Heft 3/99

garip dünya

Beuten der Stadt

Im Juni 1997 setzte die Innenstadtkampagne in Parks, Einkaufsmeilen, Kinos, Veranstaltungsräumen und anderen : gefährlichen9 Orten zahlreicher Städte Zeichen gegen die Ausschlüsse und rassistischen Ausgrenzungen, die die neuen städtischen Politiken produzieren. Im darauf folgenden Jahr konzentrierte sich die Kampagne vielerorts auf die Bahnhöfe, deren Service/Sichheits/Sauberkeits-Programme als Prototyp cleaner und kontrollierter Urbanität kritisiert wurden (»Eure Sauberkeit kotzt uns an«). Auch wenn die Kampagnen wenig Spuren in den Städten hinterlassen haben, so haben sie innerhalb der linken Szene für die Thematik des städtischen Raums als Brennpunkt der Inneren-Sicherheits- Mobilisierung und Modernisierung erfolgreich sensibilisiert. Mittlerweile ist man wieder runter von den Straßen und Plätzen; dennoch gibt es sie noch, die Auseinandersetzung mit den städtischen Verdrängungskämpfen; man könnte jedoch sagen, daß sich ihre Formen »kultiviert« haben: Die Berliner Ausstellung der AG Baustop Randstadt vom vergangenen Herbst erschien mittlerweile beim b_books Verlag im Foto-Text-Bildchen-Collagen-Format. Die Zeichnungen Andreas Siekmanns waren im Frankfurter Portikus zu sehen (siehe Jeans-Job). Und nun liegt das Buch Die Stadt als Beute vor, in dem sich vieles von dem findet, was im Kontext der Kampagne diskutiert und auf die Tagesordnung gesetzt wurde: Die drei Autoren Ronneberger/Lanz/Jahn alias space-lab zeichnen nach, wie angesichts des Niedergangs traditioneller städtischer Ökonomien und eines forcierten Wettbewerbs zwischen Städten und Regionen nahezu allerorts städtische Managements das neue Credo kommunaler Politik durchgesetzt haben: Um der »Zukunftsfähigkeit« willen müsse die Stadt als wirtschaftliches Unternehmen geführt werden und sich auf die Anforderungen der neuen Ökonomie einstellen. So werden die Teppiche ausgerollt, also Gewerbeflächen ausgewiesen, Genehmigungen eilig erteilt und kommunale Gremien ausgehebelt, um Investoren und Konzernspitzen davon zu überzeugen, daß jeweils vor Ort die kapitalfreundlichste Zone eingerichtet wurde und die schnelle (Spekulations-)Mark zu machen sei. Die Autoren legen ihr Augenmerk dabei auf die Bereitschaft der Städte, ordnungspolitisch all diejenigen wegzupolieren, die als Kratzer im neuen städtischen Hochglanzlack ausgemacht werden. Während die gegenwärtige Stadtentwicklung die städtischen Bevölkerungen mit gravierenden Einschnitten in kommunale Versorgungs- und Sozialleistungen, gesteigerten Mietpreisen oder dem Verschwinden der alteingesessenen Eckkneipe konfrontiert, fungiert markige law&order Politik als neue Form der Integration des urbanen »Volkes«: Mögen sich andere Gegensätze auch noch so sehr zuspitzen . unter dem Banner der Gefahrenabwehr finden sich die verschiedenen Klassen der Mehrheitsgesellschaft als gemeinsam Bedrohte ein; publicityträchtig inszenierte Sicherheitspavillions und ein Heer von Uniformierten signalisieren, daß die Städte mit harter Hand gegen die als »gefährliche Klassen« Stigmatisierten vorgehen.

Der space-lab Crew zufolge zeichnet sich die gegenwärtige StadtalsStandort-Modernisierung gerade dadurch aus, daß sie das Modell gleichlaufender räumlicher Entwicklungen aufbricht und ein »Regime der Differenz«, d.h. ein hierarchisiertes Städtesystem und polarisierte Stadträume im Inneren entfaltet. Dies fängt das Buch dadurch ein, daß es als plastischer Streifzug durch eine sich rasant verändernde städtische Geographie geschrieben ist: Der Blick wandert von Stadt zu Stadt . und endlich einmal auch zu ostdeutschen Städten . und zeigt anhand zahlreicher konkreter Beispiele, wie sich der neue Stadttyp durch lokale Unterschiede hindurch formiert. Gerade aufgrund dessen ist es jedoch schwierig, die Entwicklungen einem allgemeinen Topos zu unterstellen, da es in den einzelnen Städten nicht nur sehr unterschiedliche Startbedingungen und Lobbies (den Sozi-Gewerkschafts-Filz im Pott, den Finanzkomplex in FFM, die Rüstungsindustrie in und um München) für den »Neuanfang« gibt, sondern eben auch durchaus unterschiedliche Strategien desselben. So zeigte sich bereits während der Innenstadtkampagne, daß von der neoliberalen Restrukturierung der Städte zu sprechen zwar schön und gut und nötig war, die Situation von Ort zu Ort aber sehr variiert. Während Hamburg, die Krisenstadt der . 80er, durch frühzeitige Weichenstellung auf private-public-partnership längst wieder zur erfolgreichen Handels- und Unternehmensstadt avanciert, verpflichten sich andere Städte der trüben Aussicht, durch die Umwandlung ihrer kahlgeschlagenen Produktionsstandorte in kontrollierte Konsum- und Spektakelparks nicht völlig ins Abseits zu geraten. Was Oberhausen sein CentrO, ist Bremen sein Space Park.

So bleibt die Suche nach einem Generalbegriff des neuen Stadttyps auch der Punkt, an dem die Autoren ins Lavieren geraten. »Neofeudale« Stadt, »ständische Bürger«-Stadt? Treffend scheint die These von der »revanchistischen« Stadt, macht diese darauf aufmerksam, wie stark die gegenwärtige Offensive als Attacke gegen die Arrangements der vorausgehenden Jahrzehnte vorgetragen wird (oh ja, die fordistische Stadt war häßlich und mittelmäßig). »Revanchistisch« beschreibt den Gestus von Rückeroberung, in dem von überstrapazierter Toleranz schwadroniert wird und sich nun die Kontrolle über Räume zurückgenommen werden soll, die angeblich vom Ganoventum, der Unmoral und dem Elend in Besitz genommen wurden.

