Für eine demokratische Globalisierung

von
Slavoj Zizek
(frankfurter rundschau
vom 19.04.2001)
Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek forscht zur Zeit am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Die hier zusammengefassten Thesen hat Zizek kürzlich bei den diesjährigen Darmstädter Gesprächen in einer Diskussion mit einem sich irritiert zeigenden Wolfgang Schäuble vorgetragen. Wir dokumentieren Zizeks Thesen, weil sie auf einen blinden Fleck in der Menschenrechtsdebatte hinweisen: auf die Versuchung, den Universalitätsanspruch der Menschenrechte, und sei es auch nur geringfügig, zu relativieren. Von der Tragikomödie um Milosevics Verhaftung wird ein bitterer Nachgeschmack bleiben. Die Tatsache, dass sie durchgeführt wurde, um eine amerikanische Deadline einzuhalten und auf diese Weise 50 Millionen Dollar Unterstützung für Jugoslawien zu sichern, bestätigt nicht nur den Verdacht, dass die Weltmächte Milosevic zu einer Verkörperung des Bösen erhoben haben; sie belegt auch die mangelnde Bereitschaft der neuen jugoslawischen Regierung, die jugoslawische Verantwortung für den Krieg in den 90-er Jahren zuzugeben, und ihre Absicht, sich an den Mythos von den Jugoslawen als Opfer westlicher Aggression zu klammern. Weit entscheidender war jedoch die unerwartete Verhaftung von Augusto Pinochet. Wie immer die Sache ausgeht, die unmittelbaren ideologischen Rückkoppelungen waren enorm. Als Pinochet in London ankam, wurde er in Chile als allmächtige, unberührbare graue Eminenz wahrgenommen. Nach seiner Verhaftung war die psychologische Barriere gebrochen - er war nur noch ein gebrechlicher Verbrecher, der erniedrigende Entschuldigungen ersann, um seiner Verhaftung zu entgehen. Die Grenzen des Falls Pinochet liegen darin, dass er aus einem kleinen Land am Rande der Welt kam. Ein wirklicher Erfolg wäre es, jetzt im Zentrum zuzuschlagen, um die Logik konsequent fortzusetzen: jemanden zu verhaften, der 'wirklich zählt'.

Christopher Hitchens neues Buch The Trial of Henry Kissinger (New York 2001) liefert ein überzeugendes Plädoyer für Kissinger als idealen Kandidaten. Die Anschuldigung, er sei ein Kriegsverbrecher ist alt und gut begründet. Erinnern wir uns nur des berühmten BBC-Interviews, in dessen Verlauf der Moderator fragte: "Wie fühlen Sie sich als Kriegsverbrecher?", woraufhin Kissinger natürlich sofort das Studio verließ. Ferner ist er nicht mehr politisch aktiv, so dass die USA nicht behaupten
könnten, seine Verhaftung würde in irgendeiner Weise das Funktionieren ihres Staatsapparates gefährden. Kein Wunder, dass mich nach der Lektüre von Hitchens Buch eine Art umgekehrter Martin-Luther-King-Traum überkam: In der Reihe von Gefangenen auf der Anklagebank in Den Haag sah ich Milosevic Seite an Seite mit Kissinger sitzen; in den Verhandlungspausen, so stellte ich mir vor, saßen diese beiden erfahrenen Zyniker zusammen am Tisch, tranken Whiskey und tauschten billigen Weisheiten aus.

