
Modell eines der zentralen Widersprüche, die vom neunzehnten
Jahrhundert in den Faschismus trieben. Beethovens Musik, deren
Schauplatz die gesellschaftlich übermittelten Formen sind und
die,
asketisch gegen den privaten Gefühlsausdruck, widerhallt vom
bestimmt
gelenkten Echo des gesellschaftlichen Kampfes, zieht gerade aus solcher
Askese alle Fülle und Gewalt des Individuellen. Die von
Richard
Strauss, ganz dem individuellen Anspruch dienstbar und auf die
Verherrlichung des selbstgenügsamen Individuums ausgerichtet,
setzt es
eben damit zum bloßen Rezeptionsorgan des Marktes, zum
Nachbildner
unverbindlich ausgewählter Ideen und Stile herab. Innerhalb
der
repressiven Gesellschaft kommt die Emanzipation des Individuums diesem
nicht bloß zugute, sondern tut ihm Eintrag. Freiheit von der
Gesellschaft beraubt es der Kraft zur Freiheit. Denn so real es in
seiner Beziehung zu anderen sein mag, es ist, als Absolutes betrachtet,
eine bloße Abstraktion. Es hat keinerlei Inhalt, der nicht
gesellschaftlich konstituiert, keine über die Gesellschaft
hinausgehende Regung, die nicht darauf gerichtet wäre,
daß der
gesellschaftliche Zustand über sich selber hinausgeht. Noch
die
christliche Lehre von Tod und Unsterblichkeit, in der die Konzeption
der absoluten Individualität gründet, wäre
ganz nichtig, wenn sie nicht
die Menschheit einschlösse. Der Einzelne, der absolut und
für sich
allein auf Unsterblichkeit hofft, würde in solcher
Beschränkung nur das
Prinzip der Selbsterhaltung ins Widersinnige
vergrößern, dem das Wirf
weg, damit du gewinnst, Einhalt gebietet. Gesellschaftlich zeigt die
Verabsolutierung des Individuums den Übergang von der
universalen
Vermittlung des gesellschaftlichen Verhältnisses, die als
Tausch stets
zugleich auch Einschränkung des in diesem realisierten je
eigenen
Interesses erheischt, zur unmittelbaren Herrschaft an, deren die
Stärksten sich bemächtigen. Durch diese
Auflösung alles Vermittelnden
im Individuum selber, vermöge dessen es doch auch ein
Stück
gesellschaftliches Subjekt war, verarmt, verroht und regrediert es auf
den Stand des bloßen gesellschaftlichen Objekts. Als im
Hegelschen Sinn
abstrakt verwirklichtes hebt das Individuum sich selber auf: die
Zahllosen, die nichts mehr kennen als sich und ihr nacktes schweifendes
Interesse, sind die gleichen, die kapitulieren, sobald Organisation und
Terror sie einfängt. Wenn heute die Spur des Menschlichen
einzig am
Individuum als dem untergehenden zu haften scheint, so mahnt sie, jener
Fatalität ein Ende zu machen, welche die Menschen
individuiert, einzig,
um sie in ihrer Vereinzelung vollkommen brechen zu können. Das
bewahrende Prinzip ist allein noch in seinem Gegenteil aufgehoben.
98
Vermächtnis. - Dialektisches Denken ist der Versuch, den
Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen.
Aber indem es dieser Mittel sich bedienen muß, steht es in
jedem
Augenblick in Gefahr, dem Zwangscharakter selber zu verfallen: die List
der Vernunft möchte noch gegen die Dialektik sich durchsetzen.
Nicht
anders läßt das Bestehende sich
überschreiten als vermöge des
Allgemeinen, das dem Bestehenden selbst entlehnt ist. Das Allgemeine
triumphiert übers Bestehende durch dessen eigenen Begriff, und
darum
droht in solchem Triumph die Macht des bloß Seienden stets
sich
wiederherzustellen aus der gleichen Gewalt, die sie brach. Durch die
Alleinherrschaft der Negation wird nach dem Schema des immanenten
Gegensatzes die Bewegung des Gedankens wie der Geschichte eindeutig,
ausschließlich, mit unerbittlicher Positivität
geführt. Alles wird
unter die in der gesamten Gesellschaft historisch je
maßgebenden
wirtschaftlichen Hauptphasen und ihre Entfaltung subsumiert: das ganze
Denken hat etwas von dem, was Pariser Künstler le genre chef
d'oeuvre
nennen. Daß das Unheil gerade von der Stringenz solcher
Entfaltung
bewirkt wird; daß jene geradezu mit der Herrschaft
zusammenhängt, ist
in der kritischen Theorie zumindest nicht explizit, welche wie die
traditionelle vom Stufengang auch das Heil erwartet. Stringenz und
Totalität, die bürgerlichen Denkideale von
Notwendigkeit und
Allgemeinheit, umschreiben in der Tat die Formel der Geschichte, aber
eben darum schlägt in den festgehaltenen herrschaftlich
großen
Begriffen die Verfassung der Gesellschaft sich nieder, gegen welche
dialektische Kritik und Praxis sich richten. Wenn Benjamin davon
sprach, die Geschichte sei bislang vom Standpunkt des Siegers
geschrieben worden und müsse von dem der Besiegten aus
geschrieben
werden, so wäre dem hinzuzufügen, daß zwar
Erkenntnis die unselige
Geradlinigkeit der Folge von Sieg und Niederlage darzustellen hat,
zugleich aller dem sich zuwenden muß, was in solche Dynamik
nicht
einging, am Wege liegen blieb - gewissermaßen den
Abfallstoffen und
blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind. Es ist das Wesen des
Besiegten, in seiner Ohnmacht unwesentlich, abseitig, skurril zu
scheinen. Was die herrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nur
die von dieser entwickelte Potentialität, sondern ebensowohl
das, was
nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpaßte.
Die
Theorie sieht sich aufs Quere, Undurchsichtige, Unerfaßte
verwiesen,
das als solches zwar vorweg ein Anachronistisches an sich
trägt, aber
nicht aufgeht im Veralteten, weil es der historischen Dynamik ein
Schnippchen schlug. An der Kunst läßt sich das am
ehesten einsehen.
Kinderbücher wie Alice in Wonderland oder der Struwwelpeter,
vor denen
die Frage nach Fortschritt und Reaktion lächerlich
wäre, enthalten
unvergleichlich beredtere Chiffren selbst der Geschichte als die mit
der offiziellen Thematik von tragischer Schuld, Wende der Zeiten,
Weltlauf und Individuum befaßte Großdramatik
Hebbels, und in den
schnöden und albernen Klavierstücken Saties blitzen
Erfahrungen auf,
von denen die Konsequenz der Schönbergschule, hinter der alles
Pathos
der musikalischen Entwicklung steht, nichts sich träumen
läßt. Gerade
die Großartigkeit der Folgerungen mag unversehens den
Charakter des
Provinziellen annehmen. Benjamins Schriften sind der Versuch, in immer
erneutem Ansatz das von den großen Intentionen nicht bereits
Determinierte philosophisch fruchtbar zu machen. Sein
Vermächtnis
besteht in der Aufgabe, solchen Versuch nicht den verfremdenden
Rätselbildern des Gedankens einzig zu überlassen,
sondern das
Intentionslose durch den Begriff einzuholen: der Nötigung,
dialektisch
zugleich und undialektisch zu denken.
99
Goldprobe. - Unter den Begriffen, in welche die bürgerliche
Moral nach
der Auflösung ihrer religiösen und der Formalisierung
ihrer autonomen
Normen sich zusammenzieht, rangiert Echtheit obenan. Wenn nichts
anderes verbindlich mehr vom Menschen gefordert werden könne,
dann
wenigstens, daß er ganz und gar das sei, was er ist. In der
Identität
jedes Einzelnen mit sich selber wird das Postulat unbestechlicher
Wahrheit sowohl wie die Glorifizierung des Faktischen von der
aufgeklärten Erkenntnis auf die Ethik übertragen.
Gerade die kritisch
unabhängigen, der traditionellen Urteile und idealistischen
Phrasen
überdrüssigen Denker des späteren
Bürgertums stimmen darin überein.
Ibsens freilich gebrochenes Verdikt über die
Lebenslüge, Kierkegaards
Existenzlehre haben das Echtheitsideal zum Hauptstück der
Metaphysik
gemacht. In Nietzsches Analyse steht das Wort ächt bereits als
Fragloses, von der Arbeit des Begriffs Ausgenommenes. Den bekehrten und
unbekehrten Philosophen des Faschismus werden schließlich
Werte wie
Eigentlichkeit, heroisches Aushalten in der
»Geworfenheit« der
individuellen Existenz, Grenzsituation zum Mittel,
religiös-autoritäres
Pathos ohne jeglichen religiösen Inhalt zu usurpieren. Es
treibt zur
Denunziation alles dessen, was nicht kernig genug, nicht aus Schrot und
Korn sein soll, also der Juden: hat doch schon Richard Wagner die echte
deutsche Art gegen den welschen Tand ausgespielt und damit die Kritik
am Kulturmarkt für die Apologie der Barbarei
mißbraucht. Solcher
Mißbrauch ist aber dem Begriff der Echtheit nicht
äußerlich. Im
Ausverkauf seiner abgetragenen Montur kommen Nähte und
schadhafte
Stellen heraus, die in den großen Tagen der Opposition
unsichtbar schon
vorhanden waren. Die Unwahrheit steckt im Substrat von Echtheit selber,
dem Individuum. Wenn im principium individuationis, wie die Antipoden
Hegel und Schopenhauer gemeinsam erkannten, das Gesetz des Weltlaufs
sich versteckt, so wird die Anschauung von der letzten und absoluten
Substantialität des Ichs Opfer eines Scheins, der die
bestehende
Ordnung schützt, während ihr Wesen bereits
verfällt. Die Gleichsetzung
von Echtheit und Wahrheit ist nicht zu halten. Gerade die unbeirrte
Selbstbesinnung - jene Verhaltensweise, die Nietzsche Psychologie
nannte -, also die Insistenz auf der Wahrheit über einen
selber, ergibt
immer wieder, schon in den ersten bewußten Erfahrungen der
Kindheit,
daß die Regungen, auf die man reflektiert, nicht ganz
»echt« sind.
Stets enthalten sie etwas von Nachahmung, Spiel, Andersseinwollen. Der
Wille, durch Versenkung in die je eigene Individualität
anstatt durch
deren gesellschaftliche Erkenntnis auf das unbedingt Feste, aufs Sein
des Seienden zu stoßen, führt in eben die schlechte
Unendlichkeit,
welche seit Kierkegaard der Begriff der Echtheit exorzieren soll.
Keiner hat das unverblümter ausgesprochen als Schopenhauer.
Der
verdrossene Ahnherr der Existenzphilosophie und boshafte Erbe der
großen Spekulation hat in den Höhlen und Schluchten
des individuellen
Absolutismus unübertrefflich sich ausgekannt. Seine Einsicht
schließt
sich an die spekulative These an, das Individuum sei nur die
Erscheinung, nicht das Ding an sich. »Jedes
Individuum«, heißt es in
einer Fußnote aus dem vierten Buch der Welt als Wille und
Vorstellung,
»ist einerseits das Subjekt des Erkennens, das
heißt, die ergänzende
Bedingung der Möglichkeit der ganzen objektiven Welt, und
andererseits
einzelne Erscheinung des Willens, desselben, der sich in jedem Dinge
objektiviert. Aber diese Duplizität unseres Wesens ruht nicht
in einer
für sich bestehenden Einheit: sonst würden wir uns
unserer selbst an
uns selbst und unabhängig von den ObJekten des Erkennens und
Wollens
bewußt werden können: dies können wir aber
schlechterdings nicht,
sondern sobald wir, um es zu versuchen, in uns gehen und uns, indem wir
das Erkennen nach Innen richten, einmal völlig besinnen
wollen; so
verlieren wir uns in eine bodenlose Leere, finden uns gleich der
gläsernen Hohlkugel, aus deren Leere eine Stimme spricht,
deren Ursache
aber nicht darin anzutreffen ist, und indem wir so uns selbst ergreifen
wollen, erhaschen wir, mit Schaudern, nichts, als ein bestandloses
Gespenst.« (Schopenhauer, Sämtliche Werke
[Großherzog
Wilhelm-Ernst-Ausgabe]. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung. I.
Hrsg. von Eduard Grisebach. Leipzig o. J. [1920], S. 371 f.) Er hat
damit den mythischen Trug des reinen Selbst als nichtig beim Namen
gerufen. Es ist eine Abstraktion. Was als ursprüngliche
Entität, als
Monade auftritt, resultiert erst aus einer gesellschaftlichen Trennung
vom gesellschaftlichen Prozeß. Gerade als Absolutes ist das
Individuum
bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse. In
ihm wird der fiktive
Anspruch erhoben, das biologisch Eine gehe dem Sinne nach dem
gesellschaftlichen Ganzen voran, aus dem nur Gewalt es isoliert, und
seine Zufälligkeit wird fürs Maß der
Wahrheit ausgegeben. Nicht bloß
ist das Ich in die Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein
Dasein im wörtlichsten Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr,
oder
schlechterdings aus der Beziehung zum Objekt. Es wird um so reicher, je
freier es in dieser sich entfaltet und sie zurückspiegelt,
während
seine Abgrenzung und Verhärtung, die es als Ursprung
reklamiert, eben
damit es beschränkt, verarmen läßt und
reduziert. Versuche wie der
Kierkegaards, im Zurücktreten des Einzelnen in sich selber
seiner Fülle
habhaft zu werden, sind nicht umsonst
gerade aufs Opfer des Einzelnen und auf dieselbe Abstraktheit
hinausgelaufen, die er an den idealistischen Systemen diffamierte.
Echtheit ist nichts anderes als das trotzige und verstockte Beharren
auf der monadologischen Gestalt, welche die gesellschaftliche
Unterdrückung den Menschen aufprägt. Was nicht
verdorren will, nimmt
lieber das Stigma des Unechten auf sich. Es zehrt von dem mimetischen
Erbe. Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen
überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert. In solchem
Verhalten, der Urform von Liebe, wittern die Priester der Echtheit
Spuren jener Utopie, welche das Gefüge der Herrschaft zu
erschüttern
vermöchte. DaR Nietzsche, dessen Reflexion bis in den Begriff
der
Wahrheit drang, dogmatisch vor dem der Echtheit innehielt, macht ihn zu
dem, was er am letzten sein wollte, einem Lutheraner, und sein
Wüten
gegen die Schauspielerei ist vom Schlage des Antisemitismus, der an dem
Erzschauspieler Wagner ihn empörte. Nicht Schauspielerei
hätte er
Wagner vorwerfen sollen - denn alle Kunst, und Musik vorab, ist dem
Schauspiel verwandt, und in jeder Periode Nietzsches hallt das
tausendjährige Echo der Rhetorenstimmen aus dem
römischen Senat -
sondern die Verleugnung der Schauspielerei durch den Schauspieler. Ja
es wäre nicht erst das Unechte, das als seinshaltig sich
aufspielt, der
Lüge zu überführen, sondern das Echte selber
wird zur Lüge, sobald es
zum Echten überhaupt wird, also in der Reflexion auf sich, in
seiner
Setzung als Echtes, in der es bereits die Identität
überschreitet, die
es im gleichen Atemzug behauptet. Vom Selbst wäre nicht als
dem
ontologischen Grunde zu reden, sondern einzig allenfalls theologisch,
im Namen der Gottesebenbildlichkeit. Wer am Selbst festhält
und der
theologischen Begriffe sich entschlägt, trägt bei zur
Rechtfertigung
des teuflisch Positiven, des kahlen Interesses. Ihm erborgt er die Aura
des Sinnes und macht der Befehlsgewalt der selbsterhaltenden Vernunft
einen hochtrabenden Überbau, während das reale Selbst
in der Welt schon
zu dem geworden ist, als was Schopenhauer es in der Selbstversenkung
erkannte, zum Gespenst. Sein Scheincharakter läßt
sich einsehen an den
historischen Implikationen des Begriffs der Echtheit als solcher. In
ihm steckt die Vorstellung von der Suprematie des Ursprungs
übers
Abgeleitete. Die ist aber stets mit sozialem Legitimismus verbunden.
Alle Herrenschichten berufen sich darauf, älter eingesessen,
autochthon
zu sein. Die ganze Philosophie der Innerlichkeit, mit dem Anspruch der
Weltverachtung, ist die letzte Sublimierung der barbarischen
Brutalität, daß, wer zuerst da war, das
größere Recht habe, und die
Priorität des Selbst ist so unwahr wie die aller, die bei sich
zu Hause
sind. Daran ändert sich nichts, wenn Echtheit auf den
Gegensatz von
physei und thesei sich zurückzieht, darauf, daß, was
ohne menschliches
Zutun existiert, besser sei als das Artifizielle. Je dichter die Welt
vom Netz des von Menschen Gemachten überzogen wird, um so
krampfhafter
betonen die, welche es ihr antun, ihre eigene Naturwüchsigkeit
und
Primitivität. Die Entdeckung der Echtheit als letzten
Bollwerks der
individualistischen Ethik ist ein Reflex der industriellen
Massenproduktion. Erst indem ungezählte standardisierte
Güter um des
Profits willen vorspiegeln, ein Einmaliges zu sein, bildet sich als
Antithese dazu, doch nach den gleichen Kriterien, die Idee des nicht zu
Vervielfältigenden als des eigentlich Echten. Vorher
dürfte geistigen
Gebilden gegenüber die Frage nach Echtheit so wenig gestellt
worden
sein, wie die nach Originalität, welche noch der Ära
Bachs unbekannt
war. Der Trug der Echtheit geht zurück auf die
bürgerliche Verblendung
dem Tauschvorgang gegenüber. Echt erscheint, worauf die Waren
und
anderen Tauschmittel reduziert werden, Gold zumal. Wie das Gold aber
wird die von seinem Feingehalt abstrahierte Echtheit zum Fetisch. Beide
werden behandelt, als wären sie das Substrat, das doch in
Wahrheit ein
gesellschaftliches Verhältnis ist, während Gold und
Echtheit gerade nur
Fungibilität, die Vergleichbarkeit der Sachen
ausdrücken; gerade sie
sind nicht an sich, sondern für anderes. Die Unechtheit des
Echten
rührt daher, daß es in der vom Tausch beherrschten
Gesellschaft
prätendieren muß, das zu sein, wofür es
einsteht, ohne es doch je sein
zu können. Die Echtheitsapostel der Macht, die der Zirkulation
zuleibe
rückt, tanzen dieser zur Totenfeier den Geldschleiertanz.
100
Sur l'eau. - Auf die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft
erhält man Antworten wie die Erfüllung der
menschlichen Möglichkeiten
oder den Reichtum des Lebens. So illegitim die unvermeidliche Frage, so
unvermeidlich das Abstoßende, Auftrumpfende der Antwort,
welche die
Erinnerung an das sozialdemokratische Persönlichkeitsideal
vollbärtiger
Naturalisten der neunziger Jahre aufruft, die sich ausleben wollten.
Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner
mehr hungern soll. Alles
andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen
Bedürfnissen zu
bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell
der
Produktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunschbild des
ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist
eben der
Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen
Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des
Immergleichen mit
sich führt. Der Begriff der Dynamik, der zu der
bürgerlichen
»Geschichtslosigkeit« komplementär
gehört, wird zum Absoluten erhöht,
während er doch, als anthropologischer Reflex der
Produktionsgesetze,
in der emanzipierten Gesellschaft selber dem Bedürfnis
kritisch
konfrontiert werden müßte. Die Vorstellung vom
fessellosen Tun, dem
ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen
Unersättlichkeit, der
Freiheit als Hochbetrieb zehrt von jenem bürgerlichen
Naturbegriff, der
von je einzig dazu getaugt hat, die gesellschaftliche Gewalt als
unabänderliche, als ein Stück gesunder Ewigkeit zu
proklamieren. Darin
und nicht in der vorgeblichen Gleichmacherei verharrten die positiven
Entwürfe des Sozialismus, gegen die Marx sich
sträubte, in der
Barbarei. Nicht das Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben ist zu
fürchten, sondern die wüste Erweiterung des in
Allnatur vermummten
Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens.
Die naiv
unterstellte Eindeutigkeit der Entwicklungstendenz auf Steigerung der
Produktion ist selber ein Stück jener Bürgerlichkeit,
die Entwicklung
nach einer Richtung nur zuläßt, weil sie, als
Totalität
zusammengeschlossen, von Quantifizierung beherrscht, der qualitativen
Differenz feindlich ist. Denkt man die emanzipierte Gesellschaft als
Emanzipation gerade von solcher Totalität, dann werden
Fluchtlinien
sichtbar, die mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen
Spiegelungen wenig gemein haben. Wenn hemmungslose Leute keineswegs die
angenehmsten und nicht einmal die freiesten sind, so könnte
wohl die
Gesellschaft, deren Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen,
daß auch
die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen,
sondern
dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt
abgeben. Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung
überdrüssig und läßt aus Freiheit
Möglichkeiten ungenützt, anstatt
unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer
Menschheit,
welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem
Wahnhaften,
Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen
wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum
erweitert reproduzierten. Genuß selber würde davon
berührt, so wie sein
gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen,
seinen Willen
Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une
bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel
schauen, »sein,
sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und
Erfüllung« könnte an
Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so
wahrhaft das Versprechen
der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu
münden. Keiner
unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie
näher als der
vom ewigen Frieden. Zaungäste des Fortschritts wie Maupassant
und
Sternheim haben dieser Intention zum Ausdruck verholfen, so
schüchtern,
wie es deren Zerbrechlichkeit einzig verstattet ist.
Dritter Teil
1946/47
101
Treibhauspflanze. - Die Rede von Früh- und
Spätreifen, selten frei vom
Todeswunsch für jene, ist nicht stichhaltig. Wer früh
reift, lebt in
der Antizipation. Seine Erfahrung ist apriorisch, ahnende
Sensibilität,
die an Bild und Wort ertastet, was Ding und Mensch später erst
einlösen. Solche Antizipation, gesättigt gleichsam in
sich selber,
zieht von der Außenwelt ab und verleiht dem
Verhältnis zu dieser leicht
die Farbe des neurotisch Spielerischen. Ist der Frühreife mehr
als der
Besitzer von Geschicklichkeiten, so ist er darum dann gezwungen, sich
einzuholen, ein Zwang, der von den Normalen gern als moralisches Gebot
ausstaffiert wird. Mühsam muß er der Beziehung zu
den Objekten den Raum
erobern, der von seiner Vorstellung ein genommen ist: zu leiden selbst
muß er lernen. Die Fühlung mit dem Nicht-Ich, dem
angeblich spät Reifen
kaum je von innen her gestört, wird dem Frühreifen
zur Not. Die
narzißtische Triebrichtung, angezeigt vom
Übergewicht der Imagination
in seiner Erfahrung, verzögert seine Reife gerade.
Nachträglich erst
macht er Situationen, Ängste, Leidenschaften, die in der
Antizipation
überaus gemildert waren, mit krasser Gewalt durch, und sie
verwandeln
sich, im Konflikt mit seinem Narzißmus, ins krankhaft
Verzehrende. So
verfällt er dem Kindischen, das er einmal mit allzu geringer
Anstrengung bewältigt hatte und das nun seinen Preis verlangt;
er wird
unreif und reif die anderen, die auf jeder Stufe waren, wie es von
ihnen erwartet wurde, auch albern, und denen unverzeihlich
dünkt, was
nun den ehemals Frühreifen außer jeglicher
Proportion überfällt. Von
Passion wird er geschlagen; allzu lange gewiegt in der Sicherheit
seiner Autarkie, taumelt er hilflos, wo er einmal die luftigen
Brücken
baute. Nicht umsonst warnen die Hand schriften Frühreifer
durch
infantile Züge. Sie sind ein Ärgernis der naturhaften
Ordnung, und
hämische Gesundheit weidet sich an der Gefahr, die ihnen
droht, so wie
die Gesellschaft ihnen als sichtbarer Negation der Gleichung von Erfolg
und Anstrengung mißtraut. In ihrer inwendigen
Ökonomie vollzieht sich,
bewußtlos, doch unerbittlich, die Strafe, die man ihnen stets
gönnte.
Was ihnen mit trügender Gutmütigkeit vorgestreckt
war, wird gekündigt.
Noch im psychologischen Schicksal wacht eine Instanz darüber,
daß für
alles entgolten werde. Das individuelle Gesetz ist ein Vexierbild des
Äquivalententauschs.
102
Immer langsam voran. - Rennen auf der Straße hat den Ausdruck
des
Schrekens. Es ist schon das Stürzen des Opfers nachgeahmt in
seinem
Versuch, dem Sturz zu entfliehen. Die Haltung des Kopfs, der oben
bleiben möchte, ist die des Ertrinkenden, das angespannte
Gesicht
gleicht der Grimasse der Qual. Er muß geradeaus sehen, vermag
kaum
zurückzublicken, ohne zu straucheln, als
säße im Nacken der Verfolger,
dessen Antlitz erstarren läßt. Einmal rannte man vor
Gefahren, die zu
verzweifelt waren zum Standhalten, und ohne es zu wissen zeugt davon
noch, wer dem enteilenden Autobus nachläuft. Die
Verkehrsordnung
braucht mit wilden Tieren nicht mehr zu rechnen, aber sie hat das
Rennen nicht zugleich befriedet. Es verfremdet das bürgerliche
Gehen.
Die Wahrheit wird sichtbar, daß es mit der Sicherheit nichts
Rechtes
ist, daß man wie stets nur den losgelassenen Mächten
des Lebens, wären
es auch bloß Vehikel, entkommen muß. Die Gewohnheit
des Leibes ans
Gehen als das Normale stammt aus der guten alten Zeit. Es war die
bürgerliche Weise, von der Stelle zu kommen: physische
Entmythologisierung, frei vom Bann des hieratischen Schreitens, der
obdachlosen Wanderschaft, der atemlosen Flucht. Menschenwürde
bestand
auf dem Recht zum Gang, einem Rhythmus, der nicht dem Leib von Befehl
oder Schrecken abgedrungen wird. Spaziergang, Flanieren waren
Zeitvertreib des Privaten, Erbschaft des feudalen Lustwandelns im
neunzehnten Jahrhundert. Mit dem liberalen Zeitalter stirbt das Gehen
ab, selbst wo nicht Auto gefahren wird. Die Jugendbewegung, die solche
Tendenzen mit untrüglichem Masochismus ertastete, sagte den
elterlichen
Sonntagsausflügen die Fehde an und ersetzte sie durch
freiwillige
Gewaltmärsche, welche sie mittelalterlich Fahrt taufte,
während zu
dieser bald schon das Fordmodell zur Verfügung stand.
Vielleicht
verbirgt sich im Kultus der technischen Geschwindigkeiten wie im Sport
der Impuls, den Schrecken des Rennens zu meistern, indem man es vom
eigenen Leib abwendet und zugleich selbstherrlich überbietet:
der
Triumph des aufsteigenden Meilenzeigers beschwichtigt ritual die Angst
des Verfolgten. Wenn aber einem Menschen zugerufen wird:
»lauf«, vom
Kind, das der Mutter ein vergessenes Täschchen aus dem ersten
Stock
holen soll, bis zum Gefangenen, dem die Eskorte die Flucht befiehlt, um
einen Vorwand zu haben, ihn zu ermorden, dann wird die archaische
Gewalt laut, die unhörbar sonst jeden Schritt lenkt.
103
Heideknabe. - Was man ohne realen Grund, scheinbar von fixen Ideen
besessen, am meisten fürchtet, hat den schnöden Hang,
Ereignis zu
werden. Die Frage, die man um keinen Preis hören
möchte, bringt ein
Subalterner mit perfid freundlicher Teilnahme vor; die Person, von der
man die Geliebte am ängstlichsten fernzuhalten
wünscht, wird diese, und
wäre es über dreitausend Meilen Entfernung, dank
wohlmeinender
Empfehlungen gewiß einladen und jene Art von Bekanntschaften
herbeiführen, von denen die Gefahr droht. Es steht dahin,
wieweit man
selber solche Schrecken fördert; ob man etwa jene Frage durchs
allzu
eifrige Verschweigen dem Hämischen auf die Zunge legt; ob man
den
fatalen Kontakt provoziert, indem man in albern destruktivem Vertrauen
den Vermittler bittet, nicht vermitteln zu wollen. Psychologie
weiß,
daß, wer das Unheil sich ausmalt, es irgend auch will. Wieso
aber kommt
es so eifrig ihm entgegen? Auf die paranoide Phantasie spricht etwas in
der Realität an, die von jener verbogen wird. Der latente
Sadismus
aller errät untrüglich die latente Schwäche
aller. Und die
Verfolgungsphantasie steckt an: wann immer sie begegnet, sind Zuschauer
unwiderstehlich dazu getrieben, sie nachzuahmen. Das gelingt am
leichtesten, wenn man ihr zum Recht verhilft, indem man das vom anderen
Gefürchtete tut. »Ein Narr macht viele« -
die abgründige Einsamkeit des
Wahns hat eine Tendenz zur Kollektivierung, die das Wahnbild ins Leben
zitiert. Dieser pathische Mechanismus harmoniert mit dem heute
bestimmenden sozialen, daß die zur verzweifelten Isolierung
Vergesellschafteten nach Miteinandersein hungern und zu kalten Haufen
sich zusammenrotten. So wird Narrheit epidemisch: die irren Sekten
wachsen nach dem gleichen Rhythmus wie die großen
Organisationen. Es
ist der der totalen Zerstörung. Die Erfüllung der
Verfolgungsphantasien
rührt her von ihrer Affinität zum blutigen Wesen.
Gewalt, auf der
Zivilisation basiert, meint Verfolgung aller durch alle, und der
Verfolgungswahnsinnige bringt sich in Nachteil bloß, indem er
dem
Nächsten zuschiebt, was vom Ganzen angerichtet wird, im
hilflosen
Versuch, die Inkommensurabilität kommensurabel zu machen. Er
verbrennt,
weil er unmittelbar, gleichsam mit bloßen Händen,
den objektiven Wahn
greifen möchte, dem er gleicht, während das Absurde
selber gerade in
der vollendeten Mittelbarkeit besteht. Er fällt als Opfer
für den
Fortbestand des Verblendungszusammenhangs. Noch die schlimmste und
unsinnigste Vorstellung von Ereignissen, die wildeste Projektion
enthält die bewußtlose Anstrengung des
Bewußtseins, das tödliche Gesetz
zu erkennen, kraft dessen die Gesellschaft ihr Leben perpetuiert. Die
Aberration ist eigentlich nur der Kurzschluß der Anpassung:
die offene
Narretei des einen ruft irrtümlich im anderen die Narretei des
Ganzen
beim richtigen Namen, und der Paranoiker ist das Spottbild des
richtigen Lebens, indem er auf eigene Faust dem falschen es gleichzutun
beliebt. Wie aber beim Kurzschluß die Funken
sprühen, so kommunizieren
blitzhaft Wahn und Wahn in der Wahrheit. Kommunikationspunkte sind die
schlagenden Bestätigungen der Verfolgungsphantasien, die den
Erkrankten
damit äffen, daß er recht hat, und um so tiefer nur
ihn hinabstoßen.
Die Oberfläche des Daseins schließt sogleich sich
wieder und beweist
ihm, so schlimm sei es gar nicht und er verrückt. Er
antizipiert
subjektiv den Zustand, in dem, unvermittelt, der objektive Wahnsinn und
die Ohnmacht des Einzelnen ineinander übergehen, so wie der
Faschismus
als Diktatur Verfolgungswahnsinniger alle Verfolgungsängste
der Opfer
verwirklicht. Ob daher ein überspannter Verdacht paranoisch
sei oder
realitätsgerecht, das schwache private Echo des Tobens der
Geschichte,
läßt bloß nachträglich sich
entscheiden. Psychologie reicht ans Grauen
nicht heran.
104
Golden Gate. - Dem Gekränkten, Zurückgesetzten geht
etwas auf, so grell
wie heftige Schmerzen den eigenen Leib beleuchten. Er erkennt,
daß im
Innersten der verblendeten Liebe, die nichts davon weiß und
nichts
wissen darf, die Forderung des Unverblendeten lebt. Ihm geschah
unrecht; daraus leitet er den Anspruch des Rechts ab und muß
ihn
zugleich verwerfen, denn was er wünscht, kann nur aus Freiheit
kommen.
In solcher Not wird der Verstoßene zum Menschen. Wie Liebe
unabdingbar
das Allgemeine ans Besondere verrät, in dem allein jenem Ehre
widerfährt, so wendet tödlich nun das Allgemeine als
Autonomie des
Nächsten sich gegen sie. Gerade die Versagung, in der das
Allgemeine
sich durchsetzte, erscheint dem Individuum als Ausgeschlossensein vom
Allgemeinen; der Liebe verlor, weiß von allen sich verlassen,
darum
verschmäht er den Trost. In der Sinnlosigkeit des Entzuges
bekommt er
das Unwahre aller bloß individuellen Erfüllung zu
spüren. Damit aber
erwacht er zum paradoxen Bewußtsein des Allgemeinen: des
unveräußerlichen und unklagbaren Menschenrechtes,
von der Geliebten
geliebt zu werden. Mit seiner auf keinen Titel und Anspruch
gegründeten
Bitte um Gewährung appelliert er an eine unbekannte Instanz,
die aus
Gnade ihm zuspricht, was ihm gehört und doch nicht
gehört. Das
Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts,
auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet. »So
muß übervorteilt /
Albern doch überall sein die Liebe.«
1O5
Nur ein Viertelstündchen. - Schlaflose Nacht: dafür
gibt es eine
Formel, qualvolle Stunden, ohne Aussicht auf Ende und
Dämmerung
hingedehnt in der vergeblichen Anstrengung, die leere Dauer zu
vergessen. Entsetzen aber bereiten schlaflose Nächte, in denen
die Zeit
sich zusammenzieht und fruchtlos durch die Hände rinnt. Einer
löscht
das Licht aus in der Hoffnung auf lange Stunden der Ruhe, die ihm
helfen möchten. Aber während er nicht die Gedanken
beschwichtigen kann,
vergeudet sich ihm der heilsame Vorrat der Nacht, und bis er
fähig
wäre, unter den brennend geschlossenen Augen nichts mehr zu
sehen, weiß
er, daß es zu spät ist, daß ihn bald der
Morgen aufschrecken wird.
Ähnlich mag dem zum Tode Verurteilten die letzte Frist
unaufhaltsam,
ungenützt verstreichen. Was aber in solcher Kontraktion der
Stunden
sich offenbart, ist das Gegenbild der erfüllten Zeit. Wenn in
dieser
die Macht der Erfahrung den Bann der Dauer bricht und Vergangenes und
Zukünftiges in die Gegenwart versammelt, so stiftet Dauer in
der hastig
schlaflosen Nacht unerträgliches Grauen. Das Menschenleben
wird zum
Augenblick, nicht indem es Dauer aufhebt, sondern indem es zum Nichts
verfällt, zu seiner Vergeblichkeit erwacht im Angesicht der
schlechten
Unendlichkeit von Zeit selber. Im überlauten Ticken der Uhr
vernimmt
man den Spott der Äonen auf die Spanne des eigenen Daseins.
Die
Stunden, die als Sekunden schon vorbei sind, ehe der innere Sinn sie
auf gefaßt hat, und ihn fortreißen in ihrem Sturz,
melden ihm, wie er
samt allem Gedächtnis dem Vergessen geweiht ist in der
kosmischen
Nacht. Dessen werden die Menschen heute zwangshaft gewahr. Im Stande
der vollendeten Ohnmacht scheint dem Individuum, was ihm noch zu leben
gelassen ward, als kurze Galgenfrist. Es erwartet nicht, sein Leben aus
sich zu Ende zu leben. Die Aussicht auf gewaltsamen Tod und Marter,
einem jeden präsent, setzt sich fort in der Angst,
daß die Tage gezählt
sind, die Länge des eigenen Lebens unter der Statistik steht;
daß
Altwerden gleichsam zum unlauteren Vorteil ward, der dem Durchschnitt
abgelistet werden muß. Vielleicht ist die von der
Gesellschaft
widerruflich zur Verfügung gestellte Lebensquote bereits
aufgebraucht.
Solche Angst registriert der Körper in der Flucht der Stunden.
Die Zeit
fliegt.
106
Die Blümlein alle. - Der Satz, von Jean Paul wohl, die
Erinnerungen
seien der einzige Besitz, den niemand uns wegnehmen könne,
gehört in
den Vorrat des ohnmächtig sentimentalen Trostes, der die
entsagende
Zurücknahme des Subjekts in die Innerlichkeit jenem als eben
die
Erfüllung einreden möchte, von der es
abläßt. Mit der Einrichtung des
Archivs seiner selbst beschlagnahmt das Subjekt den eigenen
Erfahrungsbestand als Eigentum und macht ihn damit wieder zu einem dem
Subjekt ganz Äußerlichen. Das vergangene Innenleben
wird zum Mobiliar,
wie umgekehrt jedes Biedermeierstück geschaffen ward als
holzgewordene
Erinnerung. Das Interieur, in dem die Seele die Sammlung ihrer
Denkwürdigkeiten und Kuriositäten unterbringt, ist
hinfällig.
Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern
aufbewahren,
sondern in ihnen verflicht unauflöslich das Vergangene sich
mit dem
Gegenwärtigen. Keiner verfügt mit der Freiheit und
Willkür darüber,
deren Lob die Sätze Jean Pauls schwellt. Gerade wo sie
beherrschbar und
gegenständlich werden, wo das Subjekt ihrer ganz versichert
sich meint,
verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen
Sonnenlicht. Wo sie aber, geschützt durchs Vergessene, ihre
Kraft
bewahren, sind sie gefährdet wie alles Lebendige. Die gegen
Verdinglichung gewandte Konzeption Bergsons und Prousts, derzufolge das
Gegenwärtige, die Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs
Gedächtnis sich
konstituiert, die Wechselwirkung von Jetzt und Damals, hat darum nicht
bloß den retten den, sondern auch den infernalischen Aspekt.
Wie kein
früheres Erlebnis wirklich ist, das nicht durch
unwillkürliches
Eingedenken aus der Totenstarre seines isolierten Daseins
gelöst ward,
so ist umgekehrt keine Erinnerung garantiert, an sich seiend,
indifferent gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; kein Vergangenes
durch den Übergang in die bloße Vorstellung gefeit
vorm Fluch der
empirischen Gegenwart. Die seligste Erinnerung an einen Menschen kann
ihrer Substanz nach widerrufen werden durch spätere Erfahrung.
