In der Diskussion um die Nato-Bombardierungen von Jugoslawien hat eine Betrachtung weitgehend gefehlt: Die Subjektivität von Kosov@-AlbanerInnen wurde kaum wahrgenommen, da nicht unmittelbar zugänglich und, vielleicht der springende Punkt, schwieriger in ein angestammtes radikal linkes Selbstverständnis und Weltbild einzuordnen als jene jugoslawischen GenossInnen, die sowohl gegen Milosevic's Politik wie auch gegen die Nato-Angriffe protestiert haben und zumeist Teile eines radikal linken Geschichtsverständnisses mit westeuropäischen AktivistInnen teilen. Nicht nur sind seit geraumer Zeit Kontakte mit anarchistischen und antimilitaristischen Kreisen in Serbien, Kroatien und anderen Regionen des ehemaligen Jugoslawiens weit stärker ausgebaut als mit ähnlichen Gruppen in Kosov@ - soweit solche existieren. Für jene westeuropäischen AktivistInnen, die eine solche Kommunikation während des Krieges hätten anleiern wollen, wirkte sich der Ausfall jeglicher Internet-Verbindungen nach Kosov@ so aus, daß Informationen aus erster Hand und auch subjektive Stellungnahmen vor Ort fast ausschließlich aus Belgrad, Novi Sad oder Kraljevo kamen, kaum aber aus Prischtina1. So blieb das Feld der Darstellung kosov@-albanischer Ängste, Wünsche und Hoffnungen offen für die Apparate der Ideologieproduktion der Nato und in deren Windschatten auch der UÇK-Führung, die aus je eigenen Machtstrategien heraus eine ethnisierende Emotionalisierung anstreben. Diese Emotionalisierung verarbeitet zwar existierende Gefühle, zwingt sie jedoch in ein kriegspropagandistisch verwertbares Interpretationsraster, das ihre Vielschichtigkeit und historische Verfaßtheit zudeckt. Ohne eigenen Zugang zu jenen Subjektivitäten vermag ein Teil der westeuropäischen Linken in seiner Ablehnung der Emotionalisierung nicht, die Propaganda aufzubrechen und dahinter Personen mit einer eigenen Geschichte und eigenen Lebensvorstellungen zu sehen. Zurück bleibt eine Art Verbitterung, durch die hindurch besagte Linke "die Kosov@-AlbanerInnen" als fremd, feindlich und Nato-verbündet wahrnimmt und letztlich ihrerseits ideologisiert, essentialisiert und ethnisiert.
Erste Irritation: Podium in Zürich
Für ein Podium über "Linke Perspektiven in Südosteuropa" waren Anfang September vier Leute aus verschiedenen Teilen Jugoslawiens (Zagreb, Novi Sad, Prischtina) sowie zwei aus der schweizerischen Migration eingeladen. Gemeinsam unternahmen sie den Versuch, einem politisch aktiven schweizerischen Publikum ein Gefühl dafür zu vermitteln, was es in verschiedenen regionalen Kontexten heißen mag, gegen die große Politik, gegen das Regime und dessen Machtlogik anzutreten. Ein paar Wortklärungen mögen die Schwierigkeiten wiedergeben, das Konzept "linker" "politischer" "Opposition" auf jugoslawische Verhältnisse anzuwenden. Keiner der drei Begriffe wird von Leuten, die mit ihrem dissidenten Agieren emanzipative, anti-nationalistische, anti-rassistische, anti-patriarchale Ziele verfolgen, benutzt. Zunächst bezeichnet in Jugoslawien der Begriff der "Politik" staatliche Strukturen, geprägt von Korruption, Unterdrückung und Täuschung. Das Buch von Dubravka Ugresic etwa, "Die Kultur der Lüge", eines der lesenswertesten Bücher über die Kriege in Jugoslawien, trägt in der südslawischen Originalfassung den Untertitel "Antipolitische Aufsätze"; ein wichtiger Seitenhieb, der in der deutschsprachigen Ausgabe unterschlagen wurde. Nur noch das eröffnende Zitat aus György Konrads "Die Antipolitik eines Romanschriftstellers" weist noch auf den Umstand hin. Desgleichen lautet der Begriff, den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) benutzen, um darauf hinzuweisen, daß sie keiner politischen Partei angegliedert sind, in der wörtlichen Übersetzung "unpolitisch" und nicht etwa "unparteilich". Die Vorstellung einer außerparlamentarischen Opposition ist nicht geläufig. Schon eher spricht von Dissidenz, wer Kämpfe gegen Unterdrückung benennen will. Die "Opposition" ist Teil der korrupten Staatsstrukturen und nimmt am nationalistischen Diskurs teil. Sie paktiert mit der Regierung, wenn sie sich daraus Vorteile erhofft, und erhebt den moralischen Zeigefinger gegen sie, wenn es ihr opportun erscheint.