Aber warum Kissinger, diese klägliche Figur, die für jene vulgäre, zynische und opportunistische
'Realpolitik' steht, die sich als 'Weisheit' tarnt? Wann immer es einen Schlag gegen eine einen emanzipatorischen Kampf gab, war Kissinger selbst nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik sofort da und erhob seine Stimme zur Unterstützung, selbst wenn die Interessen, die er verteidigte, jene der kommunistischen Nomenklatura auf ihrem Sterbebett waren. 1981, nach Jaruselskis Staatsstreich, äußerte er sein 'Verständnis' für die geopolitischen Interessen der Sowjetunion. 1991, am ersten Tag des gescheiterten Anti-Gorbatschow-Staatsstreichs der alten sowjetischen Nomenklatura, war er wieder da und betonte die Notwendigkeit eines starken russischen Staates. Mehr noch: Während seiner Zeit als erster nationaler Sicherheitsberater und später als Außenminister unter Nixon und Ford war er immer zur Stelle, um die Armen und Hilflosen zu bombardieren oder anderweitig zu zerstören, von Chile bis Kambodscha, und einen strategischen 'Deal' mit den Machthabern zu machen, selbst mit Mao. Die erste Assoziation, die man bei Kissingers Namen hat, ist Margaret Thatchers angemessene Charakterisierung des italienischen Ex-Premierministers Giulio Andreotti, der sich mit der Mafia einließ: Er sei nicht nur unmoralisch; nach Ansicht eines Fernsehinterviews mit ihm könne man sich des Eindrucks nicht erwehren, er habe seinen unmoralischen Zynismus zu einer Art perverser ethischer Einstellung kultiviert - er sei unmoralisch nicht aus egoistischen Motiven, sondern aus Prinzip, als ob sich sofort Abscheu regte, sobald er spürte, dass jemand aus moralischen Erwägungen handelte.

The Trial of Henry Kissinger ist eine zeitgemäße Intervention in der gegenwärtigen ideologisch-politischen Konstellation. Sie ist charakterisiert durch die Tendenz, moralisch-legale Erwägungen in die politischen Auseinandersetzungen einzuführen. Heute dient der 'apolitische' Bezug
auf die Menschenrechte als Rechtfertigung für politische und sogar militärische Interventionen. Welche Haltung sollen wir demgegenüber einnehmen?

Die erste naive Reaktion kann nur spontaner Jubel sein: Ist es nicht tröstlich zu sehen, dass die Nato-Kräfte nicht aus spezifisch ökonomisch-strategischen Interessen eingreifen, sondern schlicht und einfach, weil ein Land auf grausame Weise die elementaren Menschenrechte einer ethnischen Gruppe verletzt? Ist das nicht die einzige Hoffnung in unserer Ära der Globalisierung: eine international anerkannte
Macht als Garantin dafür zu sehen, dass alle Länder ein gewisses Minimum ethischer Standards respektieren? Was kann man gegen einen respektablen internationalen Gerichtshof in Den Haag haben, der kriminelle Politiker verfolgt?

Natürlich ist die nicht weniger spontane Reaktion eines Linksradikalen verächtliches Misstrauen. Zunächst ist die Neutralität des Bezugs auf die Menschenrechte offensichtlich eine Fiktion. In der gegenwärtigen Konstellation dient dieser Bezug der New Order, die von den USA dominiert wird. Die Frage, die man sich bei jeder Intervention zugunsten der Menschenrechte stellen muss,
lautet daher: Auf welchen Kriterien beruht die Auswahl? Warum Albaner in Serbien und nicht Palästinenser in Israel, Kurden in der Türkei etc.? Warum wird Kuba boykottiert, während das wesentlich brutalere Regime in Nordkorea dabei unterstützt wird, 'sichere' Atomenergie zu entwickeln?

Hier treten wir nun in die zwielichtige Welt des internationalen Kapitals und seiner strategischen Interessen ein. Ferner depolitisiert diese rein humanitär-ethische Legitimation einer Intervention diese vollständig, indem sie sie in eine Intervention in eine humanitäre Katastrophe
verwandelt, die auf rein moralischen Gründen beruht, und kein Eingriff in eine genau definierte politische Auseinandersetzung ist. Auf diese Weise wird die Realität der politischen Auseinandersetzung in einen moralischen Kampf von Gut und Böse transformiert - kurzum: die Moralisierung der Politik beschwört die Gefahr einer kaum wahrnehmbaren Politisierung der Moral herauf, für die der politische Gegner sich in das personifizierte Böse verwandelt.

Aber ist diese linke Standardantwort hinreichend? Sie läuft darauf hinaus, die alte marxistische Denunziation der falschen ideologischen
Universalität wieder aufzutischen: "Universale Menschenrechte privilegieren in der Praxis nur die Menschen in den hoch entwickelten Ländern der Ersten Welt." Das Problem dieser Neuauflage besteht darin, dass sie die einzigartige Chance verpasst, die Menschenrechte selbst zum Terrain des hegemonialen Kampfes zu machen, anstatt sie dem Gegner zu überlassen.

