diskus 3/99

Sex, Macht und die Politik der Identität

Interview mit Michel Foucault (1982)

 

 

Du schlägst in deinen Arbeiten vor, sexuelle Befreiung weniger als das Aufdecken geheimer Wahrheiten des eigenen Selbst oder des eigenen Begehrens zu verstehen, sondern eher als Teil des Prozesses, in dem das Begehren definiert und konstruiert wird. Welche praktische Bedeutung hat diese Unterscheidung?

 

Zur Zeit braucht die Schwulenbewegung eine Kunst des Lebens viel dringender als eine Wissenschaft oder ein wissenschaftliches Wissen (oder pseudo-wissenschaftliches Wissen) von Sexualität. Sexualität ist Teil unseres Verhaltens. Sie ist Teil unserer Freiheit. Sexualität ist etwas, was wir selbst schaffen - sie ist unsere eigene Kreation und viel mehr als das Aufdecken einer geheimen Seite unseres Begehrens. Wir müssen verstehen, daß in und durch unsere Begehren hindurch neue Formen von Beziehungen verlaufen, neue Formen der Gestaltung. Sex ist kein Schicksal; es ist eine Möglichkeit das Leben zu gestalten.

Darauf läuft es hinaus, wenn Du davon sprichst, daß wir versuchen sollten, schwul zu werden - und uns nicht nur als schwul zu bestätigen.

 

Ja, genau. Wir müssen nicht entdecken, daß wir Homosexuelle sind.

 

Oder was die Bedeutung davon ist?

 

Genau. Eher müssen wir ein schwules Leben entwerfen. Werden. [...]

Wenn man sich anschaut, wie verschiedene Leute ihre sexuellen Freiheiten gelebt haben - wie sie ihre Kunstwerke geschaffen haben - müsste man sagen, daß Sexualität, so wie wir sie kennen, zu einer der kreativsten Quellen unserer Gesellschaft und unseres Seins geworden ist. Meiner Meinung nach sollte man es umgekehrt sehen: Im allgemeinen wird Sexualität als das Geheimnis des schöpferischen kulturellen Lebens angesehen; sie ist aber viel eher ein Prozeß, in dem wir ein neues kulturelles Leben entwerfen, das tiefer geht als sexuelle Wahlmöglichkeiten zu haben.

 

Der Versuch, dieses Geheimnis zu lüften, hatte zur Folge, daß die Schwulenbewegung dabei stehen geblieben ist, Bürger- oder Menschenrechte bezüglich Sexualität zu fordern. Sexuelle Befreiung ist auf die Forderung nach sexueller Toleranz reduziert worden.

 

 

Ja, aber dieser Aspekt sollte unterstützt werden. Es ist erst einmal wichtig, die Möglichkeit zu haben - und das Recht - die eigene Sexualität zu wählen. Menschenrechte bezüglich Sexualität sind wichtig und werden an vielen Orten immer noch nicht respektiert. [...] Ich denke trotzdem, daß wir einen Schritt weiter gehen müssen. Einer der Faktoren dieser Stabilisierung (der Bewegung, Anm.d.Ü.) wird die Gestaltung neuer Formen des Lebens, der Beziehungen und Freundschaften in Gesellschaft, Kunst und Kultur durch unsere sexuellen, ethischen und politischen Entscheidungen sein. Wir sollten uns nicht nur als eine Identität verteidigen und bestätigen, sondern als eine gestaltende Kraft.

 

Vieles davon klingt wie das, was beispielsweise die Frauenbewegung getan hat: zu versuchen eine eigene Sprache und Kultur zu etablieren.

 

Ich bin nicht sicher, ob wir unsere eigene Kultur schaffen müssen. Wir müssen Kultur kreieren. [...] Aber indem wir das tun, stoßen wir auf das Problem von Identität. Ich weiß nicht, was zu tun wäre, um diese Kreation zu formen, und ich weiß ebensowenig, welche Formen diese annehmen würden. Ich bin mir zum Beispiel überhaupt nicht sicher, daß die beste Variante literarischer Werke von schwulen Leuten Schwulenromane sind. [...]