Wer
liebte und Liebe verrät, tut Schlimmes nicht nur dem Bilde des
Gewesenen, sondern diesem selber an. Mit unwiderstehlicher Evidenz
drängt in die Erinnerung eine unwillige Gebärde beim
Erwachen, ein
abwesender Tonfall, eine leise Hypokrisie der Lust sich ein und macht
die Nähe von einst schon zu der Fremdheit, die sie heut
geworden ist.
Verzweiflung hat den Ausdruck des Unwiderruflichen nicht, weil es nicht
noch einmal besser werden könnte, sondern weil sie die Vorzeit
selber
in ihren Schlund hineinzieht. Darum ist es töricht und
sentimental, vor
der Schmutzflut des Gegenwärtigen Vergangenes rein erhalten zu
wollen.
Diesem ist keine Hoffnung gelassen, als daß es, schutzlos dem
Unheil
ausgeliefert, aus diesem als anderes wieder hervortrete. Wer aber
verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst.
107
Ne cherchez plus mon coeur. - Der Erbe der Balzacschen Besessenheit,
Proust, dem jede mondäne Einladung den Sesam des
wiederhergestellten
Lebens aufzutun scheint, geleitet in Labyrinthe, wo
prähistorischer
Klatsch die finsteren Geheimnisse allen Glanzes ihm zuträgt,
bis dieser
unter den allzu nahen und sehnsüchtigen Augen stumpf und
rissig wird.
Aber das Placet futile, die Sorge um eine geschichtlich verurteilte
Luxusklasse, der jeder Bürger die
Überflüssigkeit vorrechnet, die
absurde Energie, die an die Verschwender sich verschwendet, findet
gründlicher sich belohnt als der unbefangene Blick
fürs Relevante. Das
Schema des Zerfalls, nach dem Proust das Bild seiner society zitiert,
erweist sich als das einer großen gesellschaftlichen
Entwicklungstendenz. Was in Charlus, Saint-Loup und Swann zugrunde
geht, ist das Gleiche, was der gesamten nachgeborenen Generation
mangelt, die den Namen des letzten Dichters schon nicht mehr kennt. Die
exzentrische Psychologie der décadence entwirft die negative
Anthropologie der Massengesellschaft: Proust gibt allergische
Rechenschaft von dem, was dann aller Liebe angetan wird. Das
Tauschverhältnis, dem sie durchs bürgerliche
Zeitalter hindurch
partiell sich widersetzte, hat sie ganz aufgesogen; die letzte
Unmittelbarkeit fällt der Ferne aller Kontrahenten von allen
zum Opfer.
Liebe erkaltet am Wert, den das Ich sich selber zuschreibt. Sein Lieben
erscheint ihm als ein mehr Lieben, und wer mehr liebt, setzt sich ins
Unrecht. Er macht sich der Geliebten verdächtig, und auf sich
selbst
zurückgeworfen, erkrankt seine Neigung an possessiver
Grausamkeit und
selbstzerstörender Einbildung. »Die Beziehung zur
Geliebten«, heißt es
im Temps retrouvé, »mag aus ganz anderem Grunde
als der Keuschheit der
Frau wegen platonisch bleiben und auch nicht um des sinnlichen
Charakters der Liebe willen, die jene einflößt.
Vielleicht ist der
Liebende im Übermaß seiner Liebe unfähig,
mit zureichender Verstellung
oder Gleichgültigkeit den Augenblick der Erfüllung
abzuwarten. Er kommt
ihr unablässig entgegen, hört nicht auf ihr zu
schreiben, sucht sie zu
sehen; sie weigert sich, und er verzweifelt. Von diesem Augenblick: an
versteht sie, daß, wenn sie ihm nur ihre Gesellschaft oder
Freundschaft
gewährt, solche Gunst dem, der die Hoffnung bereits aufgab, so
groß
erscheint, daß sie sich die Mühe ersparen darf, ihm
irgend mehr
zuzugestehen, so daß sie zuversichtlich warten mag, bis er,
unfähig,
länger sie nicht mehr zu sehen, sich bereit findet, den Krieg
um jeden
Preis zu beenden: dann kann sie einen Frieden diktieren, dessen erste
Bedingung der platonische Charakter der Beziehung ist... All das
errät
die Frau instinktiv und weiß, daß sie sich den
Luxus gestatten kann,
nie dem Manne sich zu geben, dessen unstillbares Verlangen sie
fühlt,
wenn er zu hoch geartet ist, um es ihr von Anbeginn zu
verbergen.« Der
Strichjunge Morel ist stärker als sein hochmögender
Liebhaber. »Er
behielt stets die Oberhand, wenn er sich nur versagte, und, um sich zu
versagen, genügte es ihm wahrscheinlich, sich geliebt zu
wissen.« Das
private Motiv der Balzacschen Duchesse de Langeais hat universal sich
ausgebreitet. Der Qualität eines jeden der
ungezählten Autos, die am
Sonntagabend nach New York zurückkehren, entspricht genau die
Hübschheit des Mädchens, das darin sitzt. - Die
objektive Auflösung der
Gesellschaft kommt subjektiv daran zutage, daß der erotische
Trieb zu
schwach ward, um die sich selbst erhaltenden Monaden zu verbinden, so
als ob die Menschheit die physikalische Theorie vom explodierenden
Weltall imitiere. Der frigiden Unerreichbarkeit des geliebten Wesens,
mittlerweile einer anerkannten Institution der Massenkultur, antwortet
das »unstillbare Verlangen« des Liebenden. Wenn
Casanova eine Frau
vorurteilslos nannte, so meinte er, daß keine
religiöse Konvention sie
daran hindere, sich herzuschenken; heute wäre vorurteilslos
die Frau,
die nicht länger an die Liebe glaubt, nicht übers Ohr
sich hauen läßt,
indem sie mehr investiert, als sie zurückerwarten kann.
Sexualität, um
deretwillen angeblich doch das Getriebe sich erhält, ist zu
dem Wahn
geworden, der früher in der Versagung bestand. Indem die
Einrichtung
des Lebens der ihrer selbst bewußten Lust keine Zeit mehr
läßt und sie
durch physiologische Verrichtungen ersetzt, wird das enthemmte
Geschlecht selber desexualisiert. Eigentlich wollen sie schon gar nicht
mehr den Rausch, sondern bloß noch den Entgelt, der auf der
Leistung
steht, die sie als überflüssig am liebsten einsparen
möchten.
108
Prinzessin Eidechse. - Phantasie wird entflammt von Frauen, denen
Phantasie gerade abgeht. Am farbigsten leuchtet der Nimbus derer, die
ungebrochen nach außen gewandt, ganz nüchtern sind.
Ihre Attraktion
rührt her vom Mangel des Bewußtseins ihrer selbst,
ja eines Selbst
überhaupt: Oscar Wilde hat den Namen der rätsellosen
Sphinx dafür
gefunden. Sie gleichen dem zubestimmten Bilde: je reiner sie Schein
sind, ungestört von jeder eigenen Regung, um so
ähnlicher sind sie
Archetypen, Preziosa, Peregrina, Albertine, die alle Individuation
gerade als bloßen Schein ahnen lassen und die doch immer
wieder
enttäuschen müssen durch das, was sie sind. Ihr Leben
wird aufgefaßt
wie Illustrationen oder ein ewig währendes Kinderfest, und von
solcher
Wahrnehmung widerfährt ihrem bedürftigen empirischen
Dasein Unrecht.
Storm hat das in der hintergründigen Kindergeschichte
»Pole
Poppenspäler« behandelt. Der friesische Knabe
verliebt sich in das
kleine Mädchen der Fahrenden aus Bayern. »Als ich
endlich umkehrte, sah
ich ein rotes Kleidchen mir entgegenkommen; und wirklich, und wirklich,
es war die kleine Puppenspielerin; trotz ihres verschossenen Anzugs
schien sie mir von einem Märchenglanz umgeben. Ich
faßte mir ein Herz
und redete sie an: 'Willst du spazieren gehen, Lisei?' Sie sah mich
mißtrauisch aus ihren schwarzen Augen an. 'Spazieren?'
wiederholte sie
gedehnt. 'Ach du - du bist g'scheidt!' 'Wohin willst du denn?' - 'Zum
Ellenkramer will i!' 'Willst du dir ein neues Kleid kaufen?' fragte ich
tölpelhaft genug. Sie lachte laut auf. 'Geh! Laß mi
aus! - Nein; nur so
Fetz'ln!' 'Fetz'ln, Lisei?' - 'Freili! Halt nur so Resteln zu G'wandl
für die Pupp'n; 's kost't immer nit viel!'« Die
Armut verhält Lisei
dazu, aufs Schäbige - »Fetzeln« - sich zu
richten, obwohl sie es gern
selber anders möchte. Verständnislos muß
sie allem als überspannt
mißtrauen, was nicht praktisch sich rechtfertigt. Phantasie
tritt der
Armut zu nahe. Denn das Schäbige hat Zauber nur für
den Betrachter. Und
doch bedarf Phantasie der Armut, der sie Gewalt antut: das
Glück, dem
sie nachhängt, ist den Zügen von Leiden
einbeschrieben. So heißt Sades
Justine, die von einer Falle der Tortur in die nächste
stürzt, narre
interessante Heroine, und ebenso Mignon in dem Augenblick, in dem sie
geschlagen wird, das interessante Kind. Traumprinzessin und
Prügelmädchen sind dieselbe, und sie ahnt nichts
davon. Spuren dessen
sind noch im Verhältnis der nordischen Völker zu den
südlichen: die
begüterten Puritaner suchen umsonst bei den Brunetten aus der
Fremde,
was der von ihnen kommandierte Weltlauf nicht bloß ihnen
selbst,
sondern erst recht den Vaganten abschneidet. Der Seßhafte
beneidet das
Nomadentum, die Suche nach frischen Weideplätzen, und der
grüne Wagen
ist das Haus auf Rädern, dessen Zug die Gestirne begleitet.
Infantilität, gebannt in planloser Bewegung, dem
glücklos unsteten,
momentanen Drang zum Weiterleben, steht ein fürs Unentstellte,
für
Erfüllung, und schließt sie doch aus, im Innersten
der Selbsterhaltung
gleich, von der zu erlösen sie vortäuscht. Das ist
der Zirkel der
bürgerlichen Sehnsucht nach dem Naiven. Das Seelenlose derer,
denen am
Rande der Kultur das Tägliche die Selbstbestimmung verbietet,
Anmut und
Qual zugleich, wird zur Phantasmagorie von Seele für die
Wohlbestallten, welche von Kultur lernten, der Seele sich zu
schämen.
Liebe verliert sich ans Seelenlose als an die Chiffre des Beseelten,
weil ihr die Lebendigen Schauplatz sind für die verzweifelte
Begierde
des Rettens, die nur am Verlorenen ihren Gegenstand hat: der Liebe geht
Seele erst an deren Absenz auf. So ist menschlich gerade der Ausdruck
der Augen, welche denen des Tiers am nächsten sind, der
kreaturhaften,
fern von der Reflexion des Ichs. Am Ende ist Seele selber die Sehnsucht
des Unbeseelten nach Rettung.
109
L'inutile beauté. - Frauen von besonderer Schönheit
sind zum Unglück
verurteilt. Auch solche, denen alle Bedingungen günstig sind,
denen
Geburt, Reichtum, Talent beistehen, scheinen wie verfolgt oder besessen
vom Drange zur Zerstörung ihrer selbst und aller menschlichen
Verhältnisse, in die sie eintreten. Ein Orakel stellt sie vor
die Wahl
zwischen Verhängnissen. Entweder sie tauschen klug die
Schönheit um den
Erfolg. Dann zahlen sie mit dem Glück für dessen
Bedingung; wie sie
nicht mehr lieben können, vergiften sie die Liebe zu ihnen und
bleiben
mit leeren Händen zurück. Oder das Privileg der
Schönheit gibt ihnen
Mut und Sicherheit, den Tauschvertrag aufzusagen. Sie nehmen das
Glück
ernst, das in ihnen sich verheißt, und geizen nicht mit sich,
so
bestätigt von der Neigung aller, daß sie ihren Wert
nicht erst sich
dartun müssen. In ihrer Jugend haben sie die Wahl. Das macht
sie
wahllos: nichts ist definitiv, alles läßt sogleich
sich ersetzen. Ganz
früh, ohne viel Überlegung, heiraten sie und
verpflichten damit sich
auf pedestre Bedingungen, entäußern in gewissem Sinn
sich des Privilegs
der unendlichen Möglichkeit, erniedrigen sich zu Menschen.
Zugleich
aber halten sie an dem Kindertraum der Allmacht fest, den ihnen ihr
Leben vorgaukelte, und lassen nicht ab - darin unbürgerlich -
wegzuwerfen, wofür morgen ein Besseres dasein kann. Das ist
ihr Typus
des destruktiven Charakters. Gerade daß sie einmal hors de
concours
waren, bringt sie ins Hintertreffen der Konkurrenz, die sie nun manisch
betreiben. Der Gestus der Unwiderstehlichkeit bleibt übrig,
während
diese schon zerging; Zauber zerfällt, sobald er, anstatt
bloß Hoffnung
darzustellen, sich häuslich niederläßt. Die
Widerstehliche aber ist
sogleich das Opfer: sie gerät unter die Ordnung, die sie
einmal
überflog. Ihrer Generosität wird die Strafe bereitet.
Die Verkommene
wie die Besessene sind Märtyrinnen des Glücks.
Eingegliederte Schönheit
ward mittlerweile zum kalkulabeln Element des Daseins, bloßer
Ersatz
fürs nicht existente Leben, ohne darüber im mindesten
noch
hinauszureichen. Sie hat sich und den anderen ihr
Glücksversprechen
gebrochen. Die jedoch, welche dazu steht, nimmt die Aura des Unheils an
und wird selber vom Unheil ereilt. Darin hat die aufgeklärte
Welt den
Mythos ganz und gar aufgesogen. Der Neid der Götter hat diese
überlebt.
110
Constanze. - Überall besteht die bürgerliche
Gesellschaft auf der
Anstrengung des Willens; nur die Liebe soll unwillkürlich
sein, reine
Unmittelbarkeit des Gefühls. In der Sehnsucht danach, die den
Dispens
von der Arbeit meint, transzendiert die bürgerliche Idee von
Liebe die
bürgerliche Gesellschaft. Aber indem sie das Wahre
unvermittelt im
allgemeinen Unwahren aufrichtet, verkehrt sie jenes in dieses. Nicht
bloß, daß das reine Gefühl, soweit es im
ökonomisch determinierten
System noch möglich ist, eben damit gesellschaftlich zum Alibi
für die
Herrschaft des Interesses wird und eine Humanität bezeugt, die
nicht
existiert. Sondern die Unwillkürlichkeit von Liebe selber,
auch wo sie
nicht vorweg praktisch eingerichtet ist, trägt zu jenem Ganzen
bei,
sobald sie sich als Prinzip etabliert. Soll Liebe in der Gesellschaft
eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave,
sondern nur im bewußten Widerstand. Der jedoch fordert eben
jenes
Moment von Willkür, das die Bürger, denen Liebe nie
natürlich genug
sein kann, ihr verbieten. Lieben heißt fähig sein,
die Unmittelbarkeit
sich nicht verkümmern zu lassen vom allgegenwärtigen
Druck der
Vermittlung, von der Ökonomie, und in solcher Treue wird sie
vermittelt
in sich selber, hartnäckiger Gegendruck. Nur der liebt, wer
die Kraft
hat, an der Liebe festzuhalten. Wenn der gesellschaftliche Vorteil,
sublimiert, noch die sexuelle Triebregung vorformt, durch tausend
Schattierungen des von der Ordnung Bestätigten bald diesen
bald jenen
spontan als attraktiv erscheinen läßt, dann
widersetzt dem sich die
einmal gefaßte Neigung, indem sie ausharrt, wo die
Schwerkraft der
Gesellschaft, vor aller Intrige, die dann regelmäßig
von jener in den
Dienst genommen wird, es nicht will. Es ist die Probe aufs
Gefühl, ob
es übers Gefühl hinausgeht durch Dauer, wäre
es auch selbst als
Obsession. Jene aber, die, unterm Schein der unreflektierten
Spontaneität und stolz auf die vorgebliche Aufrichtigkeit,
sich ganz
und gar dem überläßt, was sie für
die Stimme des Herzens hält, und
wegläuft, sobald sie jene Stimme nicht mehr zu vernehmen
meint, ist in
solcher souveränen Unabhängigkeit gerade das Werkzeug
der Gesellschaft.
Passiv, ohne es zu wissen, registriert sie die Zahlen, die in der
Roulette der Interessen je herauskommen. Indem sie den Geliebten
verrät, verrät sie sich selber. Der Befehl zur Treue,
den die
Gesellschaft erteilt, ist Mittel zur Unfreiheit, aber nur durch Treue
vollbringt Freiheit Insubordination gegen den Befehl der Gesellschaft.
111
Philemon und Baucis. - Der Haustyrann läßt von
seiner Frau in den
Mantel sich helfen. Eifrig besorgt sie den Liebesdienst und begleitet
ihn mit einem Blick, der sagt: was soll ich machen, laßt ihm
die kleine
Freude, so ist er nun einmal, nur ein Mann. Die patriarchale Ehe
rächt
sich an dem Herrn durch die Nachsicht, welche die Frau übt und
welche
in den ironischen Klagen über männliche Wehleidigkeit
und
Unselbständigkeit zur Formel geworden ist. Unterhalb der
verlogenen
Ideologie, welche den Mann als Überlegenen hinstellt, liegt
eine
geheime, nicht minder unwahr, die ihn zum Inferioren, zum Opfer von
Manipulation, Manövern, Betrug herabsetzt. Der Pantoffelheld
ist der
Schatten dessen, der hinaus muß ins feindliche Leben. Mit dem
gleichen
bornierten Scharfsinn wie der Gatte von der Gattin werden allgemein
Erwachsene von Kindern eingeschätzt. In dem
Mißverhältnis zwischen
seinem autoritären Anspruch und seiner Hilflosigkeit, das in
der
Privatsphäre notwendig zutage tritt, steckt ein
Lächerliches. Jedes
gemeinsam auftretende Ehepaar ist komisch, und das versucht das
geduldige Verstehen der Frau auszugleichen. Kaum eine länger
Verheiratete, die nicht durch Tuscheln über kleine
Schwächen den Gemahl
desavouierte. Falsche Nähe reizt zur Bosheit, und im Bereich
des
Konsums ist stärker, wer die Hände auf den Dingen
hat. Hegels Dialektik
von Herr und Knecht gilt nach wie vor in der archaischen Ordnung des
Hauses und wird verstärkt, weil die Frau verbissen an dem
Anachronismus
festhält. Als verdrängte Matriarchin wird sie dort
gerade zum Meister,
wo sie dienen muß, und der Patriarch braucht nur als solcher
zu
erscheinen, um Karikatur zu sein. Solche gleichzeitige Dialektik der
Zeitalter hat dem individualistischen Blick sich als »Kampf
der
Geschlechter« präsentiert. Beide Gegner haben
Unrecht. In der
Entzauberung des Mannes, dessen Macht auf dem Geldverdienen beruht, das
als menschlicher Rang sich aufspielt, drückt die Frau zugleich
die
Unwahrheit der Ehe aus, in der sie ihre ganze Wahrheit sucht. Keine
Emanzipation ohne die der Gesellschaft.
112
Et dona ferentes. - Deutsche Freiheitsphilister haben stets besonders
viel auf das Gedicht vom Gott und der Bajadere sich zugute getan, mit
der Schlußfanfare, daß Unsterbliche verlorene
Kinder mit feurigen Armen
zum Himmel emporheben. Der approbierten Großherzigkeit ist
nicht zu
trauen. Sie eignet das bürgerliche Urteil über die
käufliche Liebe
gründlich sich zu; den Effekt allväterlichen
Verstehens und Verzeihens
erzielt sie nur, indem sie die liebliche Gerettete mit schauderndem
Entzücken als Verlorene anschwärzt. Der Gnadenakt ist
an Kautelen
gebunden, die ihn illusorisch machen. Um sich die Erlösung zu
verdienen- als ob eine verdiente Erlösung überhaupt
noch eine wäre -,
darf das Mädchen selbst an »des Lagers
vergnüglicher Feier« »nicht um
Wollust noch Gewinnst« teilnehmen. Ja warum denn sonst?
Tastet nicht
die reine Liebe, die ihr zugemutet wird, plump den Zauber an, den
Goethes Tanzrhythmen um die Gestalt winden und der dann freilich selbst
durch die Rede vom tiefen Verderben nicht mehr zu tilgen ist? Aber es
soll aus ihr durchaus auch so eine gute Seele werden, die sich einmal
nur vergessen. Um ins Gehege der Humanität zugelassen zu
werden, muß
die Buhlerin, auf deren Tolerierung Humanität pocht, erst
aufhören,
eine zu sein. Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder.
Die ganze
Expedition dorthin, wo die letzten Häuser sind, ist eine Art
von
metaphysischer slumming party, eine Veranstaltung der patriarchalen
Gemeinheit, sich doppelt groß aufzuspielen, indem sie erst
die Distanz
von männlichem Geist und weiblicher Natur ins Ungemessene
steigert und
dann auch noch die Machtvollkommenheit, den selbstgeschaffenen
Unterschied zurückzunehmen, als höchste Güte
drapiert. Der Bürger
braucht die Bajadere, nicht bloß um des Vergnügens
willen, das er jener
zugleich mißgönnt, sondern um sich recht als Gott zu
fühlen. Je mehr er
sich dem Rand seines Bereiches nähert und seine Würde
vergißt, desto
krasser das Ritual der Gewalt. Die Nacht hat ihre Lust, aber die Hure
wird doch verbrannt. Der Rest ist die Idee.
113
Spielverderber. - Die von der psychologischen Allerweltsweisheit
bemerkte Affinität von Askese und Rausch, die
Haßliebe von Heiligen und
Huren hat den objektiv triftigen Grund, daß die Askese der
Erfüllung
mehr von ihrem Recht gibt als die kulturelle Abschlagszahlung.
Lustfeindschaft läßt gewiß vom
Einverständnis mit der Disziplin einer
Gesellschaft nicht sich trennen, die ihr Wesen daran hat, mehr zu
verlangen als zu gewähren. Aber es gibt auch ein
Mißtrauen gegen die
Lust aus der Ahnung heraus, jene sei keine in dieser Welt. Eine
Konstruktion Schopenhauers drückt bewußtlos etwas
von solcher Ahnung
aus. Der Übergang von der Bejahung zur Verneinung des Willens
zum Leben
geschieht in der Entfaltung des Gedankens, daß jede Hemmung
des Willens
durch ein Hindernis, »welches sich zwischen ihn und sein
einstweiliges
Ziel stellt, leidet; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung,
Wohlseyn, Glück« sei. Während aber solches
»Leiden«, Schopenhauers
intransigenter Erkenntnis zufolge, so anzuwachsen tendiert,
daß der Tod
leicht genug wünschbar werde, sei der Zustand der
»Befriedigung« selber
unbefriedigend, weil »sobald Noth und Leiden dem Menschen
eine Rast
vergönnen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er
des Zeitvertreibs
nothwendig bedarf. Was alle Lebenden beschäftigt und in
Bewegung
erhält, ist das Streben nach Daseyn. Mit dem Daseyn aber, wenn
es ihnen
gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen: daher ist das Zweite, was
sie in Bewegung setzt, das Streben, die Last des Daseyns los zu werden,
es unfühlbar zu machen, 'die Zeit zu tödten', d. h.
der Langeweile zu
entgehen.« (Schopenhauer, Sämtliche Werke
[Großherzog
Wilhelm-Ernst-Ausgabe]. Bd. I: Die Welt als Wille und Vorstellung. I.
Hrsg. von Eduard Grisebach. Leipzig o. J. [1920], S. 415.) Aber der
Begriff dieser Langeweile, zu so unvermuteter Dignität
erhoben, ist,
was Schopenhauers geschichtsfeindlicher Sinn am letzten zugestehen
möchte, durch und durch bürgerlich. Sie
gehört als Komplement zur
entfremdeten Arbeit, als Erfahrung der antithetisch »freien
Zeit«, sei
es, daß diese bloß die verausgabte Kraft
reproduzieren soll, sei es,
daß die Aneignung fremder Arbeit als Hypothek auf ihr lastet.
Die freie
Zeit bleibt der Reflex auf den dem Subjekt heteronom auferlegten
Rhythmus der Produktion, der auch in den müden Pausen
zwangshaft
festgehalten ist. Das Bewußtsein der Unfreiheit der ganzen
Existenz,
das der Druck der Anforderungen des Erwerbs, also Unfreiheit selber,
nicht aufkommen läßt, tritt erst im Intermezzo der
Freiheit hervor. Die
nostalgie du dimanche ist nicht das Heimweh nach der Arbeitswoche,
sondern nach dem von dieser emanzipierten Zustand; der Sonntag
läßt
unbefriedigt, nicht weil an ihm gefeiert wird, sondern weil sein
eigenes Versprechen unmittelbar zugleich als unerfülltes sich
darstellt; wie der englische ist jeder Sonntag es zu wenig. Wem die
Zeit qualvoll sich dehnt, der wartet vergeblich, enttäuscht
darüber,
daß es ausblieb, daß morgen schon wieder gestern
weitergeht. Die
Langeweile derer jedoch, die nichts zu arbeiten brauchen, ist davon
nicht durchaus verschieden. Gesellschaft als Totalität
verhängt über
die Verfügungsgewaltigen, was sie den anderen antun, und was
diese
nicht dürfen, erlauben jene kaum sich selber. Die
Bürger haben aus der
Sattheit, die der Seligkeit verwandt wäre, ein Schimpfwort
gemacht.
Weil die anderen hungern, will die Ideologie, daß die Absenz
von Hunger
für ordinär gilt. So klagen die Bürger den
Bürger an. Ihr eigenes
Ausgenommensein von Arbeit verwehrt das Lob der Faulheit: diese sei
langweilig. Der hektische Betrieb, den Schopenhauer meint, gilt weniger
der Unerträglichkeit des privilegierten Zustands als seiner
Ostentation, die je nach der geschichtlichen Lage den sozialen Abstand
vergrößern oder durch vorgeblich wichtige
Veranstaltungen zum Schein
herabsetzen, die Nützlichkeit der Herren bekräftigen
soll. Wenn man
sich wirklich droben langweilt, so rührt das nicht von zuviel
Glück
her, sondern davon, daß es vom allgemeinen Unglück
gezeichnet ist; vom
Warencharakter, der die Vergnügungen der Idiotie
überantwortet, von der
Roheit des Kommandos, deren Echo in der Ausgelassenheit der
Herrschenden schreckhaft tönt, schließlich von ihrer
Angst vor der
eigenen Überflüssigkeit. Keiner, der vom Profitsystem
profitiert,
vermag darin ohne Schande zu existieren, und sie entstellt noch die
unentstellte Lust, obwohl die Ausschweifungen, welche die Philosophen
beneiden, zu Zeiten gar nicht so langweilig mögen gewesen
sein, wie
jene versichern. Daß in der realisierten Freiheit Langeweile
verschwände, dafür spricht manches an Erfahrungen,
die der Zivilisation
geraubt werden. Der Satz omne animal post coitum triste ist von der
bürgerlichen Menschenverachtung ersonnen worden: nirgends mehr
als an
dieser Stelle unterscheidet das Humane sich von der
kreatürlichen
Trauer. Nicht auf den Rausch sondern auf die gesellschaftlich
approbierte Liebe folgt der Ekel: sie ist, nach Ibsens Wort, klebrig.
Dem erotisch Ergriffenen wandelt die Müdigkeit sich in die
Bitte um
Zärtlichkeit, und das momentane Unvermögen des
Geschlechts wird als
Zufälliges, der Leidenschaft ganz
Äußerliches begriffen. Nicht umsonst
hat Baudelaire die hörige erotische Obsession und die
aufleuchtende
Vergeistigung zusammengedacht und Kuß, Duft,
Gespräch gleichermaßen
unsterblich genannt. Die Vergänglichkeit von Lust, auf die
Askese sich
beruft, steht dafür ein, daß außer in den
minutes heureuses, in denen
das vergessene Leben des Liebenden in den Knien der Geliebten
widerstrahlt, Lust überhaupt noch nicht sei. Selbst die
christlichen
Denunziationen des Sexus in Tolstois Kreutzersonate können die
Erinnerung daran inmitten aller Kapuzinerpredigt nicht ganz austilgen.
Was er der sinnlichen Liebe vorhält, ist nicht nur das
großartig sich
überschlagende theologische Motiv der Selbstverleugnung,
daß kein
Mensch je einen anderen sich zum Objekt machen darf, eigentlich also
der Protest gegen die patriarchale Verfügung, sondern zugleich
auch
Eingedenken an die bürgerliche Mißgestalt des Sexus,
an dessen trübe
Verfilzung mit jeglichem materiellen Interesse, an die Ehe als
schmählichen Kompromiß, soviel auch an Rousseauschem
Ressentiment gegen
den in der Reflexion gesteigerten Genuß mit
unterläuft. Der Angriff auf
die Verlobungszeit trifft die Familienphotographie, der das Wort
Bräutigam ähnelt. »Dazu kam noch diese
widerwärtige Gewohnheit des
Konfektmitbringens, der Überladung mit allerhand
Süßigkeiten und alle
die abscheulichen Vorbereitungen zur Hochzeit: nur von der Wohnung, dem
Schlafzimmer, den Betten, von Haus- und Schlafröcken,
Wäsche,
Toiletteartikeln hörte man ringsum reden.«
Ähnlich spottet er über die
Flitterwochen, die der Enttäuschung nach dem Besuch einer
marktschreierisch empfohlenen und »höchst
uninteressanten«
Jahrmarktsbude verglichen werden. Am degout tragen weniger die
erschöpften Sinne schuld als das Institutionelle, Erlaubte,
Eingebaute,
die falsche Immanenz der Lust in einer Ordnung, von der sie zugerichtet
wird und die sie zum Todtraurigen macht in dem Augenblick, in dem sie
sie verordnet. Solcher Widerwille vermag so anzuwachsen, daß
schließlich aller Rausch inmitten der Versagungen lieber
unterbleibt,
als durch Verwirklichung an seinem Begriff zu freveln.
114
Heliotrop. - Dem, zu dessen Eltern Logierbesuch kommt, schlägt
das Herz
mit größerer Erwartung als je vor Weihnachten. Sie
gilt nicht
Geschenken sondern dem verwandelten Leben. Das Parfüm, das die
eingeladene Dame auf die Kommode stellt, während er beim
Auspacken
zusehen darf, hat den Duft, der der Erinnerung gleicht, schon wenn er
ihn zum ersten Mal atmet. Die Koffer mit den Schildern vom Suvrettahaus
und von Madonna di Campiglio sind Truhen, in denen die Edelsteine
Aladins und Ali Babas, eingehüllt in kostbare Gewebe, die
Kimonos des
Logierbesuchs, aus den Karawansereien der Schweiz und
Südtirols in
Schlafwagensänften herbeigeschleppt werden zur
gesättigten Betrachtung.
Und wie im Märchen Feen zu Kindern reden, so redet der Besuch
ernsthaft, ohne Herablassung zum Kinde des Hauses. Verständig
fragt es
nach Land und Leuten, und die, für welche es nicht
täglich vertraut ist
und die nichts sieht als die Faszination in seinen Augen, antwortet ihm
mit Schicksalssprüchen von der Gehirnerweichung des Schwagers
und den
Ehehändeln des Neffen. So fühlt das Kind mit einem
Male in den
mächtigen und geheimnisvollen Bund der Erwachsenen sich
aufgenommen,
die magische Runde der vernünftigen Leute. Mit der Ordnung des
Tages -
vielleicht darf am folgenden die Schule versäumt werden - sind
auch die
Grenzen zwischen den Generationen suspendiert, und die wahre
Promiskuität ahnt, wer um elf Uhr immer noch nicht ins Bett
geschickt
wird. Der eine Besuch weiht den Donnerstag zum Fest, in dessen Rauschen
man mit der ganzen Menschheit zu Tische zu sitzen meint. Denn der Gast
kommt von weither. Sein Erscheinen verspricht dem Kind das Jenseits der
Familie und gemahnt es daran, daß diese das letzte nicht sei.
Die
Sehnsucht ins ungestalte Glück, in den Teich der Salamander
und
Störche, die das Kind mühsam zu bändigen
lernte und durch das
Schreckbild des schwarzen Mannes, des Unholds, der es
entführen will,
verstellte - hier findet es ohne Angst nun sie wieder. Mitten unter den
Seinen und ihnen befreundet erscheint die Figur dessen, was anders ist.
Die wahrsagende Zigeunerin, durch die Vordertür eingelassen,
wird in
der besuchenden Dame losgesprochen und verklärt sich zum
rettenden
Engel. Sie nimmt vom Glück der nächsten Nähe
den Fluch, indem sie es
der äußersten Ferne vermählt. Darauf wartet
das ganze Dasein des
Kindes, und so muß später noch warten
können, wer das Beste der
Kindheit nicht vergißt. Liebe zählt die Stunden bis
zu jener, da der
Logierbesuch über die Schwelle tritt und das
verfärbte Leben wieder
herstellt durch ein Unmerkliches: »Da bin ich wieder /
hergekommen aus
weiter Welt.«
115
Reiner Wein. - Ob ein Mensch es gut mit dir meint, dafür gibt
es ein
fast untrügliches Kriterium: wie jener unfreundliche oder
feindselige
Äußerungen über dich referiert. Meist sind
solche Berichte überflüssig,
nichts als Vorwände, Übelwollen ohne Verantwortung,
ja im Namen des
Guten durchdringen zu lassen. Wie alle Bekannten die Neigung
verspüren,
von allen gelegentlich Schlechtes zu sagen, wohl auch weil sie gegen
das Grau der Bekanntschaft aufbegehren, so ist jeder zugleich gegen die
Ansichten eines jeden empfindlich und wünscht sich insgeheim,
dort noch
geliebt zu werden, wo er selber gar nicht liebt: nicht weniger wahllos
und allgemein als die Entfremdung zwischen den Menschen ist die
Sehnsucht, sie zu durchbrechen. In diesem Klima gedeiht der Kolporteur,
dem es nie an Stoff und Unheil fehlt, und der stets damit rechnen darf,
daß, wer möchte, daß alle ihn
mögen, begierig lauert, das Gegenteil zu
erfahren. Abfällige Bemerkungen sollte man wiedergeben nur,
wenn es
unmittelbar und durchsichtig um gemeinsame Entscheidungen, die
Beurteilung von Menschen geht, auf die man sich zu verlassen, mit denen
man etwa zu arbeiten hat. Je uninteressierter der Bericht, desto
trüber
das Interesse, die verdrückte Lust, Schmerz
zuzufügen. Harmlos ist es
noch, wenn der Erzähler die beiden Kontrahenten schlicht
gegeneinander
aufhetzen und zugleich seine eigenen Qualitäten ins Licht
rücken will.
Häufiger tritt er als unausdrücklich berufenes
Mundstück der
öffentlichen Meinung auf und gibt gerade durch affektlose
Objektivität
dem Opfer die ganze Gewalt des Anonymen zu verstehen, vor dem es ducken
soll. Die Lüge wird offenbar an der unnützen Sorge um
die Ehre des
Beleidigten, der von der Beleidigung nichts weiß, um klare
Verhältnisse, um innere Reinlichkeit: sobald diese in der
verstrickten
Welt verfochten wird, befördert man seit Gregers Werle die
Verstrickung. Kraft des moralischen Eifers wird der Wohlmeinende zum
Zerstörer.
116
Und höre nur, wie bös er war. - Solche, die in
unvermutete
Lebensgefahr, jähe Katastrophen hineingerieten, berichten oft,
daß sie
zu einem überraschenden Maße frei von Angst waren.
Der allgemeine
Schrecken kehrt sich nicht spezifisch gegen sie, sondern trifft sie als
bloße Einwohner einer Stadt, Mitglieder eines
größeren Verbandes. Ins
Zufällige, gleichsam Unbeseelte schicken sie sich, als ginge
es sie
eigentlich nichts an. Psychologisch wird Angstlosigkeit durch Mangel an
Angstbereitschaft gegenüber dem
überwältigenden Schlag erklärt. Die
Freiheit der Augenzeugen hat etwas Beschädigtes, der Apathie
Verwandtes. Der psychische Organismus gleich dem Leib ist auf
Erlebnisse einer Größenordnung eingestimmt, die ihm
selber irgend
entspricht. Steigert der Gegenstand der Erfahrung sich über
die
Proportion zum Individuum hinaus, so erfährt es ihn eigentlich
gar
nicht mehr, sondern registriert ihn unvermittelt, durch den
anschauungslosen Begriff, als ein ihm Äußerliches,
Inkommensurables, zu
dem es so kalt sich verhält, wie der katastrophische Schock zu
ihm. Im
Moralischen gibt es ein Analogon dazu. Wer Handlungen begeht, die nach
den anerkannten Normen als großes Unrecht gelten, wie die
Rache an
Feinden, die Verweigerung von Mitleid, wird dabei kaum der Schuld
spontan sich bewußt sein und eher diese mit mühsamer
Anstrengung sich
selbst vergegenwärtigen. Die Lehre von der Staatsraison, die
Trennung
von Moral und Politik ist nicht unberührt von diesem
Sachverhalt. In
seinem Sinne faßt sie den extremen Gegensatz von
öffentlichem Wesen und
Einzelexistenz auf. Der große Frevel stellt in weitem
Maß dem
Individuum als bloßes Vergehen gegen die Konvention sich dar,
nicht
bloß weil jene Normen, die er verletzt, selber ein
Konventionelles,
Erstarrtes, für das lebendige Subjekt Unverbindliches haben,
sondern
weil ihre Objektivierung als solche, auch wo ihnen Substanz zugrunde
liegt, sie der moralischen Innervation, dem Umkreis des Gewissens
entrückt. Der Gedanke an einzelne Taktlosigkeiten jedoch,
Mikroorganismen des Unrechts, die vielleicht kein anderer bemerkte:
daß
man auf einer Gesellschaft zu früh an einen Tisch sich setzte,
oder bei
einem Tee Kärtchen mit den Namen der Gäste auf ihre
Plätze legte, wie
es erst beim Diner sich gehört - solche Lappalien
mögen den
Delinquenten mit unbezwinglicher Reue und leidenschaftlich schlechtem
Gewissen erfüllen, zuweilen mit so brennender Scham,
daß er sie keinem
Menschen und am liebsten nicht einmal sich selbst eingestünde.
