ZIVILE ZIELE

von Florian Schneider

aus der Süddeutschen Zeitung
vom 20.4.99
Der Film heißt "Vaterland" und während des Vorspannes kam es im Publikum zu Szenen unverhoffter Wiedersehensfreude. Ungeniert fielen sich Gäste, die erst nach Beginn der Vorführung in den Saal gekommen waren, in die Arme. Das wenige Projektionslicht der vertrauten Bilder reichte allemal aus, um sich in der fremden Stadt wiederzuerkennen. "Was? Du auch hier!" dürften sie sich zugerufen haben und man mußte wirklich nicht Serbisch können, um die Situation zu verstehen. Eigentlich sollten im Rahmenprogramm des Zentraleuropäischen Filmfests, das diese Woche in Budapest stattfindet, zwei Bands aus Jugoslawien auftreten. Weil aber keiner der Musiker in der ungarischen Hauptstadt ankam, wurden an diesem Abend im Kulturzentrum Trafo Filme gezeigt und diskutiert. Budapest, am 22. Tag der Luftangriffe: Fettes Grün an den Bäumen, Sträucher blühen wild auf und schon wieder ab. Die Menschen stürzen auf die Straßen, lassen sich in der warmen Sonne nieder oder suchen den kühlen Schatten der großen Gebäude. Ein paar Autostunden sind es in den Krieg und aus dem Krieg.

Hier, wo Europa am tiefsten ist, trifft sich derzeit das andere Jugoslawien. Menschen, die eben erst die Grenze überquert haben, oder schon seit zwei oder drei Wochen in Ungarn festhängen. Tausende von Flüchtlingen wahrscheinlich, und darunter auch viele Künstler, Medienmacher, Intellektuelle, die hin- und hergerissen sind zwischen Abhauen und Nicht-weiter-können.
Vor ein paar Wochen noch haben sie den Widerstand gegen das Milosevic-Regime verkörpert. In einem Land, in dem selbst der Begriff Opposition seit Jahren kompromittiert ist, war "urbane Kultur" der gemeinsamer Bezugspunkt. Mit guter Musik, Theateraufführungen, Internet-Projekten, Videofilmen, unabhängiger Kommunikation und zeitgenössischer Kunst versuchten sie dem dumpfen Nationalismus zu trotzen. Sie knüpften Kontakte in andere europäische Länder, nahmen an Festivals teil, organisierten Konferenzen, gründeten Zentren und Netzwerke - über die Grenzen der ethnischen Zuschreibungen hinweg. Vielleicht ist es angesichts der Ereignisse überflüssig festzustellen, daß die Arbeit von Jahren nun in Trümmern liegt und ausgerechnet diejenigen, die im Land geblieben sind und sich wehrten, zwischen den Fronten zerrieben werden. Verhängnisvoll aber ist, wenn ausgerechnet die Menschen, die für Weltoffenheit und Demokratie standen, jetzt vergessen oder gar mit den Machthabern über einen Kamm geschoren werden. Im Propagandafeldzug, der heute Infowar heißt, war die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Jugoslawien ein paar Tage lang in den Schlagzeilen. Jetzt aber müßte sich herausstellen, wie es um die Solidarität mit Gegnern und Kritikern Milosevic in Wirklichkeit bestellt ist. Oder reicht das Engagement der NATO-Staaten für die Menschenrechte nur gerade einmal soweit, die "humanitäre Katastrophe" um jeden Preis vor den Grenzen der Gemeinschaft stattfinden zu lassen?

Die Heuchelei ist schon kaum zu ertragen, wenn man sich daran erinnert, daß die deutschen Asylbehörden noch bis vor ein paar Wochen die Gruppenverfolgung von Kosovo-Albanern kategorisch verneinten, wenn es um deren Bleiberecht und politisches Asyl ging, und daß das bayerische Innenministerium bis zum allerletzten Zeitpunkt, als längst das Embargo verhängt war, Abschiebungen über die neutrale Schweiz versuchte.
Daß die 10.000 Flüchtlinge, die die Bundesrepublik aufzunehmen bereit war, nicht einmal den juristischen Status von Kontingentflüchtlingen im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen erhielten, daß über alle anhängigen Asylverfahren von Kosovo-Albanern ein Bearbeitungsstop verhängt wurde, weil angesichts der aktuellen Lage politisches Asyl nun wirklich nicht verweigert werden könnte - dies grenzt geradezu an Niedertracht.

Die Regierungen der Europäische Union haben ihre Grenzen geschlossen.
Behörden und Botschaften verweigern derzeit allen Menschen aus dem Staatsgebiet der Republik Jugoslawien die Einreise, die sich dem Terror der Luftangriffe, Verfolgung durch die serbischen Militärs oder der staatlichen Propaganda entzogen haben, darunter auch viele Männer, die vor der Einberufung zum Militärdienst geflohen sind oder bereits desertierten. Selbst offizielle Einladungen oder solche von Verwandten und Freunden werden derzeit von den Auslandsvertretungen nicht mehr bearbeitet. Dragana Zarevac, zum Beispiel: Die Videokünstlerin aus Belgrad ist die einzige, die nichts dagegen hat, wenn ihr Name genannt wird. Sie sitzt mit ihrem kleinem Sohn seit Tagen in Budapest fest, obwohl sie sogar vom Centre Pompidou in Paris eingeladen wurde. Das französische Konsulat aber verweist auf die Anordnung, keine Visa mehr erteilen zu dürfen. Viele andere Künstler verbringen Stunden auf der österreichischen oder niederländischen Auslandsvertretung, werden aber, egal wie hoch sie protegiert sind, allenfalls hingehalten. Sie leben in überfüllten Wohnungen von Freunden oder Hotels. Zum Essen treffen sie sich in der Mensa der Universität. Für ein paar Mark gibt es hier ein Mittagsmenu, an den Wänden hängen Zettel, auf denen Wohnungen zur Vermietung angeboten werden. Dragana Zarevac Sohn spielt mit Plastiksoldaten, bemüht sich aber den Diskussionen unter den Erwachsenen zu folgen. "Müssen alle Männer jetzt zum Militär?" fragt er und schießt eine Papierkugel aus einer Spielzeugkanone. "Keine zivile Ziele!" protestieren die anderen am Tisch.