„Die Linke“ bedeutet in Jugoslawien im allgemeinen das Regime. Die Jugoslawische Vereinigte Linke ist die Partei, die von Mira Markovic, Ehefrau des Präsidenten Slobodan Milosevic, angeführt wird. Zwar erinnern sich Leute aus einer älteren Generation, wie der am Podium teilnehmende Filmemacher aus Novi Sad, Zelimir Zilnik, noch an Versuche, vor 1989 ein (echtes) linkes Projekt gegen die (falsche) „Linke“ an der Macht durchzusetzen. Aus einer anderen Tradition heraus, nämlich einem Bezug auf anarchistische Positionen, die bereits in den Jahren vor 1989 zuerst von AkademikerInnen in Jugoslawien wieder eingeführt wurden, mögen sich auch jüngere AktivistInnen, wie jene von der Autonomen Kulturfabrik Attack in Zagreb, positiv auf „linke“ Ideen beziehen.
Nicht nur die Schwierigkeit, Begrifflichkeiten aus einem Schweizer Kontext auf das politische Feld (und dessen Strukturierung) in Jugoslawien zu übertragen, trat klar hervor – Jugoslawien kann in dieser Hinsicht auch nicht als Einheit gesehen werden. Der Kontext für dissidente Aktivitäten ist in Zagreb, Novi Sad oder Prischtina sehr unterschiedlich. Am provokativsten und am schwierigsten in hiesige politische Diskussionen einzureihen, erschien das Votum von Jeta Xharra, einer jungen Journalistin und Mitinitiantin eines Frauen-Medienprojektes in Prischtina.
Sie betonte, daß sie das Jugoslawien, auf das in westlichen Diskussionen immer wieder verwiesen wird, nie gekannt hat. In den achtziger und neunziger Jahren war der Kosov@ bereits gründlich ethnisiert, die Ethnisierung durch die Gewalt der Regierung und die tägliche Diskriminierung in die Körper der Leute eingeschrieben. Es konnte also zu jener Zeit nicht mehr darum gehen, Ethnisierung vorausblickend zu verhindern, sondern allenfalls deren Folgen anzugehen und Überlebensstrategien zu entwickeln. Jeta Xharra verurteilt die Vertreibungen und die Unterdrückung von SerbInnen, Roma und MuslimInnen nach dem Ende der Nato-Bombardierungen vehement und setzt sich als Journalistin dafür ein, daß diese bekannt werden. Hingegen sah sie aus ihrem Kontext heraus keine Möglichkeit, ohne Nato-Bombardierungen den fortgesetzten Angriffen der jugoslawischen Regierung auf AlbanerInnen im Kosov@ ein Ende zu setzen.
Es kann nicht darum gehen, aus der Betroffenheit einer Jeta Xharra eine höhere moralische Position zu konstruieren und ihr einfach beizupflichten. Ebenso kurz greift jedoch der in der westlichen Linken gut eingeübte Abgrenzungsgestus gegenüber den „Verbündeten des Imperialismus“. Wer sich ernsthaft nicht nur theoretisch mit den Entwicklungen auf dem Balkan beschäftigen will, sondern auch interessiert ist an Auseinandersetzungen mit Menschen, die die Geschehnisse auf dem Balkan hautnah erleben, gar an einer politischen/antipolitischen Zusammenarbeit, tut gut daran, Positionen zu kontextualisieren und das konkrete Umfeld ihrer Entstehung zu berücksichtigen.