Er ist
dabei keineswegs durchaus edel, denn er weiß, daß
die Gesellschaft
gegen Unmenschlichkeit gar nichts, gegen falsches Benehmen um so mehr
einzuwenden hat, und daß ein Mann, der die kleine Freundin
wegschickt
und als rechter Herr sich bewährt, der sozialen Sanktion
sicher sein
kann, einer aber, der einem gar zu jungen Mädchen von Familie
respektvoll die Hand küßt, der
Lächerlichkeit sich aussetzt. Jedoch die
luxuriös narzißtischen Sorgen gewähren noch
einen zweiten Aspekt: den
des Refugiums der von der vergegenständlichten Ordnung
zurückprallenden
Erfahrung. An die kleinsten Züge des Verfehlten oder Korrekten
reicht
das Subjekt heran und vermag an ihnen als richtig oder falsch
handelndes sich zu bewähren; seine Indifferenz gegen die
sittliche
Schuld aber ist getönt von dem Bewußtsein,
daß die Ohnmacht der eigenen
Entscheidung anwächst mit der Dimension ihres Gegenstands.
Stellt man
nachträglich fest, daß man damals, als man mit der
Freundin im Bösen
auseinanderging, ohne sie wieder anzurufen, in der Tat sie
verstoßen
habe, so wohnt der Vorstellung davon ein leicht Komisches inne; es
klingt wie die Stumme von Portici. »Murder«,
heißt es in einem
Detektivroman von Ellery Queen, »is so ... newspapery. It
doesn't
happen to you. You read about it in a paper, or in a detective story,
and it makes you wriggle with disgust, or sympathy. But it doesn't mean
anything.« Autoren wie Thomas Mann haben daher
zeitungsfähige
Katastrophen, vom Eisenbahnunglück bis zur Mordtat der
Verschmähten,
grotesk beschrieben und gleichsam das Lachen, das die feierliche
Hauptbegebenheit wie das Begräbnis unwiderstehlich sonst
provoziert,
gebannt, indem sie es zur Sache des poetischen Subjekts machten. Im
Gegensatz dazu sind die minimalen Verstöße darum so
relevant, weil wir
in ihnen gut und böse sein können, ohne
darüber zu lächeln, wäre auch
unser Ernst ein wenig wahnhaft. An ihnen lernen wir mit dem Moralischen
umgehen, es bis in die Haut hinein - als Erröten -
spüren, dem Subjekt
es zueignen, das auf das gigantische Sittengesetz in sich so hilflos
blickt wie auf den gestirnten Himmel, den jenes schlecht nachahmt.
Daß
jene Begegnisse an sich amoralisch seien, während doch auch
spontan
gute Regungen, menschliche Teilnahme ohne das Pathos der Maxime sich
ereigneten, entwertet nicht die Verliebtheit ins Geziemende. Denn indem
die gute Regung, ohne um Entfremdung sich zu kümmern, das
Allgemeine
geradenwegs ausdrückt, läßt sie leicht
genug das Subjekt als ein sich
selbst Entfremdetes, als bloßen Agenten der Gebote
hervortreten, mit
denen es sich eins dünkt: als prächtigen Menschen.
Umgekehrt vermag
der, dessen moralischer Impuls aufs ganz Äußerliche,
die fetischisierte
Konvention anspricht, im Leiden an der unüberwindlichen
Divergenz von
innen und außen, die er in ihrer Verhärtung
festhält, das Allgemeine zu
ergreifen, ohne sich selber und die Wahrheit seiner Erfahrung
darüber
zu opfern. Seine Überspannung aller Distanzen meint die
Versöhnung.
Dabei verhält der Monomane sich nicht ohne einige
Rechtfertigung durch
den Gegenstand. In der Sphäre des Umgangs, auf die er sich
kapriziert,
kehren alle Aporien des falschen Lebens wieder, und seine Verranntheit
hat es mit dem Ganzen zu tun, nur daß er hier den sonst
seiner
Reichweite entrückten Konflikt paradigmatisch, in Strenge und
Freiheit
austragen kann. Wer dagegen seiner Reaktionsweise nach mit der
gesellschaftlichen Realität konformiert, dessen Privatleben
gebärdet
sich genau so formlos, wie die Abschätzung der
Machtverhältnisse ihre
Form ihm aufzwingt. Er hat die Neigung, wo immer er der Aufsicht durch
die Außenwelt entzogen ist, wo immer er im erweiterten
Umkreis des
eigenen Ichs zu Hause sich fühlt, rücksichtslos und
brutal aufzutreten.
An denen, die ihm nahe sind, rächt er sich für alle
Disziplin und allen
Verzicht auf die unmittelbare Äußerung der
Aggression, den die Fernen
ihm auferlegen. Er verhält sich nach außen, gegen
die objektiven Feinde
höflich und freundlich, in Freundesland aber kalt und
feindselig. Wo
ihn nicht Zivilisation als Selbsterhaltung zur Zivilisation als
Humanität nötigt, läßt er seiner
Wut gegen diese freien Lauf und
widerlegt die eigene Ideologie von Heim, Familie und Gemeinschaft.
Dagegen geht die mikrologisch verblendete Moral an. Sie wittert im
entspannt Familiären, Formlosen den bloßen Vorwand
der Gewalt, die
Berufung darauf, wie gut man miteinander sei, um nach Herzenslust
böse
sein zu können. Sie unterwirft das Intime dem kritischen
Anspruch, weil
Intimitäten entfremden, die unwägbar feine Aura des
anderen antasten,
die ihn zum Subjekt erst krönt. Einzig durch die Anerkennung
von Ferne
im Nächsten wird Fremdheit gemildert: hineingenommen ins
Bewußtsein.
Der Anspruch ungeschmälerter, je schon erreichter
Nähe jedoch, die
Verleugnung der Fremdheit gerade, tut dem andern das
äußerste Unrecht
an, negiert ihn virtuell als besonderen Menschen und damit das
Menschliche in ihm, »rechnet ihn dazu«, verleibt
ihn dem Inventar des
Besitzes ein. Wo das Unmittelbare sich selber setzt und verschanzt,
setzt eben dadurch die schlechte Mittelbarkeit der Gesellschaft
hintersinnig sich durch. Der Sache von Unmittelbarkeit nimmt einzig
noch die behutsamste Reflexion sich an. Darauf wird die Probe im
Kleinsten gemacht.
117
Il servo padrone. - Zu den stumpfsinnigen Leistungen, welche die
herrschaftliche Kultur von den Unterklassen verlangt, werden diese
fähig allein durch permanente Regression. Gerade das
Ungeformte an
ihnen ist Produkt der gesellschaftlichen Form. Die Erzeugung von
Barbaren durch die Kultur ist aber stets von dieser dazu ausgenutzt
worden, ihr eigenes barbarisches Wesen am Leben zu erhalten. Herrschaft
delegiert die physische Gewalt, auf der sie beruht, an Beherrschte.
Während diesen die Genugtuung zuteil wird, ihre verbogenen
Instinkte
als das kollektiv Rechte und Billige auszutoben, lernen sie zu
verüben,
wessen die Edlen bedürfen, damit sie es sich leisten
können, edel zu
bleiben. Die Selbsterziehung der herrschenden Clique mit allem, was sie
an Disziplin, Abdrosselung jeder unmittelbaren Regung, zynischer
Skepsis und blinder Kommandolust erheischt, käme nicht
zustande, wenn
nicht die Unterdrücker durch gedungene Unterdrückte
sich selber ein
Stück der Unterdrückung bereiteten, die sie den
anderen bereiten. Daher
wohl sind die psychologischen Differenzen zwischen den Klassen so viel
geringer als die objektiv-ökonomischen. Die Harmonie des
Unversöhnlichen kommt dem Fortbestand der schlechten
Totalität zugute.
Die Gemeinheit des Vorgesetzten und die Schneidigkeit des Gemeinen
verstehen sich. Von den Dienstboten und Gouvernanten, die Kinder aus
guten Häusern dem Ernst des Lebens zuliebe schikanieren,
über die
Lehrer aus dem Westerwald, die ihnen wie den Gebrauch der
Fremdwörter
so die Lust an aller Sprache austreiben, über die Beamten und
Angestellten, die sie Schlange stehen lassen, die Unteroffiziere, die
sie treten, geht es schnurstracks zu den Folterknechten der Gestapo und
den Bürokraten der Gaskammern. Auf die Delegierung der Gewalt
an die
Unteren sprechen früh die Regungen der Oberen selber an. Wem
es bei der
Wohlerzogenheit der Eltern graut, flüchtet in die
Küche und wärmt sich
an den Kraftausdrücken der Köchin, die insgeheim das
Prinzip der
elterlichen Wohlerzogenheit abgeben. Die feinen Leute zieht es zu den
unfeinen, deren Roheit trügend ihnen verheißt, worum
die eigene Kultur
sie bringt. Sie wissen nicht, daß das Unfeine, das ihnen
anarchische
Natur dünkt, nichts ist als der Reflex auf den Zwang, gegen
den sie
sich sträuben. Zwischen der Klassensolidarität der
Oberen und ihrer
Anbiederung an die Abgesandten der Unterklasse vermittelt ihr
berechtigtes Schuldgefühl den Armen gegenüber. Wer
aber den Ungefügen
sich fügen lernte, wem das »So wird das hier
gemacht« bis ins Innerste
drang, der ist schließlich selbst so einer geworden.
Bettelheims
Beobachtung von der Identifikation der Opfer mit den Henkern der
Nazilager enthält das Urteil über die gehobenen
Pflanzstätten der
Kultur, die englische Public School, die deutsche Kadettenanstalt. Der
Widersinn wird durch sich selbst perpetuiert: Herrschaft erbt sich fort
durch die Beherrschten hindurch.
118
Hinunter und immer weiter. - Es scheinen die privaten Beziehungen
zwischen den Menschen nach dem Modell des industriellen bottleneck sich
zu formen. Noch in der kleinsten Gemeinschaft gehorcht das Niveau dem
Subalternsten ihrer Mitglieder. Wer in der Konversation etwa
über den
Kopf auch nur eines einzigen hinwegredet, wird taktlos. Der
Humanität
zuliebe beschränkt das Gespräch sich aufs
Nächste, Stumpfste und
Banalste, wenn nur ein Inhumaner anwesend ist. Seitdem die Welt den
Menschen die Rede verschlagen hat, behält der Unansprechbare
recht. Er
braucht bloß stur auf seinem Interesse und seiner
Beschaffenheit zu
beharren, um durchzudringen. Schon daß der andere, vergeblich
um
Kontakt bemüht, in plädierenden oder werbenden
Tonfall gerät, macht ihn
zum Schwächeren. Da das bottleneck keine Instanz kennt, die
übers
Tatsächliche sich erhöbe, während Gedanke
und Rede notwendig auf eine
solche Instanz verweisen, wird Intelligenz zur Naivetät, und
das nehmen
die Dummköpfe unwiderleglich wahr. Das Eingeschworensein aufs
Positive
wirkt als Schwerkraft, die alle hinunterzieht. Sie zeigt der
opponierenden Regung sich überlegen, indem sie in die
Verhandlung mit
dieser gar nicht mehr eintritt. Der Differenziertere, der nicht
untergehen will, bleibt zur Rücksicht auf alle
Rücksichtslosen strikt
verhalten. Von der Unruhe des Bewußtseins brauchen diese
nicht länger
sich plagen zu lassen. Geistige Schwäche, bestätigt
als universales
Prinzip, erscheint als Kraft zum Leben. Formalistisch-administratives
Erledigen, schubfächerweise Trennung alles dem Sinne nach
Untrennbaren,
verbohrte Insistenz auf der zufälligen Meinung bei Abwesenheit
jeglichen Grundes, kurz die Praktik, jeden Zug der
mißlungenen
Ichbildung zu verdinglichen, dem Prozeß der Erfahrung zu
entziehen und
als das letzte So bin ich nun einmal zu behaupten, genügt,
unbezwingliche Positionen zu erobern. Man darf des
Einverständnisses
der anderen, ähnlich Deformierten, wie des eigenen Vorteils
gewiß sein.
Im zynischen Pochen auf den eigenen Defekt lebt die Ahnung,
daß der
objektive Geist auf der gegenwärtigen Stufe den subjektiven
liquidiert.
Sie sind down to earth wie die zoologischen Ahnen, ehe diese sich auf
die Hinterbeine stellten.
119
Tugendspiegel. - Allbekannt ist der Zusammenhang von
Unterdrückung und
Moral als Triebverzicht. Aber die moralischen Ideen
unterdrücken nicht
nur die anderen, sondern sind von der Existenz der
Unterdrücker
unmittelbar deriviert. Seit Homer läßt der
griechische Sprachgebrauch
die Begriffe des Guten und des Reichen ineinander spielen. Die
Kalokagathie, die von den Humanisten der neuzeitlichen Gesellschaft als
Muster ästhetisch moralischer Harmonie vorgehalten wurde, hat
stets
schwere Akzente auf den Besitz gelegt, und die Aristotelische Politik
gesteht unbefangen die Fusion des inneren Wertes mit dem Status zu in
der Bestimmung des Adels, der »ererbter Reichtum, mit
Trefflichkeit
verbunden« sei. Die Konzeption der Polis im klassischen
Zeitalter, in
der innerliches und äußerliches Wesen, die Geltung
des Individuums im
Stadtstaat und sein Selbst als Einheit behauptet waren, hat es erlaubt,
dem Reichtum moralischen Rang zuzusprechen, ohne dabei dem groben
Verdacht sich auszusetzen, der der Doktrin damals schon
gebührt hätte.
Wenn die sichtbare Wirkung im bestehenden Staat den Maßstab
für den
Menschen abgibt, dann ist es nichts als konsequent, den materiellen
Reichtum, der ihm jene Wirkung handgreiflich bestätigt, als
Eigenschaft
ihm gutzuschreiben, da ja seine moralische Substanz selber, nicht
anders als später in Hegels Philosophie, durch seine Teilhabe
an der
objektiven, sozialen konstituiert sein soll. Erst das Christentum hat
jene Identifikation negiert im Satz, daß eher ein Kamel
durchs Nadelöhr
als ein Reicher in den Himmel komme. Aber die besondere theologische
Prämie auf freiwillig gewählte Armut zeigt an, wie
tief das allgemeine
Bewußtsein von der Moralität des Besitzes
geprägt ist. Festes Eigentum
unterscheidet von der nomadischen Unordnung, gegen die alle Norm
gerichtet ist; gut sein und Guthaben fallen von Anbeginn zusammen. Der
Gute ist, der sich selbst beherrscht als seinen eigenen Besitz: sein
autonomes Wesen ist der materiellen Verfügung nachgebildet.
Nicht
sowohl sind daher die Reichen der Unmoral zu zeihen - der Vorwurf
gehört von je zur Armatur politischer Unterdrückung
-, als ins
Bewußtsein zu heben, daß sie den anderen die Moral
darstellen. In ihr
reflektiert sich die Habe. Reichtum als Gutsein ist ein Element des
Kitts der Welt: der zähe Schein solcher Identität
verhindert die
Konfrontation der Moralideen mit der Ordnung, in der die Reichen recht
haben, während zugleich andere konkrete Bestimmungen des
Moralischen
als die vom Reichtum abgezogenen nicht konzipiert werden konnten. Je
mehr späterhin Individuum und Gesellschaft in der Konkurrenz
der
Interessen auseinander treten, und je mehr das Individuum in sich
selbst zurückgeworfen wird, um so sturer hält es an
der Vorstellung vom
moralischen Wesen des Reichtums fest. Er soll die Möglichkeit
der
Wiedervereinigung des Entzweiten, von innen und außen
verbürgen. Das
ist das Geheimnis der innerweltlichen Askese, der von Max Weber
fälschlich hypostasierten unbegrenzten Anstrengung des
Geschäftsmannes
ad majorem dei gloriam. Der materielle Erfolg verbindet Individuum und
Gesellschaft nicht bloß in dem komfortablen und mittlerweile
fraglichen
Sinn, daß der Reiche der Einsamkeit entrinnen kann, sondern
in einem
weit radikaleren: wird das blinde, isolierte Eigeninteresse nur weit
genug getrieben, so geht es mit der ökonomischen in
gesellschaftliche
Macht über und offenbart sich als Inkarnation des
allverbindenden
Prinzips. Wer reich ist oder Reichtum erwirbt, erfährt sich
als den,
der »aus eigener Kraft«, als Ich vollbringt, was
der objektive Geist,
die wahrhaft irrationale Gnadenwahl einer durch brutale
ökonomische
Ungleichheit zusammengehaltenen Gesellschaft, will. So mag denn der
Reiche als Güte sich zurechnen, was doch nur deren Absenz
bezeugt. Er
selbst und andere erfahren ihn als Verwirklichung des allgemeinen
Prinzips. Weil es die Ungerechtigkeit ist, deshalb wird der Ungerechte
regelmäßig zum Gerechten, und nicht in
bloßer Illusion, sondern
getragen von der Allmacht des Gesetzes, nach dem die Gesellschaft sich
reproduziert. Reichtum des Einzelnen ist untrennbar vom Fortschritt in
der Gesellschaft der »Vorgeschichte«. Die Reichen
verfügen über die
Produktionsmittel. Die technischen Fortschritte, an denen die
Gesamtgesellschaft partizipiert, werden daher primär als
»ihre«
Fortschritte, heute die der Industrie verbucht, und die Fords
erscheinen notwendig zugleich um ebensoviel als Wohltäter, wie
sie es
im Rahmen der bestehenden Produktionsverhältnisse
tatsächlich auch
sind. Ihr vorweg etabliertes Privileg läßt es
aussehen, als gäben sie
von dem Ihren - nämlich den Zuwachs auf der Gebrauchswertseite
- ab,
während sie in den von ihnen verwalteten Segnungen doch nur
Teile des
Gewinns zurückfließen lassen. Das ist der Grund des
Verblendungscharakters der moralischen Hierarchie. Wohl ist Armut stets
verherrlicht worden als Askese, die gesellschaftliche Bedingung zum
Erwerb eben des Reichtums, in dem Sittlichkeit sich manifestiere, aber
trotzdem bedeutet, wie man weiß, »What a man is
worth« das Bankkonto
und im Jargon des deutschen Handelsverkehrs »der Mann ist
gut«, daß er
zahlen kann. Was jedoch die Staatsraison der allmächtigen
Wirtschaft so
zynisch einbekennt, das reicht uneingestanden in die Verhaltensweisen
der Einzelnen. Generosität im privaten Verkehr, wie sie
vermeintlich
die Reichen sich leisten können, der Abglanz von
Glück, der auf ihnen
ruht, und von dem etwas noch auf jene fällt, die sie
heranlassen, all
das wirkt am Schleier. Sie bleiben nett, the right people, die besseren
Leute, die Guten. Reichtum distanziert vom unmittelbaren Unrecht. Der
Schutzmann schlägt mit dem Gummiknüppel auf den
Streikenden los, der
Sohn des Fabrikanten darf gelegentlich mit dem progressiven
Schriftsteller Whisky trinken. Nach allen Desideraten der privaten
Moral, und wären es die avanciertesten, könnte der
Reiche, wenn er es
nur könnte, in der Tat stets besser sein als der Arme. Jene
real
freilich ungenützte Möglichkeit spielt ihre Rolle in
der Ideologie
derer, die sie nicht haben: noch dem ertappten Hochstapler, der
immerhin den legitimen Trustherren vorzuziehen sein mag, wird
nachgerühmt, er habe doch ein so schönes Haus gehabt,
und der
hochbezahlte executive wird zum warmen Menschen, wenn er opulente
Abendessen serviert. Die barbarische Erfolgsreligion von heute ist
demnach nicht einfach widermoralisch, sondern in ihr findet das
Abendland heim zu den ehrwürdigen Sitten der Väter.
Selbst die Normen,
welche die Einrichtung der Welt verdammen, verdanken sich deren eigenem
Unwesen. Alle Moral hat sich am Modell der Unmoral gebildet und bis
heute auf jeder Stufe diese wiederhergestellt. Die Sklavenmoral ist
schlecht in der Tat: sie ist immer noch Herrenmoral.
120
Rosenkavalier. - Zu den eleganten Leuten zieht die Erwartung, sie seien
privat frei von der Gier nach Vorteil, der ihnen durch ihre Position
sowieso zufließt, und von der sturen Befangenheit in
nächsten
Verhältnissen, die selber von deren Enge bewirkt wird. Man
traut ihnen
Abenteuerlust des Gedankens, Souveränität
gegenüber der eigenen
Interessenlage, Verfeinerung der Reaktionsformen zu und meint, ihre
Empfindlichkeit wende sich wenigstens im Geist gegen die
Brutalität,
von der ihr Privileg selbst abhängt, während den
Opfern kaum auch nur
die Möglichkeit gelassen ist zu erkennen, was sie dazu macht.
Wenn aber
die Trennung von Produktion und Privatsphäre selber
schließlich als ein
Stück notwendigen gesellschaftlichen Scheins sich erweist, so
muß jene
Erwartung ungebundener Spiritualität enttäuscht
werden. Noch der
subtilste Snobismus hat nichts vom degout gegen seine objektive
Voraussetzung, sondern dichtet gerade gegen deren Erkenntnis sich ab.
Es steht dahin, zu welchem Maß der französische Adel
des achtzehnten
Jahrhunderts in der Tat an der Aufklärung und der Vorbereitung
der
Revolution jenen spielerisch-selbstmörderischen Anteil nahm,
den der
Widerwille gegen die Terroristen der Tugend so gern sich vor stellt.
Das Bürgertum jedenfalls hat auch in seiner späten
Phase von solchen
Neigungen sich rein gehalten. Keiner tanzt mehr aus der Reihe auf dem
Vulkan, er wäre denn deklassiert. Die Society ist auch
subjektiv so
durch und durch von dem ökonomischen Prinzip geprägt,
dessen Art
Rationalität aufs Ganze geht, daß ihr die
Emanzipation vom Interesse,
wäre es auch bloß als intellektueller Luxus, versagt
ist. So wie sie
nicht fähig sind, den unermeßlich angewachsenen
Reichtum selber zu
genießen, so sind sie zugleich unfähig, gegen sich
selber zu denken.
Vergebens die Suche nach Frivolität. Zur Verewigung des realen
Unterschieds von oben und unten hilft, daß er als Unterschied
zwischen
den Bewußtseinsweisen hier und dort mehr stets verschwindet.
Die Armen
werden von der Disziplin der anderen am Denken verhindert, die Reichen
von der eigenen. Das Bewußtsein der Herrschenden vollendet
allem Geist
gegenüber, was zuvor der Religion widerfuhr. Kultur wird dem
großen
Bürgertum ein Element der Repräsentation.
Daß einer klug oder gebildet
sei, rangiert unter den Qualitäten, die ihn einladens- oder
heiratswert
machen, wie gutes Reiten, Naturliebe, Charme oder ein tadellos
sitzender Frack. Auf Erkenntnis sind sie nicht neugierig. Meist gehen
die Sorgenfreien im Täglichen auf wie die
Kleinbürger. Sie richten
Häuser ein, bereiten Gesellschaften vor, beschaffen virtuos
Hotel- und
Flugzeugreservationen. Sonst zehren sie vom Abhub des
europäischen
Irrationalismus. Plump rechtfertigen sie die eigene Geistfeindschaft,
die bereits im Gedanken selber, der Unabhängigkeit von
irgendeinem
Gegebenen, Seienden das Subversive wittert und nicht einmal mit
Unrecht. Wie zu Nietzsches Zeiten die Bildungsphilister an den
Fortschritt, die bruchlose Höherentwicklung der Massen und das
größtmögliche Glück der
größtmöglichen Anzahl glaubten, so glauben
sie
heute, ohne selbst das mehr recht zu wissen, an das Gegenteil, die
Widerrufung von I789, die Unverbesserlichkeit der Menschennatur, die
anthropologische Unmöglichkeit des Glücks -
eigentlich nur daran, daß
es den Arbeitern auf jeden Fall zu gut geht. Die Tiefe von vorgestern
ist in die äußerste Banalität umgeschlagen.
Von Nietzsche und Bergson,
den letzten rezipierten Philosophien, bleibt nichts übrig als
der
trübste Anti-Intellektualismus im Namen der von ihren
Apologeten
geschundenen Natur. »Nichts ist mir so arg am Dritten
Reich«, sagte
1933 die jüdische Frau eines Generaldirektors, die
später in Polen
ermordet wurde, »wie daß wir jetzt nicht mehr das
Wort erdhaft
gebrauchen dürfen, weil die Nationalsozialisten es
beschlagnahmt
haben«, und noch nach der Niederlage der Faschisten
wußte die
holzgeschnitzte österreichische Schloßherrin, die
bei einer Cocktail
Party einem Arbeiterführer begegnete, der versehentlich
für radikal
galt, in ihrer Begeisterung für seine Persönlichkeit
nichts als
bestialisch zu wiederholen: »und dabei ist er ganz
unintellektuell,
ganz unintellektuell«. Ich erinnere mich meines Schreckens,
als das
aristokratische Mädchen vager Herkunft, das kaum deutsch ohne
affektiert fremdländischen Akzent reden konnte, mir seine
Sympathien
für Hitler bekannte, mit dessen Bild das ihre unvereinbar
schien.
Damals dachte ich, holder Schwachsinn verhülle ihr, wer sie
selber sei.
Aber sie war klüger als ich, denn was sie darstellte,
existierte schon
gar nicht mehr, und indem ihr Klassenbewußtsein ihre
individuelle
Bestimmung durchstrich, verhalf es ihrem Sein an sich, dem
Sozialcharakter, zum Durchbruch. Man ist oben dabei, so eisern sich zu
integrieren, daß die Möglichkeit der subjektiven
Abweichung entfällt
und die Differenz nirgends mehr gesucht werden kann als beim aparteren
Schnitt des Abendkleids.
121
Requiem für Odette. - Die Anglomanie der Oberschicht des
kontinentalen
Europas rührt davon her, daß auf der Insel feudale
Übungen ritualisiert
sind, die sich selbst genug sein sollen. Kultur behauptet sich da nicht
als abgespaltene Sphäre des objektiven Geistes, als Teilhabe
an Kunst
oder Philosophie, sondern als Form der empirischen Existenz. Das high
life will das schöne Leben sein. Es bringt denen, die daran
teilhaben,
ideologischen Lustgewinn. Dadurch, daß die Gestaltung des
Daseins zu
einer Aufgabe wird, in der man Spielregeln zu befolgen, einen Stil
artifiziell zu bewahren, das delikate Gleich gewicht von Korrektheit
und Unabhängigkeit zu halten hat, erscheint das Dasein selber
als
sinnvoll und beruhigt das schlechte Gewissen der gesellschaftlich
Überflüssigen. Die unablässige Forderung,
das genau dem Status und der
Situation Angemessene zu tun und zu sagen, verlangt eine Art von
moralischem Effort. Man macht es sich schwer, der zu sein, der man ist,
und glaubt so dem patriarchalen Noblesse oblige zu genügen.
Zugleich
entbindet die Verlagerung der Kultur von ihren objektiven
Manifestationen aufs unmittelbare Leben vom Risiko der
Erschütterung
der eigenen Unmittelbarkeit durch den Geist. Dieser wird als
Störenfried des sicheren Stils, als geschmacklos verworfen,
aber nicht
mit der peinlichen Roheit des ostelbischen Junkers, sondern nach einem
selber gleichsam geistigen Kriterion, der Ästhetisierung des
Alltags.
Es kommt die schmeichelhafte Illusion heraus, man sei von der Spaltung
in Oberbau und Unterbau, Kultur und leibhafte Wirklichkeit verschont
geblieben. Aber das Ritual fällt, bei allem aristokratischen
Gehabe, in
die spätbürgerliche Gewohnheit, den Vollzug eines an
sich Sinnlosen als
Sinn zu hypostasieren, den Geist auf die Verdopplung dessen
herunterzubringen, was ohnehin ist. Die Norm, die man befolgt, ist
fiktiv, ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen so gut wie ihr Modell,
das Hofzeremonial, sind geschwunden, und sie wird anerkannt nicht, weil
sie als bindend erfahren wäre, sondern um die Ordnung zu
legitimieren,
von deren Illegitimität man den Vorteil hat. Proust hat denn
auch mit
der Unbestechlichkeit des Verführbaren beobachtet,
daß Anglomanie und
Kult formvoller Lebensführung weniger bei den Aristokraten
sich findet
als bei denen, die in die Höhe wollen: vom Snob zum Parvenu
ist es nur
ein Schritt. Daher die Verwandtschaft von Snobismus und Jugendstil, dem
Versuch der durch den Tausch definierten Klasse, sich ins Bild einer
vom Tausch reinen, gleichsam vegetabilischen Schönheit zu
projizieren.
Daß das sich selbst veranstaltende Leben nicht das Mehr als
Leben sei,
kommt zutage an der Langeweile der Cocktail Parties und der
Weckend-Einladungen auf dem Lande, des für die ganze
Sphäre
symbolischen Golfs und der Organisation von Social Affairs -
Privilegien, an denen keiner rechten Spaß hat und mit denen
die
Privilegierten nur noch sich darüber betrügen, wie
sehr es im
glücklosen Ganzen auch ihnen an der Möglichkeit von
Freude mangelt. Im
jüngsten Stadium reduziert sich das schöne Leben auf
das, wofür Veblen
es durch die Zeitalter hindurch ansehen wollte, die Ostentation, das
bloße Dazugehören, und der Park bietet keinen
anderen Genuß mehr als
den der Mauer, an welcher die draußen die Nase sich
plattdrücken. Die
Oberschicht, deren Bosheiten ohnehin unaufhaltsam demokratisiert
werden, läßt kraß erkennen, was
längst für die Gesellschaft gilt: Leben
ist zur Ideologie seiner eigenen Absenz geworden.
122
Monogramme. - Odi profanum vulgus et arceo, sagte der Sohn des
Freigelassenen.
Von sehr bösen Menschen kann man sich eigentlich gar nicht
vorstellen, daß sie sterben.
Wir sagen und Ich meinen ist eine von den ausgesuchtesten
Kränkungen.
Zwischen »es träumte mir« und
»ich träumte« liegen die Weltalter. Aber
was ist wahrer? So wenig die Geister den Traum senden, so wenig ist es
das Ich, das träumt.
Vorm fünfundachtzigsten Geburtstag eines in allen
Stücken
wohlversorgten Mannes legte ich mir im Traum die Frage vor, was ich ihm
schenken könne, um ihm wirklich eine Freude zu machen, und
erteilte mir
sogleich selber die Antwort: einen Führer durch das
Totenreich.
Daß Leporello über schmale Kost und wenig Geld zu
klagen hat, läßt an der Existenz Don Juans zweifeln.
Früh in der Kindheit sah ich die ersten Schneeschaufler in
dünnen
schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das
seien
Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung
gäbe, damit sie sich
ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, daß sie Schnee
schaufeln
müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos
zu weinen.
Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an
Unähnlichem wahrzunehmen.
Pariser Zirkusreklame vor dem Zweiten Krieg: Plus sport que le
théâtre, plus vivant que le cinéma.
Vielleicht könnte ein Film, der dem Code des Hays Office in
allem
streng Genüge tut, als großes Kunstwerk geraten,
aber nicht in einer
Welt, in der es ein Hays Office gibt.
Verlaine: die läßliche Todsünde.
Brideshead Revisited von Evelyn Waugh: sozialisierter Snobismus.
Zille klopft dem Elend auf den Popo.
Scheler: Le boudoir dans la Philosophie.
In einem Gedicht Liliencrons wird die Militärmusik
beschrieben. Erst
heißt es: »Und um die Ecke brausend brichts, wie
Tubaton des
Weltgerichts«, und es schließt: »Zog da
ein bunter Schmetterling /
tsching-tsching bum, um die Ecke?« Poetische
Geschichtsphilosophie der
Gewalt, mit dem Weltgericht am Anfang und dem Falter am Ende.
In Trakls »Entlang« findet sich der Vers:
»Sag wie lang wir gestorben
sind«; in Däublers »Goldenen
Sonetten«: »Wie wahr, daß wir schon alle
lange starben.« Die Einheit des Expressionismus besteht im
Ausdruck
dessen, daß die einander ganz entfremdeten Menschen, in
welche Leben
sich zurückgezogen hat, damit eben zu Toten wurden.
Unter den Formen, die Borchardt ausprobte, fehlt es nicht an
Umbildungen von volksliedhaften. Er scheut sich »Im
Volkston« zu sagen,
und nennt sie dafür: »Im Tone des Volkes«.
Das aber klingt wie: »Im
Namen des Gesetzes«. Der wiederherstellende Dichter
schlägt in den
preußischen Polizisten um.
Nicht die letzte der Aufgaben, vor welche Denken sich gestellt sieht,
ist es, alle reaktionären Argumente gegen die
abendländische Kultur in
den Dienst der fortschreitenden Aufklärung zu stellen.
Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.
Als das alte Weiblein Holz zum Scheiterhaufen beischleppte, rief Hus:
Sancta simplicitas. Wie aber steht es um den Grund seines Opfers, das
Abendmahl in beiderlei Gestalt? Jede Reflexion erscheint naiv vor der
höheren, und nichts ist einfältig, weil alles
einfältig wird auf der
trostlosen Fluchtbahn des Vergessens.
Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne
Stärke zu provozieren.
123
Der böse Kamerad. - Eigentlich müßte ich
den Faschismus aus der
Erinnerung meiner Kindheit ableiten können. Wie ein Eroberer
in fernste
Provinzen, hatte er dorthin seine Sendboten vorausgeschickt,
längst ehe
er einzog: meine Schulkameraden. Wenn die Bürgerklasse seit
undenklichen Zeiten den Traum der wüsten Volksgemeinschaft,
der
Unterdrückung aller durch alle hegt, dann haben Kinder, die
schon mit
Vornamen Horst und Jürgen und mit Nachnamen Bergenroth,
Bojunga und
Eckhardt hießen, den Traum tragiert, ehe die Erwachsenen
historisch
reif dazu waren, ihn zu verwirklichen. Ich fühlte die Gewalt
des
Schreckbilds, dem sie zustrebten, so überdeutlich,
daß alles Glück
danach mir wie widerruflich und erborgt schien. Der Ausbruch des
Dritten Reiches überraschte mein politisches Urteil zwar, doch
nicht
meine unbewußte Angstbereitschaft. So nah hatten alle Motive
der
permanenten Katastrophe mich gestreift, so unverlöschlich
waren die
Mahnmale des deutschen Erwachens mir eingebrannt, daß ich ein
jegliches
dann in Zügen der Hitlerdiktatur wiedererkannte: und oft kam
es meinem
törichten Entsetzen vor, als wäre der totale Staat
eigens gegen mich
erfunden worden, um mir doch noch das anzutun, wovon ich in meiner
Kindheit, seiner Vorwelt, bis auf weiteres dispensiert geblieben war.
Die fünf Patrioten, die über einen einzelnen
Kameraden herfielen, ihn
verprügelten und ihn, als er beim Lehrer sich beklagte, als
Klassenverräter diffamierten - sind es nicht die gleichen, die
Gefangene folterten, um die Ausländer Lügen zu
strafen, die sagten, daß
jene gefoltert würden? Deren Hallo kein Ende nahm, wenn der
Primus
versagte - haben sie nicht grinsend und verlegen den jüdischen
Schutzhäftling umstanden und sich mokiert, wenn er allzu
ungeschickt
sich aufzuhängen versuchte? Die keinen richtigen Satz zustande
brachten, aber jeden von mir zu lang fanden - schafften sie nicht die
deutsche Literatur ab und ersetzten sie durch ihr Schrifttum? Manche
bedeckten die Brust mit rätselhaften Abzeichen und wollten im
Binnenland Marineoffiziere werden, als es längst keine Marine
mehr gab:
sie haben sich zu Sturmbann- und Standartenführern
erklärt,
Legitimisten der Illegitimität. Die verkniffen Intelligenten,
die so
wenig Erfolg in der Klasse hatten wie unterm Liberalismus der begabte
Bastler ohne Konnexionen; die darum den Eltern zu Gefallen sich mit
Laubsägearbeiten beschäftigten oder gar zur eigenen
Freude an langen
Nachmittagen verwickelte Reißbrettzeichnungen mit bunten
Tinten
auszogen, verhalfen dem Dritten Reich zur grausamen
Tüchtigkeit und
werden nochmals betrogen. Jene aber, die immerzu trotzig gegen die
Lehrer aufmuckten und, wie man es wohl nannte, den Unterricht
störten,
vom Tag, ja der Stunde des Abiturs an jedoch mit den gleichen Lehrern
am gleichen Tisch beim gleichen Bier zum Männerbund sich
zusammensetzten, waren zur Gefolgschaft berufen, Rebellen, in deren
ungeduldigem Faustschlag auf den Tisch die Anbetung der Herren schon
dröhnte. Sie brauchten nur sitzenzubleiben, um die zu
überholen, die
ihre Klasse verlassen hatten, und an ihnen sich zu rächen.
Seitdem sie,
Amtswalter und Todeskandidaten, sichtbar aus dem Traum hervorgetreten
sind und mich meines vergangenen Lebens und meiner Sprache enteignet
haben, brauche ich nicht mehr von ihnen zu träumen. Im
Faschismus ist
der Alp der Kindheit zu sich selber gekommen.
1935
124
Vexierbild. - Warum trotz der zur Oligarchie vorgetriebenen
historischen Entwicklung die Arbeiter immer weniger wissen,
daß sie es
sind, läßt sich immerhin aus manchen Beobachtungen
erraten. Während
objektiv das Verhältnis der Eigentümer und der
Produzenten zum
Produktionsapparat starrer stets sich ver festigt, fluktuiert um so
mehr die subjektive Klassenzugehörigkeit. Das wird von der
ökonomischen
Entwicklung selber begünstigt. Die organische Zusammensetzung
des
Kapitals verlangt, wie oft konstatiert ward, Kontrolle durch technisch
Verfügende eher als durch Fabrikbesitzer. Diese waren
gleichsam der
Gegenpart der lebendigen Arbeit, jene entsprechen dem Anteil der
Maschinen am Kapital. Die Quantifizierung der technischen Prozesse
aber, ihre Zerlegung in kleinste, von Bildung und Erfahrung weitgehend
unabhängige Operationen, macht die Expertenschaft jener Leiter
neuen
Stils in erheblichem Maße zur bloßen Illusion,
hinter der sich das
Privileg des Zugelassenwerdens verbirgt. Daß die technische
Entwicklung
einen Stand erreicht hat, der eigentlich alle Funktionen allen erlauben
würde - dies immanent-sozialistische Element des Fortschritts
wird
unterm späten Industrialismus travestiert.