Erinnern wir uns an das Schicksal, das der Bezug auf die Menschenrechte im späten 18. Jahrhundert erlitt. Natürlich waren die Menschenrechte in ihren Kindertagen "in der Praxis" die Rechte weißer Eigentümer und
schlossen die unteren Klassen, Frauen, andere Rassen etc. stillschweigend aus. Ihre dezidiert universale Form jedoch setzte den unumkehrbaren Prozess ihrer Expansion in Gang. Zuerst sagten die Frauen "Warum nicht auch wir?", dann die Schwarzen (in Haiti), dann die Arbeiter ...

Es ist sehr wohl lohnend, heute dieselbe Strategie zu verfolgen. Milosevic, Pinochet, gut und schön, aber warum nicht auch Kissinger? Und man ist hier versucht, noch einen Schritt weiter zu gehen: Wie steht um es die katastrophal-kurzsichtige Verrücktheit von
Präsident Bush, sein Wahlversprechen zu brechen, das Kyoto-Abkommen über die globale Erwärmung zu unterschreiben, das Standards für die Emission von Kohlenmonoxid setzt? Einige der Kritiker hatten völlig recht, als sie behaupteten, dieser Schritt liefe auf einen Verrat der Amerikaner an ihrer Verantwortung hinaus als Weltbürger. Welches Recht haben die USA noch, Brasilien für die Abholzung de Regenwaldes zu verdammen, oder China für den Bau eines Staudamms am Yangtse? Der größte Zynismus dieser Entscheidung liegt in ihrer Rechtfertigung: Vermutlich könne man nur so das Ansteigen der Elektrizitäts- und Ölpreise verhindern, die die ärmeren Schichten am meisten träfe.

Dieser Standpunkt des 'Zuerst die Ökonomie, dann die Ökologie' vergisst, dass es gerade die 'Deregulierung' der kalifornischen Stromversorgung war, die die Versorgungskrise ausgelöst hat. Hier sollte man der liberal-kapitalistischen Globalisierung mit einer wirklich demokratischen Globalisierung begegnen. Warum lanciert man nicht eine riesige globale Kampagne, um eine Art internationalen Gerichtshof zu konstituieren für ökologische Fälle? Mit dem Ziel, zumindest langfristig, einen legalen Status mit exekutiver Macht zu erlangen,
klare Kriterien zu definieren, was als ökologisches Verbrechen gelten soll, und die Macht zu haben, zumindest einige Sanktionen gegen Personen und Institutionen zu ergreifen? Warum nicht die ganze Kraft des legalen wie moralischen Diskurses mobilisieren und Bush in diesem Fall nicht bloß als politischen Gegner, sondern als Kriminellen behandeln, der auch öffentlich als solcher boykottiert wird?

Aber um auf einem moderateren Niveau zu bleiben: Wenn ein Land, am besten ein westeuropäisches, Kissinger auf der Promotion-Tour für dessen neuestes Buch auf dieselbe
Weise verhaften würde, wie man in England Pinochet verhaftet hat, so wäre das eine authentische politische Tat. Eine solche Geste würde die internationale Menschenrechtsmaschinerie auf den Prüfstand stellen und die Verantwortlichen zwingen, ihren Standpunkt klar zu machen und eine Wahl zu treffen. Entweder würden die USA Kissingers Freilassung fordern und damit den großen Betrug der Menschenrechte belegen, oder...

Mitunter besteht die klügste Politik in äußerlicher Naivität, oder, um Gandhis geistreiche Bemerkung zur britischen Zivilisation zu zitieren:
"Universelle Menschenrechte? Eine gute Idee, vielleicht sollten wir sie ausprobieren." Dieses sollte die Botschaft an Machthaber sein, die für die Menschenrechte eintraten bei der Verhaftung Noriegas, beim Bombardieren des Irak, bei der Wirtschaftsblockade Kubas, beim Verfolgen jugoslawischer Kriegsverbrecher vor dem Haager Tribunal: Verhaftet Kissinger, oder schweigt von Milosevic.

Peter Körte übersetzte aus dem Englischen.