Zweite Irritation: Vortrag mit Überraschung
Es ist eine Sache, aus dem sicheren Abstand westeuropäischer linker Analyse heraus in einem Artikel Überlegungen zu einem möglichen Verhalten zum Krieg in Jugoslawien aus radikal linker Sicht anzustellen und diese im deutschen Sprachraum zu verbreiten.2 Etwas interessanter wird es, denselben Artikel auf Englisch zu übersetzen und diesen und damit die Überlegungen durch eine ganze Menge LeserInnen, die in verschiedenen Ländern des Balkans leben und Englisch verstehen, kritisierbar zu machen. Aufgrund besagter Übersetzung hatte ich die Gelegenheit, Überlegungen zur Ethnisierung des Sozialen3 und zu einem möglichen Umgang mit den Fragen, die der Krieg aufwirft, an einem Abend an der American University in Blagoevgrad im Süden Bulgariens nahe der Grenze zu Makedonien Studierenden und Lehrpersonen vorzustellen.
Meine Ausführungen gaben Anlaß zu einer lebhaften Diskussion. „Wie soll das zusammen gehen, daß erst der IWF Druck ausübt, um Jugoslawiens Schulden einzutreiben, und nun bombardieren westliche Armeen Jugoslawien so, daß es nicht mehr in der Lage ist, den Schuldendienst weiter zu leisten?“ – „Welches Interesse haben überhaupt die Nato-Regierungen daran, die jugoslawische Wirtschaft zu zerstören?“ Es stellt sich heraus, daß gut die Hälfte der Anwesenden aus Jugoslawien, Kosov@ oder Albanien sind. Die Uni in Blagoevgrad ist Treffpunkt für Studierende aus dem gesamten Balkan und darüber hinaus zum Kaspischen Meer (der US-Regierung sei für die Stipendien und die Infrastruktur gedankt).
Einer der Anwesenden, den ich später als Journalisten aus Prischtina namens Trim Krasniqi4 kennenlerne, fragt mich: „Warum hast du die albanische Bevölkerung Kosovas unerwähnt gelassen? Du hast gar nicht erklärt, wo der Krieg überhaupt angefangen hat und was die Leute dort für Bemühungen unternommen haben, um die Nato hineinzuziehen.“ Bei all den Überlegungen über die komplexe Wechselwirkung westlicher Interessen sowie über die Machterhaltungsstrategien einer jugoslawischen Regierungsclique habe ich tatsächlich einen wesentlichen Punkt unterschlagen oder zumindest aus großem Abstand abstrakt nur angedeutet: die Interessen, Hoffnungen und Ängste von AlbanerInnen in Kosov@. Nicht, daß ich noch nie davon gehört hätte, daß AlbanerInnen, allen voran die UÇK-Führung (UÇK steht für Ushtria Çlirimtare e Kosovës, Kosov@-Befreiungsarmee), seit Jahren bestrebt waren, eine Situation herbeizuführen, in der Nato-Truppen zum Eingreifen bewegt werden könnten. Auch Jeta Xharra hatte erklärt, wie sie in ihrer Zusammenarbeit mit BBC-Fernsehcrews darauf bedacht war, mit der Bearbeitung der Themen eine Nato-Intervention zu legitimieren.
Nicht, daß ich dieses Wissen einfach nur verdrängt hätte. Ein gewisses Gefühl für die Widersprüchlichkeiten ging mir nicht ab. Aber in meinen Diskurs integriert hatte ich das nicht. Zu heiß, die Kartoffel, vielleicht. Wie kann ich darüber reden? Wie kann ich vermitteln, daß Leute, die mir politisch und menschlich nahe stehen – wie etwa Jeta Xharra und Trim Krasniqi –, sich um ein Eingreifen der Nato bemüht haben und das auch nach den Bombardierungen noch richtig finden?
