Interview mit Uri Avnery zur aktuellen Situation in Israel / Palästina

von Tobias Pflüger

aus:
"Wissenschaft und Frieden"
am 28.02.2001
Uri Avnery ist israelischer Publizist und Friedenskämpfer, er wurde 1923 in Beckum / Westfalen geboren und ist 1933 nach Palästina ausgewandert. Der 77-jährige war mehrfach Mitglied der israelischen Knesset und gründete als Fortsetzung seiner - seit 1948 andauernden - Friedensarbeit gemeinsam mit anderen 1992 die Gruppe Gush-Shalom (Friedensblock).

Tobias Pflüger war vom 28.10. bis 11.11. in Israel und Palästina, dabei besuchte er neben vielen anderen politischen Gruppen auf der palästinesischen und israelischen Seite auch Gush-Shalom.
Tobias Pflüger: Die Ministerpräsidentenwahlen in Israel am 06. Februar sind ja erwartungsgemäß ausgegangen. Ariel Scharon ist neu gewählter Ministerpräsident von Israel. Sie hatten sehr lange für die Abgabe von weissen Stimmzetteln geworben, weil Sie Ehud Barak wesentlich für das brutale Vorgehen der israelischen Militärs gegenüber Palästinensern verantwortlich gemacht haben. Ehud Barak hatte ja im Westen den Nimbus eines Friedensministerpräsidenten. Was ist das Resümee seiner zweijährigen Amtszeit?

Uri Avnery: Der Eindruck, dass Barak ein Friedensministerpräsident war, ist eine Legende. Barak hat die Siedlungen in den besetzten Gebieten mehr vorwärts getrieben als alle seine
Vorgänger. Er hat überall in den besetzten Gebieten die Siedlungen erweitert, neue Landstrassen für die Siedler gebaut, Häuser demoliert, Bäume entwurzelt. Der Krieg gegen die Palästinenser ging unter Barak uneingeschränkt weiter. Die Aussage, er hätte den Palästinensern Zugeständnisse gemacht, die ein Frieden ermöglicht hätten, ist auch eine Legende, denn in den wichtigsten Punkten war Barak weit davon entfernt das zu tun, was nötig war, um einen Frieden zu ermöglichen. Er war nicht bereit auf die israelische Souveränität auf den Tempelberg zu verzichten oder sie abzugeben, er war nicht bereit irgendeinen Kompromiss zur Lösung der Flüchtlingsfrage zu machen, er wollte große Teile des Westjordanlandes nach Israel annektieren, alles das war weit davon entfernt, es irgend einem palästinensischen Führer zu ermöglichen, einen Kompromiss mit Israel zu schliessen.

Pflüger: Sie hatten kurz vor der Wahl doch noch dazu aufgerufen, Ehud Barak statt Ariel Scharon zu wählen, mit welcher Begründung?

Avnery: Die Begründung war, das Scharon eine nationale Gefahr ist und im Vergleich zu Scharon alle anderen weniger schlimm sind und wenn ich wählen müsste zwischen einem sehr schlimmen Ministerpräsidenten und einem der noch viel schlimmer ist, habe ich den schlimmen gewählt.

Pflüger: Was erwarten Sie von Scharon und wie
denken Sie, wird sich die Situation insbesondere in Bezug auf die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete entwickeln?

Avnery: Scharon ist ein Kriegsministerpräsident. Es ist ihm vollkommen unmöglich, ein Frieden mit den Palästinensern zu schliessen, weil er in allen praktischen Punkten das Gegenteil sagt, von dem was die Palästinenser verlangen. In diesem Augenblick ist er damit beschäftigt, seine Legitimität in den Augen der Welt herzustellen, in dem er die zerrüttete und jämmerliche Arbeitspartei für einen billigen Preis kauft. Praktisch hat er Shimon Peres bestochen mit dem Amt des Aussenministers und die Arbeitspartei auch bestochen mit dem Amt des
Verteidigungsministers, d.h. praktisch, dass die Arbeiterpartei Scharon ein Alibi gibt, in den 2 wichtigsten Sektoren des zukünftigen Krieges, nämlich Verteidigung und auswärtige Angelegenheiten. Alles was jetzt unter Scharon passieren wird, wird auf die "Konten" der Arbeitspartei geschrieben, denn die Eskalation in den besetzten Gebieten, die unabwendbar ist, wird von einem Arbeitspartei- Verteidigungsminister gemacht werden und die Kriegspolitik von Scharon wird von Shimon Peres unterschrieben werden. Das ist das Allerschlimmste, was überhaupt noch passieren konnte.