Zugehörigkeit zur Elite
scheint jedem erreichbar. Man wartet nur auf die Kooption. Eignung
besteht in Affinität, von der libidinösen Besetzung
allen Hantierens
über gesund technokratische Gesinnung bis zur
frisch-fröhlichen
Realpolitik. Experten sind sie nur als solche der Kontrolle.
Daß jeder
es könnte, hat nicht zu deren Ende geführt, sondern
dazu, daß jeder
berufen werden mag. Bevorzugt wird, wer am genauesten
hineinpaßt. Gewiß
bleiben die Erwählten verschwindende Minorität, aber
die strukturelle
Möglichkeit genügt, den Schein der gleichen Chance
erfolgreich unter
dem System festzuhalten, das die freie Konkurrenz eliminiert hat, die
von jenem Schein lebte. Daß die technischen Kräfte
den privilegienlosen
Zustand erlaubten, wird tendenziell von allen, auch von denen im
Schatten, den gesellschaftlichen Verhältnissen zugute
gehalten, die es
verhindern. Allgemein zeigt die subjektive
Klassenzugehörigkeit heute
eine Mobilität, welche die Starrheit der ökonomischen
Ordnung selber
vergessen macht: stets ist das Starre zugleich das Verschiebbare.
Selbst die Ohnmacht des Einzelnen, sein ökonomisches Schicksal
noch
vorauszukalkulieren, trägt das ihre zu solcher
tröstlichen Mobilität
bei. Über den Sturz entscheidet nicht Untüchtigkeit,
sondern ein
undurchsichtiges hierarchisches Gefüge, in dem keiner, kaum
die
obersten Spitzen, sicher sich fühlen darf: Egalität
des Bedrohtseins.
Wenn im erfolgreichsten Spitzenfilm eines Jahres der heroische
Fliegerkapitän zurückkehrt, um als drugstore jerk von
Kleinbürgerkarikaturen sich schikanieren zu lassen, so
befriedigt er
nicht nur die unbewußte Schadenfreude der Zuschauer, sondern
bestärkt
sie überdies im Bewußtsein, alle Menschen seien
wirklich Brüder.
Äußerste Ungerechtigkeit wird zum Trugbild der
Gerechtigkeit, die
Entqualifizierung der Menschen zu dem ihrer Gleichheit. Soziologen aber
sehen der grimmigen Scherzfrage sich gegenüber: Wo ist das
Proletariat?
125
Olet. - In Europa hatte die vorbürgerliche Vergangenheit
überlebt in
der Scham, für persönliche Leistungen oder
Gefälligkeiten sich bezahlen
zu lassen. Davon weiß der neue Kontinent nichts mehr. Auch
auf dem
alten tat keiner etwas umsonst, aber das gerade ward als Wunde
gespürt.
Wohl ist Vornehmheit, die selber von nichts Besserem stammt als dem
Bodenmonopol, Ideologie. Aber sie war doch in die Charaktere tief genug
eingedrungen, um ihnen den Nacken gegen den Markt zu stärken.
Die
deutsche herrschende Schicht hat Geld anders als durch Privilegien oder
Kontrolle über die Produktion zu verdienen bis tief ins
zwanzigste
Jahrhundert hinein verpönt. Was an den Künstlern oder
Gelehrten für
anrüchig galt, war, wogegen diese selber am meisten
rebellierten, die
Remuneration, und der Hofmeister Hölderlin so gut wie noch der
Pianist
Liszt haben daran eben jene Erfahrungen gemacht, die sich dann in ihren
Gegensatz zum herrschenden Bewußtsein umsetzten. Bis auf
unsere Tage
bestimmte krud über die Zugehörigkeit eines Menschen
zur Ober- oder
Unterklasse, ob er Geld nahm oder nicht. Zuweilen schlug der schlechte
Hochmut in bewußte Kritik um. Jedes Kind der
europäischen Oberschicht
errötete über das Geldgeschenk, das ihm von
Verwandten gemacht ward,
und wenn auch die Vormacht der bürgerlichen Utilität
solche Reaktionen
brach und überkompensierte, so blieb doch der Zweifel wach, ob
der
Mensch bloß zum Tauschen geschaffen sei. Die Reste des
Älteren waren im
europäischen Bewußtsein Fermente des Neuen. In
Amerika dagegen hat kein
Kind selbst gutsituierter Eltern Hemmungen, durch Zeitungsaustragen ein
paar Cents zu verdienen, und solche Bedenkenlosigkeit hat sich
niedergeschlagen im Habitus der Erwachsenen. Darum erscheinen so leicht
dem ununterrichteten Europäer die Amerikaner allesamt als
Leute ohne
Würde, bereit zu entlohnten Diensten, so wie umgekehrt jene
ihn für
einen Vagabunden und Prinzenimitator zu halten geneigt sind. Die
Selbstverständlichkeit der Maxime, daß Arbeit nicht
schändet, die
arglose Absenz eines jeglichen Snobismus gegenüber dem im
feudalen
Sinne Entehrenden des Marktverhältnisses, die Demokratie des
Erwerbsprinzips trägt bei zum Fortbestand des schlechthin
Antidemokratischen, des ökonomischen Unrechts, der
menschlichen
Entwürdigung. Keinem fällt es ein, daß es
irgend Leistungen geben
könnte, die nicht im Tauschwert ausdrückbar
wären. Das ist die reale
Voraussetzung für den Triumph jener subjektiven Vernunft, die
ein an
sich verpflichtend Wahres nicht einmal zu denken vermag und es einzig
als für andere Seiendes, Austauschbares wahrnimmt. War
drüben der Stolz
die Ideologie, so ist es hier die Belieferung des Kunden. Das gilt auch
für die Erzeugnisse des objektiven Geistes. Der unmittelbare,
je eigene
Vorteil im Tauschakt, das subjektiv Beschränkteste also,
verbietet den
subjektiven Ausdruck. Verwertbarkeit, das Apriori der konsequent
marktgerechten Produktion, läßt das spontane
Bedürfnis nach ihm, nach
der Sache selbst gar nicht mehr aufkommen. Noch die mit
größtem Aufwand
in die Welt gesetzten und verteilten Kulturerzeugnisse wiederholen,
wäre es auch kraft einer undurchschaubaren Maschinerie, die
Gesten des
Wirtshausmusikanten, der nach dem Teller auf dem Klavier schielt,
während er seinen Gönnern ihre Lieblingsmelodie
einpaukt. Die Budgets
der Kulturindustrie gehen in die Milliarden, aber das Formgesetz ihrer
Leistungen ist das Trinkgeld. Das übermäßig
Blanke, hygienisch Saubere
der industrialisierten Kultur ist das einzige Rudiment jener Scham, ein
beschwörendes Bild, vergleichbar den Fräcken der
obersten
Hotelmanagers, die, um nur ja nicht mehr wie Oberkellner auszusehen,
die Aristokraten an Eleganz überbieten und damit wieder als
Oberkellner
erkennbar werden.
126
I. Q. - Die jeweils dem fortgeschrittensten technischen
Entwicklungsstand angemessenen Verhaltensweisen beschränken
sich nicht
auf die Sektoren, in denen sie eigentlich gefordert sind. So unterwirft
Denken sich der gesellschaftlichen Leistungskontrolle nicht dort
bloß,
wo sie ihm beruflich aufgezwungen wird, sondern gleicht seine ganze
Komplexion ihr an. Weil nachgerade der Gedanke in die Lösung
von
zugewiesenen Aufgaben sich verkehrt, wird auch das nicht Zugewiesene
nach dem Schema der Aufgabe behandelt. Der Gedanke, der Autonomie
verlor, getraut sich nicht mehr, Wirkliches um seiner selbst willen in
Freiheit zu begreifen. Das überläßt er mit
respektvoller Illusion den
Höchstbezahlten und macht dafür sich selber
meßbar. Er benimmt sich
tendenziell bereits von sich aus, als ob er unablässig seine
Tauglichkeit darzutun hätte. Auch wo es nichts zu knacken
gibt, wird
Denken zum Training auf irgend abzulegende Übungen. Zu seinen
Gegenständen verhält es sich wie zu bloßen
Hürden, als permanenter Test
des eigenen in Form Seins. Überlegungen, die sich durch
Beziehung zur
Sache und damit vor sich selber verantworten möchten, fordern
den
Argwohn heraus, sie seien eitle, windige, asoziale Selbstbefriedigung.
Wie den Neopositivisten Erkenntnis sich spaltet in die
angehäufte
Empirie und den logischen Formalismus, so polarisiert sich die geistige
Tätigkeit des Typus, dem die Einheitswissenschaft auf den Leib
geschrieben ist, ins Inventar des Gewußten und die Stichprobe
der
Denkfähigkeit: jeder Gedanke wird ihnen zum Quiz entweder der
Informiertheit oder der Eignung. Irgendwo müssen die richtigen
Antworten schon verzeichnet stehen. Instrumentalism, die
jüngste
Version des Pragmatismus, ist längst nicht mehr bloß
Sache der
Anwendung des Denkens, sondern das Apriori seiner eigenen Form. Wenn
oppositionelle Intellektuelle aus solchem Bannkreis den Inhalt der
Gesellschaft anders wollen, so lähmt sie die Gestalt des
eigenen
Bewußtseins, die vorweg nach dem Bedarf dieser Gesellschaft
modelliert
ist. Während der Gedanke verlernt hat, sich selbst zu denken,
ist er
zugleich zur absoluten Prüfungsinstanz seiner selbst geworden.
Denken
heißt nichts anderes mehr als in jedem Augenblick
darüber wachen, ob
man auch denken kann. Daher das Erstickte noch jeder scheinbar
unabhängigen geistigen Produktion, der theoretischen nicht
weniger als
der künstlerischen. Die Vergesellschaftung des Geistes
hält ihn
überdacht, gebannt, unter Glas, solange die Gesellschaft
selber
gefangen ist. Wie Denken vordem die einzelnen von außen
befohlenen
Pflichten verinnerlichte, so hat es heute seine Integration in den
umfassenden Apparat sich einverleibt und geht daran zugrunde, noch ehe
die ökonomischen und politischen Verdikte es recht ereilen.
127
Wishful Thinking. - Intelligenz ist eine moralische Kategorie. Die
Trennung von Gefühl und Verstand, die es möglich
macht, den Dummkopf
frei und selig zu sprechen, hypostasiert die historisch
zustandegekommene Aufspaltung des Menschen nach Funktionen. Im Lob der
Einfalt schwingt die Sorge darum mit, daß nur ja das
Getrennte nicht
zueinander finde und das Unwesen stürze. »Hast du
Verstand und ein
Herz«, lautet ein Distichon Hölderlins,
»so zeige nur eines von beiden,
/ Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich.« Die
Schmähung
des beschränkten Verstandes im Vergleich mit der unendlichen,
aber als
unendliche dem endlichen Subjekt stets zugleich unerforschlichen
Vernunft, von der die Philosophie widerhallt, klingt trotz ihres
kritischen Rechts an die Weise: Ȇb immer Treu und
Redlichkeit« an.
Wenn Hegel dem Verstand seine Dummheit demonstriert, so bringt er dabei
nicht bloß die isolierte Reflexionsbestimmung, den
Positivismus jeden
Namens, auf ihr Maß an Unwahrheit, sondern wird zum
Mitschuldigen am
Denkverbot, beschneidet die negative Arbeit des Begriffs, welche die
Methode selbst zu leisten beansprucht, und beschwört auf der
höchsten
Höhe der Spekulation den protestantischen Pfarrer, der seiner
Herde
empfiehlt, es zu bleiben, anstatt auf ihr schwaches Licht sich zu
verlassen. Vielmehr wäre es an der Philosophie, im Gegensatz
von Gefühl
und Verstand deren Einheit aufzusuchen: eben die moralische.
Intelligenz, als Kraft des Urteils, widersetzt sich in dessen Vollzug
dem je Vorgegebenen, indem sie es zugleich ausdrückt. Das
Vermögen des
gegen die Triebregung sich abdichtenden Urteilens gerade wird ihr
gerecht durch ein Moment des Gegendrucks gegen den gesellschaftlichen.
Urteilskraft mißt sich an der Festigkeit des Ichs. Damit aber
auch an
jener Dynamik der Triebe, welche von der Arbeitsteilung der Seele dem
Gefühl überantwortet wird. Instinkt, der Wille
standzuhalten, ist ein
Sinnesimplikat der Logik. Indem in ihr das urteilende Subjekt an sich
vergißt, unbestechlich sich zeigt, erficht es seine Siege.
Wie dagegen
im engsten Umkreis Menschen dort verdummen, wo ihr Interesse
anfängt,
und dann ihr Ressentiment gegen das kehren, was sie nicht verstehen
wollen, weil sie es allzu gut verstehen könnten, so ist noch
die
planetarische Dummheit, welche die gegenwärtige Welt daran
verhindert,
den Aberwitz ihrer eigenen Einrichtung zu sehen, das Produkt des
unsublimierten, unaufgehobenen Interesses der Herrschenden. Kurzfristig
und doch unaufhaltsam verhärtet es sich zum anonymen Schema
des
geschichtlichen Ablaufs. Dem entspricht die Dummheit und Verstocktheit
des Einzelnen; Unfähigkeit, die Macht von Vorurteil und
Betrieb bewußt
zu vereinen. Sie findet mit dem moralisch Defekten, dem Mangel an
Autonomie und Verantwortung regelmäßig sich
zusammen, während so viel
zutrifft am Sokratischen Rationalismus, daß man einen
ernsthaft klugen
Menschen, dessen Gedanken auf Gegenstände gerichtet sind und
nicht
formalistisch in sich kreisen, kaum je als Bösen sich
vorstellen kann.
Denn die Motivation des Bösen, blinde Befangenheit in der
Zufälligkeit
des Eigenen, tendiert dazu, im Medium des Gedankens zu zergehen.
Schelers Satz, alle Erkenntnis sei in Liebe fundiert, war
Lüge, weil er
unmittelbar die Liebe zum Angeschauten verlangte. Aber er
würde zur
Wahrheit, wenn Liebe zur Auflösung allen Scheins von
Unmittelbarkeit
drängte und damit freilich unversöhnlich
würde mit dem Gegenstand der
Erkenntnis. Gegen die Abspaltung des Gedankens hilft nicht die Synthese
der einander entfremdeten psychischen Ressorts, nicht die
therapeutische Versetzung der ratio mit irrationalen Fermenten, sondern
die Selbstbesinnung auf das Element des Wunsches, das antithetisch
Denken als Denken konstituiert. Erst wenn jenes Element rein, ohne
heteronomen Rest in die Objektivität des Gedankens
aufgelöst wird,
treibt es zur Utopie.
128
Regressionen. - Meine älteste Erinnerung an Brahms, und
gewiß nicht nur
meine, ist »Guten Abend, gut' Nacht«. Vollkommenes
Mißverständnis des
Textes: ich wußte nicht, daß Näglein ein
Wort für Flieder oder in
manchen Gegenden für Nelken ist, sondern stellte mir kleine
Nägel,
Reißnägel darunter vor, mit denen die Gardine vorm
Himmelbettchen,
meinem eigenen, ganz dicht zugesteckt sei, so daß das Kind,
in seinem
Dunkel vor jeder Lichtspur geschützt, unendlich lange -
»bis die Kuh
ein' Batzen gilt«, sagt man in Hessen - ohne Angst schlafen
könne. Wie
bleiben die Blüten zurück hinter der
Zärtlichkeit solcher Vorhänge.
Nichts steht uns für die ungeschmälerte Helle ein als
das bewußtlose
Dunkel; nichts für das, was wir einmal sein könnten,
als der Traum, wir
wären nie geboren.
»Schlaf in guter Ruh'/ tu die Äuglein zu, /
höre, wie der Regen fällt,
/ hör wie Nachbars Hündchen bellt. /
Hündchen hat den Mann gebissen, /
hat des Bettlers Kleid zerrissen, / Bettler läuft der Pforte
zu,/schlaf
in guter Ruh.« Die erste Strophe von Tauberts Wiegenlied ist
zum
Fürchten. Und doch beseligen ihre beiden letzten Zeilen den
Schlaf mit
der Verheißung des Friedens. Er verdankt sich aber nicht ganz
der
bürgerlichen Härte, dem Behagen, daß der
Eindringling abgewehrt ward.
Das müd lauschende Kind hat die Austreibung des Fremdlings,
der im
Schottschen Liederbuch aussieht wie ein Jude, schon halb vergessen, und
ahnt in dem Vers »Bettler läuft der Pforte
zu« Ruhe ohne das Elend
anderer. Solange es noch einen Bettler gibt, heißt es in
einem Fragment
Benjamins, gibt es noch Mythos; erst mit dem Verschwinden des letzten
wäre der Mythos versöhnt. Wäre aber dann die
Gewalt selber nicht so
vergessen wie im dämmernden Einschlafen des Kindes?
Würde nicht doch am
Ende das Verschwinden des Bettlers alles wieder gutmachen, was ihm je
angetan ward und was nicht wieder sich gutmachen
läßt? Versteckt nicht
gar in aller Verfolgung durch die Menschen, die mit dem
Hündchen die
ganze Natur aufs Schwächere hetzen, sich die Hoffnung,
daß die letzte
Spur der Verfolgung getilgt werde, die selber das Teil des
Natürlichen
ist? Wäre nicht der Bettler, der durch die Pforte der
Zivilisation
hinausgedrängt ward, geborgen in seiner Heimat, die befreit
ist vom
Bann der Erde? »Kannst nun ruhig sein, Bettler kehrt schon
ein.«
Seit ich denken kann, bin ich glücklich gewesen mit dem Lied:
»Zwischen
Berg und tiefem, tiefem Tal«: von den zwei Hasen, die sich am
Gras
gütlich taten, vom Jäger niedergeschossen wurden, und
als sie sich
besonnen hatten, daß sie noch am Leben waren, von dannen
liefen. Aber
spät erst habe ich die Lehre darin verstanden: Vernunft kann
es nur in
Verzweiflung und Überschwang aushalten; es bedarf des
Absurden, um dem
objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen. Man sollte es den beiden Hasen
gleichtun; wenn der Schuß fällt, närrisch
für tot hinfallen, sich
sammeln und besinnen, und wenn man noch Atem hat, von dannen laufen.
Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche, das
schrankenlose, bis zur Selbstpreisgabe gesteigerte Aufgeschlossensein
für Erfahrung, in der der Erliegende sich wiederfindet. Was
wäre Glück,
das sich nicht mäße an der unmeßbaren
Trauer dessen was ist? Denn
verstört ist der Weltlauf. Wer ihm vorsichtig sich
anpaßt, macht eben
damit sich zum Teilhaber des Wahnsinns, während erst der
Exzentrische
standhielte und dem Aberwitz Einhalt geböte. Nur er
dürfte auf den
Schein des Unheils, die »Unwirklichkeit der
Verzweiflung«, sich
besinnen und dessen innewerden, nicht bloß daß er
noch lebt, sondern
daß noch Leben ist. Die List der ohnmächtigen Hasen
erlöst mit ihnen
selbst den Jäger, dem sie seine Schuld stibitzt.
129
Dienst am Kunden. - Scheinheilig beansprucht die Kulturindustrie, nach
den Konsumenten sich zu richten und ihnen zu liefern, was sie sich
wünschen. Aber während sie beflissen jeden Gedanken
an ihre eigene
Autonomie verpönt und ihre Opfer als Richter proklamiert,
übertrifft
ihre vertuschte Selbstherrlichkeit alle Exzesse der autonomen Kunst.
Nicht sowohl paßt Kulturindustrie sich den Reaktionen der
Kunden an,
als daß sie jene fingiert. Sie übt sie ihnen ein,
indem sie sich
benimmt, als wäre sie selber ein Kunde. Man könnte
den Verdacht
schöpfen, das ganze Adjustment, dem auch sie zu gehorchen
versichert,
sei Ideologie; die Menschen trachteten um so mehr danach, den anderen
und dem Ganzen sich anzugleichen, je mehr sie darauf aus sind, durch
übertriebene Gleichheit, den Offenbarungseid
gesellschaftlicher
Ohnmacht, an Macht zu partizipieren und Gleichheit zu hintertreiben.
»Die Musik hört für den
Hörer«, und der Film praktiziert im
Trustmaßstab den widerlichen Trick von Erwachsenen, die, wenn
sie
Kindern etwas aufschwatzen, dabei die Beschenkten mit der Sprache
überfallen, von der es ihnen paßte, wenn jene sie
redeten, und die
ihnen die meist fragwürdige Gabe mit eben dem Ausdruck des
schmatzenden
Entzückens präsentieren, das sie hervorrufen wollen.
Kulturindustrie
ist zugeschnitten auf die mimetische Regression, aufs Manipulieren der
verdrängten Nachahmungsimpulse. Dabei bedient sie sich der
Methode, die
Nachahmung ihrer selbst durch den Betrachter vorwegzunehmen, und das
Einverständnis, das sie bewirken will, als bereits bestehendes
erscheinen zu lassen. Sie ist um so besser daran, als sie im stabilen
System mit solchem Einverständnis in der Tat rechnen kann und
es eher
rituell zu wiederholen als eigentlich hervorzubringen hat. Ihr Produkt
ist gar kein Stimulus, sondern ein Modell für Reaktionsweisen
auf nicht
vorhandene Reize. Daher im Lichtspiel der begeisterte Musiktitel, die
alberne Kindersprache, die blinzelnde Volkstümlichkeit; noch
die
Großaufnahme des Starts ruft gleichsam aus: wie
schön! Mit diesem
Verfahren rückt die Kulturmaschine dem Betrachter so nahe auf
den Leib
wie der frontal photographierte Schnellzug im Spannungsmoment. Der
Tonfall eines jeden Films aber ist der der Hexe, die den Kleinen, die
sie verzaubern oder fressen will, die Speise verabreicht mit dem
schauerlichen Murmeln: »Gut Süppchen, schmeckt das
Süppchen? Wohl soll
dir's bekommen, wohl bekommen.« In Kunst hat diesen
Küchenfeuerzauber
Wagner erfunden, dessen sprachliche Intimitäten und
musikalische
Gewürze immerzu sich selber abschmecken, und hat zugleich mit
genialem
Geständniszwang die ganze Prozedur demonstriert in der Szene
des Rings,
da Mime Siegfried den giftigen Labetrunk darbietet. Wer aber soll dem
Monstrum den Kopf abschlagen, nachdem es längst selber mit
blondem
Haarschopf unter der Linde liegt?
130
Grau und grau. - Auch ihr schlechtes Gewissen hilft der Kulturindustrie
nichts. So objektiv ist ihr Geist, daß er seinen eigenen
Subjekten ins
Gesicht schlägt, und so wissen denn diese, die Agenten alle,
Bescheid
und suchen, durch Mentalreservate von dem Unfug sich zu distanzieren,
den sie anstiften. Das Zugeständnis, daß die Filme
Ideologien
verbreiten, ist selber schon verbreitete Ideologie. Sie wird
administrativ gehandhabt in der starren Unterscheidung zwischen den
synthetischen Tagträumen einerseits, Vehikeln zur Flucht aus
dem
Alltag, »escape«; andererseits wohlmeinenden
Produkten, die zu
richtigem sozialen Verhalten ermuntern, eine Botschaft zustellen,
»conveying a message«. Die prompte Subsumtion unter
escape und message
drückt die Unwahrheit beider Typen aus. Der Spott gegen das
escape, die
standardisierte Empörung über
Oberflächlichkeit, ist nichts als das
erbärmliche Echo des alteingesessenen Ethos, das gegen's Spiel
wettert,
weil es in der herrschenden Praxis nicht mitspielt. Nicht darum sind
die escape-Filme so abscheulich, weil sie der ausgelaugten Existenz den
Rücken kehren, sondern weil sie es nicht energisch genug tun,
weil sie
gerade so ausgelaugt sind, weil die Befriedigungen, die sie
vortäuschen, zusammenfallen mit der Schmach der
Realität, der
Versagung. Die Träume haben keinen Traum. Wie die
Technicolorhelden
nicht eine Sekunde vergessen lassen, daß sie Normalmenschen,
getypte
Prominentengesichter und Investitionen sind, so zeichnet sich unter dem
dünnen Flitter der schematisch hergestellten Phantastik das
Skelett der
Kino-Ontologie unmißverständlich ab, die ganze
anbefohlene
Werthierarchie, der Kanon des Unerwünschten und
Nachzuahmenden. Nichts
praktischer als escape, nichts dem Betrieb inniger anverlobt: es wird
in die Ferne entführt nur, um aus der Distanz die Gesetze
empiristischer Lebensführung ungestört von
empirischen Ausweichungen
ins Bewußtsein zu hämmern. Das escape ist voller
message. So sieht denn
auch message, das Gegenteil, aus, das vor der Flucht fliehen will. Es
verdinglicht den Widerstand gegen Verdinglichung. Man muß nur
Fachleute
rühmen hören, dies prächtige Leinwandwerk
habe neben anderen Meriten
auch Gesinnung, im gleichen Tonfall, in dem einer hübschen
Schauspielerin attestiert wird, außerdem habe sie
personality. Die
Exekutive könnte auf der Konferenz bequem entscheiden, es
müsse nebst
kostspieligerer Komparserie dem escape-Film ein Ideal eingelegt werden
wie: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Losgetrennt von der
immanenten Logik des Gebildes, der Sache, wird das Ideal selber zu
einer, aus dem Fundus zu beschaffen, damit greifbar und nichtig
zugleich, Reform abstellbarer Mißstände,
verklärte Sozialfürsorge. Am
liebsten verkünden sie die Wiedereingliederung von
Trunkenbolden, denen
sie noch den armseligen Rausch neiden. Indem die nach anonymen Gesetzen
sich verhärtende Gesellschaft dargestellt wird, als reichte in
ihr der
gute Wille zur Abhilfe aus, wird sie verteidigt noch im ehrlichen
Angriff. Man spiegelt eine Art Volksfront aller recht und billig
Denkenden vor. Der praktische Geist des message, die handfeste
Demonstration dessen, wie es besser zu machen sei, paktiert mit dem
System in der Fiktion, daß ein gesamtgesellschaftliches
Subjekt, das es
als solches in der Gegenwart gar nicht gibt, alles in Ordnung bringen
kann, wenn man nur jeweils sich zusammensetzt und über die
Wurzel des
Übels ins Reine kommt. Man fühlt sich ganz wohl, wo
man so tüchtig sich
bewähren kann. Message wird zum escape: wer bei der
Säuberung des
Hauses, in dem man wohnt, fest zugreift, vergißt
darüber, auf welchem
Grunde es gebaut ward. Was im Ernst escape wäre, der
bildgewordene
Widerwille gegen das Ganze bis in die formalen Konstituentien hinein,
könnte in message umschlagen, ohne es auszusprechen, ja gerade
durch
hartnäckige Askese gegen den Vorschlag.
131
Wolf als Großmutter. - Als stärkstes Argument haben
die Apologeten des
Films das gröbste, seine massenweise Konsumtion für
sich. Sie erklären
ihn, das drastische Medium der Kulturindustrie, zur Volkskunst.
Unabhängigkeit von den Normen des autonomen Werks soll ihn von
der
ästhetischen Verantwortung entbinden, deren
Maßstäbe ihm gegenüber als
reaktionär sich erwiesen, wie denn in der Tat alle Intentionen
seiner
künstlerischen Veredelung ein Schiefes, schlecht Gehobenes,
die Form
Verfehlendes haben - etwas vom Import für den Connaisseur. Je
mehr der
Film Kunst prätendiert, um so talmihafter wird er. Darauf
können die
Protagonisten deuten und sich auch noch, als Kritiker der mittlerweile
verkitschten Innerlichkeit, mit ihrem roh stofflichen Kitsch als
Avantgarde vorkommen. Begibt man sich erst einmal auf solchen Boden, so
sind sie, gestärkt durch technische Erfahrung und
Materialnähe, fast
unwiderstehlich. Der Film sei keine Massenkunst, sondern bloß
zum
Betrug der Massen manipuliert? Aber über den Markt machten
sich doch
die Wünsche des Publikums unablässig geltend; allein
schon die
kollektive Herstellung garantiere das kollektive Wesen; nur
Weltfremdheit vermute in den Produzenten schlaue Drahtzieher; die
meisten seien talentlos, gewiß, aber wo die rechten
Begabungen sich
zusammenfänden, könne es trotz aller
Beschränkungen des Systems
gelingen. Der Massengeschmack, dem der Film gehorcht, sei gar nicht der
der Massen selber, sondern oktroyiert? Aber von einem anderen
Massengeschmack zu reden als dem, den jene nun einmal haben, sei
töricht, und was je Volkskunst hieß, habe stets
schon die Herrschaft
reflektiert. Nur in der kompetenten Anpassung der Produktion an
gegebene Bedürfnisse, nicht in der Rücksicht auf eine
utopische
Hörerschaft vermag nach solcher Logik der namenlose
Allgemeinwille
Gestalt zu gewinnen. Der Film sei voll der Lüge der
Stereotypie? Aber
Stereotypie ist das Wesen der Volkskunst, die Märchen kennen
den
rettenden Prinzen und den Teufel wie der Film den Helden und den
Schuft, und noch die barbarische Grausamkeit, mit der die Welt in Gute
und Böse aufgeteilt wird, hat der Film mit den
höchsten Märchen gemein,
welche die Stiefmutter in glühenden Eisenschuhen zu Tode sich
tanzen
lassen.
All dem wäre zu begegnen nur durch Erwägung der von
den Apologeten
vorausgesetzten Grundbegriffe. Die schlechten Filme lassen nicht der
Inkompetenz sich zur Last legen: der Begabteste wird vom Betrieb
gebrochen, und daß die Unbegabten ihm zuströmen,
liegt an der
Wahlverwandtschaft von Lüge und Schwindler. Der Stumpfsinn ist
objektiv; personelle Verbesserungen könnten keine Volkskunst
stiften.
Deren Idee ist an agrarischen Verhältnissen oder der einfachen
Warenwirtschaft gebildet. Solche Verhältnisse und ihre
Ausdruckscharaktere sind die von Herren und Knechten, Profitierenden
und Benachteiligten, aber in unmittelbarer, nicht ganz
vergegenständlichter Gestalt. Wohl sind sie nicht weniger
durchfurcht
von Klassendifferenzen als die späte Industriegesellschaft,
aber ihre
Mitglieder sind noch nicht von der Totalstruktur umklammert, welche die
einzelnen Subjekte erst zu bloßen Momenten reduziert, um sie
dann, als
Ohnmächtige und Abgetrennte, zum Kollektiv zu vereinen.
Daß es kein
Volk mehr gibt, heißt darum jedoch nicht, wie die Romantik
propagierte,
die Massen seien schlechter. Vielmehr enthüllt sich gerade
erst in der
neuen, radikal entfremdeten Gestalt der Gesellschaft die Unwahrheit der
älteren. Eben die Züge, in denen die Kulturindustrie
das Erbe der
Volkskunst reklamiert, werden durch jene selber verdächtig.
Der Film
hat rückwirkende Kraft: sein optimistisches Grauen legt am
Märchen
zutage, was immer schon dem Unrecht diente, und läßt
in den
gemaßregelten Bösewichtern das Antlitz derer
dämmern, welche die
integrale Gesellschaft verurteilt und welche zu verurteilen von je der
Traum der Vergesellschaftung war. Daher ist das Absterben der
individualistischen Kunst keine Rechtfertigung für eine, die
sich
gebärdet, als wäre ihr SubJekt, das archaisch
reagiert, das natürliche,
während es das gewiß bewußtlose Syndikat
der paar großen Firmen ist.
Haben selbst die Massen, als Kunden, Einfluß auf den Film, so
bleibt
jener so abstrakt wie der Kassenausweis, der anstelle von nuanciertem
Applaus trat: bloße Wahl zwischen Ja und Nein zu einem
Offerierten,
eingespannt in das Mißverhältnis von konzentrierter
Macht und
zerstreuter Ohnmacht. Daß schließlich beim Film
zahlreiche Experten,
auch einfache Techniker mitzureden haben, garantiert so wenig seine
Humanität wie die Entscheidung kompetenter wissenschaftlicher
Gremien
die von Bomben und Giftgas.
Das feinsinnige Gerede von Filmkunst zwar steht den Skribenten an, die
sich empfehlen wollen; die bewußte Berufung auf die
Naivetät aber, auf
die längst durch den Gedanken der Herren hindurchgegangene
Dumpfheit
der Knechte taugt nicht mehr. Der Film, der heute so unausweichlich an
die Menschen sich hängt, als wär's ein Stück
von ihnen, ist ihrer
menschlichen Bestimmung, die von einem Tag zum anderen sich
verwirklichen ließe, zugleich am allerfernsten, und die
Apologetik lebt
von dem Widerstand dagegen, diese Antinomie zu denken. Daß
die Leute,
welche die Filme machen, keineswegs Intriganten sind, besagt gar nichts
dagegen. Der objektive Geist der Manipulation setzt sich in
Erfahrungsregeln, Einschätzungen der Situation, technischen
Kriterien,
wirtschaftlich unvermeidlichen Kalkulationen, dem ganzen Eigengewicht
der industriellen Apparatur durch, ohne daß erst eigens
zensiert wird,
und selbst wer die Massen befragte, dem würden sie die
Ubiquität des
Systems zurückspiegeln. Die Herstellenden fungieren so wenig
als
Subjekte wie ihre Arbeiter und Abnehmer, sondern lediglich als Teile
der verselbständigten Maschinerie. Das Hegelisch klingende
Gebot aber,
Massenkunst habe den realen Geschmack der Massen zu respektieren und
nicht den der negativistischen Intellektuellen, ist Usurpation. Der
Gegensatz des Films als allumspannender Ideologie zu den objektiven
Interessen der Menschen, die Verfilzung mit dem status quo des
Profitwesens, schlechtes Gewissen und Betrug lassen bündig
sich
erkennen. Keine Berufung auf einen tatsächlich vorfindlichen
Bewußtseinsstand hätte je das Vetorecht gegen
Einsicht, welche über
diesen Bewußtseinsstand hinausreicht, indem sie seinen
Widerspruch zu
sich selbst und zu den objektiven Verhältnissen trifft.
Möglich, daß
der deutsche faschistische Professor recht hatte und daß auch
die
Volkslieder, die es waren, schon vom herabgesunkenen Kulturgut der
Oberschicht lebten. Nicht umsonst ist alle Volkskunst brüchig
und,
gleich den Filmen, nicht »organisch«. Aber zwischen
dem alten Unrecht,
dessen klagende Stimme dort noch hörbar ist, wo es sich
verklärt, und
der sich selbst als Verbundenheit behauptenden Entfremdung, welche den
Schein menschlicher Nähe mit Lautsprecher und
Reklamepsychologie
abgefeimt erweckt, ist ein Unterschied gleich dem zwischen der Mutter,
die dem Kind, um seine Dämonenangst zu beschwichtigen, das
Märchen
erzählt, in dem die Guten belohnt und die Bösen
bestraft werden, und
dem Kinoprodukt, das den Zuschauern die Gerechtigkeit jeglicher
Weltordnung in jeglichem Lande grell, drohend in die Augen und Ohren
treibt, um sie aufs neue, und gründlicher, das alte
Fürchten zu lehren.
Die Märchenträume, die so eifrig sich auf das Kind im
Manne berufen,
sind nichts als die von der totalen Aufklärung organisierte
Rückbildung, und wo sie den Betrachtern am zutraulichsten auf
die
Schulter klopfen, verraten sie jene am gründlichsten.
Unmittelbarkeit,
die von den Filmen hergestellte Volksgemeinschaft läuft auf
die
Vermittlung ohne Rest hinaus, welche die Menschen und alles Menschliche
so vollkommen zu Dingen herabsetzt, daß ihr Gegensatz zu den
Dingen, ja
der Bann von Verdinglichung selber gar nicht mehr wahrgenommen werden
kann. Dem Film ist die Verwandlung der Subjekte in gesellschaftliche
Funktionen so differenzlos gelungen, daß die ganz
Erfaßten, keines
Konflikts mehr eingedenk, die eigene Entmenschlichung als Menschliches,
als Glück der Wärme genießen. Der totale
Zusammenhang der
Kulturindustrie, der nichts ausläßt, ist eins mit
der totalen
gesellschaftlichen Verblendung. Darum hat er mit den Gegenargumenten so
leichtes Spiel.
132
Piperdruck. - Die Gesellschaft ist integral, schon ehe sie
totalitär
regiert wird. Ihre Organisation umgreift noch die, welche sie befehden,
und normt ihr Bewußtsein. Auch solche Intellektuellen, die
politisch
alle Argumente gegen die bürgerliche Ideologie parat haben,
unterliegen
einem Prozeß der Standardisierung, der sie, bei
kraß kontrastierendem
Inhalt, durch die Bereitschaft, auch ihrerseits sich anzubequemen, dem
vorherrschenden Geist so nahebringt, daß ihr Standpunkt
sachlich immer
zufälliger, bloß noch von dünnen
Präferenzen oder von ihrer
Einschätzung der eigenen Chance abhängig wird. Was
ihnen subjektiv
radikal dünkt, gehorcht objektiv so durchaus einer
für ihresgleichen
reservierten Sparte des Schemas, daß der Radikalismus aufs
abstrakte
Prestige hinunterkommt, Legitimation dessen, der weiß,
wofür und
wogegen ein Intellektueller heutzutage zu sein hat. Die Güter,
für die
sie optieren, sind längst ebenso anerkannt, der Zahl nach
ebenso
beschränkt, in der Werthierarchie ebenso fixiert wie die der
Studentenbrüderschaften. Während sie gegen den
offiziellen Kitsch
eifern, ist ihre Gesinnung wie ein folgsames Kind auf vorweg
ausgesuchte Nahrung verwiesen, auf Clichés der
Clichéfeindschaft. Die
Wohnung solcher jungen Bohemiens gleicht ihrem geistigen Haushalt. An
der Wand die täuschend originalgetreuen Farbendrucke nach
berühmten van
Goghs wie den Sonnenblumen oder dem Café von Arles, auf dem
Bücherbrett
der Absud von Sozialismus und Psychoanalyse und ein wenig Sexualkunde
für Hemmungslose mit Hemmungen. Dazu die Random House Ausgabe
von
Proust - Scott Moncrieffs Übersetzung hätte ein
besseres Los verdient
-, Exklusivität zu herabgesetzten Preisen, allein schon durchs
Aussehen, die kompakt-ökonomische Gestalt des
»Omnibus«, Hohn auf den
Autor, der in jedem Satz kurrente Meinungen außer Aktion
setzt, während
er nun als preisgekrönter Homosexueller bei den
Jünglingen eine
ähnliche Rolle spielt wie die Bücher über
die Tiere unseres Waldes und
die Nordpolexpedition im deutschen Heim. Dazu das Grammophon mit der
Lincolnkantate eines Bravgesinnten, in der es sich wesentlich um
Eisenbahnstationen handelt, nebst pflichtgemäß
bestaunter Folklore aus
Oklahoma und ein paar lauten Jazzplatten, bei denen man sich zugleich
kollektiv, kühn und behaglich fühlt. Jedes Urteil ist
von den Freunden
approbiert, alle Argumente wissen sie immer schon vorher. Daß
alle
Kulturprodukte, auch die nicht konformierenden, dem
Verteilungsmechanismus des großen Kapitals einverleibt sind,
daß im
entwickeltsten Lande ein Erzeugnis, das nicht das Imprimatur der
massenweisen Herstellung trägt, überhaupt kaum mehr
einen Leser,
Betrachter, Hörer erreichen kann, verweigert der abweichenden
Sehnsucht
vorweg den Stoff. Noch Kafka wird zum Inventarstück des
untergemieteten
Ateliers. Die Intellektuellen selber sind schon so sehr auf das in
ihrer isolierten Sphäre Bestätigte festgelegt,
daß sie nichts mehr
begehren, als was ihnen unter der Marke highbrow serviert wird. Der
Ehrgeiz geht allein darauf, im akzeptierten Vorrat sich auszukennen,
die korrekte Parole zu treffen. Das Außenseitertum der
Eingeweihten ist
Illusion und bloße Wartezeit. Daß sie Renegaten
seien, greift noch zu
hoch; sie tragen die Hornbrille mit Fenstergläsern vorm
Gesicht der
Durchschnittlichkeit einzig, um dadurch vor sich selber und auch im
allgemeinen Wettrennen als »brillant« besser
abzuschneiden. Sie sind
schon gerade so. Die subjektive Vorbedingung zur Opposition,
ungenormtes Urteil, stirbt ab, während ihr Gehabe als
Gruppenritual
weiter vollführt wird. Stalin braucht sich nur zu
räuspern, und sie
werfen Kafka und van Gogh auf den Müllhaufen.