So gelungen das Buch auch ist . bezieht man es auf die Innenstadtkampagne repräsentiert es gemeinsam mit den oben genannten Projekten der vergangenen Zeit doch irgendwie die einseitige

Verlagerung der Auseinandersetzung mit der Stadt zwischen Buchdeckel und in Bilderrahmen. Feister stadtsoziologischer Nachschlag? Ob dies tatsächlich so ist, bleibt, bleiben muss, ist nun aber wahrlich nicht Sache des Buches. Die Stadt als Beute . es kommt drauf an, was man draus macht.

Christian Sälzer

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Jeans Job

Die Jeanshose war in ihrer Geschichte eine Arbeitshose und ist heute ein Symbol für Jugend, Freizeit und Mode. Nur was ist, wenn die Jeans keinen Job findet. Hanna Handy und Valie Wartebein warten ständig auf ein Angebot, Charly Chance nimmt gleich eine Zeitung zur Hand, nur Theo Tunix genießt die Zeit. Harry Habenichts will protestieren und Eva Ebbe steht mal wieder vergeblich am Bankautomat.

Ria Runde will es ebenso machen wie in der Werbung, während Quirin Quote sich ständig im Fernsehen bei den Nachrichten bestaunt. Für Paula Prekär zeichnet sich vielleicht ein Weg als Kellnerin ab. Dieter Daheim guckt lieber in die Ferne in den Wald aus lauter Kränen und weiß, bald wird auch diese Aussicht sich verschließen.

Alle im Jeans Job wollen bald eine Perspektive.

Die »Fremdfiguren für Ferrero« (aus Knetgummi, signiert und numeriert) sind der Portikus-Edition von Andreas Siekmann entnommen. Diese war von August bis September diesen Jahres im Frankfurter Portikus in der Ausstellung »aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung« zu sehen. Zu den dort ebenfalls ausgestellten Zeichnungen Siekmanns unter den Titeln : Ware-Person-Ware9 , : Arbeitskampf-Revue9 , :Falsche Freiheit Frankfurt9 u.a. siehe com.une.farce no.3.

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Big in Berlin tonight
Heinz Bude verspricht Die Sterne vom Schröderhimmel zu holen

Manche glauben, das mit der großen Politik sei alles Theater. Zu ihnen gehört auch der Soziologe Heinz Bude, Leiter des Arbeitsbereichs Bundesrepublik am Hamburger Institut für Sozialforschung. Drucksen auf der »Vorderbühne« nun schon seit einem Jahr die »Achtundsechziger« herum, »machen sich auf der Hinterbühne die Angehörigen einer : Generation Berlin9 bereit, die sich die : Berliner Republik9 zu eigen machen will.« (FR 22.9.99).

Und tatsächlich: Ein paar »Youngsters«, wie sich manche Jung-MdBs der SPD neuerdings nennen, haben eine neue Zeitschrift gegründet. Mit »Ber-liner Republik« ist ihnen wohl die großkotzigste Namensgebung der letzten Zeit gelungen. Hans-Peter Bartels, Mitherausgeber und ebenfalls »Jung-Star«, liefert in Die Zeit (40/99) einen kleinen Vorgeschmack. G-E-N-E-R-A-T-I-O-N B-E-R-L-I-N heißt sein Artikel und bereits im ersten Satz läßt Bartels die Sau raus: »Wir sind brav, nett, korrekt und pünktlich, strebhaft, staatstragend, milde, spießig, so langweilig wie ein Volkswagen: unsere praktische : Generation Golf9 eben.« Hat er natürlich nur Spaß gemacht, der kleine Schröderracker.

Doch wieder zurück zu(r) Bude, wo es eher soziologisch zugeht. Also seinen Jungs, die selbst noch nicht genau zu wissen scheinen, was die »Gene-ration Berlin« eigentlich sein soll, hat er das im Willy Brandt-Haus (richtig: mitten in Berlin) klipp und klar gesagt. Um dem wissenschaftlichen Bemühen, dem Kanzler Jugendlichkeit zu schenken, gebührend zu begegnen, wird die zentrale Kategorie im folgenden hochachtungsvoll »das GB« genannt.

Um . 65 geboren ist das GB unter den Knappheitspostulaten und dem »Weiter so« der 70er/80er aufgewachsen. Seine besten Jahre verbrachte es entweder mit Dekonstruktivismus oder aber »populär« orientiert mit Punk-rock. Jobmässig gibt. s für das GB auch nix zu meckern, denn gesicherte Arbeitsverhältnisse kennt es ohnehin nicht. »Risikokompetenz« ist sein Gütesiegel. Seinen 68er-Chefs hat es genau auf die Finger geschaut. Und weil man als AngestellteR ja nicht übermäßig das Maul aufreißen kann, spürt man in »skeptischer Abgeklärtheit« die »blinden Flecken des Unternehmens der Gesellschaftskritik« auf: Selbstbefreiung, Gleichheit der Förderung, das Dagegensein. : Alles Selbstbetrug9 , ereifert sich das zur Revolte zu spät gekommene Persönchen. Daraus ist doch nur Selbstzwang, Ungleichheit der Leistung und ein Dabeisein geworden. Ein wohlwollendes Lächeln vom Chef läßt sich damit allemal ergattern. Aber wo bleibt denn da das Positive?

