Invasion der Grillenzüchter

Christian Dany

aus:
Springerin 3/98
In den Abfallkörben auf dem Markt brennen Feuer. Es schneit, Kinder kauern um die Flammen, wie gichtige Krähen hüpfen sie von einem Bein aufs andere, während der Wind an ihren dunklen Mänteln zerrt. Am Rande der Stadt, wo man früher den Heurigen trank, im provisorischen Wellblechgürtel von Wien, ist die Wäsche an der Leine gefroren; pinkfarbene Bettücher leuchten aus der düstren Kulisse mit ihren Satellitenantennen und Solaranlagen. Die quirlige Windmühle irgendeines Alternativen dreht und dreht sich immerfort, dahinter sind gigantische Hydrokulturwälder erkennbar. In Wahrheit ist Sommer und der Kapitalismus nicht so außer Rand und Band geraten, wie die Science-fiction- Literatur sich das vorgestellt hat. In bezug auf den »Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in den Metropolen« ist eher das Gegenteil zu spüren. Das vermeintliche Auseinanderfallen partikularisiert hinter einem Schleier aufrechterhaltener Normalität vor sich hin. An dieser Oberfläche weben viele mit, um ihr eigenes Hinausfallen aus dieser Ordnung aufzuhalten.

In seinem im Frühjahr dieses Jahres erschienenen Buch »Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus« (Berlin-Verlag 1998) versucht Richard Sennett die psychosozialen Auswirkungen einer sich umstrukturierenden Arbeitswelt zu umreißen.
Im Mittelpunkt der populär geschriebenen Studie des amerikanischen Soziologen steht der Zerfall »der großen Erzählung« in der Biografie des Einzelnen. Die Mobilisierung der Produktion führt zudem laut Sennett zu einer wachsenden Bindungslosigkeit der Arbeitskräfte, die sich als Verlust von sozialer Verantwortung auswirkt. An die Stelle einer linearen Karriere tritt ein Patchwork unterschiedlicher Tätigkeiten in immer öfter nur temporär existierenden Zusammenhängen. Ist das Projekt, der Job, erledigt, lösen sich die Teams wieder auf. Aufgrund ihrer technologischen Abstraktion bieten viele Arbeitsplätze kaum noch identifikatorisches Potential für die Beschäftigten an. Erträglich werden die Jobs häufig nur durch den regelmäßigen Wechsel. Der Soziologe, der Lust am Erzählen hat, beschreibt diese Entwicklung anhand einer hochautomatisierten Bäckerei, in der das Knöpfchendrücken für die dort Beschäftigten nur eine Durchgangsstation ist. Der Vorabeiter versucht, die Jobber durch einen wöchentlichen Kurs im Brotbacken aus ihrer Entfremdung zu ziehen, stößt dabei aber auf Interesselosigkeit. Auch die Versuche anderer, als »Angstesser« mit Gewerkschaftsvergangenheit beschriebenen Vorarbeiter, die Gelegenheitsbäcker zu politisieren, scheitern. Die Situation wirkt genauso real wie konstruiert. Sie zeigt dabei kaum Handlungsspielräume auf, sondern wirkt von den unumstößlichen, fast schicksalhaften Verhältnissen bestimmt. Eine andere literarische Fallstudie handelt von Rose, der Besitzerin der Stammkneipe des Soziologen. Ro- se verkauft ihr Lokal und beginnt in einer Werbeagentur zu arbeiten. Die Arbeit im Team ist aufgrund des dort herrschenden Leistungsdrucks, der sich nicht als persönlicher Erfolg oder in deutlich erkennbaren Arbeitsergebnissen einlöst, permanent angstbesetzt. Rose verläßt die Agentur und damit auch das Feld immaterieller Arbeit nach einer Weile wieder und stirbt kurze Zeit später. Auch in den anderen Beispielen zeichnet sich ein merkwürdig sentimentaler, fast konservativer Subtext ab, der das Gewachsene sowie eine feste soziale Verortung beschwört, aus dem sich auch der hier verwendete Begriff von Entfremdung definiert. Sennett besetzt die aus der veränderten Arbeitswelt resultierende biografische Diskontinuität durch die Bank negativ. Überhaupt: der Fischer kann nicht mehr schwimmen, der Bauer trinkt H-Milch, und der Arbeiter geht nicht mehr jeden Tag in die Fabrik. Grotesk liest sich Sennetts historisch auf Adam Smith gestützte Beschwörung der identitätsstiftenden Funktionen der Routinearbeit an den häufig lebenslangen, oft unglaublich stupiden Arbeitsplätzen des Fordismus. Ein Intellektueller, aufgrund seines Erfolges mit diversen Privilegien der Mobilität ausgestattet, schwärmt vom verwurzelnden Glück des Fließbandes - eines Fließbandes, das noch soviel Wissen von den ArbeiterInnen erforderte, daß sie nicht innerhalb von Tagen zwischen der Burger-, Auto- und Computerindustrie switchen konnten. Sennetts populärwissenschaftlich verkürzte und politisch eher uneingebunden wirkende Skepsis gegenüber dem jüngsten Entwicklungsschub des Kapitalismus erschöpft sich in Befürchtungen. Fast nirgendwo zeichnen sich Perspektiven, geschweige denn subversive Potentiale ab. Am Ende bleibt vor allem eine wertkonservative Kapitalismuskritik, wie sie in den Feuilletons von der »FAZ« bis zur »Neuen Zürcher Zeitung« genauso systemstabilisierend zu finden ist. »Umherschweifende Produzenten«