 

Wie siehst Du die enorme Verbreitung von männlichen homosexuellen Praktiken in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren: die ›Sensualisierung‹ von vernachlässigten Teilen des Körpers und die Artikulierung neuer Lüste? Ich denke dabei natürlich an die augenfälligsten Aspekte des 'Ghettos': Pornokinos, Clubs für SM, fistfucking etc. Setzt sich dabei nicht lediglich die generelle Verbreitung sexueller Diskurse - die im neunzehnten Jahrhundert begann - in einen weiteren Bereich fort oder siehst Du darin eine andere, dem gegenwärtigen Kontext eigene Entwicklung?

 

Wir sollten über die Neuerungen reden, die diese Praktiken in sich tragen. Schau dir beispielsweise die SM Subkultur an, worauf unsere gute Freundin Gayle Rubin bestehen würde. Ich glaube nicht, daß diese Veränderungen von sexuellen Praktiken irgend etwas mit der Enthüllung oder Aufdeckung von SM Tendenzen irgendwo tief in unserem Unbewußten zu tun haben. SM ist viel mehr als das; ist die reale Schaffung neuer Möglichkeiten von Lust, von denen Leute früher keine Vorstellung hatten. Die Vorstellung, daß SM etwas mit einer tiefliegenden Gewalt zu tun hat, daß SM Praktiken die Befreiung dieser Gewalt oder Aggression sind, ist dumm. Wir wissen ganz genau, daß es nicht aggressiv ist, was solche Leute tun; sie erfinden neue Möglichkeiten von Lust mit merkwürdigen Teilen ihrer Körper - durch die Erotisierung ihrer Körper. Das ist ein kreatives Projekt, das vor allem durch die - wie ich es nenne - Desexualisierung der Lust gekennzeichnet ist. Die Vorstellung, daß körperliche Lust immer von sexueller Lust als der Wurzel all unserer möglichen Lüste herrührt, halte ich für ziemlich falsch. Diese Praktiken machen klar, daß wir Lust mit sehr komischen Dingen, sehr merkwürdigen Teilen unseres Körpers, in sehr ungewöhnlichen Situationen produzieren können.

 

Was dabei also zusammenbricht ist die automatische Ineinssetzung von Lust und Sex.

 

Genau das ist es. Die Möglichkeit, unsere Körper als eine potentielle Quelle einer Vielzahl von Lüsten zu gebrauchen, ist etwas sehr Wichtiges. Wenn man sich zum Beispiel anschaut, wie Lust traditionell konstruiert wird, kann man sehen, daß körperliche Lust - oder die Lüste des Fleischs - immer Essen, Trinken und Vögeln gewesen sind. Und das scheint die Grenze des Verständnisses von unserem Körper, unserer Lüste zu sein. [...]

 

Der Punkt ist also, mit Lust und seinen Möglichkeiten zu experimentieren.

 

Auch Lust sollte Teil unserer Kultur werden. Es ist beispielsweise sehr interessant, daß über Jahrhunderte hinweg, auch von Ärzten, Psychiatern und sogar Befreiungsbewegungen grundsätzlich immer von „Begehren“ und niemals von „Lust“ gesprochen wurde. „Wir müssen unser Begehren befreien“, sagten sie. Nein! Wir müssen neue Lüste kreieren. Und dann wird vielleicht das Begehren folgen.

 

Was ist davon zu halten, daß sich um neue sexuelle Praktiken - wie SM - herum verstärkt Identitäten bilden? Mit Hilfe dieser Identitäten lassen sich solche Praktiken erforschen und das Recht verteidigen sie auszuleben. Aber begrenzen sie nicht auch die Möglichkeiten von Individuen?

 

Wenn Identität nur ein Spiel ist, wenn sie nur ein Prozedere von lustvollen - sozialen und sexuellen - Beziehungen ist, die neue Freundschaften ermöglichen, dann ist sie brauchbar. Aber wenn Identität zur Frage sexueller Existenz wird, und wenn Leute glauben, daß sie ihre „eigene Identität aufdecken“ müssen und daß diese zum Gesetz werden muß, zum Prinzip, zum Code ihrer Existenz; wenn sie beständig die Frage stellen „Entspricht das meiner Identität?“, dann kehren sie zurück zu einer Ethik, die der der alten heterosexuellen Männlichkeit sehr nahe ist. Wenn wir zur Frage der Identität Stellung nehmen müssen, dann sollte es um eine Identität zu unserem eigenen Selbst gehen. Aber die Beziehungen zu uns selbst, sind keine identitären; viel eher sind sie Beziehungen von Differenzierung, Kreierung und Erfindung. Stets dasselbe zu sein ist wirklich langweilig. Wir müssen Identität nicht verwerfen, wenn Leute dadurch ihr Vergnügen finden, aber wir müssen Identität auch nicht als eine ethisch universale Regel verstehen.