Am Ende der 80er drohte das GB, an der Nadel des Skeptizismus hängend, »die Bereitschaft zur Gegenwart« zu verlieren. Doch da kam die Rettung: »das Revolutionsjahr von 1989 . die Wiederkehr der Geschichte«. Man erinnert sich: Da waren welche, die verbrachten ihre Adoleszenz mit der Konservativen Revolution (die intellektuellen Totengräber der Weimarer Republik) oder aber populär orientiert mit Pogromen gegen Flüchtlinge und MigrantInnen. Erstere, die Salonfaschisten von der Jungen Freiheit, ließen keine Gelegenheit aus, sich das »Wir 89er!«-Etikett ans Revers zu heften. Dennoch, so recht klappen wollte es bis heute nicht mit dem persönlichen Ticket nach Mitte. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß Karl Heinz Weissmann, der Geschichtslehrer mit dem 50er-Jahre-Charme, sich begeistert Budes GB annimmt (vgl. JF 33/98). Nach seinem Geschmack muß das GB »realistisch, hart und apollinisch« sein und wird in der »Auflehnung gegen die allgemeine Verschlampung« entstehen, die die »Libido-Revolution« von 68 zu verantworten hat; denn es herrscht eine allgemeine »Beunruhigung über das Wegbrechen der moralischen Dämme«. So angepaßt die 68er gottseidank mittlerweile sind . im Stahlbad der (nationalen) Zukunft werden sie sich nur verbrühen. Der Ekel vor der Republik, die zur erotischen und deshalb bedrohlichen Frau phantasiert wird, und das nationale Erweckungsgebet : Mein Reich wird kommen9 , die so typisch für Männerphantasien im Deutschland der 20er waren . Heinz Weissmann hat sie drauf.

In Budes politisch-soziologischer Puppenkiste für die SPD geht tatsächlich alles ein wenig gemäßigter zu. Püppchen Bartels (»Unsere Themen sind nicht so charmant wie freie Liebe und Klassenkampf.«) bevorzugt die weichen Töne, die es an Zackigkeit dennoch nicht fehlen lassen: »große Lösungen« sind gefragt und dafür »muß allerdings Schluß gemacht werden mit einigen politischen Korrektheiten, die das Umdenken behindern.« Zum Beispiel: Migration. Falls eine »aufgeklärte« Sozialpolitik nicht genügend Manpower aus »unserer Geburtenrate« rausholen kann, wären noch ein paar Plätze frei in Berlin Mitte. Die »Integrationskräfte« müssen gestärkt werden, Schluß mit der »Multikulti-Tanzfolklore«, stattdessen »erstens, zweitens, drittens:« Die AnwärterInnen haben ge-

fälligst fließend deutsch zu sprechen und solcherlei Bildungdienstleistungen gibt. s auch nicht zum Nulltarif. »Denn Leistung, nicht Herkunft, soll den Unterschied machen.« Wer sich im Assimilationswettlauf nicht an den vorderen Plätzen halten kann, erhält den Stempel »gefährlich fremd« (Der Spiegel) und wird von freundlichen BGS-BeamtInnen abgeschoben.

Ähnlich sportiv geht es beim finalen Subjektentwurf des GBs zu . dem »unternehmerischen Einzelnen«. GB beschreibt letztendlich darin doch weniger eine geschlossene Altersgruppe als vielmehr eine »Gemeinschaft der Haltung«: . 89 endlich vom lästigen Suchen nach Alternativen zur kapitalistischen Vergesellschaftung befreit, ist »transzendentale Nüchternheit« angesagt. Sie steht für die Abkehr von der Kritik der bestehenden Verhältnisse, »ohne der puren Affirmation das Wort zu reden.« Es handelt sich dabei um eine wirklich brandneue Erkenntnisse hervorbringende Haltung, die nämlich »keine Position außerhalb des Spiels von Macht, Wissen und Geld vorsieht. Wer mitspielen will, muß um Verbündete für seine Definition der Wirklichkeit werben.« Ja, so funktioniert bürgerliche Gesellschaft wohl. Um das zu erkennen, brauchte Antonio Gramsci, fünfzig Jahre vor dem Crash des Realsozialismus, allerdings nicht die vorgebliche Einsicht, daß außer Kapitalismus nix mehr geht. Ganz im Gegenteil: Ihm ging es darum, nach einem neuen Modus zu suchen, mit dem die Subalternen in die-ser Gesellschaft sich selbst befreien können. Aber damit hat Budes unternehmerisches Subjekt denkbar wenig zu schaffen. Kooperativer Smalltalk mit den Wirtschaftsbossen findet es selbstverständlich prima, und deshalb ist für Bartels nicht klassen-, sondern »gemeinwohlorientierte Reformpolitik« die Zukunft der Sozialdemokratie. Damit kann sich das superkreative GB auch morgen noch kraftvoll auf dem »offenen Feld der Möglichkeit« vermarkten. Und wenn die Ideen mal ausgehenoder sie leider keinen Geldsack interessieren und die Rente mit 70 immer noch auf sich warten läßt? Na ja, lange genug in Berlin-Mitte gehockt, die anderen wollen schließlich auch mal rein . . .

Übrigens, Gramsci hat den Beat gefunden. Er heißt Stellungskrieg, also der Kampf um die Definition der Wirklichkeit. Er läßt sich vortrefflich gegen soziologische Erfindungen führen, die den Subalternen vermitteln sollen auch zur bürgerlichen Mitte zu gehören. Und das gilt ganz besonders für das GB. Denn die Vorstellung als lebenslänglicher »Universal Tellerwäscher« ein oder zwei mal big in Berlin zu sein und schön einen auf Kleinfamilie zu machen, ist nicht nur »bescheiden« (Bartels) sondern offensichtlich zum kotzen. Die Neue Mitte ist eine viel zu enge Bude. Denjenigen, die hier mit mir davor Schlange stehen, sei zugeflüstert: Just kick it. Was fetteres bringen wir allemal an den Start!

Lenino D.