133
Beitrag zur Geistesgeschichte. - In meinem Exemplar des Zarathustra,
vom Jahre 1910, finden sich am Ende Anzeigen des Verlags. Sie sind
allesamt auf den Stamm der Nietzscheleser zugeschnitten, wie Alfred
Kröner in Leipzig, der sich auskennen mußte, ihn
sich vorstellte.
»Ideale Lebensziele von Adalbert Svoboda. Svoboda hat in
seinem Werke
ein weithin leuchtendes Höhenfeuer der Aufklärung
entzündet, welches
helles Licht über alle Probleme des forschenden
Menschengeistes
verbreitet und die wahren Ideale der Vernunft, Kunst und Kultur uns
klar vor die Augen rückt. Das groß angelegte und
prächtig ausgestattete
Buch ist vom Anfang bis zum Ende packend geschrieben, fesselnd,
anregend, belehrend und wirkt auf alle wirklich freien Geister
stimulierend, wie ein nervenstählendes Bad und erfrischende
Bergesluft.« Gezeichnet: Menschentum, und beinahe so
empfehlenswert wie
David Friedrich Strauß. »Zu Zarathustra von Max
Zerbst. Es gibt zwei
Nietzsche. Der eine ist der weltberühmte 'Mode-Philosoph', der
glänzende Dichter und sprach gewaltige Meister des Stils, der
jetzt in
aller Munde lebt, aus dessen Werken ein paar mißverstandene
Schlagworte
zum bedenklichen Allgemeingut der 'Gebildeten' geworden sind. Der
andere Nietzsche, das ist der unergründliche,
unerschöpfbare Denker und
Psycholog, der große Menschen-Späher und Lebens
Werter von unerreichter
Geistes-Kraft und Gedanken-Macht, dem die fernste Zukunft
gehört.
Diesem anderen Nietzsche die Einsichtsvollen und Ernsten unter den
modernen Menschen näher zu bringen, ist die Absicht der in dem
vorliegenden Büchlein enthaltenen beiden
Vorträge.« Ich würde dann doch
den einen vorziehen. Der andere nämlich heißt:
»Philosoph und
Edelmensch, ein Beitrag zur Charakteristik Friedrich Nietzsches von
Meta von Salis-Marschlins. Das Buch fesselt durch die ehrliche
Wiedergabe aller Empfindungen, die Nietzsches Persönlichkeit
in einer
selbstbewußten Frauenseele ausgelöst hat.«
Vergiß die Peitsche nicht,
lehrte Zarathustra. Statt dessen wird angeboten: »Die
Philosophie der
Freude von Max Zerbst. Dr. Max Zerbst geht von Nietzsche aus, strebt
aber, gewisse Einseitigkeiten Nietzsches zu überwinden...
Kühle
Abstraktionen sind des Autors Sache nicht, es ist mehr ein Hymnus, ein
philosophischer Hymnus auf die Freude, den er zum besten
gibt.« Wie
einen Studentenulk. Nur keine Einseitigkeiten. Lieber stracks in den
Atheistenhimmel: »Die vier Evangelien, Deutsch, mit
Einleitung und
Anmerkungen von Dr. Heinrich Schmidt. Im Gegensatz zu der
korrumpierten, vielfach überarbeiteten Form, in welcher uns
das
Evangelium literarisch überliefert ist, geht diese Neuausgabe
auf die
Quellen zurück und dürfte von hohem Wert werden nicht
allein für
wahrhaft religiöse Menschen, sondern auch für jene
'Antichristen', die
es drängt, sozial zu wirken.« Die Wahl wird einem
schwer, aber man kann
getrost annehmen, daß beide Eilten ebenso
verträglich sind wie die
Synoptiker: »Das Evangelium vom neuen Menschen (Eine
Synthese:
Nietzsche und Christus) von Carl Martin. Ein wundervolles
Erbauungsbüchlein. Alles, was in Wissenschaft und Kunst der
Gegenwart
den Kampf mit den Geistern der Vergangenheit aufgenommen hat, alles
dies hat in diesem reifen und doch so jungen Gemüt Wurzel
geschlagen
und Blüten erschlossen. Und merkwürdig: Dieser
'neue', ganz neue Mensch
schöpft sich und uns den erquickendsten Labetrunk aus einem
uralten
Quickborn: jener anderen Heilsbotschaft, deren reinste Klänge
in der
Bergpredigt ertönen... Auch in der Form die Schlichtheit und
Größe
jener Worte!« Gezeichnet: Ethische Kultur. Das Wunder
passierte schon
vor bald vierzig Jahren, immerhin auch zwanzig, nachdem das Ingenium in
Nietzsche mit Recht sich entschieden hatte, die Kommunikation mit der
Welt abzubrechen. Es half alles nichts - beschwingt ungläubige
Pfaffen
und Exponenten jener organisierten ethischen Kultur, die
später in New
York Emigrantinnen, denen es einmal gut ging, als
Servierfräulein
abrichtete, haben an der Hinterlassenschaft dessen sich
gütlich getan,
der bangte, ob einer ihm zuhörte, als er »heimlich
ein Gondellied« sich
sang. Schon damals war die Hoffnung, in der Flut der hereinbrechenden
Barbarei Flaschenposten zu hinterlassen, eine freundliche Vision: die
verzweifelten Lettern sind im Schlamm des Quickborns steckengeblieben
und von einer Bande von Edelmenschen und anderem Gesindel zu
hochkünstlerischem, aber preiswertem Wandschmuck verarbeitet
worden.
Seitdem kam der Fortschritt der Kommunikation erst recht in Schwung.
Wer will es schließlich selbst den allerfreiesten Geistern
verübeln,
wenn sie nicht mehr für eine imaginäre Nachwelt
schreiben, deren
Zutraulichkeit die der Zeitgenossen womöglich noch
überbietet, sondern
einzig für den toten Gott?
134
Juvenals Irrtum. - Schwer, eine Satire zu schreiben. Nicht
bloß weil
der Zustand, der ihrer mehr bedürfte als je einer, allen
Spottes
spottet. Das Mittel der Ironie selber ist in Widerspruch zur Wahrheit
geraten. Ironie überführt das Objekt, indem sie es
hinstellt, als was
es sich gibt, und ohne Urteil, gleichsam unter Aussparung des
betrachtenden Subjekts, an seinem Ansichsein mißt. Das
Negative trifft
sie dadurch, daß sie das Positive mit seinem eigenen Anspruch
auf
Positivität konfrontiert. Sie hebt sich auf, sobald sie das
auslegende
Wort hinzufügt. Dabei setzt sie die Idee des
Selbstverständlichen,
ursprünglich der gesellschaftlichen Resonanz voraus. Nur wo
ein
zwingender Consensus der Subjekte angenommen wird, ist subjektive
Reflexion, der Vollzug des begrifflichen Akts
überflüssig. Der bedarf
des Beweises nicht, welcher die Lacher auf seiner Seite hat. Historisch
hat demzufolge die Satire über Jahrtausende, bis zum
Voltaireschen
Zeitalter, gern mit Stärkeren es gehalten, auf die
Verlaß war, mit
Autorität. Meist agierte sie für ältere,
durch jüngere Stufen der
Aufklärung bedrohte Schichten, die mit auf geklärten
Mitteln ihren
Traditionalismus zu stützen suchten: ihr
unverwüstlicher Gegenstand war
der Verfall von Sitten. Darum präsentiert sich, was einmal als
Florett
fuchtelte, den Nachgeborenen durchweg als plumper Knüppel.
Doppelzüngige Vergeistigung der Erscheinung will allemal den
Satiriker
amüsant, auf der Höhe des Fortschritts zeigen; der
Maßstab aber ist der
je vom Fortschritt gefährdete, der doch soweit als geltende
Ideologie
vorausgesetzt bleibt, daß das aus der Art geschlagene
Phänomen
verworfen wird, ohne daß ihm die Gerechtigkeit rationaler
Verhandlung
widerführe. Die Aristophanische Komödie, in der die
Zote die Unzucht
bloßstellen soll, rechnete als modernistische laudatio
temporis acti
auf den Pöbel, den sie verleumdete. Mit dem Sieg der
Bürgerklasse in
der christlichen Ära hat dann die Funktion der Ironie sich
gelockert.
Sie ist zuzeiten zu den Unterdrückten übergelaufen,
besonders wo sie es
in Wahrheit schon nicht mehr waren. Freilich hat sie, als Gefangene der
eigenen Form, des autoritären Erbes, der einspruchslosen
Hämischkeit
nie ganz sich entäußert. Erst mit dem
bürgerlichen Verfall hat sie zum
Appell an Ideen von Menschheit sich sublimiert, die keine
Versöhnung
mit dem Bestehenden und seinem Bewußtsein mehr duldeten. Aber
sogar zu
diesen Ideen zählte Selbstverständlichkeit: kein
Zweifel an der
objektiv-unmittelbaren Evidenz kam auf; kein Witz von Karl Kraus
zaudert in der Entscheidung darüber, wer anständig
und wer ein Schurke,
was Geist und was Dummheit, was Sprache und was Zeitung sei. Solcher
Geistesgegenwart verdanken seine Sätze ihre Gewalt. Wie sie,
im
blitzschnellen Bewußtsein des Sachverhalts, mit keiner Frage
sich
aufhalten, so lassen sie keine Frage zu. Je emphatischer jedoch die
Kraussche Prosa ihren Humanismus als invariant setzt, um so mehr nimmt
sie restaurative Züge an. Sie verdammt Korruption und
Dekadenz, den
Literaten und den Futuristen, ohne vor den Zeloten geistigen
Naturstandes etwas anderes vorauszuhaben als die Erkenntnis von deren
Schlechtigkeit. Daß am Ende die Intransigenz gegen Hitler
nachgiebig
gegen Schuschnigg sich zeigte, bezeugt nicht Schwäche des
Tapferen,
sondern die Antinomie der Satire. Diese braucht, woran sie sich halten
kann, und der den Nörgler sich nannte, beugt sich ihrer
Positivität.
Noch die Denunziation des Schmocks enthält, neben ihrer
Wahrheit, dem
kritischen Element, etwas von dem common sense, der nicht leiden kann,
daß einer so geschwollen daherredet. Der Haß gegen
den, der mehr
scheinen möchte als er ist, legt ihn aufs Faktum seiner
Beschaffenheit
fest. Die Unbestechlichkeit gegenüber dem Gemachten, der
uneingelösten
und zugleich kommerziell ausgespitzten Prätention des Geistes,
demaskiert die, welchen es mißlang, dem gleichzuwerden, was
als Höheres
ihnen vor Augen steht. Dies Höhere ist Macht und Erfolg und
offenbart
sich durch die verpfuschte Identifikation selber als Lüge.
Aber es
verkörpert dem Faiseur stets zugleich die Utopie: noch die
falschen
Brillanten strahlen vom ohnmächtigen Kindertraum, und dieser
wird
mitverdammt, weil er scheiterte, selber gleichsam vors Forum des
Erfolgs zitiert. Alle Satire ist blind gegen die Kräfte, die
im Zerfall
freiwerden. Daher hat denn der vollendete Verfall die Kräfte
der Satire
an sich gezogen. Der Spott der Führer des Dritten Reichs
über
Emigranten und liberale Staatsmänner, dessen Gewalt einzig
noch die
brachiale ist, war der letzte. Schuld an der Unmöglichkeit von
Satire
heute hat nicht, wie Sentimentalität es will, der Relativismus
der
Werte, die Abwesenheit verbindlicher Normen. Sondern
Einverständnis
selber, das formale Apriori der Ironie, ist zum inhaltlich universalen
Einverständnis geworden. Als solches wäre es der
einzig würdige
Gegenstand von Ironie und entzieht ihr zugleich den Boden. Ihr Medium,
die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit, ist geschwunden.
Jene resigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch deren
bloße
Verdopplung. Ironie drückte aus: das behauptet es zu sein, so
aber ist
es; heute jedoch beruft die Welt noch in der radikalen Lüge
sich
darauf, daß es eben so sei, und solcher einfache Befund
koinzidiert ihr
mit dem Guten. Kein Spalt im Fels des Bestehenden, an dem der Griff des
Ironikers sich zu halten vermöchte. Dem Stürzenden
schallt das
Hohngelächter des tückischen Objekts nach, das ihn
entmächtigte. Der
Gestus des begriffslosen So ist es ist genau der, den die Welt einem
jeglichen ihrer Opfer zukehrt, und das transzendentale
Einverständnis,
das der Ironie innewohnt, wird lächerlich vor dem realen
derer, die sie
zu attackieren hätte. Gegen den blutigen Ernst der totalen
Gesellschaft, die ihre Gegeninstanz eingezogen hat als den hilflosen
Einspruch, den ehedem Ironie niederschlug, steht einzig noch der
blutige Ernst, die begriffene Wahrheit.
135
Lämmergeier. - Zu diktieren ist nicht bloß bequemer,
spornt nicht bloß
zur Konzentration an, sondern hat überdies einen sachlichen
Vorzug. Das
Diktat ermöglicht es dem Schriftsteller, sich in den
frühesten Phasen
des Produktionsprozesses in die Position des Kritikers
hineinzumanövrieren. Was er da hinstellt, ist unverbindlich,
vorläufig,
bloßer Stoff zur Bearbeitung, tritt ihm jedoch zugleich,
einmal
transkribiert, als Entfremdetes und in gewissem Maße
Objektives
gegenüber. Er braucht sich gar nicht erst zu fürchten
etwas
festzulegen, was doch nicht stehenbliebe, denn er muß es ja
nicht
schreiben: aus Verantwortung spielt er dieser einen Schabernack. Das
Risiko der Formulierung nimmt die harmlose Gestalt erst des ihm
leichthin präsentierten Memorials, dann der Arbeit an einem
schon
Daseienden an, so daß er die eigene Verwegenheit gar nicht
recht mehr
wahrnimmt. Angesichts der ins Desperate angewachsenen Schwierigkeit
einer jeglichen theoretischen Äußerung werden solche
Tricks
segensreich. Sie sind technische Hilfsmittel des dialektischen
Verfahrens, das Aussagen macht, um sie zurückzunehmen und
dennoch
festzuhalten. Dank aber gebührt dem, der das Diktat aufnimmt,
wenn er
den Schriftsteller durch Widerspruch, Ironie, Nervosität,
Ungeduld und
Respektlosigkeit im rechten Augenblick aufscheucht. Er zieht Wut auf
sich. Sie wird vom Vorrat des schlechten Gewissens abgezweigt, mit dem
der Autor sonst dem eigenen Gebilde mißtraut und das ihn um
so sturer
in den vermeintlich heiligen Text sich verbeißen
läßt. Der Affekt, der
gegen den lästigen Helfer undankbar sich kehrt, reinigt
wohltätig die
Beziehung zur Sache.
136
Exhibitionist. - Künstler sublimieren nicht. Daß sie
ihre Begierde
weder befriedigen noch verdrängen, sondern in sozial
wünschbare
Leistungen, ihre Gebilde, verwandeln, ist eine psychoanalytische
Illusion; übrigens sind legitime Kunstwerke ohne Ausnahme
heute sozial
unerwünscht. Vielmehr zeigen Künstler heftige, frei
flutende und
zugleich mit der Realität kollidierende, neurotisch
gezeichnete
Instinkte. Noch der Spießertraum vom Schauspieler oder Geiger
als einer
Synthese aus Nervenbündel und Herzensbrecher trifft eher zu
als die
nicht minder spießbürgerliche
Triebökonomie, der zufolge die
Sonntagskinder der Versagung es in Symphonien und Romanen loswerden.
Ihr Teil ist vielmehr hysterisch outrierte Hemmungslosigkeit
über allen
erdenklichen Ängsten; Narzißmus, bis an die
paranoische Grenze
getrieben. Gegen das Sublimierte haben sie Idiosynkrasien.
Unversöhnlich sind sie den Ästheten,
gleichgültig gegen gepflegte
Milieus, und in geschmackvoller Lebensführung erkennen sie so
sicher
die mindere Reaktionsbildung gegen den Hang zum Minderen wie die
Psychologen, von denen sie selber verkannt werden. Sie lassen seit den
Briefen Mozarts an das Augsburger Bäsle bis zu den Wortwitzen
des
verbitterten Vorrepetitors vom Derben, Albernen, Unanständigen
sich
verlocken. In die Freudische Theorie passen sie nicht, weil es jener an
einem zureichenden Begriff des Ausdrucks mangelt, trotz aller Einsicht
ins Funktionieren der Symbolik von Traum und Neurose. Daß
eine
unzensiert ausgedrückte Triebregung auch dann nicht
verdrängt heißen
kann, wenn sie das Ziel, das sie nicht findet, gar nicht mehr erlangen
will, leuchtet gewiß ein. Andererseits liegt die analytische
Unterscheidung motorischer - »realer« - und
halluzinatorischer
Befriedigung in der Richtung auf die Differenz von Befriedigung und
unverstelltem Ausdruck. Aber Ausdruck ist nicht Halluzination. Er ist
Schein, gemessen am Realitätsprinzip und mag es umgehen. Nie
jedoch
versucht durch ihn, so wie durchs Symptom, Subjektives anstelle der
Realität wahnhaft sich zu substituieren. Ausdruck negiert die
Realität,
indem er ihr vorhält, was ihr nicht gleicht, aber er
verleugnet sie
nicht; er sieht dem Konflikt ins Auge, der im Symptom blind resultiert.
Soviel bleibt dem Ausdruck mit der Verdrängung gemeinsam,
daß in ihm
die Regung durch die Realität blockiert sich findet. Jener
Regung, und
dem gesamten Erfahrungszusammenhang, dem sie zugehört, ist die
unmittelbare Kommunikation mit dem Objekt verwehrt. Als Ausdruck kommt
sie zur unverfälschten Erscheinung ihrer selbst und damit des
Widerstandes, in sinnlicher Nachahmung. Sie ist so stark, daß
ihr die
Modifikation zum bloßen Bild, Preis des Überlebens,
widerfährt, ohne
sie auf dem Wege nach außen zu verstümmeln. Anstelle
des Ziels wie der
eigenen subjektiv-zensorischen »Bearbeitung« setzt
sie die objektive:
ihre polemische Offenbarung. Das unterscheidet sie von der
Sublimierung: jeder gelungene Ausdruck des Subjekts, ließe
sich sagen,
ist ein kleiner Sieg über das Kräftespiel seiner
eigenen Psychologie.
Das Pathos von Kunst haftet daran, daß sie, gerade durch
Zurücktreten
in die Imagination, der Übermacht der Realität das
Ihre gibt, und doch
nicht zur Anpassung resigniert, nicht die Gewalt des Auswendigen in der
Deformation des Inwendigen fortsetzt. Die das vollbringen, haben
dafür
als Individuen ausnahmslos teuer zu zahlen, hilflos
zurückgeblieben
hinter dem eigenen Ausdruck, der ihrer Psychologie entrann. Damit aber
wecken sie nicht weniger als ihre Produkte Zweifel an der Einordnung
der Kunstwerke unter die kulturellen Leistungen ex definitione. Kein
Kunstwerk kann, in der gesellschaftlichen Organisation, seiner
Zugehörigkeit zur Kultur sich entziehen, aber keines, das mehr
als
Kunstgewerbe ist, existiert, das nicht der Kultur die abweisende Geste
zukehrte: daß es zum Kunstwerk ward. Kunst ist so
kunstfeindlich wie
die Künstler. Im Verzicht aufs Triebziel hält sie
diesem die Treue, die
das gesellschaftlich Erwünschte demaskiert, welches Freud naiv
als die
Sublimierung verherrlicht, die es wahrscheinlich gar nicht gibt.
137
Kleine Schmerzen, große Lieder. - Die
zeitgenössische Massenkultur ist
historisch notwendig nicht bloß als Folge der Umklammerung
des gesamten
Lebens durch Monstreunternehmen, sondern als Konsequenz dessen, was der
heute herrschenden Standardisierung des Bewußtseins am
äußersten
entgegengesetzt scheint, der ästhetischen Subjektivierung.
Wohl haben
die Künstler, je mehr sie nach innen gingen, auf den
infantilen Spaß an
der Nachahmung des Auswendigen verzichten gelernt. Aber zugleich
lernten sie vermöge der Reflexion auf die Seele mehr und mehr
über sich
selber verfügen. Der Fortschritt ihrer Technik, der ihnen
stets größere
Freiheit und Unabhängigkeit vom Heterogenen brachte,
resultierte in
einer Art von Verdinglichung, Technifizierung der Inwendigkeit als
solcher. Je überlegener der Künstler sich
ausdrückt, um so weniger muß
er »sein«, was er ausdrückt, und in um so
größerem Maße wird das
Auszudrückende, ja der Inhalt von Subjektivität
selber zu einer bloßen
Funktion des Produktionsprozesses. Das hat Nietzsche gespürt,
als er
Wagner, den Dompteur des Ausdrucks, der Heuchelei zieh, ohne zu
erkennen, daß es dabei nicht um Psychologie, sondern um die
geschichtliche Tendenz geht. Die Verwandlung des Ausdrucksgehalts aus
einer ungesteuerten Regung in einen Stoff der Manipulation aber macht
ihn zugleich handfest, ausstellbar, verkäuflich. Die lyrische
Subjektivierung bei Heine etwa steht nicht zu seinen kommerziellen
Zügen in einfachem Widerspruch, sondern das
Verkäufliche ist selber die
von Subjektivität verwaltete Subjektivität. Der
virtuose Gebrauch der
»Skala«, der den Artisten seit dem neunzehnten
Jahrhundert definiert,
geht aus der eigenen Triebkraft, nicht erst durch Verrat in
Journalismus, Spektakel, Kalkulation über. Das Bewegungsgesetz
der
Kunst, das der Beherrschung und damit Vergegenständlichung des
Subjekts
durch sich selber gleichkommt, meint ihren Untergang: die
Kunstfeindschaft des Films, der alle Stoffe und Emotionen administrativ
durchmustert, um sie an den Mann zu bringen, die zweite
Äußerlichkeit,
entspringt in Kunst als der anwachsenden Herrschaft über
innere Natur.
Die vielberufene Schauspielerei der neueren Künstler jedoch,
ihr
Exhibitionismus, ist der Gestus, durch welchen sie sich selber als
Waren auf den Markt bringen.
138
Who is who. - Die schmeichelhafte Überzeugung von der
Naivetät und
Reinheit des Künstlers oder Gelehrten lebt fort in seiner
Neigung,
Schwierigkeiten mit der verschlagenen Interessiertheit, dem praktisch
berechnenden Geist der Kontrahenten zu erklären. Aber wie jede
Konstruktion, in der man sich recht und der Welt unrecht gibt, jedes
Bestehen auf dem eigenen Titel dahin tendiert, gerade der Welt in einem
selber recht zu geben, so steht es auch um die Antithese von reinem
Willen und Schlauheit. Reflektiert, von tausend politischen und
taktischen Erwägungen geleitet, vorsichtig und
argwöhnisch verhält sich
heute gerade der intellektuelle Außenseiter, der
weiß, was zu
gewärtigen ist. Die Einverstandenen aber, deren Reich
längst über die
Parteigrenzen hinweg zum Lebensraum zusammenschoß, haben die
Berechnung, deren man sie für fähig hielt, nicht mehr
nötig. Sie sind
so zuverlässig auf die Spielregeln der Vernunft verpflichtet,
ihre
Interessenlagen haben so selbstverständlich in ihrem Denken
sich
sedimentiert, daß sie wieder harmlos geworden sind. Forscht
man nach
ihren dunklen Plänen, so urteilt man zwar metaphysisch wahr,
weil sie
dem finsteren Weltlauf verwandt sind, psychologisch aber falsch: man
gerät selber in den objektiv anwachsenden Verfolgungswahn. Die
ihrer
Funktion nach Verrat und Gemeinheit begehen und der Macht sich und ihre
Freunde verkaufen, bedürfen dazu keiner List und keines
Hintergedankens, keiner planenden Veranstaltungen des Ichs, sondern
müssen sich umgekehrt nur ihren Reaktionen überlassen
und der Forderung
des Augenblicks bedenkenlos Genüge tun, um spielend zu
vollbringen, was
andere einzig durch abgründige Überlegungen leisten
könnten. Sie
erwecken Vertrauen, indem sie es bekunden. Sie sehen, was für
sie
abfällt, leben von der Hand in den Mund und empfehlen sich als
unegoistisch zugleich und als Subskribenten eines Zustands, der es
ihnen schon an nichts fehlen lassen wird. Weil alle ohne Konflikt
einzig dem Sonderinteresse nachhängen, erscheint es gerade
wiederum als
allgemein und gleichsam uninteressiert. Ihre Gesten sind
freimütig,
spontan, entwaffnend. Sie sind nett und böse ihre Widersacher.
Weil
ihnen gar nicht mehr die Unabhängigkeit zu einer Handlung
gelassen ist,
die dem Interesse entgegengesetzt wäre, sind sie auf den guten
Willen
der anderen angewiesen und selber guten Willens. Das ganz Vermittelte,
das abstrakte Interesse, schafft eine zweite Unmittelbarkeit,
während
der noch nicht vollends Erfaßte sich als unnatürlich
kompromittiert. Um
nicht unter die Räder zu kommen, muß er die Welt an
Weltlichkeit
umständlich überbieten und wird des ungeschickten
Zuviel leicht
überführt. Argwohn, Machtgier, Mangel an
Kameradschaft, Falschheit,
Eitelkeit und Inkonsequenz lassen sich zwingend ihm vorhalten.
Gesellschaftliche Zauberei macht unausweichlich den, welcher nicht
mitspielt, zum Eigennützigen, und der ohne Selbst dem Prinzip
der
Realität nachlebt, heißt selbstlos.
139
Unbestellbar. - Kultivierte Banausen pflegen vom Kunstwerk zu
verlangen, daß es ihnen etwas gebe. Sie entrüsten
sich nicht mehr über
das Radikale, sondern ziehen auf die unverschämt bescheidene
Behauptung
sich zurück, sie verstünden nicht. Diese beseitigt
noch den Widerstand,
die letzte negative Beziehung zur Wahrheit, und das
anstößige Objekt
wird lächelnd unter seinesungleichen, den
Gebrauchsgütern
katalogisiert, zwischen denen man die Auswahl hat und die man ablehnen
kann, ohne selbst nur dafür die Verantwortung zu tragen. Man
sei eben
zu dumm, zu altmodisch, man könne einfach nicht mit, und je
kleiner man
sich macht, um so zuverlässiger partizipiert man am
mächtigen Unisono
der vox inhumana populi, an der richtenden Gewalt des petrifizierten
Zeitgeists. Das Unverständliche, von dem niemand etwas hat,
wird aus
dem aufreizenden Verbrechen zur bemitleidenswerten Narretei. Mit dem
Stachel schiebt man die Versuchung fort. Daß einem etwas
gegeben werden
soll, dem Scheine nach das Postulat von Substantialität und
Fülle,
schneidet diese gerade ab und läßt das Gebende
verarmen. Darin aber
kommt das Verhältnis zu Menschen dem ästhetischen
gleich. Der Vorwurf,
daß einer nichts gebe, ist jämmerlich. Ward die
Beziehung steril, soll
man sie lösen. Dem aber, der daran festhält und doch
klagt, geht
allemal das Organ des Empfangens ab: Phantasie. Beide müssen
etwas
geben, Glück als das gerade nicht Tauschbare, nicht Klagbare,
aber
solches Geben ist untrennbar von dem Nehmen. Es ist aus, wenn den
anderen nicht mehr erreicht, was man für ihn findet. Keine
Liebe, die
nicht Echo wäre. In den Mythen war die Gewähr der
Gnade Annahme des
Opfers; um diese aber bittet Liebe, das Nachbild der Opferhandlung,
wenn sie nicht unterm Fluch sich fühlen soll. Zum Verfall des
Schenkens
heute schickt sich die Verhärtung gegen das Nehmen. Sie
läuft aber auf
jene Verleugnung von Glück selber hinaus, die allein den
Menschen es
gestattet, an ihrer Art Glück festzuhalten. Durchschlagen
wäre der
Wall, wo sie vom andern empfingen, was sie mit verkniffenem Mund sich
selber verwehren müssen. Das aber wird ihnen schwer um der
Anstrengung
willen, die das Nehmen ihnen zumutet. Vergafft in die Technik,
übertragen sie den Haß gegen die
überflüssige Anstrengung ihrer
Existenz auf den Energieaufwand, dessen die Lust als eines Moments
ihres Wesens bis in all ihre Sublimierungen hinein bedarf. Trotz der
ungezählten Erleichterungen bleibt ihre Praxis absurde
Mühe; Vergeudung
der Kraft im Glück jedoch, dessen Geheimnis, dulden sie nicht.
Da muß
es nach den englischen Formeln relax und take it easy hergehen, die aus
der Sprache der Krankenschwestern kommen, nicht der des
Überschwanges.
Glück ist überholt: unökonomisch. Denn seine
Idee, die geschlechtliche
Vereinigung, ist das Gegenteil des Gelösten, selige
Anspannung, so wie
alle unterjochte Arbeit die unselige.
140
Consecutio temporum. - Als mein erster Kompositionslehrer versuchte,
mir die atonalen Mucken auszutreiben und mit erotischen
Skandalgeschichten über die Neutöner nicht
durchdrang, verfiel er
darauf, mich dort zu fassen, wo er meine Schwäche vermutete,
beim
Wunsch, sich zeitgemäß zu erweisen. Das
Ultramoderne, so lautete sein
Argument, sei bereits nicht mehr modern, die Reize, die ich suchte,
seien schon stumpf geworden, die Ausdrucksfiguren, die mich erregten,
gehörten einer altmodischen Sentimentalität an, und
die neue Jugend
hätte, wie er es mit Vorliebe nannte, mehr rote
Blutkörperchen. Seine
eigenen Stücke, deren orientalische Themen
regelmäßig durch die
chromatische Skala fortgesetzt wurden, erwiesen solche piekfeinen
Überlegungen als das Manöver eines
Konservatoriumsdirektors mit
schlechtem Gewissen. Aber bald mußte ich entdecken,
daß die Mode, die
er meiner Modernität entgegenhielt, in der Urheimat der
großen Salons
tatsächlich dem ähnelte, was er in der Provinz
ausgeheckt hatte. Der
Neoklassizismus, jener Typus Reaktion, der sich nicht als solche
bekennt, sondern auch noch das reaktionäre Moment selber
für avanciert
ausgibt, war die Vorhut einer massiven Tendenz, die unterm Faschismus
und in der Massenkultur rasch lernte, der zarten Rücksicht auf
die
stets noch allzu sensiblen Artisten sich zu begeben und den Geist der
Courths-Mahler mit dem des technischen Fortschritts zu vereinen. Das
Moderne ist wirklich unmodern geworden. Modernität ist eine
qualitative
Kategorie, keine chronologische. So wenig sie auf die abstrakte Form
sich bringen läßt, so notwendig ist ihr die Absage
an den
konventionellen Oberflächenzusammenhang, an den Schein von
Harmonie, an
die vom bloßen Abbild bekräftigte Ordnung. Die
faschistischen
Kampfbündler, die biderb über Futurismus zeterten,
haben in ihrer Wut
mehr verstanden als die Moskauer Zensoren, die den Kubismus auf den
Index setzen, weil er hinter dem Geist der kollektiven Zeit in privater
Ungebühr zurückgeblieben sei, oder die schnoddrigen
Theaterkritiker,
die ein Stück von Strindberg oder Wedekind passe finden, aber
eine
Untergrundreportage up-to-date. Gleichwohl spricht die blasierte
Banausie eine abscheuliche Wahrheit aus: daß hinter dem Zug
der
Gesamtgesellschaft, die allen Äußerungen ihre
Organisation oktroyieren
möchte, zurückbleibt, was der von Lindberghs Gattin
so genannten Welle
der Zukunft sich entgegenstellt, die kritische Konstruktion des Wesens.
Diese wird keineswegs bloß von der korrumpierten
öffentlichen Meinung
geächtet, sondern der Aberwitz affiziert die Sache. Die
Übermacht des
Seienden, das den Geist dazu verhält, es ihm gleichzutun, ist
so
überwältigend, daß selbst die
unassimilierte Äußerung des Protests ihr
gegenüber etwas Handgewebtes, Unorientiertes, Ungewitzigtes
annimmt und
an jene Provinzialität gemahnt, die einmal prophetisch das
Moderne der
Rückständigkeit verdächtigte. Der
psychologischen Regression der
Individuen, die ohne Ich existieren, ist angemessen eine Regression des
objektiven Geistes, in der Stumpfsinn, Primitivität und
Ausverkauf das
längst historisch Verfallene als jüngste
geschichtliche Macht
durchsetzen und dafür alles dem Verdikt des Vorgestrigen
überantworten,
was dem Zug der Regression nicht eifrig sich anvertraut. Solches quid
pro quo von Fortschritt und Reaktion macht die Orientierung in der
zeitgenössischen Kunst fast so schwierig wie die politische,
und lähmt
überdies die Produktion selber, in der, wer an extremen
Intentionen
festhält, wie ein Hinterwäldler sich fühlen
muß, während der Konformist
nicht länger verschämt in der Gartenlaube sitzt,
sondern mit dem
Raketenflugzeug vorstößt ins Plusquamperfekt.
141
La nuance / encor'. - Die Forderung des Verzichts von Denken und
Auskunft auf Nuancen ist nicht summarisch damit abzufertigen,
daß sie
dem vorherrschenden Stumpfsinn sich beuge. Könnte die
sprachliche
Nuance nicht mehr wahrgenommen werden, so beträfe das sie
selber und
nicht bloß die Rezeption. Sprache ist der eigenen objektiven
Substanz
nach gesellschaftlicher Ausdruck, auch wo sie als individueller schroff
von der Gesellschaft sich sonderte. Veränderungen, die in der
Kommunikation ihr widerfahren, reichen in das unkommunikative Material
des Schriftstellers hinein. Was an Worten und Sprachformen vom Gebrauch
verdorben werd, gelangt beschädigt in die
zurückgezogene Werkstatt.
Dort aber lassen sich die geschichtlichen Schäden nicht
reparieren.
Geschichte tangiert die Sprache nicht nur, sondern ereignet sich mitten
in ihr. Was dem Gebrauch zum Trotz weitergebraucht wird, stellt
einfältig provinziell oder gemächlich restaurativ
sich dar. So
gründlich werden alle Nuancen in »flavor«
verkehrt und losgeschlagen,
daß selbst avancierte literarische Subtilitäten an
verkommene Wörter
wie Glast, versonnen, lauschig, würzig erinnern. Die
Veranstaltungen
gegen den Kitsch werden kitschig, kunstgewerblich, mit einem Beiklang
des dümmlich Tröstenden aus jener Welt der Frau,
deren Seelentum in
Deutschland samt Laute und Eigenkleid sich gleichschaltete. In dem
gepflegten Niveauschund, mit dem glücklich dort
überlebende
Intellektuelle um die vakanten Stellen der Kultur sich bewerben, liest
sich als altfränkische Ziererei, was gestern noch sprachlich
bewußt und
konventionsfeindlich dünkte. Das Deutsche scheint vor die
Alternative
eines abscheulich zweiten Biedermeiers oder der
administrativ-papierenen Banausie gestellt. Die Simplifizierung jedoch,
die nicht bloß vom Marktinteresse, sondern von triftigen
politischen
Motiven und schließlich vom geschichtlichen Stand der Sprache
selber
suggeriert wird, überwindet nicht sowohl die Nuance, als
daß sie deren
Verfall tyrannisch befördert. Sie bringt Opfer der Allmacht
der
Gesellschaft dar. Aber diese ist gerade um ihrer Allmacht willen dem
Subjekt von Erkenntnis und Ausdruck so inkommensurabel und fremd wie
nur in den harmloseren Zeiten, da es der Alltagssprache auswich.
Daß
die Menschen von der Totalität aufgesaugt werden, ohne der
Totalität
als Menschen mächtig zu sein, macht die institutionalisierten
Sprachformen so nichtig wie die naiv individuellen Valeurs, und ebenso
fruchtlos bleibt der Versuch, jene durch- Aufnahme ins literarische
Medium umzufunktionieren: Ingenieurpose dessen, der kein Diagramm lesen
kann. Die Kollektivsprache, die den Schriftsteller lockt, der seiner
Isolierung als Romantik mißtraut, ist nicht weniger
romantisch: er
usurpiert die Stimme derer, für die er unmittelbar, als einer
von
ihnen, gar nicht sprechen kann, weil seine Sprache, durch
Verdinglichung, von ihnen so getrennt ist wie alle voneinander; weil
die gegenwärtige Gestalt des Kollektivs an sich selber
sprachlos ist.