 

Wir wollen, daß einige unserer sexuellen Praktiken in einem politischen und sozialen Sinn widerständig sind. Wie ist das möglich, wenn davon auszugehen ist, daß Kontrolle durch die Stimulierung von Lust ausgeübt werden kann? Können wir sicher sein, daß diese neuen Genüsse nicht so ausgebeutet werden wie in der Werbung, wo die Stimulierung von Lust als ein Mittel sozialer Kontrolle eingesetzt wird?

 

Wir können uns da nie sicher sein. Statt dessen können wir uns sicher sein, daß genau das passieren wird und alles, was geschaffen oder erworben worden ist, jedes Stückchen, das gewonnen worden ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt genau so benutzt werden wird. [...] Das ist kein Einwand gegen all diese Bewegungen oder Situationen. Aber ihr habt sicher recht wenn ihr betont, daß wir immer vorsichtig und uns der Tatsache bewußt sein müssen, daß wir weiter gehen müssen, daß wir auch noch andere Bedürfnisse haben. Das SM Ghetto in San Francisco ist ein gutes Beispiel für eine Gemeinschaft, die mit Lust experimentiert und um Lust herum eine Identität ausgebildet hat. Diese Ghettoisierung, diese Identifizierung, diese Ausschlußverfahren - all das hat auch Gegeneffekte hervorgerufen. Ich wage nicht, das Wort Dialektik zu benutzen - aber das kommt dem schon ziemlich nahe.

 

Du schreibst, daß Macht nicht nur eine negative Kraft ist, sondern auch eine produktive; daß Macht immer da ist; daß, wo Macht ist, auch Widerstand ist; und daß Widerstand nie außerhalb von Macht ist. Wenn dem so ist, wie kann man dann zu einer anderen Schlußfolgerung kommen, als daß wir immer in diesem Verhältnis gefangen sind - daß wir daraus nicht ausbrechen können?

 

Ich glaube nicht, daß gefangen das richtige Wort ist. Es ist ein Kampf, aber was ich mit Machtbeziehungen sagen will, ist, daß wir uns in strategischen Situationen zueinander befinden. Als Homosexuelle befinden wir uns zum Beispiel in einem Kampf mit der Regierung und die Regierung befindet sich in einem Kampf mit uns. Wenn wir uns mit der Regierung auseinandersetzen, ist der Kampf natürlich nicht ausgewogen, die Bedingungen der Macht sind nicht gleich; aber wir befinden uns in diesem Kampf, und die Beständigkeit dieser Situation kann das Verhalten oder Nicht-Verhalten der anderen Seite beeinflussen. Insofern sind wir nicht gefangen. Wir sind immer in solchen Situationen. [...] Wir können nicht aus der Situation herausspringen und es gibt keinen Punkt, an dem man frei von allen Machtverhältnissen ist. Aber man kann sie immer ändern. Was ich gesagt habe, bedeutet also nicht, daß wir immer gefangen sind, sondern daß wir immer frei sind - na ja, auf jeden Fall gibt es immer die Möglichkeit etwas zu ändern.

 

Demnach entsteht Widerstand im Inneren dieser Dynamik?

 

Ja. Ohne Widerstand würde es auch keine Machtbeziehungen geben. Das wäre dann lediglich eine Sache von Gehorsam. Du mußt Macht gebrauchen, um Situationen zu verändern, in denen Du nicht tun kannst, was Du willst. Insofern kommt Widerstand zuerst und er bleibt den Zwängen des Prozesses überlegen; Machtverhältnisse verändern sich zwangsläufig mit dem Widerstand. Von daher denke ich, daß Widerstand der entscheidende Begriff, der Schlüsselbegriff, in dieser Dynamik ist.

Politisch gesehen ist der wohl wichtigste Aspekt bei der Auseinandersetzung mit Macht, daß ›Widerstand zu leisten‹ in früheren Konzeptionen schlicht hieß, nein zu sagen. Widerstand wurde ausschließlich als Verneinung begriffen. Unserem Verständnis nach ist ›Widerstand zu leisten‹ jedoch nicht nur eine Verneinung, sondern ein schaffender Prozeß; herstellen und wiederherstellen, die Situation zu ändern, ein wirklich aktiver Teil des Prozesses zu sein.