Widerständischer als Sennett gibt sich die kritische Betrachtung einer diffuser werdenden Arbeitswelt von Toni Negri. Der jüngst aus dem französischen Exil zurückgekehrte Italiener (vgl. springer 3/97, S. 44-45) beobachtet die neue Formation weniger aus der Warte eines »berufsmäßigen Soziologen« als der eines politischen Aktivisten. Sein Schreiben ist daran interessiert, Handlungsspielräume zu eröffnen. Negris Aufsatz in der von Thomas Atzert herausgegebenen Textsammlung »Umherschweifende Produzenten« (ID Verlag 1998) formuliert die Forderung: »Es geht darum zu

vermeiden, bei der Beschreibung des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus in die Terminologie einer rein ökonomischen Logik zurückzufallen.« In seiner Aufarbeitung der in den siebziger Jahren einsetzenden Verstreuung des norditalienischen Industrieproletariats in ein Netzwerk kleiner, den Konzernen zuarbeitender Betriebe stellt Negri fest: »Neue Arbeitsteilungen entsprechen nun nicht ausschließlich den Interessen der Fabrikanten; sie sind eben gleichermaßen Ergebnisse des Kampfs gegen die Lohnarbeit und ein Niederschlag der kollektiven Anstrengung, sie zu überwinden.« Negris Ansatz, die subversiven Ursprünge der neuen Arbeitsteilungen freizulegen, könnte über das von ihm zitierte Beispiel hinaus, das er als spezifisch für die Region kennzeichnet, produktiv gemacht werden. Die erneute Differenzierung versucht verschüttete Energien und widerständische Ansätze neu aufzuladen. Negris Text zeigt den langen historischen Vorlauf der jetzigen Veränderung auf. Er widerspricht damit einer Darstellung der Umstrukturierung der Ökonomie, die mit dem aus einem historischen Nirgendwo aufgetauchten Begriff der Globalisierung gekennzeichnet wird. Dieser in den letzten Jahren so viel beschworene Schlüssel zur Logik der kapitalistischen Entwicklung nimmt sich beinahe wie das achte Weltwunder aus. Schon im »Manifest« schrieben Karl Marx und Friedrich Engels: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, ...«. Das letzte Bild vom globalen Dorf mag dabei vor 150 Jahren noch metaphorischer gemeint gewesen sein, als es sich in diesem Sommer liest. Manchmal scheint es fast so, als würden einige von Marx' Analysen, die im letzten Jahrzehnt so sehr aus der Mode gekommen sein sollen, heute erst im vollen Umfang zutreffen. So beschreibt Marx den Auftritt des Dings als Ware anhand eines Tisches als Übergang vom sinnlichen zum übersinnlichen Zustand. Auf dem Markt steht der Vierbeiner nicht mehr mit den Füßen auf dem Boden, »sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.« Schon Marx' surreales Bild ging davon aus, daß der mysteriöse Charakter der Ware kaum Ergebnis ihres Gebrauchswertes sein dürfte. Arbeit bedeutet unter den Bedingungen übersättigter Märkte in den Metropolen immer öfter, einen solchen Surrealismus zu produzieren. Als »lautlose Revolution« beschreibt Maurizio Lazzarato im Band »Umherschweifende Produzenten« die im Postfordismus rasant zunehmende Bedeutung der »immateriellen Arbeit«, also der Beschäftigung mit dem Kontext beziehungsweise der Kommunikation der Waren. Bis ins letzte Detail wird der Rahmen einer kaum noch vorhandenen Nachfrage, in dem die Inszenierung der Ware stattfinden soll, abgetastet. Immaterielle Arbeit bildet ein »Interface« zwischen Produktion und Konsum. Dabei entstehen Tätigkeiten, die als