Kein Kollektiv heute, dem der Ausdruck des Subjekts sich
überließe, ist
schon Subjekt. Wer nicht dem offiziellen Hymnenton totalitär
überwachter Befreiungsfeste sich verschreibt, sondern mit der
von Roger
Caillois zweideutig genug empfohlenen aridité ernst es
meint, erfährt
die objektive Disziplin lediglich privativ, ohne ein konkret
Allgemeines dafür zurückzuerhalten. Der Widerspruch
zwischen der
Abstraktheit jener Sprache, die mit dem bürgerlich Subjektiven
aufräumen will, und ihren nachdrücklich konkreten
Gegenständen liegt
nicht beim Unvermögen der Schriftsteller, sondern bei der
historischen
Antinomie. Jenes Subjekt will sich ans Kollektiv zedieren, ohne in ihm
aufgehoben zu sein. Darum behält gerade sein Verzicht aufs
Private ein
Privates, Schimärisches. Seine Sprache ahmt auf eigene Faust
die
straffe Konstruktion der Gesellschaft nach und wähnt, sie
hätte den
Beton zur Rede erweckt. Zur Strafe begeht die unbestätigte
Gemeinschaftssprache unablässig faux Pas, Sachlichkeit auf
Kosten der
Sache, nicht gar so verschieden vom Bürger, wenn er einmal
hohen Stil
deklamierte. Die Konsequenz aus dem Verfall der Nuance wäre
nicht, an
der verfallenen obstinat festzuhalten und auch nicht, jegliche zu
exstirpieren, sondern sie an Nuanciertheit womöglich zu
überbieten, so
weit sie zu treiben, bis sie aus der subjektiven Abschattung
umschlägt
in die reine spezifische Bestimmung des Gegenstandes. Der Schreibende
muß die genaueste Kontrolle darüber, daß
das Wort die Sache und nur
diese, ohne Seitenblick, meint, verbinden mit dem Abklopfen jeglicher
Wendung, der geduldigen Anstrengung zu hören, was sprachlich,
an sich,
trägt und was nicht. Die Furcht aber, trotz allem hinter dem
Zeitgeist
zurückzubleiben und auf den Kehrichthaufen der ausrangierten
Subjektivität geworfen zu werden, ist daran zu erinnern,
daß das
arriviert Zeitgemäße und das dem Gehalt nach
Fortgeschrittene nicht
mehr eines sind. In einer Ordnung, die das Moderne als
rückständig
liquidiert, kann solchem Rückständigen, ist es einmal
vom Urteil
ereilt, die Wahrheit zufallen, über die der historische
Prozeß
hinwegrollt. Weil keine Wahrheit ausgedrückt werden kann, als
die das
Subjekt zu füllen vermag, wird der Anachronismus zur Zuflucht
des
Modernen.
142
Dem folgt deutscher Gesang. - Den freien Vers haben Künstler
wie George
als Mißform, als Zwitter von gebundener Rede und Prosa
verworfen. Sie
werden darin von Goethe und von Hölderlins späten
Hymnen widerlegt. Ihr
technischer Blick nimmt den freien Vers hin, wie er sich gibt. Sie
machen sich taub gegen die Geschichte, die seinen Ausdruck
prägt. Nur
im Zeitalter ihres Verfalls sind die freien Rhythmen nichts als
untereinander gesetzte Prosaperioden von gehobenem Ton. Wo der freie
Vers als Form eigenen Wesens sich erweist, ist er aus der gebundenen
Strophe hervorgegangen, über die Subjektivität
hinausdrängt. Er wendet
das Pathos des Metrons gegen dessen eigenen Anspruch, strenge Negation
des Strengsten, so wie die musikalische Prosa, von der Symmetrie der
Achttaktigkeit emanzipiert, sich den unerbittlichen
Konstruktionsprinzipien verdankt, die in der Artikulation des tonal
Regelmäßigen heranreiften. In den freien Rhythmen
werden die Trümmer
der kunstvoll-reimlosen antiken Strophen beredt. Fremd ragen diese in
die neuen Sprachen hinein und taugen kraft solcher Fremdheit zum
Ausdruck dessen, was in Mitteilung sich nicht erschöpft. Aber
unrettbar
geben sie der Flut der Sprachen nach, in denen sie aufgerichtet waren.
Brüchig nur, mitten im Reich der Kommunikation und durch keine
Willkür
von diesem zu scheiden, bedeuten sie Distanz und Stilisierung,
inkognito gleichsam und privilegienlos, bis in solcher Lyrik wie der
Trakls die Wellen des Traums über den hilflosen Versen
zusammenschlagen. Nicht umsonst war die Epoche der freien Rhythmen die
französische Revolution, der Einstand von
Menschenwürde und
-gleichheit. Aber ist nicht das bewußte Verfahren solcher
Verse ähnlich
dem Gesetz, welchem Sprache überhaupt in ihrer
bewußtlosen Geschichte
gehorcht? Ist nicht alle gearbeitete Prosa eigentlich ein System freier
Rhythmen, der Versuch, den magischen Bann des Absoluten und die
Negation seines Scheins zur Deckung zu bringen, eine Anstrengung des
Geistes, die metaphysische Gewalt des Ausdrucks vermöge ihrer
eigenen
Säkularisierung zu erretten? Wäre dem so, dann fiele
ein Strahl von
Licht auf die Sisyphuslast, die jeder Prosaschriftsteller auf sich
genommen hat, seitdem Entmythologisierung in die Zerstörung
von Sprache
selber übergegangen ist. Sprachliche Don Quixoterie ward zum
Gebot,
weil jedes Satzgefüge beiträgt zur Entscheidung
darüber, ob die Sprache
als solche, zweideutig von Urzeiten her, dem Betrieb verfällt
und der
geweihten Lüge, die zu diesem gehört, oder ob sie zum
heiligen Text
sich bereitet, indem sie sich spröde macht gegen das sakrale
Element,
aus dem sie lebt. Die asketische Abdichtung der Prosa gegen den Vers
gilt der Beschwörung des Gesangs.
143
In nuce. - Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu
bringen.
Künstlerische Produktivität ist das Vermögen
der Willkür im Unwillkürlichen.
Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.
Da die Kunstwerke nun einmal von den Fetischen abstammen - sind die
Künstler zu tadeln, wenn sie zu ihren Produkten ein wenig
fetischistisch sich verhalten?
Die Kunstform, welche von altersher als Darstellung der Idee den
höchsten Anspruch auf Vergeistigung erhebt, das Drama, ist
zugleich
seinen innersten Voraussetzungen nach unabdingbar auf ein Publikum
verwiesen.
Wenn Benjamin meinte, daß in Malerei und Plastik die stumme
Sprache der
Dinge in eine höhere, aber ihr ähnliche
übersetzt sei, so ließe von der
Musik sich annehmen, daß sie den Namen als reinen Laut
errettet - aber
um den Preis seiner Trennung von den Dingen.
Vielleicht ist der strenge und reine Begriff von Kunst
überhaupt nur
der Musik zu entnehmen, während große Dichtung und
große Malerei -
gerade die große - notwendig ein Stoffliches, den
ästhetischen
Bannkreis Überschreitendes, nicht in die Autonomie der Form
Aufgelöstes
mit sich führt. Je tiefer und folgerichtiger die
Ästhetik, um so
unangemessener ist sie etwa den bedeutenden Romanen des neunzehnten
Jahrhunderts. Dies Interesse hat Hegel in seiner Polemik gegen Kant
wahrgenommen.
Der von den Ästhetikern verbreitete Glaube, das Kunstwerk
wäre, als
Gegenstand unmittelbarer Anschauung, rein aus sich heraus zu verstehen,
ist nicht stichhaltig. Er hat seine Grenze keineswegs bloß an
den
kulturellen Voraussetzungen eines Gebildes, seiner
»Sprache«, der nur
der Eingeweihte folgen kann. Sondern selbst wo keine Schwierigkeiten
solcher Art im Wege sind, verlangt das Kunstwerk mehr, als
daß man ihm
sich überläßt. Wer die Fledermaus
schön finden will, der muß wissen,
daß es die Fledermaus ist: ihm muß die Mutter
erklärt haben, daß es
nicht um das geflügelte Tier, sondern um ein
Maskenkostüm sich handelt;
er muß daran sich erinnern, daß ihm gesagt ward:
morgen darfst du in
die Fledermaus. In der Tradition stehen hieß: das Kunstwerk
als ein
bestätigtes, geltendes erfahren; in ihm teilhaben an den
Reaktionen all
derer, die zuvor es sahen. Fällt das einmal fort, so liegt das
Werk in
seiner Blöße und Fehlbarkeit zutage. Die Handlung
wird aus einem Ritual
zur Idiotie, die Musik aus einem Kanon sinnvoller Wendungen schal und
abgestanden. Es ist wirklich nicht mehr so schön. Daraus zieht
die
Massenkultur ihr Recht zur Adaptation. Die Schwäche aller
traditionellen Kultur außerhalb ihrer Tradition liefert den
Vorwand,
sie zu verbessern und damit barbarisch zu verschandeln.
Das Tröstliche der großen Kunstwerke liegt weniger
in dem, was sie
aussprechen, als darin, daß es ihnen gelang, dem Dasein sich
abzutrotzen. Hoffnung ist am ehesten bei den trostlosen.
Kafka: der Solipsist ohne ipse.
Kafka war ein eifriger Leser Kierkegaards, aber er hängt mit
der
Existentialphilosophie nur so weit zusammen, wie man von
»vernichteten
Existenzen« spricht.
Der Surrealismus bricht die promesse du bonheur. Er opfert den Schein
des Glücks, den jegliche integrale Form vermittelt, dem
Gedanken an
dessen Wahrheit auf.
144
Zauberflöte. - Jene kulturkonservative Ideologie, welche
Aufklärung und
Kunst in einfachen Gegensatz bringt, ist unwahr auch insofern, als sie
das Moment von Aufklärung in der Genesis des Schönen
verkennt.
Aufklärung löse nicht bloß alle
Qualitäten auf, an denen das Schöne
haftet, sondern setzt zugleich erst die Qualität des
Schönen selber.
Das interesselose Wohlgefallen, das Kant zufolge Kunstwerke erregen,
kann nur kraß einer historischen Antithetik verstanden
werden, die in
jedem ästhetischen Objekte nachzittert. Wohlgefällig
ist das
interesselos Betrachtete, weil es einmal das
äußerste Interesse
beanspruchte und damit der Betrachtung gerade sich entzog. Diese ist
ein Triumph aufgeklärter Selbstdisziplin. Gold und Edelsteine,
in deren
Perzeption Schönheit und Luxus ungeschieden noch ineinander
liegen,
waren als magisch verehrt. Das Licht, das sie zurückstrahlen,
galt für
ihr eigenes Wesen. Ihrem Bann gehorcht, was von jenem Licht getroffen
wird. Seiner bediente sich frühe Naturbeherrschung. Sie sah in
ihnen
Instrumente, den Weltlauf mit seiner eigenen, ihm abgelisteten Kraft zu
unterjochen. Der Zauber haftete am Schein von Allmacht. Solcher Schein
zerging mit der Selbstaufklärung des Geistes, aber der Zauber
hat
überlebt als Macht der aufleuchtenden Dinge über die
Menschen, die
davor einstmals erschauerten, und deren Auge von solchem Schauer
gebannt bleibt, auch nachdem sein herrschaftlicher Anspruch durchschaut
war. Kontemplation ist als Restbestand fetischistischer Anbetung
zugleich eine Stufe von deren Überwindung. Indem die
aufleuchtenden
Dinge ihres magischen Anspruchs sich begeben, gleichsam auf die Gewalt
verzichten, die das Subjekt ihnen zutraute und mit ihrer Hilfe selber
auszuüben gedachte, wandeln sie sich zu Bildern des
Gewaltlosen, zum
Versprechen eines Glücks, das von der Herrschaft über
Natur genas. Das
ist die Urgeschichte des Luxus, eingewandert in den Sinn aller Kunst.
Im Zauber dessen, was in absoluter Ohnmacht sich enthüllt, des
Schönen,
vollkommen und nichtig in eins, spiegelt der Schein von Allmacht
negativ als Hoffnung sich wider. Es ist jeglicher Machtprobe entronnen.
Totale Zwecklosigkeit dementiert die Totalität des
Zweckmäßigen in der
Welt der Herrschaft, und nur kraft solcher Verneinung, welche das
Bestehende an seinem eigenen Vernunftprinzip aus dessen Konsequenz
vollbringt, wird bis zum heutigen Tage die existierende Gesellschaft
einer möglichen sich bewußt. Die Seligkeit von
Betrachtung besteht im
entzauberten Zauber. Was aufleuchtet, ist die Versöhnung des
Mythos.
145
Kunstfigur. - Den Unvorbereiteten erschrecken angehäufte
Hausgreuel
durch ihre Verwandtschaft mit den Kunstwerken. Noch der
halbkugelförmige Briefbeschwerer, der unter Glas eine
Fichtenlandschaft
mit der Unterschrift Gruß aus Bad Wildungen trägt,
mahnt in etwas an
Stifters grüne Fichtau, noch der polychrome Gartenzwerg an
einen Wicht
aus Balzac oder Dickens. Schuld sind weder bloß die Sujets
noch die
abstrakte Ähnlichkeit allen ästhetischen Scheins
überhaupt. Albern und
unverhohlen vielmehr spricht die Existenz des Schunds den Triumph aus,
daß es den Menschen gelang, von sich aus ein Stück
dessen noch einmal
hervorzubringen, worin sie sonst als Mühselige gebannt sich
finden, und
den Zwang der Anpassung symbolisch zu brechen, indem sie selber
schaffen, was sie fürchteten; und vom Echo des gleichen
Triumphs hallen
die mächtigsten Werke wider, die ihn sich versagen und als
reines
Selbst ohne Beziehung auf ein Nachgeahmtes sich dünken. Hier
wie dort
wird Freiheit von Natur zelebriert und bleibt dabei mythisch befangen.
Was den Menschen in Schauer verhielt, wird zu seiner eigenen
verfügbaren Sache. Bilder und Bildchen haben gemein,
daß sie die
Urbilder hantierbar machen. Die Illustration
»L'automne« im Lesebuch
ist ein déjà vu, die Eroica, gleich der
großen Philosophie, stellt die
Idee als totalen Prozeß dar, doch als wäre dieser
unmittelbar, sinnlich
gegenwärtig. Am Ende ist die Empörung über
den Kitsch die Wut darüber,
daß er schamlos im Glück der Nachahmung schwelgt,
die mittlerweile vom
Tabu ereilt ward, während die Kraft der Kunstwerke geheim
stets noch
von Nachahmung gespeist wird. Was dem Bann des Daseins, seinen Zwecken
entrinnt, ist nicht nur das protestierende Bessere, sondern auch das
zur Selbstbehauptung Unfähige, Dümmere. Diese
Dummheit wächst an, je
mehr autonome Kunst ihre abgespaltene, vorgeblich unschuldige
Selbstbehauptung anstelle der realen, schuldhaft herrischen
vergötzt.
Indem die subjektive Veranstaltung als gelungene Rettung objektiven
Sinnes auftritt, wird sie unwahr. Dessen überführt
sie der Kitsch;
seine Lüge fingiert nicht erst Wahrheit. Er zieht Feindschaft
auf sich,
weil er das Geheimnis von Kunst ausplaudert und etwas von der
Verwandtschaft der Kultur mit den Wilden. Jedes Kunstwerk hat seinen
unauflöslichen Widerspruch in der
»Zweckmäßigkeit ohne Zweck«,
durch
die Kant das Ästhetische definierte; daran, daß es
eine Apotheose des
Machens, der naturbeherrschenden Fähigkeit darstellt, die als
Schöpfung
zweiter Natur absolut, zweckfrei, an sich seiend sich setzt,
während
doch zugleich Machen selber, ja gerade die Gloriole des Artefakts
untrennbar ist von eben der Zweckrationalität, aus der Kunst
ausbrechen
will. Der Widerspruch des Gemachten und Seienden ist das Lebenselement
der Kunst und umschreibt ihr Entwicklungsgesetz, aber er ist auch ihre
Schande: indem sie, wie sehr auch vermittelt, dem je Vorfindlichen
Schema der materiellen Produktion folgt und ihre Gegenstände
»macht«,
kann sie als seinesgleichen der Frage des Wozu nicht entgehen, deren
Negation gerade ihr Zweck ist. Je näher die Produktionsweise
des
Artefakts der materiellen Massenproduktion steht, um so naiver
gleichsam provoziert es jene tödliche Frage. Die Kunstwerke
aber
versuchen die Frage zum Schweigen zu verhalten. »Das
Vollkommene solle,
nach Nietzsches Wort, »nicht geworden seine (Menschliches,
Allzumenschliches I, Aph. 145), nämlich als nicht gemacht
erscheinen.
Je konsequenter jedoch es durch Vollkommenheit vom Machen sich
distanziert, um so brüchiger wird notwendig zugleich sein
eigenes
gemachtes Dasein: die endlose Mühe, die Spur des Machens zu
verwischen,
lädiert die Kunstwerke und verurteilt sie zum
Fragmentarischen. Kunst
hat, nach dem Zerfall der Magie, es unternommen, die Bilder
fortzuerben. An dies Werk aber begibt sie sich kraft des gleichen
Prinzips, das die Bilder zerstörte: der Stamm ihres
griechischen Namens
ist der gleiche wie der von Technik. Ihre paradoxe Verflechtung in den
zivilisatorischen Prozeß bringt sie in Konflikt mit der
eigenen Idee.
Die Archetypen von heutzutage, die der Film und die Schlager
für die
verödete Anschauung der spätindustriellen Phase
synthetisch zubereiten,
liquidieren Kunst nicht bloß, sondern sprengen im eklatanten
Schwachsinn den Wahn zutage, der den ältesten Kunstwerken
schon
eingemauert ist und der noch dem reiferen die Gewalt verleiht. Grell
bestrahlt das Grauen des Endes den Trug des Ursprungs. - Es ist die
Chance und Schranke der französischen Kunst, daß sie
den Stolz des
Bildchenmachens nie ganz ausrottete, wie sie denn von der deutschen am
sinnfälligsten dadurch sich unterscheidet, daß sie
den Begriff des
Kitschs nicht anerkennt. In zahllosen bedeutenden Manifestationen wirft
sie einen versöhnlichen Blick auf das, was gefällt,
weil es geschickt
gefertigt ward: das sublim Artistische hält sich am sinnlichen
Leben
durch ein Moment des harmlosen Vergnügens am bien fait.
Während damit
auf den absoluten Anspruch des ungeworden Vollkommenen, die Dialektik
von Wahrheit und Schein verzichtet ist, wird zugleich die Unwahrheit
der von Haydn so genannten Großmogule vermieden, die mit dem
Spaß an
Männchen und Bildchen schlechterdings nichts mehr zu schaffen
haben
möchten und dem Fetischismus verfallen, indem sie die Fetische
austreiben. Geschmack ist die Fähigkeit, den Widerspruch
zwischen dem
Gemachten und dem Schein des Ungewordenen in der Kunst zu balancieren;
die wahren Kunstwerke aber, niemals einig mit dem Geschmack, sind die,
welche jenen Widerspruch im Extrem ausprägen und zu sich
selber kommen,
indem sie daran zugrunde gehen.
146
Kaufmannsladen. - Hebbel wirft in einer überraschenden
Tagebuchnotiz
die Frage auf, was »dem Leben den Zauber in späteren
Jahren« nähme.
Weil wir in all den bunten verzerrten Puppen die Walze sehen, die sie
in Bewegung setzt, und weil eben darum die reizende Mannigfaltigkeit
der Welt sich in eine hölzerne Einförmigkeit
auflöst. Wenn einmal ein
Kind die Seiltänzer singen, die Musikanten blasen, die
Mädchen Wasser
tragen, die Kutscher fahren sieht, so denkt es, das geschähe
alles aus
Lust und Freude an der Sache; es kann sich gar nicht vorstellen,
daß
diese Leute auch essen und trinken, zu Bett gehen und wieder aufstehen.
Wir aber wissen, worum es geht.« Nämlich um den
Erwerb, der alle jene
Tätigkeiten als bloße Mittel beschlagnahmt,
vertauschbar reduziert auf
die abstrakte Arbeitszeit. Die Qualität der Dinge wird aus dem
Wesen
zur zufälligen Erscheinung ihres Wertes. Die
»Äquivalentform«
verunstaltet alle Wahrnehmungen: das, worin nicht mehr das Licht der
eigenen Bestimmung als »Lust an der Sache«
leuchtet, verblaßt dem Auge.
Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der
Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder
für ein
anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen
alles in
Grau, enttäuscht durch den trugvollen Anspruch der
Qualitäten,
überhaupt noch da zu sein, während sie nach den
Zwecken der Aneignung
sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz einzig verdanken. Die
Entzauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf
ihre objektive Bestimmung als »Warenwelt«. Erst die
von Aneignung
gereinigten Dinge wären bunt und nützlich zugleich:
unter universalem
Zwang läßt beides nicht sich versöhnen. Die
Kinder aber sind nicht
sowohl, wie Hebbel meint, befangen in Illusionen über die
»reizende
Mannigfaltigkeit«, als daß ihre spontane
Wahrnehmung den Widerspruch
zwischen dem Phänomen und der Fungibilität, an den
die resignierte der
Erwachsenen schon nicht mehr heranreicht, noch begreift und ihm zu
entrinnen sucht. Spiel ist ihre Gegenwehr. Dem unbestechlichen Kind
fällt die »Eigentümlichkeit der
Äquivalentform« auf: »Gebrauchswert
wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts.«
(Marx, Kapital
I, Wien 1932, S. 61) In seinem zwecklosen Tun schlägt es mit
einer
Finte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert.
Gerade indem es die Sachen, mit denen es hantiert, ihrer vermittelten
Nützlichkeit entäußert, sucht es im Umgang
mit ihnen zu erretten, womit
sie den Menschen gut und nicht dem Tauschverhältnis zu willen
sind, das
Menschen und Sachen gleichermaßen deformiert. Der kleine
Rollwagen
fährt nirgendwohin, und die winzigen Fässer darauf
sind leer; aber sie
halten ihrer Bestimmung die Treue, indem sie sie nicht
ausüben, nicht
teilhaben an dem Prozeß der Abstraktionen, der jene
Bestimmung an ihnen
nivelliert, sondern als Allegorien dessen stillhalten, wozu sie
spezifisch da sind. Versprengt zwar, doch unverstrickt warten sie, ob
einmal die Gesellschaft das gesellschaftliche Stigma auf ihnen tilgt;
ob der Lebensprozeß zwischen Mensch und Sache, die Praxis
aufhören
wird, praktisch zu sein. Die Unwirklichkeit der Spiele gibt kund,
daß
das Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewußtlose
Übungen zum
richtigen Leben. Vollends beruht das Verhältnis der Kinder zu
den
Tieren darauf, daß die Utopie in jene sich vermummt, denen
Marx es
nicht einmal gönnt, daß sie als Arbeitende Mehrwert
liefern. Indem die
Tiere ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen
sie als Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor, das schlechterdings
nicht Vertauschbare. Das macht sie den Kindern lieb und ihre
Betrachtung selig. Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des
Nashorns. Märchen und Operetten kennen solche Bilder, und die
lächerliche Frage der Frau, woher wir
wüßten, daß der Orion auch in der
Tat Orion heißt, erhebt sich zu den Sternen.
147
Novissimum Organum. - Längst ward dargetan, daß die
Lohnarbeit die
neuzeitlichen Massen geformt, ja den Arbeiter selbst hervorgebracht
hat. Allgemein ist das Individuum nicht bloß das biologische
Substrat,
sondern zugleich die Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses,
und sein Bewußtsein von sich selbst als einem an sich
Seienden jener
Schein, dessen es zur Steigerung der Leistungsfähigkeit
bedarf, während
der Individuierte in der modernen Wirtschaft als bloßer Agent
des
Wertgesetzes fungiert. Die innere Komposition des Individuums an sich,
nicht bloß dessen gesellschaftliche Rolle wäre
daraus abzuleiten.
Entscheidend ist dabei in der gegenwärtigen Phase die
Kategorie der
organischen Zusammensetzung des Kapitals. Darunter verstand die
Akkumulationstheorie »das Wachstum in der Masse der
Produktionsmittel,
verglichen mit der Masse der sie belebenden Arbeitskraft«
(Marx,
Kapital I, Wien 1932, Seite 655). Wenn die Integration der
Gesellschaft, zumal in den totalitären Staaten, die Subjekte
immer
ausschließlicher als Teilmomente im Zusammenhang der
materiellen
Produktion bestimmt, dann setzt die »Veränderung in
der technischen
Zusammensetzung des Kapitals« in den durch die
technologischen
Anforderungen des Produktionsprozesses Erfaßten und
eigentlich
überhaupt erst Konstituierten sich fort. Es wächst
die organische
Zusammensetzung des Menschen an. Das, wodurch die Subjekte in sich
selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt
sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem
variablen
Kapital. Die geläufige Rede von der
»Mechanisierung« des Menschen ist
trügend, weil sie diesen als ein Statisches denkt, das durch
»Beeinflussung« von außen, Anpassung an
ihm äußerliche
Produktionsbedingungen gewissen Deformationen unterliege. Aber es gibt
kein Substrat solcher »Deformationen«, kein ontisch
Innerliches, auf
welches gesellschaftliche Mechanismen von außen
bloß einwirkten: die
Deformation ist keine Krankheit an den Menschen, sondern die der
Gesellschaft, die ihre Kinder so zeugt, wie der Biologismus auf die
Natur es projiziert: sie »erblich belastete. Nur indem der
Prozeß, der
mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen
samt und sonders durchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart
des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht
und
vergegenständlicht, wird es möglich, daß
das Leben unter den
herrschenden Produktionsverhältnissen sich reproduziert. Seine
Durchorganisation verlangt den Zusammenschluß von Toten. Der
Wille zum
Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen:
Selbsterhaltung annulliert Leben an der Subjektivität.
Demgegenüber
sind alle die Leistungen von Anpassung, alle die Akte des
Konformierens, welche Sozialpsychologie und kulturelle Anthropologie
beschreiben, bloße Epiphänomene. Die organische
Zusammensetzung des
Menschen bezieht sich keineswegs nur auf die spezialistischen
technischen Fähigkeiten, sondern - und das will die
übliche
Kulturkritik um keinen Preis worthaben - ebenso auf deren Gegensatz,
die Momente des Naturhaften, die freilich ihrerseits schon in
gesellschaftlicher Dialektik entsprangen und ihr nun verfallen. Noch
was im Menschen von der Technik differiert, wird als eine Art von
Lubrikation der Technik eingegliedert. Die psychologische
Differenzierung, wie sie ursprünglich aus der Arbeitsteilung
und der
Zerlegung des Menschen nach Sektoren des Produktionsprozesses und der
Freiheit sich ergab, tritt am Ende selbst noch in den Dienst der
Produktion. »Der spezialistische 'Virtuose'«,
schrieb ein Dialektiker
vor dreißig Jahren, »der Verkäufer seiner
objektivierten und
versachlichten geistigen Fähigkeiten ... gerät auch
in eine
kontemplative Attitude zu dem Funktionieren seiner eigenen,
objektivierten und versachlichten Fähigkeiten. Am groteskesten
zeigt
sich diese Struktur im Journalismus, wo gerade die
Subjektivität
selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucksfähigkeit zu
einem
abstrakten, sowohl von der Persönlichkeit des 'Besitzers' wie
von dem
materiell-konkreten Wesen der behandelten Gegenstände
unabhängigen und
eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus wird. Die
'Gesinnungslosigkeit' der Journalisten, die Prostitution ihrer
Erlebnisse und Überzeugungen ist nur als Gipfelpunkt der
kapitalistischen Verdinglichung begreifbar.« Was hier an den
»Entartungserscheinungen« des Bürgertums
festgestellt wird, die es
selber noch denunzierte, ist mittlerweile als die gesellschaftliche
Norm hervorgetreten, als Charakter der vollwertigen Existenz unterm
späten Industrialismus. Längst handelt es sich nicht
mehr um den bloßen
Verkauf des Lebendigen. Unterm Apriori der Verkäuflichkeit hat
das
Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding gemacht, zur Equipierung.
Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt
in den
Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so
viel von sich an das Ich als Betriebsmittel ab, daß es ganz
abstrakt,
bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst.
Die
Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen
Wutanfall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in
ihrem
situationsgerechten Einsatz aufgehen. Mit ihrer Mobilisierung
verändern
sie sich. Sie bleiben nur noch als leichte, starre und leere
Hülsen von
Regungen zurück, beliebig transportabler Stoff, eigenen Zuges
bar. Sie
sind nicht mehr Subjekt, sondern das Subjekt richtet sich auf sie als
sein inwendiges Objekt. In ihrer grenzenlosen Gefügigkeit
gegens Ich
sind sie diesem zugleich entfremdet: als ganz passive nähren
sie es
nicht länger. Das ist die gesellschaftliche Pathogenese der
Schizophrenie. Die Trennung der Eigenschaften vom Triebgrund sowohl wie
vom Selbst, das sie kommandiert, wo es vormals bloß
zusammenhielt, läßt
den Menschen für seine anwachsende innere Organisation mit
anwachsender
Desintegration bezahlen. Die im Individuum vollendete Arbeitsteilung,
seine radikale Objektivation, kommt auf seine kranke Aufspaltung
heraus. Daher der »psychotische Charaktere, die
anthropologische
Voraussetzung aller totalitären Massenbewegungen. Gerade der
Übergang
fester Eigenschaften in einschnappende Verhaltensweisen - scheinbar
Verlebendigung - ist Ausdruck der steigenden organischen
Zusammensetzung. Quickes Reagieren, ledig der Vermittlung durchs
Beschaffensein, stellt nicht Spontaneität wieder her, sondern
etabliert
die Person als Meßinstrument, disponibel und ablesbar
für die Zentrale.
Je unmittelbarer es seinen Ausschlag gibt, desto tiefer hat in Wahrheit
Vermittlung sich niedergeschlagen: in den prompt antwortenden,
widerstandslosen Reflexen ist das Subjekt ganz gelöscht. So
sind denn
auch die biologischen Reflexe, Modelle der gegenwärtigen
gesellschaftlichen, gemessen an Subjektivität ein
Gegenständliches,
Fremdes: nicht umsonst heißen sie oft
»mechanisch«. Je näher Organismen
dem Tod, um so mehr regredieren sie auf Zuckungen. Danach
wären die
Destruktionstendenzen der Massen, die in den totalitären
Staaten beider
Spielarten explodieren, nicht so sehr Todeswünsche wie
Manifestationen
dessen, wozu sie schon geworden sind. Sie morden, damit ihnen gleicht,
was lebendig ihnen dünkt.
148
Abdeckerei. - Die metaphysischen Kategorien sind nicht bloß
die
verdeckende Ideologie des gesellschaftlichen Systems, sondern
drücken
jeweils zugleich dessen Wesen aus, die Wahrheit über es, und
in ihren
Veränderungen schlagen die der zentralsten Erfahrungen sich
nieder. So
fällt der Tod in die Geschichte, und diese
läßt umgekehrt an ihm sich
begreifen. Seine Würde glich der des Individuums. Dessen
ökonomisch
entsprungene Autonomie vollendet sich in der Vorstellung seiner
Absolutheit, sobald die theologische Hoffnung auf seine
Unsterblichkeit, die empirisch es relativierte, verblaßt. Dem
entsprach
das emphatische Bild des Todes, der das Individuum, das Substrat allen
bürgerlichen Verhaltens und Denkens, ganz auslöscht.
Er war der
absolute Preis des absoluten Wertes. Nun stürzt er mit dem
gesellschaftlich aufgelösten Individuum. Wo er mit der alten
Würde
bekleidet wird, klappert er als die Lüge, die in seinem
Begriff stets
schon bereit stand: das Undurchdringliche zu nennen, über das
Subjektlose zu prädizieren, das Herausfallende einzubauen. Im
vorwaltenden Bewußtsein aber ist Wahrheit und Unwahrheit
seiner Würde
dahin, nicht kraft jenseitiger Hoffnung, sondern angesichts der
hoffnungslosen Unkraft des Diesseitigen. »Le monde
moderne«, notierte
der radikale Katholik Charles Péguy 1907 schon, »a
réussi à avilir ce
qu'il y a peut-être de plus difficile à avilir au
monde, parce que
c'est quelque chose qui a en soi, comme dans sa texture, une sorte
particulière de dignité, comme une
incapacité singulière d'être avili:
il avilit la mort.« (Men and Saints, New York 1944, S. 98)
Wenn das
Individuum, das der Tod vernichtet, nichtig, der Selbstbeherrschung und
des eigenen Seins bar ist, dann wird nichtig auch die vernichtende
Macht, wie im Witz auf die Heideggersche Formel vom nichtenden Nichts.
Die radikale Ersetzbarkeit des Einzelnen macht praktisch, in
vollkommener Verachtung seinen Tod zu dem Widerruflichen, als das er
einst im Christentum mit paradoxem Pathos konzipiert war. Als
quantité
négligeable aber wird der Tod ganz eingegliedert. Die
Gesellschaft hält
für jeden Menschen, mit all seinen Funktionen, den wartenden
Hintermann
bereit, dem jener sowieso von Anbeginn als störender Inhaber
der
Arbeitsstelle, als Todesanwärter gilt. Danach wandelt sich die
Erfahrung des Todes in die des Austauschs von Funktionären,
und was vom
Naturverhältnis des Todes ins gesellschaftliche nicht vollends
eingeht,
wird der Hygiene überlassen. Indem der Tod als nichts anderes
mehr
wahrgenommen ist denn als das Ausscheiden eines natürlichen
Lebewesens
aus dem Verband der Gesellschaft, hat dieser ihn schließlich
domestiziert: Sterben bestätigt bloß noch die
absolute Irrelevanz des
natürlichen Lebewesens gegenüber dem gesellschaftlich
Absoluten. Wenn
irgend die Kulturindustrie Zeugnis ablegt von den
Veränderungen in der
organischen Zusammensetzung der Gesellschaft, dann durchs kaum
verhüllte Eingeständnis dieser Sachverhalte. Unter
ihrer Linse beginnt
der Tod komisch zu werden. Wohl ist das Lachen, das ihn in einem
gewissen Genre der Produktion grüßt, zweideutig. Es
meldet noch die
Angst an vor dem Amorphen unter dem Netz, mit welchem die Gesellschaft
die ganze Natur übersponnen hat. Aber die Hülle ist
schon so groß und
dicht, daß das Gedächtnis ans Unbedeckte
läppisch, sentimental dünkt.
Seitdem der Detektivroman in den Büchern von Edgar Wallace
verfiel, die
ihre Leser durch mindere rationale Konstruktion, ungelöste
Rätsel und
rohe Übertreibung zu verspotten schienen und dabei doch die
kollektive
Imago des totalitären Schreckens so großartig
vorwegnahmen, hat sich
der Typus der Mordkomödie ausgebildet. Während sie
weiter vorgibt, über
die falschen Schauer sich lustig zu machen, demoliert sie die Bilder
des Todes. Sie stellt die Leiche vor als das, wozu sie geworden ist,
als Requisit. Noch gleicht sie dem Menschen und ist doch nur ein Ding,
wie in dem Film »A slight case of murder«, wo
Leichen unablässig hin-
und hertransportiert werden, Allegorien dessen, was sie vorher schon
waren. Komik kostet die falsche Abschaffung des Todes aus, die Kafka
längst zuvor in der Geschichte vom Jäger Gracchus mit
Panik beschrieb:
um ihretwillen beginnt wohl auch Musik komisch zu werden. Was die
Nationalsozialisten an Millionen von Menschen verübt haben,
die
Musterung Lebender als Toter, dann die Massenproduktion und
Verbilligung des Todes, warf seinen Schatten voraus über jene,
die von
Leichen zum Lachen sich inspirieren lassen. Entscheidend ist die
Aufnahme der biologischen Zerstörung in den bewußten
gesellschaftlichen
Willen. Nur eine Menschheit, der der Tod so gleichgültig
geworden ist
wie ihre Mitglieder: eine die sich selber starb, kann ihn administrativ
über Ungezählte verhängen. Rilkes Gebet um
den eigenen Tod ist der
klägliche Betrug darüber, daß die Menschen
nur noch krepieren.
149
Halblang. - Der Kritik an Tendenzen der gegenwärtigen
Gesellschaft wird
automatisch, ehe sie nur ganz ausgesprochen ist, entgegengehalten, so
sei es immer schon gewesen. Die Aufregung, deren man sich prompt
erwehrt, zeuge bloß von mangelnder Einsicht in die Invarianz
der
Geschichte; von einer Unvernunft, die alle stolz als Hysterie
diagnostizieren. Überdies wird dem Ankläger bedeutet,
er wolle durch
seine Attacke sich aufspielen, das Privileg des Besonderen in Anspruch
nehmen, während doch, worüber er sich
empört, allbekannt und trivial
sei, so daß man niemandem zumuten könne, Interesse
daran zu
verschwenden. Die Evidenz des Unheils kommt dessen Apologie zugute:
weil alle es wissen, soll niemand es sagen dürfen, und gedeckt
vom
Schweigen mag es denn unangefochten weitergehen. Gehorcht wird dem, was
die Philosophie aller Nuancen den Menschen in die Köpfe
getrommelt hat:
daß, was die beharrliche Schwerkraft des Daseins auf seiner
Seite hat,
eben damit sein Recht bewies. Man braucht nur unzufrieden zu sein und
ist bereits als Weltverbesserer verdächtig. Das
Einverständnis bedient
sich des Tricks, dem Opponenten eine reaktionäre These von
Verfall
zuzuschieben, die sich nicht halten läßt - denn
perenniert nicht in der
Tat das Grauen? -, mit seinem vorgeblichen Denkfehler die konkrete
Einsicht ins Negative selber zu diskreditieren, und den, der gegen das
Finstere aufbegehrt, als Dunkelmann anzuschwärzen. Aber mag es
selbst
schon immer so gewesen sein, obwohl doch weder Timur und Dschingis Khan
noch die indische Kolonialverwaltung plangemäß
Millionen von Menschen
mit Gas die Lungen zerreißen ließen, dann offenbart
doch die Ewigkeit
des Entsetzens sich daran, daß jede seiner neuen Formen die
ältere
überbietet. Was überdauert, ist kein invariantes
Quantum von Leid,
sondern dessen Fortschritt zur Hölle: das ist der Sinn der
Rede vom
Anwachsen der Antagonismen. Jeder andere wäre harmlos und
ginge in
vermittelnde Phrasen über, den Verzicht auf den qualitativen
Sprung.