 

Ja, so würde ich es sagen. Nein zu sagen ist die minimale Form von Widerstand. Aber gelegentlich ist das natürlich sehr wichtig. Du mußt nein sagen als eine entschlossene Art des Widerstands.

 

Das wirft die Frage auf, auf welche Weise und in welchem Maße ein beherrschtes Subjekt (oder beherrschte Subjektivität) seinen eigenen Diskurs schaffen kann. In traditionellen Analysen von Macht ist der dominante Diskurs das allumfassende Kennzeichen der Machtanalyse, und Reaktionen auf den Diskurs oder innerhalb des Diskurses tauchen lediglich als untergeordnete Ergänzungen auf. Wie auch immer, wenn das, was wir unter Widerstand verstehen mehr meint als Verneinung - bieten dann nicht einige Praktiken, wie lesbischer SM, den beherrschten Subjekten die Möglichkeit ihre eigene Sprache zu formulieren?

Ich halte Widerstand für einen Teil des strategischen Verhältnisses, aus dem Macht besteht. Widerstand ist tatsächlich immer abhängig von der Situation, gegen die er kämpft. In der Schwulenbewegung war zum Beispiel die medizinische Definition von Homosexualität - im letzten Teil des neunzehnten und bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts - ein sehr wichtiges Instrument gegen die Unterdrückung von Homosexualität. Die Medizinisierung, die ein Mittel der Unterdrückung war, ist gleichzeitig immer auch ein Mittel des Widerstands gewesen - weil Leute sagen konnten „Wenn wir krank sind, warum verurteilt ihr uns, warum verachtet ihr uns dann?“ Natürlich klingt dieser Diskurs für uns heutzutage ziemlich naiv, aber damals war er sehr wichtig.

Ich würde aber auch sagen, daß sich für die Frauen aus der Lesbenbewegung, die jahrhundertelang gesellschaftlich isoliert, enttäuscht, auf viele Weisen verachtet wurden, die Möglichkeit ergeben hat, ihre eigenen Beziehungen zu entwickeln, eine eigene Gesellschaft - außerhalb der von Männern dominierten sozialen Welt - zu begründen.

[...]

 

Wenn Widerstand ein Prozeß des Aussteigens aus diskursiven Praktiken ist, könnte man dann sagen, daß der Fall, der allem Anschein nach beanspruchen kann wahrhaft oppositionell zu sein, so etwas wie lesbischer SM ist?

 

Das Spannende an SM von Lesben ist, daß sie sich einiger Stereotype von Weiblichkeit entledigen konnten, die in der Lesbenbewegung benutzt worden waren - eine Strategie, die die Bewegung aus der Vergangenheit übernommen hatte. Diese Strategie beruhte auf ihrer Unterdrückung. Aber mittlerweile sind diese Mittel, diese Waffen vielleicht überflüssig. Der lesbische SM versuchte diese alten Stereotype von Weiblichkeit, von anti-männlicher Einstellung, loszuwerden.

 

Was können wir Deiner Meinung nach von SM Praktiken über Macht und damit ebenso über Lust lernen - ist er die ausdrückliche Erotisierung der Macht?

 

Man könnte sagen, daß SM die Erotisierung von Macht ist, die Erotisierung von strategischen Beziehungen. An SM fasziniert mich, wie er sich von sozialer Macht unterscheidet. Macht ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ein strategisches Verhältnis ist, das durch Institutionen stabilisiert wurde. Insofern ist die Beweglichkeit in Machtverhältnissen begrenzt, und es gibt darin Verfestigungen, die nur sehr, sehr schwer zurückzudrängen sind, weil sie institutionalisiert worden sind und mittlerweile die Justitz, Gesetzbücher etc. durchziehen. All das bedeutet, daß die strategischen Beziehungen der Leute sehr starr ge-macht worden sind.