Arbeit kaum noch erkennbar sind. Als erstes kommen einem dabei natürlich auf der Suche nach dem jüngsten Lebensgefühl koksend durch die Nacht jagende Werber oder »Content Hunter« in den Sinn. Aber natürlich verwerte ich mich auch selbst gerade, während ich diesen Artikel schreibe. Auch lese ich die Bücher zuerst in meiner Freizeit, wie man früher sagte, und bilde mir ein, die Fragen interessierten mich brennend. Tun sie dies nicht, so sind meine AuftraggeberInnen auch des öfteren enttäuscht. Ein anderer Rohstoff, den ich dabei gerade verwerte, ist das »ideologische Milieu«, in dem ich mich bewege, denn natürlich spreche ich in der Küche oder Bar über meine Texte und greife später diese Dialoge wieder auf. Kommunikation wird so zunehmend Teil eines Verwertungsprozesses, aus dem ich nicht einmal rausgeschmissen werden kann, da ich keine Anstellung besitze. Daß mir diese »Hyperausbeutung«, wie es in »Umherschweifende Produzenten« heißt, wesentlich angenehmer ist als ein einziger Tag im geregelten Verhältnis der Routinearbeit, versteht sich von selbst. Geschult ist diese Mentalität an einer selbstorganisierten Praxis oder dem, was jetzt in den Kulturabteilungen großer Konzerne »postbürgerliches Lebensgefühl« heißt. Eher scheint es sich dabei aber um eine allgemeine Ver(klein)bürgerlichung ohne finanziellen Spielraum zu handeln. Durch ihre Subjektivierung betreten die KommunikationsarbeiterInnen das Terrain künstlerischer oder kultureller Arbeit, also ein ehemaliges Privileg des Bürgertums. Lazzarato spricht den sozialen Kämpfen eine erhebliche Rolle bei dieser »Massenintellektualisierung« zu. Wie Negri markiert er dabei den Ausgangspunkt dieser Entwicklung in den frühen siebziger Jahren. Folgt man Lazzarato, so zeichnet sich in dieser Autonomisierung der ProduzentInnen aber nur bedingt eine emanzipatorische Entwicklung ab, eher das Gegenteil, da die Aufforderung »Seid Subjekte« immer wieder in Einklang mit den jeweiligen Unternehmensinteressen gebracht werden muß. Das Unternehmen eignet sich so einen noch größeren Teil der Produktivkraft an und modifiziert diese entsprechend der durch Dienstleistung und Kommunikation neu entstandenen Notwendigkeiten. Lazzarato behauptet aus theoretischer Perspektive mit Blick auf die Arbeiterbewegung, daß es zu einer erheblichen Verschiebung im Verhältnis zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen kommt, da letztere nun selbst unternehmerisch tätig werden. Das Widerständische dieser Revolte der »Mikroökonomie gegen die Makroökonomie« wurde inzwischen zunehmend in den Verwertungsprozeß integriert. Angesichts der zersplitterten, höchst widersprüchlichen Strategeme der kapitalistischen Gefüge scheint es insgesamt wenig sinnvoll, von einer stabilen Formation auszugehen. Ein Ende des widerständischen Potentials mikroökonomischer Formen zu konstatieren überzeugt nicht, doch lassen sich daraus auch keine utopischen Bilder mehr formen, wie sie etwa William Gibson Mitte der achtziger Jahre in seinem Roman »Neuromancer« entwarf. Die von Gibson beschworenen subversiven Energien der »immateriellen Arbeit« lesen sich heute angesichts wohlgeordneter Verhältnisse, in denen aus grotesken Zeichenketten Würmer wachsen und Plantinengebilde aus superautonomen Zusammenhängen schon länger auf dem Kopf tanzen, bereits wie eine in schwarzen Löchern verschwundene Welt.