Der die Todeslager als Betriebsunfall des zivilisatorischen
Siegeszuges, das Martyrium der Juden als welthistorisch
gleichgültig
registriert, fällt nicht bloß hinter die
dialektische Ansicht zurück,
sondern verkehrt den Sinn der eigenen Politik: dem
Äußersten Einhalt zu
tun. Nicht nur in der Entfaltung der Produktivkräfte, auch in
der
Steigerung des Drucks der Herrschaft schlägt die
Quantität in die
Qualität um. Wenn die Juden als Gruppe ausgerottet werden,
während die
Gesellschaft das Leben der Arbeiter weiter reproduziert, dann wird der
Hinweis, jene seien Bürger und ihr Schicksal unwichtig
für die große
Dynamik, zur ökonomistischen Schrulle, selbst wofern der
Massenmord
tatsächlich durchs Sinken der Profitrate zu erklären
wäre. Das
Entsetzen besteht darin, daß es immer dasselbe bleibt - die
Fortdauer
der »Vorgeschichte« -, aber unablässig als
ein anderes, Ungeahntes,
alle Bereitschaft Übersteigendes sich verwirklicht, getreuer
Schatten
der sich entfaltenden Produktivkräfte. Von der Gewalt gilt die
gleiche
Doppelheit, welche die Kritik der politischen Ökonomie an der
materiellen Produktion nachwies: »Es gibt allen
Produktionsstufen
gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden,
aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind
nichts als ... abstrakte Momente, mit denen keine wirkliche
Produktionsstufe begriffen ist.« Mit anderen Worten, die
Ausabstraktion
des geschichtlich Unveränderten ist nicht kraft
wissenschaftlicher
Objektivität gegen die Sache neutral, sondern dient, selbst wo
sie
zutrifft, als Nebel, in dem das Greifbar-Angreifbare verschwimmt. Dies
genau wollen die Apologeten nicht worthaben. Sie sind einesteils
versessen auf die dernière nouveauté und leugnen
andererseits die
Höllenmaschine, die Geschichte ist. Man kann nicht Auschwitz
auf eine
Analogie mit der Zernichtung der griechischen Stadtstaaten bringen als
bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber
man den eigenen
Seelenfrieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zuvor
erfahrenen
Marter und Erniedrigung der in Viehwagen Verschleppten das
tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit, in
deren
stumpfer und planloser Gewalt die wissenschaftlich ausgeheckte
teleologisch bereits mitgesetzt war. Die Identität liegt in
der
Nichtidentität, dem noch nicht Gewesenen, das denunziert, was
gewesen
ist. Der Satz, es sei immer dasselbe, ist unwahr in seiner
Unmittelbarkeit, wahr erst durch die Dynamik der Totalität
hindurch.
Wer sich die Erkenntnis vom Anwachsen des Entsetzens entwinden
läßt,
verfällt nicht bloß der kaltherzigen Kontemplation,
sondern verfehlt
mit der spezifischen Differenz des Neuesten vom Vorhergehenden zugleich
die wahre Identität des Ganzen, des Schreckens ohne Ende.
150
Extrablatt. - An zentralen Stellen bei Poe und Baudelaire ist der
Begriff des Neuen aufgerichtet. Bei jenem in der Beschreibung des
Maelstroms, von dessen Schauer, der mit the novel gleichgesetzt wird,
keiner der herkömmlichen Berichte eine Vorstellung soll geben
können;
bei diesem in der letzten Zeile des Zyklus La mort, die den Sturz in
den Abgrund wählt, gleichgültig ob Hölle
oder Himmel, »au fond de
l'inconnu pour trouver du nouveau«. Beide Male ist es eine
unbekannte
Drohung, der das Subjekt sich anvertraut, und die in schwindelndem
Umschlag Lust verheißt. Das Neue, eine Leerstelle des
Bewußtseins,
gleichsam geschlossenen Auges erwartet, scheint die Formel, unter der
dem Grauen und der Verzweiflung Reizwert abgewonnen wird. Sie macht das
Böse zur Blume. Aber ihr kahler Umriß ist ein
Kryptogramm der
eindeutigsten Reaktionsweise. Er umschreibt den präzisen
Bescheid, den
das Subjekt der abstrakt gewordenen Welt, dem industriellen Zeitalter
erteilt. Im Kultus des Neuen und damit in der Idee der Moderne wird
dagegen rebelliert, daß es nichts Neues mehr gebe. Die
Immergleichheit
der maschinenproduzierten Güter, das Netz der
Vergesellschaftung, das
die Objekte und den Blick auf diese gleichermaßen
einfängt und
assimiliert, verwandelt alles Begegnende zum je Dagewesenen, zum
zufälligen Exemplar einer Gattung, zum Doppelgänger
des Modells. Die
Schicht des nicht schon Vorgedachten, des Intentionslosen, an der
einzig die Intentionen gedeihen, scheint aufgezehrt. Von ihr
träumt die
Idee des Neuen. Selber unerreichbar, setzt es sich anstelle des
gestürzten Gottes im Angesicht des ersten
Bewußtseins vom Verfall der
Erfahrung. Aber sein Begriff bleibt im Bann ihrer Erkrankung, und davon
legt seine Abstraktheit Zeugnis ab, ohnmächtig der
entgleisenden
Konkretion zugekehrt. Über die »Urgeschichte der
Moderne« könnte die
Analyse des Bedeutungswechsels belehren, der mit dem Worte Sensation
sich zutrug, dem esoterischen Synonym fürs Baudelairesche
Nouveau. Das
Wort ist in der europäischen Bildung allgemein geworden durch
die
Erkenntnistheorie. Bei Locke meint es die einfache, unmittelbare
Wahrnehmung, den Gegensatz zur Reflexion. Daraus ist später
dann das
große Unbekannte geworden und endlich das massenhaft
Erregende,
destruktiv Berauschende, der Schock als Konsumgut. Überhaupt
noch etwas
wahrnehmen können, unbekümmert um die
Qualität, ersetzt Glück, weil die
allmächtige Quantifizierung die Möglichkeit von
Wahrnehmung selber
weggenommen hat. Anstelle der erfüllten Beziehung der
Erfahrung auf die
Sache ist ein bloß Subjektives und zugleich physikalisch
Isoliertes
getreten, Empfindung, die sich im Ausschlag des Manometers
erschöpft.
So setzt sich die historische Emanzipation vom Ansichsein in die Form
der Anschauung um, ein Prozeß, dem die Sinnespsychologie des
neunzehnten Jahrhunderts Rechnung trug, indem sie das Substrat der
Erfahrung zum bloßen »Grundreiz«
reduzierte, von dessen besonderer
Beschaffenheit die spezifischen Sinnesenergien unabhängig
seien.
Baudelaires Dichtung aber ist erfüllt von jenem Blitzlicht,
welches das
geschlossene Auge sieht, das ein Schlag trifft. So phantasmagorisch
dies Licht, so phantasmagorisch auch die Idee des Neuen selber. Was
aufblitzt, während gelassene Wahrnehmung bloß noch
den gesellschaftlich
präformierten Abguß der Dinge erreicht, ist selber
Wiederholung. Das
Neue, um seiner selbst willen gesucht, gewissermaßen im
Laboratorium
hergestellt, zum begrifflichen Schema verhärtet, wird im
jähen
Erscheinen zur zwangshaften Rückkehr des Alten, nicht
unähnlich den
traumatischen Neurosen. Dem Geblendeten zerreißt der Schleier
der
zeitlichen Sukzession vor den Archetypen der Immergleichheit: darum ist
die Entdeckung des Neuen satanisch, ewige Wiederkehr als Verdammnis.
Die Poesche Allegorie des Novel besteht in der atemlos kreisenden, doch
gleichsam stillstehenden Bewegung des ohnmächtigen Bootes im
Wirbel des
Maelstroms. Die Sensationen, in denen der Masochist dem Neuen sich
preisgibt, sind ebensoviele Regressionen. So viel ist wahr an der
Psychoanalyse, daß die Ontologie der Baudelaireschen Moderne
wie
jeglicher darauf folgenden den infantilen Partialtrieben antwortet. Ihr
Pluralismus ist die bunte Fata Morgana, in der dem Monismus der
bürgerlichen Vernunft seine Selbstzerstörung
gleißnerisch als Hoffnung
sich verspricht. Dies Versprechen macht die Idee der Moderne aus, und
um seines Kernes, der Immergleichheit willen nimmt alles Moderne, kaum
daß es veraltete, den Ausdruck des Archaischen an. Der
Tristan, der in
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Obelisk der Moderne sich
erhebt, ist zugleich das ragende Monument des Wiederholungszwangs.
Zweideutig ist das Neue seit seiner Inthronisierung. Während
in ihm
alles sich verbindet, was über die Einheit des immer starrer
Bestehenden hinausdrängt, ist es die Absorption durchs Neue
zugleich,
die unterm Druck jener Einheit den Zerfall des Subjekts in
konvulsivische Augenblicke, in denen es zu leben wähnt,
entscheidend
befördert, und damit schließlich die totale
Gesellschaft, die
neumodisch das Neue austreibt. Baudelaires Gedicht von der
Märtyrin des
Sexus, dem Opfer des Mords, feiert allegorisch die Heiligkeit der Lust
im schreckhaft befreienden Stilleben des Verbrechens, aber der Rausch
im Angesicht des nackten enthaupteten Leibes ist bereits dem
ähnlich,
welcher noch die prospektiven Opfer des Hitlerregimes dazu trieb,
gierig-gelähmt die Zeitungen zu kaufen, in denen die
Maßnahmen standen,
die ihnen selber den Untergang ankündigten. Faschismus war die
absolute
Sensation: in einer Erklärung zur Zeit der ersten Pogrome
rühmte
Goebbels, langweilig wenigstens seien die Nationalsozialisten nicht.
Genossen ward im Dritten Reich der abstrakte Schrecken von Nachricht
und Gerücht als der einzige Reiz, der zureichte, das
geschwächte
Sensorium der Massen momentweise zum Erglühen zu bringen. Ohne
die fast
unwiderstehliche Gewalt der Begierde nach Schlagzeilen, die
würgend das
Herz in die Vorwelt zurück sich krampfen
läßt, wäre das
Unaussprechliche nicht von den Zuschauern, ja nicht einmal von den
Tätern zu ertragen gewesen. Im Verlauf des Krieges wurden
schließlich
selbst Schrekensnachrichten den Deutschen groß dargeboten und
der
langsame militärische Zusammenbruch nicht vertuscht. Begriffe
wie
Sadismus und Masochismus reichen nicht mehr zu. In der
Massengesellschaft technischer Verbreitung sind sie durch Sensation,
das kometenhafte, ferngerückte, extrem Neue vermittelt. Es
überwältigt
das Publikum, das unterm Schock sich windet und vergißt, wem
das
Ungeheure angetan ward, einem selbst oder anderen. Der Inhalt des
Schocks wird gegenüber seinem Reizwert real
gleichgültig, wie er es in
der Beschwörung der Dichter ideell war; möglich
sogar, daß das von Poe
und Baudelaire ausgekostete Grauen von Diktatoren verwirklicht, seine
Sensationsqualität verliert, ausbrennt. Die
gewalttätige Rettung der
Qualitäten im Neuen war qualitätslos. Alles kann, als
Neues, seiner
selbst entäußert, Genuß werden, so wie
abgestumpfte Morphinisten
wahllos schließlich zu allen Drogen, auch zu Atropin,
greifen. Mit der
Unterscheidung der Qualitäten geht in der Sensation jedes
Urteil unter:
das eigentlich läßt diese zum Agens der
katastrophischen Rückbildung
werden. Im Entsetzen der regressiven Diktaturen hat Moderne, das
dialektische Bild des Fortschritts, zur Explosion
sich vollendet. Das Neue in seiner kollektiven Gestalt, von der schon
der journalistische Zug in Baudelaire wie die Lärmtrommel
Wagners etwas
verrät, ist in der Tat das zum Simulierenden und
lähmenden Rauschgift
ausgekochte äußere Leben: nicht umsonst waren Poe,
Baudelaire, Wagner
süchtige Charaktere. Zum bloß Bösen wird
das Neue erst durch die
totalitäre Zurichtung, in der jene Spannung des Individuums
zur
Gesellschaft sich ausgleicht, die einmal die Kategorie des Neuen
zeitigte. Heute ist das Ansprechen aufs Neue, gleichgültig
gegen seine
Art, wofern es nur archaisch genug ist, universal geworden, das
allgegenwärtige Medium der falschen Mimesis. Die Dekomposition
des
Subjekts vollzieht sich durch dessen sich Überlassen ans immer
andere
Immergleiche. Von diesem wird alles Feste aus den Charakteren gesaugt.
Wessen Baudelaire kraft des Bildes mächtig war, fällt
der willenlosen
Faszination zu. Treulosigkeit und Unidentität, das pathische
Ansprechen
auf die Situation werden ausgelöst durch den Reiz eines Neuen,
das als
Reiz schon keiner mehr ist. Vielleicht wird darin der Verzicht der
Menschheit deklariert, sich Kinder zu wünschen, weil jedem das
Schlimmste zu prophezeien steht: das Neue ist die heimliche Figur aller
Ungeborenen. Malthus gehört zu den Urvätern des
neunzehnten
Jahrhunderts, und Baudelaire hat mit Grund die Unfruchtbare
verherrlicht. Die Menschheit, die an ihrer Reproduktion verzweifelt,
wirft bewußtlos den Wunsch des Überlebens in die
Schimäre des nie
gekannten Dinges, aber diese gleicht dem Tode. Sie weist auf den
Untergang einer Gesamtverfassung, die virtuell ihrer
Angehörigen nicht
mehr bedarf.
151
Thesen gegen den Okkultismus. - I. Die Neigung zum Okkultismus ist ein
Symptom der Rückbildung des Bewußtseins. Es hat die
Kraft verloren, das
Unbedingte zu denken und das Bedingte zu ertragen. Anstatt beides, nach
Einheit und Differenz, in der Arbeit des Begriffs zu bestimmen,
vermischt es beides unterschiedslos. Das Unbedingte wird zum Faktum,
das Bedingte unmittelbar wesenhaft. Der Monotheismus zersetzt sich in
zweite Mythologie. »Ich glaube an Astrologie, weil ich nicht
an Gott
glaube«, antwortete ein Befragter in einer amerikanischen
sozialpsychologischen Untersuchung. Die rechtsprechende Vernunft, die
zum Begriff des einen Gottes sich erhoben hatte, scheint in dessen
Sturz hineingerissen. Geist dissoziiert sich in Geister und
büßt
darüber die Fähigkeit ein zu erkennen, daß
es jene nicht gibt. Die
verschleierte Unheilstendenz der Gesellschaft narrt ihre Opfer in
falscher Offenbarung, im halluzinierten Phänomen. Umsonst
hoffen sie,
in dessen fragmentarischer Sinnfälligkeit dem totalen
Verhängnis ins
Auge zu blicken und standzuhalten. Panik bricht nach Jahrtausenden von
Aufklärung wieder herein über eine Menschheit, deren
Herrschaft über
Natur als Herrschaft über Menschen an Grauen hinter sich
läßt, was je
Menschen von Natur zu fürchten hatten.
II. Die zweite Mythologie ist unwahrer als die erste. Diese war der
Niederschlag des Erkenntnisstandes ihrer Epochen, deren jede das
Bewußtsein vom blinden Naturzusammenhang um einiges freier
zeigt als
die vorhergehende. Jene, gestört und befangen, wirft die
einmal
gewonnene Erkenntnis von sich inmitten einer Gesellschaft, die durchs
allumfassende Tauschverhältnis eben das Elementarische
eskamotiert,
dessen die Okkultisten mächtig zu sein behaupten. Der Blick
des
Schiffers zu den Dioskuren, die Beseelung von Baum und Quelle, in allem
wahnhaften Benommensein vorm Unerklärten, waren historisch
Erfahrungen
des Subjekts von seinen Aktionsobjekten angemessen. Als rationell
verwertete Reaktion gegen die rationalisierte Gesellschaft jedoch, in
den Buden und Konsultationsräumen der Geisterseher aller
Grade,
verleugnet der wiedergeborene Animismus die Entfremdung, von der er
selber zeugt und lebt, und surrogiert nichtvorhandene Erfahrung. Der
Okkultist zieht aus dem Fetischcharakter der Ware die
äußerste
Konsequenz: die drohend vergegenständlichte Arbeit springt ihn
mit
ungezählten Dämonenfratzen aus den
Gegenständen an. Was in der zum
Produkt geronnenen Welt vergessen ward, ihr Produziertsein durch
Menschen, wird abgespalten, verkehrt erinnert, als ein Ansichseiendes
dem An sich der Objekte hinzugefügt und gleichgestellt. Weil
diese
unterm Strahl der Vernunft erkaltet sind, den Schein des Beseelten
verloren haben, wird das Beseelende, ihre gesellschaftliche
Qualität,
als natürlich-übernatürliche
verselbständigt, Ding unter Dingen.
III. Die Regression auf magisches Denken unterm
Spätkapitalismus
assimiliert es an spätkapitalistische Formen. Die
zwielichtig-asozialen
Randphänomene des Systems, die armseligen Veranstaltungen,
durch seine
Mauerritzen zu schielen, offenbaren zwar nichts von dem, was
draußen
wäre, um so mehr aber von den Kräften des Zerfalls im
Innern. Jene
kleinen Weisen, die vor der Kristallkugel ihre Klienten terrorisieren,
sind Spielzeugmodelle der großen, die das Schicksal der
Menschheit in
Händen halten. So verfeindet und verschworen wie die
Dunkelmänner des
Psychic Research ist die Gesellschaft selber. Die Hypnose, welche die
okkulten Dinge ausüben, ähnelt dem
totalitären Schrecken: in den
zeitgemäßen Prozessen geht beides ineinander
über. Augurenlachen hat
sich zum Hohngelächter der Gesellschaft über sich
selber ausgewachsen;
es weidet sich an der unmittelbaren materiellen Ausbeutung der Seelen.
Das Horoskop entspricht den Direktiven der Büros an die
Völker, und die
Zahlenmystik bereitet auf die Verwaltungsstatistiken und Kartellpreise
vor. Integration selber erweist sich am Ende als Ideologie für
die
Desintegration in Machtgruppen, die einander ausrotten. Wer
hineingerät, ist verloren.
IV. Okkultismus ist eine Reflexbewegung auf die Subjektivierung allen
Sinnes, das Komplement zur Verdinglichung. Wenn die objektive
Realität
den Lebendigen taub erscheint wie nie zuvor, so suchen sie ihr mit
Abrakadabra Sinn zu entlocken. Wahllos wird er dem nächsten
Schlechten
zugemutet: die Vernünftigkeit des Wirklichen, mit der es nicht
recht
mehr stimmt, durch hüpfende Tische und die Strahlen von
Erdhaufen
ersetzt. Der Abhub der Erscheinungswelt wird fürs erkrankte
Bewußtsein
zum mundus intelligibilis. Beinahe wäre es die spekulative
Wahrheit, so
wie Kafkas Odradek fast ein Engel wäre, und ist doch in einer
Positivität, welche das Medium des Gedankens
ausläßt, nur das
barbarisch Irre, die sich selber entäußerte und
darum im Objekt sich
verkennende Subjektivität. Je vollkommener die
Schnödheit dessen, was
als »Geist« ausgegeben wird - und in allem
Beseelteren würde ja das
aufgeklärte Subjekt sogleich sich wiederfinden -, um so mehr
wird der
dort aufgespürte Sinn, der an sich ganz fehlt, zur
bewußtlosen,
zwangshaften Projektion des wo nicht klinisch, so historisch
zerfallenden Subjekts. Dem eigenen Zerfall möchte es die Welt
gleichmachen: darum hat es mit Requisiten zu tun und bösen
Wünschen.
»Die dritte liest mir aus der Hand / Sie will mein
Unglück lesen!« Im
Okkultismus stöhnt der Geist unterm eigenen Bann wie ein
Schlimmes
Träumender, dessen Qual sich steigert mit dem Gefühl,
daß er träumt,
ohne daß er darüber erwachen könnte.
V. Die Gewalt des Okkultismus wie des Faschismus, mit dem jenen
Denkschemata vom Schlag des antisemitischen verbinden, ist nicht nur
die pathische. Sie liegt vielmehr darin, daß in den minderen
Panazeen,
Deckbildern gleichsam, das nach Wahrheit darbende Bewußtsein
eine ihm
dunkel gegenwärtige Erkenntnis meint greifen zu
können, die der
offizielle Fortschritt jeglicher Gestalt geflissentlich ihm
vorenthält.
Es ist die, daß die Gesellschaft, indem sie die
Möglichkeit des
spontanen Umschlags virtuell ausschließt, zur totalen
Katastrophe
gravitiert. Der reale Aberwitz wird abgebildet vom astrologischen, der
den undurchsichtigen Zusammenhang entfremdeter Elemente - nichts
fremder als die Sterne- als Wissen über das Subjekt vorbringt.
Die
Drohung, die aus den Konstellationen herausgelesen wird, gleicht der
historischen, die in der Bewußtlosigkeit, dem Subjektlosen
gerade sich
weiterwälzt. Daß alle prospektive Opfer eines Ganzen
sind, das bloß von
ihnen selber gebildet wird, können sie ertragen nur, indem sie
jenes
Ganze weg von sich auf ein ihm Ähnliches,
Äußerliches übertragen. In
dem jämmerlichen Blödsinn, den sie betreiben, dem
leeren Grauen, dürfen
sie den ungefügen Jammer, die krasse Todesangst herauslassen
und sie
doch weiter verdrängen, wie sie es müssen, wenn sie
weiter leben
wollen. Der Bruch in der Lebenslinie, der einen lauernden Krebs
indiziert, ist Schwindel nur an der Stelle, wo er behauptet wird, in
der Hand des Individuums; wo sie keine Diagnose stellen, beim
Kollektiv, wäre sie richtig. Mit Recht fühlen die
Okkulten von kindisch
monströsen naturwissenschaftlichen Phantasien sich angezogen.
Die
Konfusion, die sie zwischen ihren Emanationen und den Isotopen des
Urans anstiften, ist die letzte Klarheit. Die mystischen Strahlen sind
bescheidene Vorwegnahmen der technischen. Der Aberglaube ist
Erkenntnis, weil er die Chiffren der Destruktion zusammen sieht, welche
auf der gesellschaftlichen Oberfläche zerstreut sind; er ist
töricht,
weil er in all seinem Todestrieb noch an Illusionen festhält:
von der
transfigurierten, in den Himmel versetzten Gestalt der Gesellschaft die
Antwort sich verspricht, die nur gegen die reale erteilt werden
könnte.
VI. Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle. Die
Subalternität
der Medien ist so wenig zufällig wie das Apokryphe,
Läppische des
Geoffenbarten. Seit den frühen Tagen des Spiritismus hat das
Jenseits
nichts Erheblicheres kundgetan als Grüße der
verstorbenen Großmutter
nebst der Prophezeiung, eine Reise stünde bevor. Die Ausrede,
es könne
die Geisterwelt der armen Menschenvernunft nicht mehr kommunizieren,
als diese aufzunehmen imstande sei, ist ebenso albern, Hilfshypothese
des paranoischen Systems: weiter als die Reise zur Großmutter
hat es
das lumen naturale doch gebracht, und wenn die Geister davon keine
Notiz nehmen wollen, dann sind sie unmanierliche Kobolde, mit denen man
besser den Verkehr abbricht. Im stumpf natürlichen Inhalt der
übernatürlichen Botschaft verrät sich ihre
Unwahrheit. Während sie
drüben nach dem Verlorenen jagen, stoßen sie dort
nur aufs eigene
Nichts. Um nicht aus der grauen Alltäglichkeit herauszufallen,
in der
sie als unverbesserliche Realisten zu Hause sind, wird der Sinn, an dem
sie sich laben, dem Sinnlosen angeglichen, vor dem sie fliehen. Der
faule Zauber ist nicht anders als die faule Existenz, die er bestrahlt.
Dadurch macht er es den Nüchternen so bequem. Fakten, die sich
von
anderem, was der Fall ist, nur dadurch unterscheiden, daß sie
es nicht
sind, werden als vierte Dimension bemüht. Einzig ihr Nichtsein
ist ihre
qualitas occulta. Sie liefern dem Schwachsinn die Weltanschauung.
Schlagartig, drastisch erteilen die Astrologen und Spiritisten jeder
Frage eine Antwort, die sie nicht sowohl löst, als durch krude
Setzungen jeder möglichen Lösung entzieht. Ihr
sublimes Bereich,
vorgestellt als Analogon zum Raum, braucht so wenig gedacht zu werden
wie Stühle und Blumenvasen. Damit verstärkt es den
Konformismus. Nichts
gefällt dem Bestehenden besser, als daß Bestehen als
solches Sinn sein
soll.
VII. Die großen Religionen haben entweder, wie die
jüdische, die
Rettung der Toten nach dem Bilderverbot mit Schweigen bedacht, oder die
Auferstehung des Fleisches gelehrt. Sie haben ihren Ernst an der
Untrennbarkeit des Geistigen und Leiblichen. Keine Intention, nichts
»Geistiges«, das nicht in leibhafter Wahrnehmung
irgend gründete und
wiederum nach leibhafter Erfüllung verlangte. Den Okkulten,
die sich
für den Gedanken der Auferstehung zu gut sind und die
eigentlich
Rettung gar nicht wollen, ist das zu grob. Ihre Metaphysik, die selbst
Huxley von Metaphysik nicht mehr unterscheiden kann, ruht auf dem
Axiom: »Die Seele schwinget sich wohl in die Höh'
juchhe, / der Leib,
der bleibet auf dem Kanapee.« Je munterer die
Spiritualität, desto
mechanistischer: nicht einmal Descartes hat so sauber geschieden.
Arbeitsteilung und Verdinglichung werden auf die Spitze getrieben: Leib
und Seele in gleichsam perennierender Vivisektion
auseinandergeschnitten. Reinlich soll die Seele aus dem Staub sich
machen, um in lichteren Regionen ihre eifrige Tätigkeit
stracks an der
gleichen Stelle fortzusetzen, an der sie unterbrochen ward. In solcher
Unabhängigkeitserklärung aber wird die Seele zur
billigen Imitation
dessen, wovon sie falsch sich emanzipierte. Anstelle der
Wechselwirkung, wie sie noch die starreste Philosophie behauptete,
richtet der Astralleib sich ein, die schmähliche Konzession
des
hypostasierten Geistes an seinen Widerpart. Nur im Gleichnis des Leibes
ist der Begriff des reinen Geistes überhaupt zu fassen, und es
hebt ihn
zugleich auf. Mit der Verdinglichung der Geister sind diese schon
negiert.
VIII. Das zetert über Materialismus. Aber den Astralleib
wollen sie
wiegen. Die Objekte ihres Interesses sollen zugleich die
Möglichkeit
von Erfahrung übersteigen und erfahren werden. Es soll streng
wissenschaftlich zugehen; je größer der Humbug,
desto sorgfältiger die
Versuchsanordnung. Die Wichtigtuerei wissenschaftlicher Kontrolle wird
ad absurdum geführt, wo es nichts zu kontrollieren gibt. Die
gleiche
rationalistische und empiristische Apparatur, die den Geistern den
Garaus gemacht hat, wird angedreht, um sie denen wieder
aufzudrängen,
die der eigenen ratio nicht mehr trauen. Als ob nicht jeder
Elementargeist Reißaus nehmen müßte vor
den Fallen der
Naturbeherrschung, die seinem flüchtigen Wesen gestellt
werden. Aber
selbst das noch machen die Okkulten sich zunutze. Weil die Geister die
Kontrolle nicht mögen, muß ihnen, mitten unter den
Sicherheitsvorkehrungen, ein Türchen offengehalten werden,
durch das
sie ungestört ihren Auftritt machen können. Denn die
Okkulten sind
praktische Leute. Sie treibt nicht eitle Neugier, sie suchen Tips. Fix
geht es von den Sternen zum Termingeschäft. Meist
läuft der Bescheid
darauf hinaus, daß mit irgendwelchen armen Bekannten, die
sich etwas
erhoffen, Unglück ins Haus steht.
IX. Die Kardinalsünde des Okkultismus ist die Kontamination
von Geist
und Dasein, das selber zum Attribut des Geistes wird. Dieser ist im
Dasein entsprungen, als Organ, sich am Leben zu erhalten. Indem jedoch
Dasein im Geist sich reflektiert, wird er zugleich ein anderes. Das
Daseiende negiert sich als Eingedenken seiner selbst. Solche Negation
ist das Element des Geistes. Ihm selber wiederum positive Existenz,
wäre es auch höherer Ordnung, zuzuschreiben, lieferte
ihn an das aus,
wogegen er steht. Die spätere bürgerliche Ideologie
hatte ihn nochmals
zu dem gemacht, was er dem Präanimismus war, einem
Ansichseienden, nach
dem Maße der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, des Bruches
zwischen
physischer und geistiger Arbeit, der planenden Herrschaft über
jene. Im
Begriff des ansichseienden Geistes rechtfertigte das
Bewußtsein das
Privileg ontologisch und verewigte es, indem es ihn gegenüber
dem
gesellschaftlichen Prinzip verselbständigte, das ihn
konstituiert.
Solche Ideologie explodiert im Okkultismus: er ist gleichsam der zu
sich selbst gekommene Idealismus. Gerade kraft der starren Antithese
von Sein und Geist wird dieser zu einem Seins-Ressort. Hatte der
Idealismus einzig für das Ganze, die Idee gefordert,
daß das Sein Geist
sei und dieser existiere, so zieht der Okkultismus die absurde
Konsequenz daraus, daß Dasein bestimmtes Sein
heißt: »Daseyn ist, nach
seinem Werden, überhaupt Seyn mit einem Nichtseyn, so
daß dieß
Nichtseyn in einfache Einheit mit dem Seyn aufgenommen ist. Das
Nichtseyn so in das Seyn aufgenommen, daß das konkrete Ganze
in der
Form des Seyns, der Unmittelbarkeit ist, macht die Bestimmtheit als
solche aus.« (Hegel, Wissenschaft der Logik I, ed. Glockner,
Stuttgart
1928, S. 123) Die Okkulten nehmen buchstäblich das Nichtsein
in
»einfache Einheit mit dem Sein«, und ihre Art
Konkretheit ist eine
schwindelnde Abkürzung des Weges vom Ganzen zum Bestimmten,
die darauf
sich berufen kann, daß als einmal Bestimmtes das Ganze schon
keines
mehr ist. Sie rufen der Metaphysik Hic Rhodus hic salta zu: wenn die
philosophische Investition von Geist mit Dasein sich bestimmen soll, so
müßte schließlich, spüren sie,
beliebiges, versprengtes Dasein als
besonderer Geist sich rechtfertigen. Die Lehre von der Existenz des
Geistes, äußerste Erhebung des bürgerlichen
Bewußtseins, trüge danach
teleologisch schon den Geisterglauben, äußerste
Erniedrigung, in sich.
Der Übergang zum Dasein, stets »positiv«
und Rechtfertigung der Welt,
impliziert zugleich die These von der Positivität des Geistes,
seine
Dingfestmachung, die Transposition des Absoluten in die Erscheinung. Ob
die ganze dinghafte Welt, als »Produkt«, Geist sein
soll oder irgendein
Ding irgendein Geist, wird gleichgültig und der Weltgeist zum
obersten
Spirit, zum Schutzengel des Bestehenden, Entgeisteten. Davon leben die
Okkulten: ihre Mystik ist das enfant terrible des mystischen Moments in
Hegel. Sie treiben die Spekulation zum betrügerischen
Bankrott. Indem
sie bestimmtes Sein als Geist ausgeben, unterwerfen sie den
vergegenständlichten Geist der Daseinsprobe, und sie
muß negativ
ausfallen. Kein Geist ist da.
152
Vor Mißbrauch wird gewarnt. - Die Dialektik ist in der
Sophistik
entsprungen, ein Verfahren der Diskussion, um dogmatische Behauptungen
zu erschüttern und, wie die Staatsanwälte und Komiker
es nannten, das
mindere Wort zum stärkeren zu machen. Sie hat sich in der
Folge
gegenüber der Philosophie perennis zur perennierenden Methode
der
Kritik ausgebildet, Asyl allen Gedankens der Unterdrückten,
selbst des
nie von ihnen gedachten. Aber sie war als Mittel, Recht zu behalten,
von Anbeginn auch eines zur Herrschaft, formale Technik der Apologie
unbekümmert um den Inhalt, dienstbar denen, die zahlen
konnten: das
Prinzip, stets und mit Erfolg den Spieß umzudrehen. Ihre
Wahrheit oder
Unwahrheit steht daher nicht bei der Methode als solcher, sondern bei
ihrer Intention im historischen Prozeß. Die Spaltung der
Hegelschen
Schule in einen linken und rechten Flügel gründet im
Doppelsinn der
Theorie nicht weniger als in der politischen Lage des Vormärz.
Dialektisch ist nicht bloß die Marxische Lehre, daß
das Proletariat als
das absolute Objekt der Geschichte zu deren erstem gesellschaftlichen
Subjekt zu werden, die bewußte Selbstbestimmung der
Menschheit zu
realisieren vermöchte, sondern auch der Witz, den Gustave
Doré einem
parlamentarischen Repräsentanten des Ancien Régime
in den Mund legt:
daß es ohne Ludwig XVI. nie zur Revolution gekommen
wäre, daß daher
diesem die Menschenrechte zu verdanken seien. Die negative Philosophie,
universale Auflösung, löst stets auch das
Auflösende selber auf. Aber
die neue Gestalt, in der sie beides, Aufgelöstes und
Auflösendes,
aufzuheben beansprucht, kann in der antagonistischen Gesellschaft nie
rein hervortreten. Solange Herrschaft sich reproduziert, solange kommt
in der Auflösung des Auflösenden die alte
Qualität roh wieder zutage:
in einem radikalen Sinn gibt es da gar keinen Sprung. Der wäre
erst das
Ereignis, das hinausführt. Weil die dialektische Bestimmung
der neuen
Qualität jeweils auf die Gewalt der objektiven Tendenz sich
verwiesen
sieht, die den Bann der Herrschaft tradiert, steht sie unter dem fast
unausweichlichen Zwang, wann immer sie mit der Arbeit des Begriffs die
Negation der Negation erreicht, auch im Gedanken das schlechte Alte
fürs nichtexistente Andere zu unterschieben. Die Tiefe, mit
der sie in
die Objektivität sich versenkt, wird mit der Teilhabe an der
Lüge
erkauft, Objektivität sei schon die Wahrheit. Indem sie streng
sich
dazu bescheidet, den privilegienlosen Zustand aus dem zu extrapolieren,
was dem Prozeß das Privileg verdankt zu sein, beugt sie sich
der
Restauration. Das wird registriert von der Privatexistenz. Hegel hat
dieser ihre Nichtigkeit vorgehalten. Bloße
Subjektivität, auf der
Reinheit des eigenen Prinzips bestehend, verfange sich in Antinomien.
Sie gehe zugrunde an ihrem Unwesen, der Heuchelei und dem
Bösen, wofern
sie nicht in Gesellschaft und Staat sich objektiviere. Moral, die auf
pure Selbstgewißheit gestellte Autonomie, noch das Gewissen
sind bloßer
Schein. Wenn »es kein moralisches Wirkliches gibt«
(Hegel,
Phänomenologie des Geistes, ed. Lasson, 2. Aufl., Leipzig
1921, S.
397), so wird konsequent dann in der Rechtsphilosophie die Ehe dem
Gewissen übergeordnet und diesem noch auf seiner
Höhe, die Hegel mit
der Romantik als Ironie bestimmt, »subjektive
Eitelkeit« im doppelten
Verstande nachgesagt. Dies Motiv der Dialektik, das durch alle
Schichten des Systems hindurchwirkt, ist wahr und unwahr zugleich.
Wahr, weil es das Besondere als notwendigen Schein enthüllt,
das
falsche Bewußtsein des Abgespaltenen, nur es selber und nicht
ein
Moment des Ganzen zu sein; und dies falsche Bewußtsein
läßt es durch
die Kraft des Ganzen zergehen. Unwahr, weil das Motiv der
Objektivierung, »Entäußerung«,
zum Vorwand gerade der bürgerlichen
Selbstbehauptung des Subjekts, zur bloßen Rationalisierung
herabgewürdigt wird, solange die Objektivität, die
der Gedanke dem
schlecht Subjektiven entgegensetzt, unfrei ist,
zurückfällt hinter die
kritische Arbeit des Subjekts. Das Wort Entäußerung,
das vom Gehorsam
des privaten Willens die Erlösung von der privaten
Willkür erwartet,
bekennt, eben indem es das Äußere als dem Subjekt
institutionell
Gegenüberstehendes nachdrücklich festhält,
trotz aller Beteuerungen von
Versöhnung die fortdauernde Unversöhnlichkeit von
Subjekt und Objekt,
die ihrerseits das Thema der dialektischen Kritik ausmacht. Der Akt der
Selbstentäußerung läuft auf die Entsagung
hinaus, die Goethe als
Rettendes beschrieb, und damit die Rechtfertigung des status quo, heute
wie damals. Aus der Einsicht etwa in die Verstümmelung der
Frauen durch
die patriarchalische Gesellschaft, in die Unmöglichkeit, die
anthropologische Deformation ohne deren Voraussetzung zu beseitigen,
vermöchte gerade der unerbittlich illusionslose Dialektiker
den
Herrn-im-Haus-Standpunkt abzuleiten, dem Fortbestand des
patriarchalischen Verhältnisses das Wort zu reden. Dabei
mangelt es ihm
weder an triftigen Gründen wie der Unmöglichkeit von
Beziehungen
anderen Wesens unter den gegenwärtigen Bedingungen, noch
selbst an
Humanität gegen die Unterdrückten, welche die Zeche
der falschen
Emanzipation zu zahlen haben, aber all das Wahre würde zur
Ideologie
unter den Händen des männlichen Interesses. Der
Dialektiker kennt
Unglück und Preisgegebensein der unverheiratet Alternden, das
Mörderische der Scheidung. Indem er jedoch antiromantisch der
vergegenständlichten Ehe den Vorrang vor der ephemeren, nicht
in
gemeinsamem Leben aufgehobenen Leidenschaft erteilt, macht er sich zum
Fürsprech derer, die die Ehe auf Kosten der Neigung betreiben,
die
lieben womit sie verheiratet sind, also das abstrakte
Besitzverhältnis.