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Professorentalk

Das Frankfurter Institut für Sozialforschung hatte vom 23. bis 25. September zur : Kritik der Gesellschaft9 anläßlich seines 75. Geburtstags geladen. Ein kleiner Euphemismus, denn angesichts der personell und institutionell bruchstückhaften Geschichte des Instituts hätte es auch der 67. zur Emigration, der 48. zur Wiederansiedlung in der BRD oder der 30. wegen der Umbrüche nach Adornos Tod sein können. Aber wer will schon auf das Label der Kritischen Theorie verzichten? In der Einladung zur Konferenz bemühte man sich dann auch um eine Reminiszenz an die alten Recken in Form der Frage, »ob die Spaltung zwischen dieser neuen Bescheidenheit in der Gesellschaftskritik und der sich totalisierenden kapitalistischen Realität nur Ausdruck einer temporären Ungleichzeitigkeit ist oder selbst ein Teil des Problems der Dialektik der Aufklärung, das heißt des Verstummens jeglicher politisch folgenreicher Gesellschaftskritik.« Eine Frage, die, wie ein kurzer Blick in das Tagungsprogramm zeigte, zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erörtert werden sollte, hatte man doch bereits in der Einladung einen »Auszug aus den Schützengräben marxistischer Totalkritik am Kapitalismus« ange-kündigt. Im Verlauf der Konferenz bestätigte sich dann auch, daß der Verweis auf Ökonomismus und Geschichtsteleologie immer noch ausreicht, um sich von einem hegelmarxistischen Totalitätsbegriff in Gänze zu verabschieden.

Insgesamt hatte man mehr auf Repräsentation denn auf Reflexion gesetzt: Prominente Gäste wie Zygmunt Baumann, Chantal Mouffe, Richard Sennet, Iris Young u.a. aus dem westlichen Denk-Ge-werbe waren geladen, der Kritischen Theorie ihre Aufwartung zu machen. Die Podiumsbeiträge waren allerdings zumeist bis zur Peinlichkeit schlecht aufeinander abgestimmt. Während etwa Iris Young sich im amerikanischen Kontext der gender-studies um eine Aufwertung der Arbeitskategorie gegenüber entfremdeten und schlecht bezahlten Jobs bemühte, sprach Stephan Leibfried über den Zusammenhang von Wohlfahrtsstaat und Weltmarkt. Klar, als Sozialwissenschaftler bringt man auch das zusammen, nur eine Diskussion entsteht dabei kaum. Im Grunde lief also eine typische Jubelveranstaltung ab, bei der jede und jeder sich sein Theoriebröckchen herauspicken konnte.

Ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen : Panels9 stiftete allenfalls die von IfS-Theorie-Kronprinz Axel Honneth angezettelte Diskussion um die einer Kritischen Theorie der Gesellschaft adäquaten Maßstäbe. Die Anerkennungstheorie, in ihrer von Honneth entwickelten Variante, schließt an die Habermas. sche Kommunikationstheorie an, versucht aber, das sprachliche Vernunftpotential mittels sozialisatorisch erworbener Identitätsansprüche zu fundieren, ohne dabei die explizit normative Grundlegung der Theorie aufzugeben. So soll eine erneuerte kritische Gesellschaftstheorie zu ihren positiven Maßstäben kommen. Die Auseinandersetzung ging nun nur noch um die Tragweite der Normen, kontextualistische versus universalistische Ethik also. Dazu hatte man den Kommunitaristen Michael Walzer geladen, der schon in seinen : Spähren der Gerechtigkeit9 mit so brillianten Gedanken, wie der wechselseitigen Irreduzibilität von Bereichen wie Geld und Kirche auf sich aufmerksam gemacht hatte. Ein leichtes Opfer, dachten die Sozialforscher im IfS vielleicht und hatten recht.

Diskussionsleiter Habermas resümierte, daß die von Walzer vorgenomme Trennung von Sozialtheorie und Kritik nicht zu halten ist und leitete zum Problem der »Ohnmacht des Sollens« . also zum Desinteresse an den : richtigen9 Maßstäben . über. Was sich wie eine abgehobene sozialphilo-sophische Erörterung ausnimmt, zielt auf den politischen Kern der Debatte; nämlich der Verankerung und Durchsetzung einer : starken Normativität9 . Letzteres ist die Antwort der neuen Kritschen TheoretikerInnen auf den deregulierten Nationalstaat. Wenn Joseph Fischer fast zeitgleich auf der UN-Vollversammlung für die Ausdünnung nationalstaatlicher Souveränität im Namen der Menschenrechte plädiert, ist das ein Konnex, dessen Thematisierung einer : Kritik der Gesellschaft9 besser zu Gesicht gestanden hätte, den man . mit Rücksicht auf den Jubilar . aber sorgsam aussparte. Zu erwarten ist freilich, daß man sich der von Habermas schon im Kosovo-Krieg vertretenen Interventionsposition anschließt und die Neue Mitte so ihre Hausphilosophen erhält.

Michael Elm

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talking home

Im Frühjahr 1999 erschien nach vierjähriger Produktionszeit endlich die erste Anthologie von Frauen / Queers of color in Deutschland. Die Herausgeberinnen Beldan Sezen und Olumide Popoola hatten beim Versuch, das Werk bei einem Verlag unterzubringen, im Grunde noch einmal die Mechanismen erlebt, um die es auch im Buch selbst die ganze Zeit geht: die Unsichtbarmachung von Lesben of Color in Deutschland; den starken Assimilationszwang an dominante Diskurse und Benimmregeln. Vor allem dominierte jedoch das paradoxe Bestreben1, Abweichungen von der herrschenden Norm als kuriose und appetitliche Objekte der Theorie zu favorisieren. Allerdings nur solange die ebenso rassistischen wie heterosexistischen Hierarchien im politischen und diskursiven Feld unangetastet bleiben und Queers of Color dort weiterhin schamlos ausgegrenzt werden.

Entstanden ist mit Talking Home, trotz aller Schwierigkeiten, eine Sammlung aus Lyrik, Bildern und Texten, die verschiedene Facetten der Erfahrungen von queer women of color umfaßt. Es geht um Alltag, Assimilation, und immer wieder um überschüssige oder verfehlte Kommunikationen, Bilder scheiternder Ankunft, multipler Anwesenheiten und rauschender Liebe. Liebe allerdings, die immer wieder von Auslöschung bedroht ist: »Lesben? Die Gibt Es Bei Uns Nicht!« überschreiben Selmin Caliskan und Modjgan Hamzhei ein Kapitel ihres Textes über Lesben of Color. Lesbische Migrantinnen in Deutschland sehen sich sowohl den Homophobien ihrer Communities ausgesetzt, als auch einer vorwiegend weißen Lesbenszene, die heftigen Assimilationsdruck ausübt.