Die Gründe für die Unfähigkeit großer Teile einer westlichen radikalen Linken, sich gedanklich und gefühlsmäßig in die besondere Lage von AlbanerInnen im Kosov@ zu versetzen, beschreibt die autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe5 als Balkanismus der Linken, in Anlehnung an die Orientalismus-Kritik Edward Saids. Die Unausweichlichkeit von Konflikten unter den „Völkern“ auf dem Balkan, außerhalb des „zivilisierten Europas“, wird rassistisch vorausgesetzt. Dieser Rassismus drückt sich etwa auch darin aus, daß Bilder von einer drogenhandelnden UÇK, die ursprünglich zur Legitimation staatlicher Migrationskontrolle und Repression entwickelt wurden, aus linken Kreisen beschworen werden.6 Es kann also nicht nur darum gehen, von außen radikallinkshumanitär Wege vorzuschlagen, wie die Ethnisierung der sozialen Konflikte auf dem Balkan durchbrochen werden kann. Der eigene ethnisierte Blick muß zuerst angegangen werden.
Dritte Irritation: Besuch in Prischtina
Mit Trim Krasniqi komme ich nach der Veranstaltung ins Gespräch. Er lädt mich ein, ihn am nächsten Wochenende nach Prischtina, die Hauptstadt Kosov@s, zu begleiten.
Wir machen uns zu viert auf den Weg. So können wir bei den Teilstrecken, auf denen wir Taxis nehmen müssen, die Kosten minimieren. Sieben Stunden sind wir unterwegs von Blagoevgrad im Süden Bulgariens nach Prischtina in Kosov@. Luftlinie wären es 200 Kilometer, doch die würde durch Jugoslawien führen. Über den Umweg über Skopje in Makedonien sind es fast 300 Kilometer. In Skopje essen wir in einem der zahlreichen albanischen Restaurants. Nichts ist albanisch angeschrieben. Saftige Bußen hielten die BesitzerInnen davon ab, erklären meine Begleiter. Bei den Präsidentschaftswahlen soll die albanische Bevölkerung das Zünglein an der Waage werden zwischen den Ex-KommunistInnen und den „DemokratInnen“. Nach dem ersten Wahlgang am nächsten Tag wird einer der albanischen Kandidaten seine Wahlempfehlung für den zweiten Wahlgang davon abhängig machen, daß der sozialdemokratische Kandidat für nationale Rechte für die AlbanerInnen in Makedonien eintritt, für Schulen in albanischer Sprache und für die Anerkennung der Unabhängigkeit von Kosov@. Eine Aufforderung, die mit großer Bestimmtheit zurückgewiesen wird: Es gäbe keinen Grund, die albanische Minderheit unter den verschiedenen Minderheiten derart zu bevorzugen.
Das letzte Teilstück, von der Grenze Makedoniens zu Kosov@ nach Prischtina, fahren wir in einem beladenen Mikrobus mit Züricher Nummernschildern mit. Der Fahrer lebt seit 23 Jahren in der Schweiz und bringt nun für seine Verwandtschaft Waren mit. Nie mehr würde er die Reise mit dem Auto unternehmen, meint er. Drei Tage unterwegs, über Italien nach Griechenland und Makedonien. An jeder Grenze stundenlanges Warten auf die Abfertigung. Vor dem Krieg sei das viel einfacher gewesen. Und so vieles sei jetzt zerstört, und so viele Menschen seien umgekommen. Seine Stimme wird eine der wenigen bleiben, die Leid und Zerstörung hervorhebt und sich der Hoffnung und Aufbruchsstimmung verschließt, die große Teile der albanischen Bevölkerung in Kosov@ erfaßt hat.
In Prischtina wimmelt es von Autos, viele davon noch mit deutschen Exportschildern von September 99. Nummernschilder sind nicht vorgeschrieben, Fahrausweise haben die meisten im Krieg verloren, und Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Straßen gibt es nicht. Die Sichtbarkeit der KFOR-Truppen ist, entgegen meinen Erwartungen, gering, außer in der Nähe der offiziellen Gebäude. Keine Polizeikontrollen auf den Straßen. Trim Krasniqi zeigt in einer großzügigen Bewegung auf die Straßen um uns: „Siehst du, ich kann nun ruhig durch Prischtina spazieren und brauche mich nicht zu fürchten!“ Ich verspüre selber eine gewisse Euphorie der Freiheit in diesen Straßen, muß an die Polizeikontrollen an jeder Straßenecke in Zürich denken oder auch an die allgegenwärtigen VerkehrspolizistInnen in Sofia.