Es wäre dieser Weisheit letzter Schluß,
daß es auf die Personen gar
nicht so sehr ankomme, wenn sie nur der gegebenen Konstellation sich
anbequemen und das Ihre tun. Um vor derlei Versuchungen sich zu
schützen, bedarf die aufgehellte Dialektik des
unablässigen Argwohns
gegen jenes apologetische, restaurative Element, das doch selber einen
Teil der Unnaivetät ausmacht. Der drohende Rückfall
der Reflexion ins
Unreflektierte verrät sich in der Überlegenheit, die
mit dem
dialektischen Verfahren schaltet und redet, als wäre sie
selber jenes
unmittelbare Wissen vom Ganzen, das vom Prinzip der Dialektik gerade
ausgeschlossen wird. Man bezieht den Standpunkt der Totalität,
um dem
Gegner jedes bestimmte negative Urteil im Zeichen eines belehrenden So
war es nicht gemeint aus der Hand zu schlagen und zugleich selber
gewaltsam die Bewegung des Begriffs abzubrechen, die Dialektik mit dem
Hinweis auf die unüberwindliche Schwerkraft der Fakten zu
sistieren.
Das Unheil geschieht durchs Thema probandum: man bedient sich der
Dialektik anstatt an sie sich zu verlieren. Dann begibt sich der
souverän dialektische Gedanke zurück ins
vordialektische Stadium: die
gelassene Darlegung dessen, daß jedes Ding seine zwei Seiten
hat.
153
Zum Ende. - Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig
noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu
betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich
darstellten.
Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf
die Welt
scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion
und bleibt
ein Stück Technik. Perspektiven müßten
hergestellt werden, in denen die
Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und
Schründe
offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im
Messianischen
Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der
Fühlung mit
den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen,
darauf allein
kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand
unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete
Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur
Spiegelschrift ihres
Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz
Unmögliche, weil
es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins,
wäre es
auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch
jede mögliche
Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden
muß, um
verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen
Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu
entrinnen
vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich
abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und
damit
verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine
eigene
Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der
Möglichkeit willen.
Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die
Frage
nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber
fast
gleichgültig.
Anhang
I
Key people. - Der Typus des Wichtigmachers, der nur dann etwas zu sein
glaubt, wenn er bestätigt wird von der Rolle, die er in
Kollektiven
spielt, die keine sind, da sie ja bloß um der eigenen
Kollektivität
willen existieren; der Deputierte mit der Armbinde, der ergriffene
Festredner, der den Schlußteil seiner mit gesundem Humor
gewürzten Rede
durch ein »Möge« einleitet, die
Wohltätigkeitshyäne und der Professor,
der von einem Kongreß zum anderen eilt - sie alle reizten
ehemals als
naiv, provinziell und kleinbürgerlich zum Lachen. Unterdessen
ward die
Ähnlichkeit mit den Fliegenden Blättern abgestreift;
das Prinzip aber
hat tierisch ernst von den Karikaturen über die ganze
Bürgerklasse sich
ausgebreitet. Nicht genug, daß deren Mitglieder im Beruf
durch
Konkurrenz und Kooption der unablässigen gesellschaftlichen
Kontrolle
unterworfen sind, wird auch ihr Privatleben absorbiert von den
dinghaften Gebilden, zu denen die zwischenmenschlichen Beziehungen
geronnen sind. Das hat vorab grob materielle Gründe: nur wer
sein
Einverständnis durch lobenswerten Dienst an der Gemeinschaft,
wie sie
ist, durch Eintritt in eine anerkannte Gruppe, und wären es
die zu
Kegelbrüdern degenerierten Freimaurer, kundgibt,
empfängt das
Vertrauen, das sich im Fang von Kunden und Klienten und in der
Besetzung von Pfründen auszahlt. Der substantial citizen
qualifiziert
sich nicht allein durch Bankguthaben, ja nicht einmal durch den Tribut
an seine Organisationen, er muß sein Herzblut spenden und die
freien
Stunden, die ihm vom Raubgeschäft übrigbleiben, als
Vorsitzender oder
Schatzmeister der Komitees zubringen, in die es ihn halb zog,
während
er halb hinsank. Keine Hoffnung ist ihm gelassen als der obligate
Nachruf im Vereinsblättchen, wenn ihn sein Herzschlag ereilt.
Wer
nirgends Mitglied ist, macht sich verdächtig: bei der
Naturalisation
wird ausdrücklich verlangt, daß man seine Vereine
aufführe. Das aber,
rationalisiert als Bereitschaft des Individuums, seines Egoismus sich
zu entschlagen und dem Ganzen sich zu weihen, das doch nichts ist als
die universale Vergegenständlichung des Egoismus, wird von den
Verhaltensweisen der Menschen zurückgespiegelt.
Ohnmächtig in der
überwältigenden Sozietät, erfährt
der Einzelne sich selber nur noch als
gesellschaftlich vermittelt. Die von Menschen gemachten Institutionen
werden so zusätzlich fetischisiert: indem die Subjekte sich
einzig als
Exponenten der Institutionen wissen, nahmen diese den Charakter des
Gottgewollten an. Man fühlt sich bis ins Mark als Arztfrau,
als
Mitglied einer Fakultät, als chairman of the committee of
religious
experts - ich habe davon einmal einen Schurken öffentlich
reden hören,
und keiner hat gelacht-, so wie man vorzeiten als Teil einer Familie
oder eines Stammes sich mag gefühlt haben. Man wird im
Bewußtsein
nochmals, was man im Sein ohnehin ist. Gegenüber der Illusion
der an
sich seienden und unabhängigen Persönlichkeit
inmitten der
Warengesellschaft ist solches Bewußtsein die Wahrheit. Sie
sind
wirklich nur noch Arztfrau, Fakultätsmitglied und
religiöser Experte.
Aber die negative Wahrheit wird zur Lüge als
Positivität. Je weniger
funktionellen Sinn mehr die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat, um so
sturer klammern die Subjekte sich an das, wozu die gesellschaftliche
Fatalität sie bestimmt hat. Entfremdung wird zur
Nähe, Entmenschlichung
zur Humanität, die Auslöschung des Subjekts zu seiner
Bestätigung. Die
Sozialisierung der Menschen heute verewigt ihre Asozialität,
während
doch auch der Asoziale nicht sich schmeicheln darf, er wäre
ein Mensch.
II
Der Paragraph. - Was die Nazis den Juden antaten, war unsagbar: die
Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord
hätte gegenüber
dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der
guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers. Und doch mußte
ein
Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin
zu viele sind, als daß ihre Namen erinnert werden
könnten, noch den
Fluch des Nicht gedacht soll ihrer werden antun. So hat man im
Englischen den Begriff genocide geprägt. Aber durch die
Kodifizierung,
wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte
niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das
Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die
Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man
verbietet,
ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vorm Forum der United
Nations
Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige
Untat unter
die Definition des genocide fällt, ob die Nationen das Recht
haben
einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und
ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung
auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu
entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen
in der
Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu
durchgeführt.
III
Die sie meinen. - Die Menschen haben den Begriff der Freiheit so
manipuliert, daß er schließlich auf das Recht des
Stärkeren und
Reicheren herausläuft, dem Schwächeren und
Ärmeren das wenige
abzunehmen, was er noch hat. Der Versuch, daran etwas zu
ändern, gilt
als schmählicher Eingriff ins Bereich eben der
Individualität, die aus
der Konsequenz jener Freiheit in ein verwaltetes Nichts zergangen ist.
Aber der objektive Geist der Sprache weiß es besser. Das
Deutsche und
Englische behält das Wort frei Dingen und Leistungen vor, die
nichts
kosten. Unabhängig von der Kritik der politischen
Ökonomie wird damit
Zeugnis abgelegt von der Unfreiheit, die im Tauschverhältnis
selber
gesetzt ist; es gibt keine Freiheit, solange ein jedes Ding seinen
Preis hat, und in der verdinglichten Gesellschaft existieren als
kümmerliche Rudimente der Freiheit nur Dinge, die vom
Preismechanismus
ausgenommen sind. Sieht man dann genauer hin, so findet sich freilich
meist, daß auch sie ihren Preis haben und Zugaben sind zu den
Waren
oder wenigstens zur Herrschaft: die Parks machen denen die
Gefängnisse
erträglich, die nicht drin sind. Für Menschen von
freiem,
ungezwungenem, souveränem und legerem Wesen jedoch,
für jene, die die
Freiheit als Privileg von der Unfreiheit beziehen, hat die Sprache
einen guten Namen bereit: den des Unverschämten.
IV
Les Adieux. - »Auf Wiedersehen« ward seit
Jahrhunderten in den Sprachen
zur Floskel. Dem sind nun die Beziehungen selber nachgekommen. Der
Abschied ist veraltet. Zwei, die zueinander gehören,
mögen sich
trennen, weil der eine den Wohnort wechselt; man ist ohnehin
längst
nicht mehr in einer Stadt zuhause, sondern ordnet als
äußerste
Konsequenz der Freizügigkeit sein ganzes Leben auch
räumlich den je
günstigsten Bedingungen des Arbeitsmarktes unter. Dann ist es
aus, oder
man trifft sich; dauernd entfernt sein und Liebe festhalten ist
undenkbar geworden. »O Abschied, Brunnen aller
Worte«, aber er ist
versiegt, und nichts mehr kommt heraus als bye, bye oder ta, ta.
Luftpost und Eilbote ersetzen die sehnliche Erwartung des Briefs durch
Probleme der technischen Einteilung, wofern nicht der abwesende Partner
die Erinnerung an alles, was nicht zum Greifen da ist, als Ballast von
sich schleudert. Wieviel Ungewißheit und Leid den Menschen
dadurch
erspart wird, darüber können Flugzeugdirektoren
Jubiläumsreden halten.
Aber die Liquidation des Abschieds geht dem überlieferten
Begriff der
Humanität ans Leben. Wer vermöchte noch zu lieben,
wem der Augenblick
sich versperrt, da der Mensch den anderen, leibhaften als Bild
wahrnimmt, die ganze Kontinuität des Daseins wie in einer
schweren
Frucht zusammendrängend? Was wäre Hoffnung ohne
Ferne? Humanität war
das Bewußtsein von der Gegenwart des
Nichtgegenwärtigen, und das
verflüchtigt sich in einem Zustand, der allem
Nichtgegenwärtigen zum
handfesten Schein von Gegenwart und Unmittelbarkeit verhilft und darum
bloß Hohn hat für das, was an solchem Schein nicht
sein Genügen findet.
Angesichts der pragmatischen Unmöglichkeit des Abschieds
jedoch auf
seiner inneren Möglichkeit zu beharren, wäre die
Lüge, denn das
Inwendige entfaltet sich nicht in sich selber, sondern einzig in der
Beziehung auf die Objektivität, und
»Verinnerlichung« eines verfallenen
Auswendigen tut dem Innerlichen selber Gewalt an, indem es gleichsam
von der eigenen Flamme zehren muß. Die Restauration von
Gesten verführe
nach dem Rezept jenes germanistischen Professors, der seine schlafenden
Kinder am Abend vor Weihnachten einen Augenblick zum leuchtenden Baum
brachte, um ein déjà vu zu erzielen und sie mit
Mythos zu sättigen.
Eine mündige Menschheit wird über ihren eigenen
Begriff, den
emphatischen des Menschen, positiv hinausgehen müssen. Sonst
hat die
absolute Negation, der Unmensch seinen Sieg dahin.
V
Ehrensache. - Den Frauen gegenüber haben die Männer
sich selbst die
Pflicht der Diskretion auferlegt, eines der Mittel, wodurch die Roheit
der Gewalt als gemildert, die Verfügung als wechselseitiges
Zugeständnis erscheinen soll. Weil sie die
Promiskuität in Acht und
Bann getan haben, um der Frau als Besitz sich zu versichern,
während
sie doch der Promiskuität bedürfen, um nicht den
eigenen Verzicht ins
Unerträgliche zu steigern, haben sie den Frauen ihrer Klasse,
die ohne
Ehe sich gewähren, das unausdrückliche Versprechen
gegeben, mit keinem
anderen Mann darüber zu sprechen und das patriarchal diktierte
weibliche Ansehen nicht herabzusetzen. Diskretion ist dann die
Glücksquelle aller Heimlichkeit geworden, allen listigen
Triumphs über
die Mächte, ja selbst des Vertrauens, an dem Vornehmheit und
Integrität
sich bilden. Der Brief, den Hölderlin an die Mutter nach der
tödlichen
Frankfurter Katastrophe richtete, ohne daß der Ausdruck der
endgültigen
Verzweiflung ihn hätte bewegen können, den Grund zum
Bruche mit Herrn
Gontard anzudeuten oder auch nur Diotimas Namen zu nennen,
während die
Gewalt der Leidenschaft übergeht in die trauernden Worte
über den
Verlust des Zöglings, der das Kind der Geliebten war- jener
Brief
steigert die Kraft des gesitteten Schweigens zur heißen
Rührung und
macht es selber zum Ausdruck für die Unerträglichkeit
des Konflikts von
Menschenrecht und dem Recht dessen was ist. Aber wie inmitten der
allgemeinen Unfreiheit jeder einzelne ihr abgedungene Zug von
Humanität
zweideutig wird, so ergeht es selbst der männlichen
Diskretion, die
vorgeblich nichts ist als edel. Sie verwandelt sich in ein Instrument
der weiblichen Rache für die Unterdrückung.
Daß die Männer
untereinander schweigen müssen, ja daß, je
rücksichtsvoller und besser
erzogen die Menschen sind, alles Erotische zumindest ein Air von
Geheimnis annimmt, verschafft den Frauen Möglichkeiten von der
bequemen
Lüge bis zum schlauen und ungestörten Betrug und
verurteilt den
Gentleman zur Rolle des Trottels. Die Frauen der Oberschicht haben eine
ganze Technik der Isolierung, des Auseinanderhaltens der
Männer,
schließlich der willkürlichen Trennung aller
Bereiche von Gefühl,
Verhalten, Bewertung sich erworben, in der die männliche
Arbeitsteilung
grotesk wiederholt wird. Das erlaubt es ihnen, die schwierigsten
Situationen in Sicherheit zu manipulieren -auf Kosten eben der
Unmittelbarkeit, auf welche die Frauen so viel sich zu gute tun. Die
Männer jedoch haben daraus die Konsequenz gezogen und kommen
mit dem
hämischen sous-entendu zusammen, die Frauen seien nun einmal
so. Das
augenzwinkernde Così fan tutte vergißt an alle
Diskretion, auch wenn
kein Name fällt, und hat dabei auch noch das Recht der
Erfahrung auf
seiner Seite, daß unweigerlich jede Frau, die ihr Vertrauen
in die
Ritterlichkeit des Geliebten geltend macht, selber das Vertrauen brach,
das er in sie setzte. Der Dame, die eine ist und nicht Vornehmheit zum
Kinderspott des bloßen Gehabes machen will, bleibt darum
keine Wahl,
als von sich aus das verkommene Prinzip der Diskretion
aufzukündigen
und ohne Vorsicht, offen, schamlos ihre Liebe auf sich zu nehmen.
Welche aber ist stark genug dazu?
VI
Post festum. - Das Leiden am Verfall erotischer Beziehungen ist nicht
bloß, wofür es selber sich hält, Angst vorm
Entzug der Liebe und auch
nicht nur jene Art der narzißtischen Melancholie, deren
eindringliche
Beschreibung Freud gegeben hat. Mitspielt die Angst vor der
Vergänglichkeit des eigenen Gefühls. So wenig Raum
ist den
unmittelbaren Regungen gelassen, daß, wem sie
überhaupt noch vergönnt
sind, sie als Glück und Kostbarkeit empfindet, selbst wenn sie
weh tun,
ja gerade die letzten schmerzhaften Spuren der Unmittelbarkeit als
Besitz erfährt, den er zäh verteidigt, um nicht
selber zur Sache zu
werden. Man fürchtet wohl gar mehr, die Liebe zum andern als
dessen
Liebe zu verlieren. Der Gedanke, der einem als Trost angeboten wird:
man verstehe in ein paar Jahren die eigene Leidenschaft schon nicht
mehr, könne dann etwa der Geliebten in einer Gesellschaft
begegnen,
ohne ihr mehr als flüchtige und erstaunte Neugier zu widmen,
ist dazu
angetan, den Getrösteten über die Maßen
aufzureizen. Daß die Passion,
die den Zusammenhang der rationalen Zweckmäßigkeit
durchschlägt und
gleichsam dem Ich hilft, aus seiner monadologischen Gefangenschaft
auszubrechen, selber ein Relatives sein soll, das der schmachvollen
Vernunft des individuellen Lebens sich einfügt, ist die
äußerste
Blasphemie. Und doch ist der Passion selber es unausweichlich, in der
Erfahrung der unabdingbaren Grenze zwischen zwei Menschen auf eben
jenes Moment zu reflektieren und damit im gleichen Augenblick, da man
von ihr überwältigt wird, die Nichtigkeit der
Überwältigung einzusehen.
Eigentlich hat man stets die Vergeblichkeit gespürt;
glücklich war man
in der widersinnigen Hoffnung des Fortreißens, und jedes Mal,
wenn es
mißlang, ist es das letzte Mal, der Tod. Die
Vergänglichkeit dessen,
worin Leben aufs äußerste sich konzentriert,
schlägt gerade in solcher
höchsten Konzentration durch. Zu allem anderen muß
der unglücklich
Liebende auch noch zugestehen, daß er gerade dort, wo er sich
ganz zu
vergessen meinte, nur sich selber liebte. Nichts Unmittelbares
führt
hinaus über den schuldhaften Kreis des Natürlichen,
sondern einzig bloß
die Reflexion auf dessen Geschlossenheit.
VII
Treten Sie näher. - Der Bruch von außen und innen,
als welchen das
einzelne Subjekt die Herrschaft des Tauschwerts zu spüren
bekommt,
affiziert auch den vermeintlichen Bezirk der Unmittelbarkeit, selbst
solche Beziehungen, die keine materiellen Interessen
einschließen. Sie
haben je eine doppelte Geschichte. Daß sie, als ein Drittes
zwischen
zwei Menschen, der bloßen Inwendigkeit sich
entäußern, in Formen,
Gewohnheiten, Verpflichtungen sich objektivieren, verleiht ihnen die
Resistenzkraft. Es gehört zu ihrem Ernst und ihrer
Verantwortlichkeit,
nicht jeder Regung nachzugeben, sondern der Psychologie der Individuen
gegenüber als Festes und Beständiges sich zu
behaupten. Das schafft
aber nicht aus der Welt, was in jedem einzelnen sich zuträgt:
nicht nur
Stimmungen, Neigungen und Abneigungen, sondern vor allem auch
Reaktionen auf die Verhaltensweisen des anderen. Und die innere
Geschichte macht um so nachdrücklicher sich geltend, je
weniger innen
und außen mit der Sonde sich scheiden lassen. Die Gefahr des
geheimen
Verfalls von Beziehungen hat stets fast zum Grunde, daß die
Beteiligten
vorgeblich oder wirklich es »zu schwer« haben. Sie
sind zu schwach
gegenüber der Realität, die sie allemal
überfordert, um die liebende
Anstrengung aufzubringen, die Beziehung rein um ihrer selbst willen
durchzuhalten. Jede menschenwürdige gewinnt im Reich der
Zweckmäßigkeit
einen Aspekt von Luxus. Eigentlich kann man es sich nicht leisten, und
die Rancune darüber bricht in kritischen Situationen durch.
Weil man
weiß, daß es in Wahrheit der unablässigen
Aktualität bedürfte, ist es,
wenn man nur für eine Sekunde nachläßt, als
zerbröckelte alles. Das
bleibt fühlbar, auch wenn die objektivierte Form der Beziehung
es nicht
durchkommen läßt. Der unausweichliche
Doppelcharakter von außen und
innen beunruhigt gerade authentische, affektiv sehr besetzte
Beziehungen. Ist das Subjekt tief involviert, während der
entäußerte
Aspekt der Beziehung, mit gutem Recht, ihm verwehrt, dem Impuls
nachzuleben, so wird die Beziehung zum permanenten Leiden und damit
gefährdet. Die absurde Bedeutung von Kleinigkeiten wie einem
versäumten
Telefonanruf, einem geizigen Händedruck, einer allzu
konventionellen
Redewendung rührt davon her, daß in ihnen die fast
stets sonst
gezügelte innere Dynamik manifest wird und die
Objektivität und
Gegenständlichkeit der Beziehung bedroht. Psychologen
mögen leicht die
Angst und den Schrecken solcher Momente als neurotisch verdammen und
auf ihr Mißverhältnis zum objektiven Gewicht der
Beziehung hinweisen.
Wer derart sich verstören läßt, ist in der
Tat »unrealistisch« und
beweist durch die Abhängigkeit vom Ausschlag der eigenen
Subjektivität,
daß ihm die Anpassung mißlang. Aber nur wo einer
auf die Inflexion der
anderen Stimme mit Verzweiflung antwortet, ist die Beziehung so
spontan, wie sie unter Freien es sein sollte, während sie doch
zugleich
eben darum qualvoll wird und obendrein durch die Treue zur Idee der
Unmittelbarkeit, den ohnmächtigen Protest gegen die
Kälte den Schein
des Narzißmus erweckt. Neurotisch ist die Reaktionsform, die
den
eigentlichen Sachverhalt trifft, während die
realitätsgerechte die
Beziehung bereits als tote einkalkuliert. Die Reinigung des Menschen
vom trüben und ohnmächtigen Affekt steht in geradem
Verhältnis zum
Fortschritt der Entmenschlichung.
VIII
Schwundgeld. - Kandinsky schrieb 1912: »Der Künstler
meint, daß er,
nachdem er 'endlich seine Form gefunden hat', jetzt ruhig weiter
Kunstwerke schaffen kann. Leider merkt er gewöhnlich selbst
nicht, daß
von diesem Moment (des 'ruhig') er sehr bald diese endlich gefundene
Form zu verlieren beginnt.« Nicht anders ist es um die
Erkenntnis
bestellt. Sie schöpft aus keinem Vorrat. Jeder Gedanke ist ein
Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt des Urteils dessen Vollzug nicht
sich abtrennen läßt, so sind wahr überhaupt
nur Gedanken, die über die
eigene These hinausdrängen. Da sie petrifizierte Ansichten von
den
Gegenständen, den geistigen Niederschlag gesellschaftlicher
Verhärtung,
zu verflüssigen haben, so widerstreitet die Form der
Verdinglichung,
die darin schon liegt, daß man einen Gedanken zum festen
Besitz macht,
dessen eigenem Sinn. Noch Meinungen von äußerstem
Radikalismus werden
verfälscht, sobald man nur darauf pocht, und die Gesellschaft
bestätigt
das eilfertig, indem sie die Doktrin diskutiert und damit aufsaugt. Das
aber wirft seinen Schatten über den Begriff der Theorie. Da
ist keine,
die nicht vermöge ihrer Konstitution als eines festen
Strukturzusammenhangs ein Moment von Verdinglichung an sich
trüge:
paranoische Züge ausbildete. Diese gerade verschaffen ihr die
Wirksamkeit. Der Begriff der fixen Idee trifft nicht die
bloße
Aberration, sondern ein Ingredienz von Theorie selber, den totalen
Anspruch eines Partikularen, der aufsteigt, sobald ein einzelnes Moment
isoliert festgehalten wird. Dem können Gedanken, die zum
Gegenteil
verhalten sind, nicht sich entziehen. Noch Theorien der
höchsten
Dignität bieten zumindest der dinghaften Auffassung sich dar.
Es ist,
als gehorchten sie darin insgeheim einem Gebot der Warengesellschaft.
Meist bezieht sich, wie beim Verfolgungswahn, die fixe Idee auf die
Zuteilung von Schuld. Das Wahnsystem vermag das Wahnsystem, den
Schleier der gesellschaftlichen Totalität, nicht zu
durchschauen. Darum
wird auf ein ausgesondertes Prinzip losgeschlagen, bei Rousseau die
Zivilisation, bei Freud den Ödipuskomplex, bei Nietzsche das
Ressentiment der Schwachen. Ist die Theorie anders geartet, so kann
immer noch die Rezeption sie paranoisieren. Sagt man von einem im
prägnanten Sinn, er habe diese oder jene Theorie, so
impliziert das
allemal schon die stur vor sich hinstarrende, abschließende,
von
Selbstreflexion ausgenommene Erklärung der Übel.
Denker, denen das
paranoide Element ganz abgeht -einer von ihnen war Georg Simmel, der
allerdings aus dem Mangel wiederum eine Panazee machte - bleiben
wirkungslos oder werden schnell vergessen. Und daraus folgt keineswegs
ihre Überlegenheit. Definierte man die Wahrheit als das
schlechthin
Nichtparanoische, so wäre sie zugleich nicht nur das
schlechthin
Ohnmächtige und in Konflikt mit sich selber, insofern die
Praxis eines
ihrer Elemente abgibt. Sondern sie brächte es
überhaupt nicht zur
Ausbildung eines konsistenten Sinnzusammenhanges: die Flucht vor der
fixen Idee wird zur Gedankenflucht. Das von der Obsession gereinigte
Denken, der konsequente Empirismus wird selber obsessiv und opfert
zugleich die Idee der Wahrheit, die denn auch bei den Empiristen
schlecht genug fährt. Auch unter diesem Aspekt wäre
die Dialektik als
Versuch zu betrachten, dem Entweder-Oder zu entgehen. Sie ist die
Anstrengung, Bestimmtheit und Konsequenz der Theorie zu erretten, ohne
sie dem Wahn zu überantworten.
IX
Prokrustes. - Die Abdrosselung des Denkens bedient sich einer fast
unausweichlichen Alternative. Was empirisch, mit allen
Kontrollmaßnahmen, die von den Konkurrenten gefordert werden,
ganz
sicher gestellt ist, läßt stets selbst von der
bescheidensten Vernunft
sich vorwegnehmen. Die Fragestellungen sind von der Mahlmaschine so
reduziert, daß grundsätzlich kaum mehr herauskommen
kann, als daß der
Prozentsatz der Tuberkulosekranken in einem slum-Distrikt
höher sei als
in Park Avenue. Daraus zieht dann die hämische Sabotage der
Empiristen
ihre Vorteile, indem die Budgetmacher noch der von ihnen selbst
verwalteten Empirie in den Arm fallen und ihr gegenüber die
herunterhängenden Mundwinkel des »Weiß ich
schon« zur Schau stellen.
Was aber anders wäre, der Beitrag, nach dem vorgeblich die
Wissenschaftler lechzen, verfällt nicht weniger ihrer
Geringschätzung,
eben weil es noch nicht allbekannt ist: »Where is the
evidence?« Fehlt
diese, so handle es sich um eitle und müßige
Gedankenspinnerei, während
Forschung sich tummeln soll wie Reportage. Die fatale Alternative
bewirkt mißlaunischen Defaitismus. Man macht Wissenschaft,
solange noch
etwas dafür bezahlt wird. Vertrauen aber hat man weder in die
Relevanz
noch in die Verbindlichkeit der Befunde. Auf den ganzen Plunder
würde
man verzichten, wenn Änderungen der gesellschaftlichen
Organisationsform etwa die Ermittlung des statistischen Durchschnitts
überflüssig machten, in dessen Bewunderung die
formale Demokratie als
bloßer Aberglaube der Forschungsbüros sich spiegelt.
Die
Verfahrungsweise der offiziellen Sozialwissenschaften ist kaum etwas
anderes mehr als eine Parodie der Geschäftsbetriebe, welche
solche
Wissenschaft aushalten, ohne ihrer eigentlich noch zu anderem zu
bedürfen als zur Reklame. Die ganze Apparatur von
Buchführung,
Verwaltung, von Jahresberichten und Bilanzen, von wichtigen Sitzungen
und Geschäftsreisen wird in Bewegung gesetzt, um kommerziellen
Interessen den Anstrich tiefgründig eruierter allgemeiner
Notwendigkeit
zu verleihen. Die Eigenbewegung solcher Büroarbeit
heißt Forschung
einzig noch darum, weil sie keinen ernsthaften Einfluß auf
die
materielle Produktion ausübt, geschweige denn als Kritik
über diese
hinausgeht. Im Research spielt der Geist dieser Welt mit sich selber,
aber so wie Kinder Kondukteur spielen, indem sie Billette verkaufen,
die nirgendwohin führen. Die Behauptung der Angestellten jenes
Geistes,
einmal werde die Synthese von Theorie und Faktenmaterial ihnen schon
gelingen, einstweilen fehle ihnen nur die Zeit, ist eine
törichte
Ausrede, die durch die stillschweigende Anerkennung des Vorrangs
praktischer Obliegenheiten sich selbst ins Gesicht schlägt.
Die
tabellendurchwirkten Monographien könnten kaum je, und dann
bloß im
sardonischen Sinne, durch vermittelnde gedankliche Operationen zur
Theorie erhoben werden. Die kollegiale Jagd zwischen
sozialwissenschaftlichen »Hypothesen« und
»Belegen« ist endlos wie die
wilde, weil jede der vermeintlichen Hypothesen, wofern ihr
theoretischer Sinn innewohnt, eben die brüchige Fassade der
bloßen
Faktizität durchschlägt, die in der Forderung nach
Belegen als
Forschung sich fortsetzt. Daß Musik übers Radio
nicht eigentlich
erfahren werden kann, ist ein gewiß bescheidener
theoretischer Gedanke;
seine Übersetzung in Research aber, etwa durch den Nachweis,
daß die
begeisterten Hörer gewisser ernster musikalischer Programme
sich nicht
einmal an die Titel der konsumierten Stücke erinnern, gibt von
der
Theorie, die zu verifizieren er beansprucht, den bloßen
Abhub. Wüßte
selbst eine allen statistischen Kriterien entsprechende Gruppe die
Titel, so wäre damit die Erfahrung der Musik so wenig bezeugt,
wie
umgekehrt die Unkenntnis der Namen an sich die Absenz von Erfahrung
bestätigt. Die Regression des Hörens ist nur aus der
gesellschaftlichen
Tendenz des Konsumtionsprozesses als solcher abzuleiten und in
spezifischen Zügen zu identifizieren. Sie
läßt sich nicht aus
willkürlich isolierten und dann quantifizierten
Konsumtionsakten
erschließen. Diese zum Maß der Erkenntnis machen,
heißt selber bereits
das Absterben der Erfahrung voraussetzen und
»erfahrungslos« operieren,
während man die Veränderung der Erfahrung analysieren
will; ein
primitiver Zirkel. Als hilflose Nachahmung der exakten
Naturwissenschaften, deren Ergebnissen gegenüber die
sozialwissenschaftlichen armselig erscheinen, klammert sich Research
verängstigt an den verdinglichten Abguß der
Lebensprozesse als Garantie
der Richtigkeit, während es seine einzig angemessene und daher
den
Research-Methoden unangemessene Aufgabe wäre, die
Verdinglichung des
Lebendigen an ihrem immanenten Widerspruch zu demonstrieren.
X
Ausschweifung. - Dem an der dialektischen Theorie Geschulten
widerstrebt es, in positiven Vorstellungen von der richtigen
Gesellschaft sich zu ergehen, von ihren Bürgern, ja selbst von
denen,
die es vollbrächten. Die Spuren schrecken; dem
Rückschauenden
verschwimmen alle Gesellschaftsutopien seit der Platonischen in
trüber
Ähnlichkeit mit dem, wogegen sie je ausgesonnen waren. Der
Sprung in
die Zukunft, hinweg über die Bedingungen des
Gegenwärtigen, landet im
Vergangenen. Mit anderen Worten: Zwecke und Mittel sind nicht
unabhängig voneinander zu formulieren. Dialektik will nichts
von der
Maxime wissen, daß jene diese heiligten, so nahe dem auch die
Lehre von
der List der Vernunft ebenso wie die Unterordnung der
Einzelspontaneität unter die Parteidisziplin zu kommen
scheint. Der
Glaube, das blinde Spiel der Mittel sei durch die Oberhoheit der
rationalen Zwecke bündig zu ersetzen, Ovar
bürgerlich-utopistisch. Zur
Kritik steht die Antithese von Mittel und Zweck selber. Beide sind im
bürgerlichen Denken verdinglicht, die Zwecke als
»Ideen«, deren
Unveräußerlichkeit in der Ohnmacht besteht
äußerlich zu werden, und die
schlau die eigene Unrealisierbarkeit in die Form ihrer Unbedingtheit
einkalkulieren; die Mittel als »Gegebenheiten«,
sinnleer-bloßes Dasein,
nach Wirksamkeit oder Unwirksamkeit für Beliebiges
auszusortieren, aber
vernunftlos an sich. Der versteinerte Gegensatz gilt in der Welt, die
ihn produzierte, aber nicht für die Anstrengung, jene zu
verändern.
Solidarität kann zur Unterordnung nicht bloß des
Einzelinteresses
sondern selbst sogar der besseren Einsicht verpflichten. Umgekehrt
kompromittiert Gewalttat, Manipulation und schlaue Taktik das Ziel, auf
das sie sich beruft und das sie damit selber schon zum bloßen
Mittel
macht. Darum das Prekäre aller Aussagen über die, von
denen die
Veränderung abhängt. Weil tatsächlich Mittel
und Zwecke getrennt sind,
können die Subjekte des Umschlags nicht als unvermittelte
Einheit von
beiden gedacht werden. Ebenso wenig aber läßt die
Trennung theoretisch
sich perpetuieren in der Erwartung, sie wären entweder einfach
Träger
des Zwecks, oder selber durchaus Mittel. Der rein vom Zweck bestimmte
Oppositionelle ist heute ohnehin, als »Idealist«
und Tagträumer, von
Freund und Feind so gründlich verachtet, daß man
eher darauf verfällt,
von seiner Exzentrizität das Rettende zu erhoffen als dem
Ohnmächtigen
die Ohnmacht nochmals zu attestieren. Gewiß jedoch ist denen
nicht etwa
mehr zu vertrauen, die den Mitteln gleichen; den Subjektlosen, denen
das historische Unrecht die Kraft lähmt es zu brechen,
angepaßt an
Technik und Arbeitslosigkeit, bündlerisch und verwahrlost,
schwer zu
unterscheiden von den Windjacken des Faschismus: ihr Sosein dementiert
den Gedanken, der auf sie sich verläßt. Beide Typen
sind auf den
Nachthimmel der Zukunft projizierte Charaktermasken der
Klassengesellschaft, und an ihren Fehlern wie an ihrer
Unversöhnlichkeit hat die Bourgeoisie selber stets sich
geweidet: dort
am abstrakten Rigoristen, der Hirngespinste hilflos zu realisieren
trachtet, hier am Untermenschen, der als Ausgeburt der Schmach diese
nicht soll wenden können.
Wie die Rettenden wären, läßt sich nicht
prophezeien, ohne ihr Bild mit
dem Falschen zu versetzen. Zu erkennen aber ist, wie sie nicht sein
werden: weder Persönlichkeiten noch Reflexbündel, am
letzten aber eine
Synthese aus beidem, hartgesottene Praktiker mit Sinn fürs
Höhere. Wenn
die Beschaffenheit der Menschen den extrem gesteigerten
gesellschaftlichen Antagonismen sich wird angemessen haben, dann wird
die menschliche Beschaffenheit, die zureicht, dem Antagonismus Einhalt
zu tun, durch die Extreme vermittelt sein, nicht die durchschnittliche
Mischung aus ihnen. Die Träger des technischen Fortschritts,
heute noch
mechanisierte Mechaniker, werden in der Entwicklung ihrer
Spezialfähigkeiten den von der Technik bereits angezeigten
Punkt
erreichen, wo Spezialisierung gegenstandslos wird. Hat ihr
Bewußtsein
ins reine Mittel, ohne alle Qualifikation, sich verwandelt, so mag es
aufhören Mittel zu sein, mit der Bindung an bestimmte Objekte
die
letzte heteronome Schranke durchschlagen; die letzte Befangenheit im
Soseienden, den letzten Fetischismus gegebener Verhältnisse
abstreifen,
auch den des eigenen Ichs, das durch seine radikale Zurüstung
zum
Instrument zergeht. Aufatmend mag es der Unstimmigkeit zwischen seiner
rationalen Entwicklung und der Irrationalität ihres Zweckes
innewerden
und danach handeln.
Zugleich aber sind die Produzenten mehr als je auf die Theorie
verwiesen, zu der die Idee des richtigen Zustandes in ihrem eigenen
Medium, konsequentem Denken, kraft insistenter Selbstkritik sich
entfaltet. An der Klassenspaltung der Gesellschaft haben auch die teil,
welche der Klassengesellschaft opponieren: sie scheiden sich
untereinander, nach dem Schema der Trennung körperlicher und
geistiger
Arbeit, in Arbeiter und Intellektuelle. Diese Scheidung lähmt
die
Praxis, auf die es ankäme. Sie ist nicht willkürlich
zu überwinden.
Während aber die mit geistigen Dingen beruflich
Befaßten selber immer
mehr zu Technikern werden, macht die zunehmende Undurchsichtigkeit der
kapitalistischen Massengesellschaft eine Verbindung der
Intellektuellen, die es noch sind, mit den Arbeitern, die noch wissen,
daß sie es sind, aktueller als vor dreißig Jahren.
Damals war sie
kompromittiert durch Bürgerliche der freien Berufe und der
Zirkulation,
die von der Industrie nicht hereingelassen wurden und versuchten, durch
linke Betriebsamkeit Einfluß zu gewinnen. Die Gemeinschaft
der
Werktätigen von Kopf und Hand klang beruhigend, und das
Proletariat
witterte mit Recht in der von Figuren wie Kurt Hiller empfohlenen
Führerschaft ihres Geistes einen Trick, eben durch
Vergeistigung den
Klassenkampf unter Kontrolle zu bringen. Heute, da der Begriff des
Proletariats, in seinem ökonomischen Wesen
unerschüttert, technologisch
verschleiert ist, so daß im größten
Industrieland von proletarischem
Klassenbewußtsein überhaupt nicht die Rede sein
kann, wäre die Rolle
der Intellektuellen nicht mehr, die Dumpfen zu ihrem
nächstliegenden
Interesse zu erwecken, sondern den Gewitzigten jenen Schleier von den
Augen zu nehmen, die Illusion, der Kapitalismus, welcher sie
temporär
zu Nutznießern macht, basiere auf etwas anderem als ihrer
Ausbeutung
und Unterdrückung. Die eingefangenen Arbeiter sind unmittelbar
auf die
verwiesen, die es eben noch sehen und sagen können. Ihr
Haß gegen die
Intellektuellen hat sich demgemäß
verändert. Er hat sich den
vorwaltenden gesunden Ansichten angeglichen. Die Massen
mißtrauen den
Intellektuellen nicht mehr, weil sie die Revolution verraten, sondern
weil sie sie wollen könnten, und bekunden damit, wie sehr sie
der
Intellektuellen bedürften. Nur wenn die Extreme sich finden,
wird die
Menschheit überleben.