Wer schon länger aus Jugoslawien raus ist, hat immerhin den sprichwörtlichen schwarzen Humor wiedergefunden. Diejenigen, die aber gerade neu angekommen ist, sprudeln über vor Mitteilungsdrang und Aktionismus. "Nach zwanzig Tagen Luftangriffe waren die Ohnmacht und Tatenlosigkeit einfach nicht mehr auszuhalten" sagte eine, die am Morgen erst mit einem Bus aus Belgrad ankam. Frauen und Kinder können nach wie vor die Grenze zwischen Jugoslawien und Ungarn passieren. Männern aber ist es per Gesetz verboten, das Land zu verlassen. Viele versuchen es trotzdem, und irgendwann gelingt es auch.
Seit ein paar Tagen soll es einen Erlaß geben, daß jeder Wechsel des Aufenthaltsortes spätestens nach 24 Stunden bei den Behörden angezeigt werden muß. So wollen die Machthaber in Belgrad dem Problem Herr werden, daß in den letzten Tagen viele Menschen Wohnungen tauschten, sich in Gartenhäuschen zurückzogen oder aufs Land abgesetzt haben, um ihren Aufenthaltsort wenigstens zu verschleiern. Bislang gibt es keine Generalmobilmachung, und die Männer, denen der illegale Grenzübertritt gelungen ist, haben zumindest die vage Hoffnung, vielleicht irgendwann einmal zurückkehren zu können, ohne gleich wegen Desertion vor Gericht gestellt zu werden. Stimmen der Vernunft sind im allgemeinen Kriegsgeschrei selten geworden. Veran Matic, Chefredakteur von B92 forderte schon vor zwei Wochen in seiner Stellungnahme unter dem Titel "Bombing the Baby with the Bathwater" unmißverständlich ein sofortiges Ende der Luftangriffe. Daß er dabei die Vertreibung der Menschen im Kosovo scharf kritisierte, könnte der Anlaß für die engültige Schließung von Radion B92 gewesen sein. Sonja Licht, Vorsitzende der Soros-Stiftung in Belgrad, war am Mittwochabend im Trafo über ein Telephoninterview zugeschaltet: "Niemand hat Recht in diesem Krieg. Was kann Erfolg bedeuten, wenn alle die Verlierer sind - allen voran die Kosovo-Albaner, aber auch Tausende Roma, die im Moment auf der Flucht sind." Und sie fügt hinzu: "Die NATO will Milosevic bestrafen, aber sie bestraft die Menschen."

Kurz vorher wäre es beinahe zum Eklat gekommen, als die anwesenden Künstler und Medienaktivisten aus Jugoslawien sich nach kurzer Rücksprache weigerten, vor den Kameras des ungarischen Fernsehens ein Statement abzugeben. "Für uns ist es zu früh", sagen die einen, und meinen damit das verdammte Abwarten, zu dem sie gezwungen sind. "Wie kann ich meine eigene Situation beschreiben, die doch noch harmlos erscheint im Vergleich zur Not der Flüchtlinge in Mazedonien und Albanien?" sagt eine andere.
Sinnvoller, als sie vor die laufenden Kameras zu zerren, um die Kriegsberichterstattung um ein paar authentische Stimmen zu bereichern, wäre schon, ihnen Respekt zu zollen und die wertvolle Arbeit, die sie seit Jahren machen, präsentieren oder unter den herrschenden Bedingungen rekonstruieren zu lassen. Ungarn ist dazu natürlich nicht alleine in der Lage und ein Kommunikationszentrum wie C3, das seit Jahren als Drehscheibe für die mittel- und osteuropäische Medienkunstszene fungiert, schon kurzfristig damit überfordert.

Jetzt ist ein gemeinsames Vorgehen von Medienaktivisten, Künstlern, kulturellen Institutionen, Festivals in ganz Europa gefordert.
Schon am 30. März forderten die Verteter von europäischen Kulturzentren und Medienlaboren, die sich seit drei Jahren schon im Netzwerk "Syndicate" zusammengeschlossen haben, mit einem Appell: "Open the Borders!". Diese Forderung ist heute drängender denn je. Es ist nicht mehr die Zeit, über Politiker und Militärs zu fachsimpeln, die zu vermeintlichen Gutmenschen konvertierten, oder in Ratlosigkeit über diese plötzliche Wandlung zu verharren. Es ist Zeit, die Grenzen Europas zu öffnen. Zum einen aus humanitären Gründen: um allen Menschen, wovor auch immer sie fliehen und wohin auch immer sie wollen, ein Entkommen zu ermöglichen. Zum zweiten aus politischen Gründen: um die Logik des Krieges zu durchbrechen und allen, die sich weigern, für Milosevic oder wen auch immer zu sterben, vollen politischen Schutz zu gewähren. Zum dritten aus pragmatischen Gründen: Wenn es irgendeine Chance gibt, den aktuellen und alle noch drohenden Konflikte vor den Toren der EU-Länder zu lösen, dann kann und darf diese nur in einer gesamteuropäischen Perspektive liegen und anstelle von Luftkriegen in der Öffnung der Grenzen bestehen.