Die Überschneidung verschiedener Modi der Ausgrenzung, in diesem Fall Rassismus und He-terosexismus, gilt zwar gemeinhin als besonders spannendes Demonstrationsbeispiel heterogener Identitäten. Caliskan und Hamzhei weisen jedoch daraufhin, daß diese überschwengliche Einschätzung aber regelmäßig versagt, sobald tatsächlich Lesben of Color ins Spiel kommen. Lesbischsein wird in der deutschen Lesbenszene als westlichprogressiv gesehen, Women of Color als »unterdrückt« bemitleidet. Identitäten auf der Ebene der Geschlechterkonstruktion in Frage zu stellen, kann Borniertheiten, wenn es um Rassismus geht offensichtlich nicht verhindern, geschweige denn aufheben.

Mit solcher Kritik halten sich die Autorinnen der Anthologie allerdings nicht lang auf. Statt dessen wird der Fokus auf die Erschreibung von Schwesterlichkeit, Sinnlichkeit und Stärke gelegt. Durch das Lob der Zunge etwa, die sich zwischen (physischer) Liebe und mehreren Sprachen bewegt (Kader Ko-nuk). Mit dieser Vielsprachigkeit, teilweise drei Sprachen in einem Text, wird allerdings keineswegs kosmopolitische Kompetenz abgefeiert. Barbara Laehrmann weist daraufhin, wie wichtig andere Sprachen sein können, um Rassismuserfahrungen zu artikulieren, für die das Deutsche nur ein dumpfes Schweigen parat hat. Englisch funktioniert in diesem Fall als Schutzraum, als distanzierende Versprachlichung des Traumas, als »Mittel der Befreiung von altbekannten, unbenannten Kreisläufen.«

Die alltägliche Tilgung aus Sprache und Bild thematisiert auch Beldan Sezen: Deutschland reduziert das Ich zum »nICHts«. Und »nichts wird gesehen/ nichts wird gehört/ nichts/ rennt gegen wände/nichts wird vernichtet«. Sezen verspottet allerdings auch die hauptberuflichen Opfer. Auch dies sei eine Falle: in zugeschriebener Hilflosigkeit zu verharren, und Un-terdrücktheitswettbewerbe zu veranstalten. Vom »nICHts« zum »Ich«: die Rekonstruktion eines Subjekts ohne Fülle, einer Geschichte gefährdeter Anwesenheit, die Heraus-forderung des Begriffs der Autorin in einem Land, das eine solche Position für Wo-men of Color nicht vorsieht, bilden deutliche Einsprüche gegen populistische Variante der Dekonstruktion, die sich unterschiedslos aller Identitäten bemächtigt, egal welche gesellschaftliche Position sie innehaben. Gerade queer theory ist in den Neunzigern zum Paradigma der Infragestellung von Identität überhaupt avanciert und wurde auf alle möglichen Formen von Subjektbildung angewandt. Wenn jedoch dabei die gesellschaftlichen Machtgefälle aus dem Blick geraten, verwandelt sie sich in einen leeren Universalismus, der die Fortführung der Unsichtbarmachung und Unterdrük-kung von Lesben of color reproduziert.

Hito Steyerl

x 1 x Olumide Popoola berichtet etwa in Afrolook 27/98 darüber, dass der ID Verlag, der Loving the Alien herausbrachte, die Veröffentlichung einer Anthologie mit Texten von queer women of color mit dem Hinweis ablehnte, dass es ihren »Vorstellungen von einer Auseinandersetzung mit dem Thema« nicht entspräche. (»Was für ein Morgen ... Queer of Colour - Kultur / Kunst nicht sensationell genug für deutsche Linke?«; vgl. Hito Steyerl: Und wenn er aber kommt? Die Gegenwart der Aliens, in sechste hilfe, S. 28. 31)

Beldan Sezen & Olumide Popoola (Hg.): Talking home. Heimat aus unserer eigenen Feder, Frauen of color in Deutschland, blue moon press (Amsterdam) 1999, 123 S., DM 20.-

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Lebenszug
Eine jiddische Holocaustkomödie von Radu Mihaileanu

  Nein, »Train de vie« ist nicht der erste Film, der sich dem Phänomen des Nationalsozialismus mit den Mitteln der Komödie nähert. Von Lubitsch, Chaplin, Mel Brooks und Benigni sind die bekann-testen Filme. In der Literatur wird inzwischen Edgar Hilsenrath, dessen Roman »Der Nazi und der Friseur« zunächst kaum beachtet wurde, selbstverständlich anerkannt. Sehr provokativ, gerade für deutsche LeserInnen, sind die Romane von Melvin Jules Bukiet.

Das besondere an dieser filmischen Erzählung ist ihre ausdrücklich ostjüdische Erzählweise. Der Autor Radu Mihaileanus, ein nach Frankreich aus-gewanderter ungarischer Jude, verwendet nicht nur Zitate aus der kulturellen Substanz des Stetls, er bemüht sich um eine filmische Form des jiddischen Theaters. Dies wird durch die Zusammenarbeit mit dem jiddischen Theater Bukarest bei der Produktion noch verstärkt.

Die Geschichte entwickelt sich aus der Genreschilderung eines südosteuropäischen Stetl mit allen Klischees von Aussehen der Menschen bis zur Musik und den Formen der Debatten. Die Ankündigung, daß die Wehrmacht sich dem Ort nähert, bringt zugleich Gerüchte über den Massenmord zu den Dorfältesten. Wir kennen die Situation aus Elie Wiesels »Nacht«. Der Dorfdepp ist zugleich der Hellseher, er warnt die Juden und hat auch einen Vorschlag: Sie sollen einen eigenen Deportationszug auf die Schienen bringen und auch selbst die SS-Mannschaften spielen. Die Umsetzung des Planes erfolgt in chaotischen Szenen, die immer die Unmöglichkeit des Gelingens dieses Projektes deutlich machen. Neben der »künstlichen « Spaltung der Gemeinschaft in »deportierte Juden« und »Deutsche«, die Uniformen und Drill nebst deutschem Sprachunterricht erhalten, entwickelt die Erzählung auch die Spaltungen der realen osteuropäischen Judenheit vor 1939. Es gibt die kommunistische Kadergruppe, die im Zug während der scheinbar ziellosen Reise agitiert und zum Widerstand gegen diejenigen aufruft, die SS-Männer spielen. Es gibt alle Spielarten von Lebensentwürfen in der Gemeinschaft der Dörfler zwischen Assimilation an das imaginierte westeuropäische Bürgertum und dem traditionellen frommen Judentum.