Das SM Spiel ist deshalb interessant, weil es zwar ein strategisches Verhältnis ist, aber immer ein sehr fließendes. Natürlich gibt es Regeln, aber jeder weiß sehr genau, daß diese Regeln umgekehrt werden können. Manchmal fängt die Szene mit dem Herrn und dem Sklaven an und am Ende ist der Sklave der Herr geworden. Oder, selbst wenn die Rollen festgelegt sind, weißt Du ganz genau, daß es nur ein Spiel ist. Entweder werden die Regeln überschritten oder es gibt eine Übereinkunft, [...] die bestimmte Grenzen sehr deutlich macht. [...] Aber ich würde nicht sagen, daß es ein Wiederherstellen der Machtstrukturen innerhalb der erotischen Beziehung ist. Es ist ein Durchspielen von Machtstrukturen in einem strategischen Spiel, das in der Lage ist, sexuelle oder körperliche Lust zu erzeugen.

 

Wie unterscheidet sich dieses strategische Verhältnis im Sex von dem in Machtverhältnissen?

 

Die SM Praxis ist die Erzeugung von Lust, und sie ist mit dieser Erzeugung identisch. Deshalb ist SM wirklich eine Subkultur. Es ist ein Prozeß des Erfindens. S&M benutzt die strategischen Beziehungen als eine Quelle von Lustempfinden (physische Lust). Es ist nicht das erste Mal, daß Leute strategische Verhältnisse als Quelle von Lust genutzt haben. Im Mittelalter gab es beispielsweise die Institution der ›Minne‹, den Troubadour, die Institutionen der Liebesbeziehungen zwischen der Dame und dem Liebhaber etc. Auch das war ein strategisches Spiel. Man findet das auch zwischen Jungen und Mädchen, wenn sie Samstag Nacht tanzen gehen. Sie spielen strategische Verhältnisse durch. Im heterosexuellen Leben gehen solche strategischen Verhältnisse dem Sex voraus. Der Zweck dieser strategischen Verhältnisse ist, Sex zu bekommen. Im SM sind solche strategischen Verhältnisse Teil des Sex, als eine Übereinkunft über Lust in einer besonderen Situation.

Im einen Fall sind die strategischen Beziehungen lediglich soziale Beziehungen und unser soziales Sein ist involviert; im anderen Fall hingegen ist unser Körper miteinbezogen. Genau dieser Übergang der strategischen Beziehungen von der ›Kunst des Umwerbens‹ zu Sex ist interessant.

 

Vor ein oder zwei Jahren hast Du in einem Interview im Gai Pied1 gesagt, daß das, was Leute an schwulen Beziehungen am meisten durcheinander- und aufbringt, nicht so sehr der tatsächliche Sex ist als vielmehr die Möglichkeit von liebevollen (affectional) Beziehungen, die außerhalb der üblichen Formen gelebt werden. Solche Freundschaften und Netzwerke sind nicht vorgesehen. Glaubst Du, daß es das unbekannte Potential schwuler Beziehungen ist, das die Leute ängstigt oder würdest Du eher davon ausgehen, daß diese Beziehungen als direkte Bedrohung von sozialen Institutionen wahrgenommen werden?

 

Gegenwärtig interessiere ich mich für das Problem der Freundschaft. Seit der Antike waren Freundschaften über Jahrhunderte eine sehr wichtige Art sozialer Beziehungen: eine soziale Beziehung, in der Leute eine gewisse Freiheit, eine gewisse Art der Wahl (die selbstverständlich begrenzt war) und ebenso sehr intensive emotionale Beziehungen hatten. Diese Beziehungen hatten auch ökonomische und soziale Implikationen - man war verpflichtet, seinen Freunden zu helfen etc. Man kann beobachten, daß diese Beziehungen im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert verschwinden, zumindest in der männlichen Gesellschaft. Und Freundschaften beginnen, zu etwas anderem zu werden. Vom sechzehnten Jahrhundert an lassen sich Texte finden, die Freundschaft ausdrücklich als etwas Gefährliches definieren.

Die Armee, Bürokratie, Verwaltung, Universitäten, Schulen, u.a. - im modernen Sinne des Wortes - können mit solchen intensiven Freundschaften nicht funktionieren. Man kann in diesen Institutionen einen sehr nachdrücklichen Versuch erkennen, liebevolle Beziehungen zu verringern oder zu minimieren. In Schulen ist das allem Anschein nach besonders wichtig gewesen. Als Grundschulen mit hunderten von jungen Buben eingerichtet wurden, stellte sich als eines der Probleme, wie man sie davon abhalten konnte, Sex miteinander zu haben, aber ebenso davon, Freundschaften zu entwickeln. Man könnte sich zum Beispiel die Strategie der jesuitischen Institutionen zum Thema Freundschaft ansehen, da die Jesuiten sehr genau wußten, daß es ihnen unmöglich war, das einfach zu unterdrücken. Sie versuchten stattdessen die Rolle von Sex, von Liebe, von Freundschaft aufzugreifen, aber sie gleichzeitig zu begrenzen. Nachdem ich mich mit der Geschichte von Sex beschäftigt habe, denke ich nun, daß wir den Versuch unternehmen sollten, die Geschichte von Freundschaft, von Freundschaften zu untersuchen. Diese Geschichte ist sehr, sehr wichtig.