Pflüger: Wieso macht Shimon Peres das mit?
Avnery: Aus reinem persönlichen Ehrgeiz. Shimon Peres ist 78 Jahre alt, er ist direkt krankhaft besessen von der Angst, seinen Posten zu verlieren und von der politischen Bühne zu verschwinden und darum tut er, was andere vor ihm schon getan haben: Er verkauft seinen Nimbus in der Welt, seinen Friedensnobelpreis um an der "Macht" zu sein, also einen jämmerlichen Anteil an der Macht zu haben.

Pflüger: Welche Position nehmen die verschiedenen Gruppen der israelischen Friedensbewegung zum Israel-Palästina-Konflikt ein?

Avnery: Die israelische Friedensbewegung ist
jetzt in einem sehr sehr schwierigen Zustand. Ein großer Teil der Friedensbewegung ist schon unter Barak zertrümmert worden, durch ihre bedingungslose Unterstützung von Barak und seiner Kriegspolitik, besonders nach dem Ausbruch des Freiheitskrieges, Intifada genannt, ist ein großer Teil der sogenannten Friedensbewegung umgefallen. Nur der harte Kern der Friedensbewegung hat standgehalten und weiterhin seine konsequente Position vertreten und dieser harte Kern ist jetzt im Begriff, sich auf die neue Situation einzustellen und den Friedenskampf weiter zu führen, in einer Situation die täglich schwerer wird. Wir sind jetzt in der israelischen Öffentlichkeit isoliert und auch wegen der Eskalation des palästinensischen Freiheitskampfes sind die Beziehungen mit den Palästinensern schwerer geworden, denn in einem Freiheitskampf will jedes Volk seine nationale Einheit bewahren und nationale Einheit auf der palästinensischen Seite heute bedeutet ein großer Bund zwischen der Fatah-Bewegung, der fundamentalistischen Hamas-Bewegung, der extremistischen Djihad-Bewegung und vielen anderen und das macht natürlich die Arbeitsbedingungen der Friedensbewegung noch schwerer.

Pflüger: Wird es wieder mehr Widerstand von anderen israelischen Gruppen unter einer großen Koalition oder unter Scharon geben können, weil man dann nicht mehr meint, so viel Rücksicht auf
die Arbeiterpartei nehmen zu müssen?

Avnery: Der große Teil der israelischen Friedensbewegung, besonders die Bewegung "Peace Now", "Frieden jetzt", "Shalom Ahshav" ist traditionell abhängig von der Arbeiterpartei und von der Meretz-Partei. Jetzt haben wir einen neuen politischen Zustand. Die Arbeiterpartei ist in der Koalition mit den Rechtsradikalen, mit den extremsten Rechtsradikalen. Ein anderer Teil der Arbeitspartei ist gegen diese Koalition, aber man weiss noch nicht wie sie sich praktisch verhalten wird, die Meretz-Partei wird in der Opposition sein, alles das wird diesen Teil der Friedensbewegung "Peace Now" vor eine sehr schwere Prüfung stellen und ich glaube man kann
heute noch nicht sagen wie das ausgehen wird. Augenblicklich tut "Peace Now" überhaupt nichts, befasst sich mit nebensächlichen kleinen Zwischenfällen und hat bis jetzt keine klare Einstellung. Ich glaube es wird noch einige Wochen und Monate dauern, bis wir sehen, ob diese Bewegung überhaupt noch funktioniert. Der harte Kern der Friedensbewegung, zu dem auch ich gehöre, besonders die Bewegung Gush-Shalom, der Friedensblock, sieht jetzt die Aufgabe darin, von vorne anzufangen: Kompromisslose Opposition gegen diese Regierung zu machen und konsequent ihre klaren und eindeutigen Friedenspositionen zu vertreten. Ganz egal was die öffentliche Meinung dazu heute sagt: d.h. die Rückgabe von Ostjerusalem an die Palästinenser inklusive Tempelberg, Aufgabe aller Siedlungen, Wiederherstellung der alten Grenze, der sogenannten "grünen Linie", ein unabhängiger Staat Palästina und einen vernünftigen Kompromiss in der Flüchtlingsfrage. Das werden wir jetzt klar und eindeutig aussprechen, mit der Erwartung, dass in den nächsten Monaten die Lage im Lande noch viel schlimmer wird, der gewalttätige Kampf noch bei weitem verschärft wird und in der Hoffnung, dass nach dieser Phase eine Ernüchterung zustande kommt und dann diese Position, die wir vertreten, eine klare Basis für einen Frieden bieten kann.Pflüger: Keine guten Aussichten...

Avnery: Ich möchte dazu etwas hinzufügen: Das
sind zwar schlimme Aussichten, aber ich bin weiterhin optimistisch. Man muss immer bedenken, dass wir in einem Kampf sind, der schon 120 Jahre lang andauert, in dem schon eine 5. Generation hineingeboren worden ist, ein Kampf der die Mentalität beider Seiten auf allen Gebieten bestimmt und daher wäre es utopisch zu erwarten, dass die Friedensarbeit leicht oder schnell sein könnte. Es ist ein langer Vorgang mit Schritten vorwärts, aber auch Schritten rückwärts. Wir sind jetzt auf einem großen Schritt rückwärts, aber wir hoffen, dass wir danach wieder einen großen Sprung vorwärts machen können.