Die rasante Zugfahrt enthält neben einer Unzahl an Beinahe-Katastrophen eine Liebesgeschichte viele andere rührende Episoden. Das Bild der SS-Männer, die auf dem Feld neben dem Zug beim Gottesdienst zum Beginn des Sabbat beten, bringt die Aggression der Erzählung gegen die festen Bilder vom Holocaust zum klarsten Ausdruck: Die Opfer und die Täter sind nicht so einfach von einander zu unterscheiden. Immer wieder wird die Rotation des Vexierspiels beschleunigt: Die SS-Männer sind fromme Juden, die größte Bedrohung der Juden sind die Kommunisten, die SS-Männer sind aber auch Zigeuner und sie sind die eigentlichen Hoffnungsträger . aber am Ende ist das alles nicht wahr.

Dieser komplexe und hoch gespannte Bogen der Erzählung kann von der gewählten Form des Films nicht gehalten werden. Das lustig- volkstümliche des chargierenden Schauspielens, die Heimatfilmkulisse des Dorfes, die immer an Klischees der jiddischen Musik entlang komponierte Filmmusik . das alles läßt Differenzierungen nicht zu. So entsteht mit dem Fortgang der Erzählung eine gewisse Ermüdung, die man sich als Zuschauer gern verbieten würde.

Wie Benignis »Das Leben ist schön« ist dies ein Film, der nur mit historischem Abstand von den Erlebnissen des Mordes an den europäischen Juden und mit dem heutigen Wissen über die historischen Fakten verständlich ist. Es ist alles andere als ein aufklärender Film. Seine Komik entsteht aus der Kenntnis der historischen Fakten. Wenn der Zuschauer nicht wüßte, daß ein solches Dorf keine Chance hatte, daß all diese Liebenswürdigkeit im industriellen Massenmord untergegangen ist, hätte die ganze Erzählung keinen Sinn. Das Wissen um den Untergang des kommunistischen Entwurfs ist eine zusätzliche Ebene der Rezeption, die all die Verweise auf die Revolutionäre aus dem Judentum in den Kommunistischen Bewegungen Osteuropas erst witzig und traurig zugleich macht. Und diese Mischung erzeugt bekanntlich die Komödie.

Der Schluß des Films, der die phantastische Konstruktion zerstört, ist dann schon zu deutlich. Er macht deutlich, daß der Autor den Zuschauern doch nicht traut.

Gottfried Kößler

Train de vie« (Radu Mihaileanu, Frankreich 1998), noch ohne deutschen Verleih

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Verweigerte Rückkehr

  Der Bogen der Autobiographie spannt sich von Schmallenberg, einer Kleinstadt im Sauerland, in der Hans Frankenthal 1926 als Sohn eines Viehhändlers geboren wurde, nach Schmallenberg, wohin er 1945 zurückkehrte. Dazwischen liegen die Jahre der Verfolgung und Vernichtung durch das NS-Regime. Hans Frankenthal wird nach Auschwitz-Monowitz deportiert, wo er sich viele Strategien des Überlebens aneignet und erstmals mit politischen Widerstandsgruppen in Kontakt kommt.

Das Buch skizziert am Beispiel des Mikrokosmos Schmallenberg den schleichenden Prozeß der Ausgrenzung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung seit 1933, den Frankenthal zunächst als Kind in seinem Dorf erlebt. Nach dem Krieg trifft er in den städtischen Ämtern nicht nur auf die Verfolger von einst, sondern erfährt das Fortbestehen antisemitischer Ressentiments am eigenen Leibe. Bis heute ist er mit diesem Ort und seiner Geschichte während des Nationalsozialismus konfrontiert. Sein politisches Engagement wird durch diese Erfahrungen entscheidend geprägt.

Der erste Teil des Buches erzählt das Leben von Hans Frankenthal und seinem zwei Jahre älteren Bruder Ernst, deren Überleben in der Zeit im Lager eng miteinander verflochten war. Ihre Geschichte handelt vom Verlust einer gesicherten Existenz über Zwangsarbeit in Nordhessen und im Konzentrationslager Auschwitz bis zur Rückkehr und dem Neubeginn in Schmallenberg, womit der zweite Teil des Buches beginnt.

Frankenthals Auseinandersetzung mit der deutschen Tätergesellschaft ist im Anschluß an seine Rückkehr geprägt von der Restauration und der nicht vorhandenen Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Als Mitglied des Auschwitz-Komittees mischt sich der Autor zunächst in Schmallenberg und später bundesweit in die Diskussionen ein. Es ist eine persönliche Einmischung, der es gelingt, von selbst Erlebtem zu abstrahieren.

Viele Autobiographien von Überlebenden des NS- Regimes enden 1945. Durch die Fokussierung auf die Nachkriegsgeschichte gelingt dem Erzähler und seinen MitarbeiterInnen zweierlei: Die Biographie Hans Frankenthals wird so vielfältig beschrieben, daß die Jahre im Konzentrationslager zwar als der lebensgeschichtliche Bruch hervorgehoben werden, die Geschichte des politischen Lebens Hans Frankenthals nach 1945 jedoch über die Perspektive eines Opfers weit hinausragt. Dem Buch ist außerdem die deutliche Aufforderung zu entnehmen, sich gegen die nach wie vor revisionistischen Entsorgungspraxen der NS-Vergangenheit in Deutschland zu wehren.