Eine meiner Hypothesen ist - von der ich glaube, daß sie sich in solchen Studien bestätigen würde -, daß Homosexualität im achtzehnten Jahrhundert zu einem Problem wurde, d.h. Sex zwischen Männern wurde zum Problem. Man sieht diese Entwicklung in der Polizei, im Rechtssystem etc. Der Grund dafür, daß sie als Problem - als gesellschaftliches Thema - erscheint, liegt im Verschwinden der Freundschaft. So lange Freundschaft etwas wichtiges und gesellschaftlich akzeptiertes war, nahm überhaupt niemand wahr, daß Männer miteinander schliefen. Man hätte wohl nicht gesagt, daß Männer keinen Sex miteinander hatten - aber das spielte keine Rolle. Es hatte keinerlei gesellschaftliche Bedeutung, es war kulturell akzeptiert. Ob sie vögelten oder sich küßten war unwichtig. Völlig unwichtig. Sobald aber Freundschaft als eine kulturell akzeptierte Beziehung verschwunden war, entstand die Frage: „Was läuft da zwischen Männern?“ Und an dem Punkt wurde es zu einem Problem, wenn Männer zusammen vögeln oder Sex miteinander haben. Ich denke, ich liege damit richtig, daß das Verschwinden von Freundschaft als soziale Beziehung und die Erklärung von Homosexualität zu einem sozialen/politischen/medizinischen Problem derselbe Prozeß sind.

 

Wenn es heute wichtig ist, die Möglichkeiten von Freundschaft neu zu erforschen, sollten wir beachten, daß die sozialen Institutionen fast ausschließlich auf heterosexuelle Strukturen und Freundschaften ausgerichtet sind und nicht auf homosexuelle. Besteht die Aufgabe nicht darin, neue soziale Beziehungen, neue Wertestrukturen, familiäre Strukturen, etc. aufzubauen? Denn den Schwulen fehlt der leichte Zugang zu all jenen Strukturen und Institutionen, die mit Monogamie und der Kernfamilie einher gehen. Welche Institutionen sollten wir aufbauen, nicht nur um uns zu verteidigen, sondern auch um neue soziale Formen zu entwickeln, die tatsächlich Alternativen darstellen?

 

Institutionen. Ich habe keine genaue Vorstellung. Sich auf das Modell von Familienleben oder die Institution der Familie zu beziehen, würde einem solchen Zweck und einer solchen Art von Freundschaft natürlich ziemlich widersprechen. Aber da einige der gesellschaftlichen Beziehungen geschützte Formen des Familienlebens sind, ist es sicher richtig, daß als ein Effekt davon die ungeschützten Varianten gleichzeitig sehr viel reicher, interessanter und gestaltender als die anderen sind. Aber natürlich sind sie auch wesentlich zerbrechlicher und verletzlicher. [...]

 

 

Dieses Interview mit Michel Foucault, das B. Gallagher und A. Wilson im Juni 1982 in Toronto geführt haben, wurde der Zeitschrift The Advocate 400 (7. August 1984), S. 26-30 und 58 entnommen und gekürzt. Übersetzung von Christian Sälzer und Stephan Adolphs.

Eine deutsche Übersetzung der vierbändigen Gesamtausgabe der Dits et Ecrits von Michel Foucault erscheint im Frühjahr 2001 im Suhrkamp Verlag. Wir danken dem Suhrkamp Verlag für die Abdruckgenehmigung unserer Übersetzung.

  

x 1 x   Vgl.: Von der Freundschaft als Lebensweise, Michel Foucault im Gespräch mit R. Ceccatty, J. Danet und J. Le Bitoux (Gai Pied), in: Von der Freundschaft als Lebensweise, Michel Foucault im Gespräch, Merve Verlag Berlin.