Wir gehen an der Mensa der Universität von Prischtina vorbei, in der die berühmten Proteste von 1981 ihren Anfang genommen haben.7 „Vor dem Krieg war es gefährlich, hier zu Fuß vorbeizugehen,“ bemerkt mein Begleiter. Er kommt auf meine Ausführungen in Blagoevgrad zurück: „Es stimmt schon, daß der Aufstand 1981 anfangs nicht ethnisch definiert war. Es war aber auch nicht ein gemeinsamer Aufstand albanischer und serbischer Studierender gegen die Verhältnisse in der Mensa. Wenn die albanischen StudentInnen etwas unternahmen, sahen die serbischen nur zu, und umgekehrt.“ Der Begriff der Ethnisierung taucht in unseren Gesprächen immer wieder auf – mal in scherzhaften Andeutungen, mal in ernsthafterem Kontext.
Die wunderbare Anarchie und Zwangslosigkeit, in der sich Prischtina – für jene, die nicht daraus vertrieben wurden bzw. dahin zurückkehren können! – präsentiert, erscheint mir als charakteristisch für eine Übergangsphase. Nicht für die Art von zielgerichteter Übergangsphase – genannt „Transformation“ – zu einer Unterstützungsrolle in einer kapitalistischen Marktwirtschaft hin, durch die andere Länder Osteuropas unter Aufsicht des IWF, der Weltbank und der EU gepeitscht werden, sondern für meist kürzere Phasen der Nichtorganisation, in denen die verschiedenen Kräfte, die sich anschicken, einen Hegemonieanspruch zu formulieren, noch keine Gelegenheit gefunden haben, ihre Bemühungen entweder zu koordinieren oder ihre jeweiligen Einzugsbereiche gegeneinander abzustecken.
Unter der Oberfläche lauert bereits eine neue Ordnung. Offiziell gibt es keinerlei Steuereinkommen für die angehende Staatsstruktur, für das Protektorat. Es ist ein offenes Geheimnis, daß von UÇK-Kreisen, die Hashim Thaci nahe stehen, Steuern eingetrieben werden. „Die UÇK ist heilig,“ betont Trim Krasniqi, „sie hat uns einen Weg aus der Passivität gezeigt und uns dazu verholfen, aus der serbischen Unterdrückung zu entkommen. Die einzelnen Führer darin aber sind gewöhnliche Menschen.“ Im Gespräch mit uns erklärt der Chefredakteur einer Tageszeitung in Prischtina, daß zwischen der UÇK und der LDK (Demokratische Liga des Kosov@) von Ibrahim Rugova) ein tiefer Graben besteht, ein Graben zwischen Land und Stadt, zwischen „Kommunismus“ und „Demokratie“. Die meisten UÇK-Führer seien nun arbeitslos und mangels jeglicher ziviler Ausbildung ohne Aussicht auf eine Stelle. Sie würden früher oder später entweder ihre Macht durch mafiöse Strukturen zu sichern versuchen oder im Gefängnis landen. Bereits heute würden politische GegnerInnen eingeschüchtert. Auf diese Spannungen angesprochen, will ein Vertrauter Ibrahim Rugovas nichts von tiefen Gräben wissen und meint, die jetzigen Auseinandersetzungen seien eine vorübergehende Erscheinung. Ganz abwegig ist es vielleicht trotzdem nicht, hinter den Stereotypen des Chefredakteurs tatsächliche Konfliktpotentiale zu vermuten.
Eine Sachbearbeiterin der UNMIK, der UN-Mission im Kosovo, die als zivile Administration fungiert, senkt ihre Stimme, als sie uns erzählt, wie ein gemeinnütziges Projekt, das von einem Einwohner von Prischtina angeregt wurde und das sie an sich gut findet, kaum wird realisiert werden können, weil die britischen UN-VertreterInnen sich bereits mit der entsprechenden bisherigen staatlichen Monopolfirma gut gestellt hätten und sich im Tandem mit ihr Verträge für britische Firmen erhoffen. Kaum anzunehmen, daß irgendeine UN-Länderdelegation einfach so zu gemeinnützigen Zwecken nach Kosov@ entsandt worden ist.