Christian Kolbe

Hans Frankenthal (unter Mitarbeit von Andreas Plake, Babette Quinkert und Florian Schmaltz): Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord, Frankfurt (Fischer) 1999; 18,90 DM

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"Ist eigentlich dieses Jahr keine Tanzdemo?"

... fragt Jasmin Mitte Oktober auf dem FFM-Party-Messageboard der tresurbain e-group. Nö, zu spät. Es war bereits in einer gar nicht so lauschigen Augustnacht, als die Leute durch die Straßen dieser Stadt tanzten, doch eigentlich war diesmal alles anders.

Nein, das sollte partout keine Nachttanzdemo sein. Manche werden sich vielleicht noch an die Sattelschlepper erinnern, die im vergangenen Jahr inklusive Polizei-Eskorte und bestückt mit vom Ordnungsamt geeichten Lautstärkereglern im Namen urbaner Lebensqualität durch die Innenstadt donnerten . zugegeben schon ziemlich fett, aber Schnee von gestern. Nach dem für die beteiligten Kleinunternehmen publicityträchtigen Bombast-Exzess backte die subkulturelle Party-Boheme diesmal kleinere Brötchen. Nur zwei Musikwagen wurden aufgefahren, angemeldet war gar nix und auch die Route war eine völlig andere. Alles begann im Untergrund: Unsicher um sich blickend schleppen gegen kurz nach Zehn ein paar windige Gestalten mit Kapuzen über den Köpfen . da trifft sich der gemeine Raver mit aufgeklärten Polit-AktivistInnen . Plattenspieler und Boxen in die S-Bahn-Station Ostendstrasse. Zwei Minuten später dröhnt der erste Beat durch die weitläufige Station. 22.37 h, eine Bahn fährt ein, inzwischen vielleicht 400 Leute: die nehmen wir jetzt. Im Waggon dann Gabba aus dem Ghettoblaster . und niemand traut sich zu rauchen. 11 Minuten später: Emser Brücke, Station Messe, alle raus. Fast im Niemandsland dann der Nacht-Umzug: Messekreisel, Platz der Republik, Hafentunnel. Alles Gegenden, in denen die Sperrstunde kein Thema ist und mit der einstigen Nachttanzdemo-Metaphorik des »Wir sind laut« hatte das sowieso nichts mehr zu tun . der begehrte politische Inhalt läßt sich nur schwer in der diesjährigen Aktion aufspüren. Auch die Leute, die organisiert haben, weisen den weit von sich. In den Kontext der Entwicklung der letzten drei Jahre . es hatte sich mehr als angedeutet, daß die Veranstaltung eine deutliche Bewegung hin zu so abgelutschten Kategorien wie Mainstream, Kommerzialisierung etc. vollzieht . paßt die Aktion jedenfalls nicht. Wenn überhaupt, muß erstmal zur Kenntnis genommen werden: Schön, daß die Veranstalter bewußt da (nämlich beim höha, schnella, weida, sattelschleppiga) genau nicht anknüpfen wollten. Wir wollen´s noch mal anders probieren, c´est tout. Sollen darauf politische Schulnoten vergeben werden, ist das natürlich mehr als dünn.

Aber irgendwie sehr sympathisch. Und was ist heute schon fett?

Bernd Seib

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... durch verwirrende Prozesse

  Subversiver Charme blitzte zwar auf, Funken sprangen aber nur wenige über, als beim Groß-Event in der Frankfurter Städelschule Terre Thaemlitz auf der kleinen Bühne des Labels Mille Plateaux auflegte. Woran es gelegen hat? Die typisch machistischen Türsteher haben sicher einigen elektronisch Interessierten, die wegen des hohen Eintrittspreises unschlüssig im Freien rumstanden, derart die Laune verdorben, daß sie lieber andere Orte aufzusuchten. Drinnen gab sich Thaemlitz nichtsdestotrotz alle Mühe, für andere Stimmung zu sorgen. Er bearbeitete galant und wunderbar gedresst Platten und CDs und brachte verfrickelte sounds zu Gehör, die gegen Ende zaghaft groovig wurden; Material nahm er dazu u.a. von love for sale.

Auf diesem aktuellen Album rearrangiert er diverse Tonpassagen z.B. von der Berichterstattung der San Francisco Gay-Parade mit verstörenden minimalen Knarzgeräuschen. Seinen musikalischen Angriff auf die : Pink-Economy9 mit ihren marktförmigen queeren Role-Models ergänzt er im beiliegenden Kommentar textlich und erläutert sein Projekt: »I attempt to model a socio-material thesis of Queer sound by placing source materials through dislocating process after dislocating process.« Als Steinbruch dient ihm dabei zumeist Populäres von Disco bis Electro, denn, wie er sagt, »Rock ist die Musik der Normalität und der Sound, zu dem man zusammengeschlagen wird. Elektronische Pop-Musik gilt gerade diesen Schlägern als weibisch und ausländisch und ist allein deswegen ein guter Bezugspunkt.« (Spex 6/99)

Beim Frankfurter Set dominierten kompliziert verschraubte Klänge, so wurde etwa der clubmäßige Deephouse von Sloppy 42nds nur angedeutet. Leicht skurril wurde es dann, als nach Thaemlitz. Performance von Veranstaltungsseite mit wissendem Gestus dessen : Kunst9 erklärt wurde . es gehe um die performative Dekonstruktion sexueller Identitäten ... Die dabei eingenommene Haltung des Kommentators korrespondierte mit dem Hochgelobten leider reichlich wenig. Ach, laß uns nicht von sex reden.

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Terre Thaemlitz: Love For Sale . Taking Stock In Our Pride, Mille Plateaux (Queer Media Series #1) 1998

Terre Thaemlitz: DJ Sprinkles. deeperama presents: Sloppy 42nds. A tribute to the 42nds Street transsexual clubs destroyed by Walt Disneys buyout of Times Square, comatonse recordings 1998

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In den Süden oder nach Norden?