Beeindruckend ist die Anzahl westlicher Organisationen, die sich in Prischtina angesiedelt haben. Ein ganzes Viertel in einem reicheren Teil der Stadt ist fast ausschließlich von NGOs in Beschlag genommen worden. Von der berüchtigten IOM (Internationale Organisation für Migration, oder besser: gegen Migration) bis zum Deutschen Industrie- und Handelstag finden sich hier die verschiedensten Organisationen mit mehr oder weniger kommerziellen Interessen – Kosov@ als Geschäftsgelegenheit.
Ein Alptraum westlicher Kolonisierung? Trim Krasniqi stellt klar: „In Kosov@ kommen die verschiedensten Interessen zusammen, und das Protektorat wurde nicht einfach zum Wohle der Bevölkerung eingerichtet. Trotzdem läßt es sich keinesfalls mit der Unterdrückung durch serbische Armee und Behörden vergleichen.“
Ein gemeinsamer Prozeß ist nötig
Die Logik der Macht und des Krieges hat AlbanerInnen in Kosov@ in eine Lage gebracht, in der sich manche für eine Eskalation des Konfliktes entschieden, um ihre Lage zu ändern. Diese Entscheidung hat in ihrer Dynamik dazu geführt, daß der Spieß gegen die nicht albanische Bevölkerung Kosov@s umgedreht wurde und jene nun verfolgt und vertrieben werden. Vielleicht hätte es Wege gegeben, solche Folgen der Befreiung eines Teils der Kosov@-Bevölkerung zu verhindern. Auf jeden Fall aber hatten jene AlbanerInnen bei ihrer Entscheidung zur Eskalation nicht die Möglichkeit, sich der von außen aufgezwungenen Machtlogik einfach zu entziehen.Beim Umgang mit ethnisierten Konflikten scheint mir unerläßlich, zwar ihre sozialen Ursprünge und Strategien der Ethnisierung nachzuzeichnen und so essentialistische Betrachtungsweisen zu unterwandern, zugleich aber auch wahrzunehmen, daß aufgrund von Ethnisierungsprozessen ethnische Kategorien eine Realität erhalten, der sich die derart Ethnisierten nicht einfach rhetorisch entziehen können, nur weil sie Ethnisierungen daneben finden. Dabei kann es nicht darum gehen, das Verhalten auf der einen oder anderen Seite eines solchen Konflikts lediglich „von außen“ zu bewerten oder zu beurteilen, sondern darum, in einem gemeinsamen Prozeß einen Weg aus der Ethnisierung herauszufinden. Dies bedingt, verschiedene Interessen, Ängste und Hoffnungen auszuhalten und Widersprüche bisweilen stehen zu lassen. Denn wer Dichotomien produziert, den Balkan „balkanisiert“ und Kosov@-AlbanerInnen „albanisiert“, wirkt selber an der Ethnisierung mit.
Genau in einem solchen gemeinsamen Prozeß scheint mir ein Ansatz zur Lösung der eingangs erwähnten begrifflichen Schwierigkeiten zu liegen. Dabei geht es nicht eigentlich darum, einen Satz von mißverständlichen Begriffen nach ausführlichem Studium von Wörterbüchern durch einen anderen, besseren zu ersetzen. Vielmehr können eine gemeinsame Diskussion (mit einem gegenseitig verständlichen Vokabular), eine gemeinsame Basis oder gar eine gemeinsame Praxis nur entwickelt werden, wenn sich Menschen mit verschiedenen Geschichten und Hintergründen zusammenfinden, die tastend ausprobieren, welche Bedeutung ihr Reden über Dinge annimmt, wenn sie einander zuhören und dabei entstehende Verschiebungen in den Bedeutungen – hervorgerufen durch die Subjektivität des Gegenübers im Zusammenspiel mit der eigenen Irritation darüber – nutzbar machen. Dabei muß der Wortgebrauch nicht unbedingt aneinander angepaßt und vereinheitlicht werden. In meiner Erfahrung ist es später durchaus möglich, zu vermitteln, was in meinem Verständnis hinter einem Begriff steckt. Dazu erhalte ich aber bestimmt keine Gelegenheit, wenn ich jene Begriffe, die für mein Gegenüber anders besetzt sind, unbedacht verwende, bevor ich die Ideen veranschaulicht habe, die ich damit ausdrücken will. Diese zumindest anfängliche Unmöglichkeit, einen angestammten Wortschatz zu verwenden, zwingt mich dazu, Konzepte auch für mich präziser zu fassen, unter die mögliche Oberflächlichkeit von Schlagworten zu gehen und eingespielte Stereotypen aufzugeben, die oft durch einen bestimmten Sprachgebrauch aufrechterhalten werden. Sind die Begriffe erst einmal aus ihrer mißverständlichen Hülle geschält und in den gewünschten historischen Kontext eingebettet, stelle ich vielleicht fest, daß sich, vormals verborgen hinter einem unterschiedlichen Sprachgebrauch, viele gemeinsame Erfahrungen finden, die über die Unterschiede in den unmittelbaren Lebenssituationen hinaus weisen und an die für eine weitergehende Auseinandersetzung angeknüpft werden kann.