  Nein, sich die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Lateinamerika als unüberwindbare Demarkationslinie à la DäDäRä vorzustellen, ist schlicht falsch, auch wenn die Bilder eines streng bewachten, meterhohen Metallzauns immer Mal wieder durch den Weltspiegel geistern. Die lückenlose Abschottung der USA liegt im Interesse von niemanden, erst recht nicht im Interesse des rassistisch getünchten Wohlstandschauvinismus, der die konkurrenzlosen Billiglohnabhängigen im Dienstleistungsdschungel USA nicht missen möchte. Scharf gesichert ist die Grenze nur dort, wo der Übertritt ohne größere Gefahren für Leib und Leben zu bewerkstelligen wäre, also im Umfeld der großen Grenzstädte San Diego, El Paso etc., die jeweils auf der mexikanischen Seite ihr Pendant Tijuana, Ciudad Juárez etc. haben. Wenige Dutzend Kilometer von den geteilten Städten entfernt, wo die Grenze mitten durch die Wüste verläuft, es kaum noch Straßen oder Wege gibt, geschweige denn Verkehrsverbindungen, finden sich höchstens noch ein paar Markierungssteine. Freilich patrouilliert bis weit ins Hinterland der USA die Grenzpolizei auf der Suche nach erschöpften Flüchtlingen, denen nur entkommen kann, wer noch genug Reserven hat. Und auf den High-ways warnt schon mal ein eigens entworfenes Schild vor Fußgängern, die mitten in der Pampa die Autobahn überqueren wollen. »Survival of the fittest« heißt das Programm: Hauptsache jung, kräftig und widerstandsfähig.

Es ist die Verkopplung der Migration mit dem, was früher einmal soziale Frage hieß, die es Dario Azzellini und Boris Kanzleiter ermöglicht, die soziale Geographie einer Grenze zwischen erster und dritter Welt jenseits juristisch-territorialer Definitionen zu öffnen. Damit weitet sich der Blick bis tief in die mexikanischen und US-amerikanischen gesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse hinein. Ihr Sammelband beginnt mit den Bedingungen der Binnenmigration in Mexiko, von den indigenen Bundesstaaten rauf in den mexikanischen Norden, wo Agroindustrie und die Maquliadores billiger Arbeitskräfte bedürfen, passiert die militarisierte Grenze, um bei den Arbeitsverhältnissen und den Formen der sozialen Organisation der Migrantinnen in den USA zu enden. Die Grenze(n) samt ihren sexistischen, rassistischen und klassenkämpferischen Implikationen spüren sie überall auf.

Der soziologisierende Untertitel sollte nicht abschrecken, denn der Sammelband vereinigt verschiedene Textarten und bricht die neoliberale Restrukturierung aufs Alltagsgeschehen, was den Mexiko- und USA-Urlaubern in den schönsten Wochen des Jahres den Blick schärfen und zur Revision der Reiseroute führen kann. Besonders eindrucksvoll ist die Reportage über die Grenzstadt Tijuana und der Bericht einer erfolgreich in die USA geflüchteten Frau. Den absoluten Leckerbissen stellt selbstverständlich der Beitrag von Mike Davis über die : Lateinamerikanisierung9 der US-Metropolen dar.

Frieder Dittmar

Dario Azzellini, Boris Kanzleiter (Hg.): Nach Norden. Mexikanische ArbeitsmigrantInnen zwischen neoliberaler Umstrukturierung, Militarisierung der US-Grenze und amerikanischem Traum. Heft 6 der Forschungsgemeinschaft Flucht und Migration, Berlin. Göttingen (Schwarze Risse · Rote Straße): 1999. DM 20.-

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Queering TubbyLand

  »Winke-Winke« – gesagt, getan ... und das mit einer verblüffenden Ausdauer. Die vier bunten Gestalten, die da im Flimmerkasten hüpfen, giggeln und auch, tja, sprechen, sind die Teletubbies. Binnen kurzer Zeit wurden sie über die Zielgruppe der ein- bis vier-jährigen hinaus zu einem beliebten Anlaß, sich über Verblödung via Fernsehglotzen oder die reale Subsumtion kindlichen Erlebens durch die Kulturindustrie zu verständigen. Die Astro-Stoffel haben gar Monitore im Bauch und statt Haaren Antennen auf dem Kopf! Dem aufkommenden kritisch-pädagogischen Pessimismus schallt aber nicht selten ein ironisches »Mensch, ist doch bloß Pop« entgegen. Im ansonsten eher tristen Ruhrgebiet soll es etwa unter einigen Linken beliebt sein, im Tubby-Stil mit schwarzer Hassi-Montur durch Szene-Wohngebiete zu toben und sich so über verbissene Politikformen lustig zu machen.

Tinky Winky, groß, lila und mit roter Handtasche, ist der (un)heimliche Star der Gruppe – zumindest in den USA. Als Reaktion auf die Forderung eines republikanischen Politikers, Kinder vor der Sendung zu schützen, weil eben jener Hauptdarsteller offensichtlich gay sei, schmückten Tinky-Stoffpuppen Auslagen von schwul-lesbischen Geschäften und wurden als neues gayproud-Symbol auf Paraden mitgeführt. »All I know is, I was heterosexual before I saw the Teletubbies, and now I’m queer.« wurde in der Zeitung Lesbian & Gay New York verkündet und das outing fortgesetzt: Auch die anderen Tubbies seien in Wirklichkeit deviante Subjekte, die grüne Dipsy etwa klarerweise eine Öko-Terroristin. An der eindeutigen gender-Zuordnung werden allerdings vermehrt Zweifel laut, wie auch an der Güte der Subversion. Tinky Winky genüge keineswegs den Ansprüchen, die an eine Queen zu stellen seien, wird unter [www.cyberwolves.com/tinkywinky] gemäkelt, schließlich fehlten ihm die high heels und überhaupt, wie könne man nur lila mit rot kombinieren ...

Die minimalistisch-redundanten Geschichten von den Cybergören aus TubbyLand laufen nachmittags im Kinderkanal, Debatten in Talkshows oder den einschlägigen Cafés und Kneipen vor Ort. Nach Performance, Imitation und riot bitte Ausschau halten.

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