Alain Kessi, Sofia
Dies ist eine wesentlich erweiterte Fassung eines Artikels über die Konferenz BalkanAgenda in Zürich am 3./4. September 1999, der am 22. September 1999 in der jungle world erschienen ist [www.jungle-world.com/_99/39/27b]. Ebenso erschienen in com.une.farce Nr. 3/99.
1 Wie bei der Schreibweise Kosov@, die sowohl das eher serbische Kosovo als auch das eher albanische Kosova berücksichtigt, wähle ich die Schreibweise Prischtina, um nicht sprachlich Gebietsansprüche festzuschreiben. Sowohl auf Albanisch wie auf Serbisch wird der Name der Hauptstadt Kosov@s „Prischtina“ ausgeprochen. Albanisch schreibt sie sich „Prishtina“, die serbische Schreibweise wird üblicherweise transliteriert als „Pri tina“ oder, wenn das s-Hácek im Schriftsatz fehlt, bisweilen mit „Pris’tina“, bei dem das Hácek (tschechisch für: Häkchen) durch das Kleinerzeichen angedeutet ist. Für eine deutsche Transliteration ist „Prischtina“ zumindest plausibel.
2 Alain Kessi, Kosov@/NATO: Ökonomie des Krieges und der Kommunikation, erschienen am 1. Juni 1999 in com.une.farce Nummer 2/99 [www.copyriot.com/unefarce] und in diskus 2/99.
3 Siehe auch „Die Ethnisierung des Sozialen – Das Beispiel Jugoslawien – Mit aktuellem Anhang“, Materialien für einen neuen Antiimperialismus Bd. 6, Trotzdem Verlag 1999 (Erstausgabe 1993). Im Web auf [www.nadir.org/nadir/archiv/Internationalismus/jugoslawien/materialien_06], aktueller Nachtrag [www.humanrights.de/antikrieg/texte/antii_d].
4 Name geändert.
5 autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe: Gegen wessen Kriege welchen Widerstand? Thesen für einen neuen Anti-Militarismus, com.une.farce Nr. 3/99 [www.copyriot.com/unefarce], gekürzt auch im vorliegenden Heft.
6 Mit der prominenten Unterstützung des kanadischen Ökonomen Michel Chossudovsky, der in früheren Artikeln jeweils einen guten Einblick gegeben hat in Prozesse der Globalisierung und insbesondere über „Die Zerschlagung des ehemaligen Jugoslawien und die Rekolonisierung Bosniens“ [www.trend.partisan.net/trd0399/t400399], bessere Übersetzung in Materialien Bd. 6, Nachdruck 1999), in seinem Beitrag über die UÇK und deren angebliche Verwicklungen mit dem organisierten Verbrechen [www.members.partisan.net/kosovo/ko8299] jedoch so weit geht, sich auf das verschwörungstheoretische und ausgesprochen ethnisierende „Truth in Media“ [www.truthinmedia.org] zu berufen.
7 Am 11.3.1981 protestierten StudentenInnen der Universität Pristina wegen der schlechten Qualität des Mensaessens und gegen die schlechten Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Der Protest weitete sich aus zu einer Demonstration gegen die Parteiführung des Kosov@. Erst bei einer erneuten Demonstration am 26.3. tauchten erstmals nationalistische Parolen auf. Nur durch Einführung des Ausnahmezustands und nach 100 Toten konnte das Militär den Aufstand niederschlagen. Siehe „Ethnisierung des Sozialen“, Fußnote 3.