Pflüger: Wir hatten in Tel Aviv im November ein Gespräch mit einem israelischen Politologen, der
die Siedler in verschiedene Gruppen - in ökonomische und ideologische Siedler - einteilte: Er sprach von 200.000 Siedlern, die unter der Regierung Barak im besetzten Gebiet lebten, soviel wie nie zuvor. Von diesen Siedlern seien ca. 50.000 extrem religiös motiviert und ca. 500 gewalttätig und gefährlich. Ein Großteil der extremistischen Siedler hätte gar keine israelischen sondern us-amerikanische Pässe. Trifft das zu? Er meinte zudem, dass ein Grossteil der israelischen Siedler durchaus bereit wäre, Regierungshilfen vorausgesetzt, die besetzten Gebiete sofort zu verlassen.

Avnery: Man darf diese Differenzierung der Siedler nicht übertreiben. Der harte Kern der Siedler ist
eine ultrareligiöse, messianische, rechtsradikale Sekte und die beherrscht alle Siedlungen, d.h. die Institutionen der Siedler werden vollkommen von diesem harten Kern beherrscht. Das sind die selben Leute, die gestern vorgeschlagen haben, Jassir Arafat umzubringen. Natürlich gibt es viele Siedler, die dort hingegangen sind, nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil sie dort praktisch für umsonst Luxusvillas bekommen haben, oder weil sie aus den israelischen Städten in diese pastorale Landschaft gehen wollten und dort "Lebensqualität" gesucht haben, wie sie gesagt haben und vieles andere. Aber dadurch, dass sie in den Siedlungen leben, auf geraubtem arabischen Boden, mit geraubtem arabischen Wasser, das führt dazu, dass sie langsam genauso schlimm werden, wie die ideologischen Siedler. Die große Frage ist: Wenn jemals eine israelische Regierung ans Ruder kommt die den Frieden will und bereit ist Frieden zu machen und alle Siedler oder einen großer Teil der Siedler die besetzten Gebiete räumen muss, wird es zu einem Bürgerkrieg kommen.

Und ich würde sagen, wenn der Abzug aus den besetzten Gebieten gescheit und vernünftig gemacht wird, kann man einen Bürgerkrieg vermeiden, obwohl gewalttätige Auseinandersetzungen wahrscheinlich geschehen werden. Wenn Sie nach einem Vergleichsbeispiel suchen, dann sind das die französischen Kolonisten in Algerien. Mehr als 1 Million
französische Kolonisten haben Algerien fluchtartig innerhalb von ein paar Wochen verlassen, nachdem Algerien seine Freiheit erkämpft hat. Wenn es soweit sein wird, werden wahrscheinlich viele der Siedler friedfertig nach Hause gehen, wenn sie großzügige Entschädigungen bekommen, aber der harte Kern der Siedler, der ideologische Kern, wird ganz sicher gewalttätigen Widerstand leisten.

Pflüger: In Deutschland sind relevante Teile der Linken nicht bereit die israelische Regierungs-, Besatzungs- und Kriegspolitik zu kritisieren. Es heisst, aufgrund der Geschichte dürfe man Israel nicht kritisieren. Immer wieder werden auch moderate Kritiker der israelischen
Regierungspolitik mit dem Vorwurf des Antisemitismus überzogen. Was sagen Sie dazu?

Avnery: Deutschland hat eine schlimme Vergangenheit und muss sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen. Ich glaube das sollte nichts damit zu tun haben, wie man sich zur konkreten israelischen Politik stellt. Es gibt eine Art unangenehmen Philosemitismus, der mich genauso unangenehm berührt, wie der Antisemitismus. Das ist eine Sonderbehandlung, eine positive Sonderbehandlung, die im Prinzip nicht sehr weit entfernt ist von der negativen Sonderbehandlung. Israel muss genauso betrachtet werden wie jeder andere Staat der Welt, mit den selben Maßstäben,
mit den selben moralischen Maßstäben. Von vielen Teilen der deutschen Öffentlichkeit ist es eine moralische Drückebergerei. Man drückt sich vor einer klaren Positionierung mit dem Vorwand, dass der Holocaust es verbietet. Der Holocaust hat doch überhaupt nichts damit zu tun, was israelische Politik heute macht. Natürlich gibt es, das muss man hinzufügen, antisemitische Einstellungen, d.h. ein Antisemitismus, der sich tarnt als ein Antizionismus, das muss genau so abgelehnt werden. Auch ist es sehr dumm wenn Palästinenser oder Araber überhaupt diese Art Antisemitismus unterstützen, denn es ist ja der Antisemitismus, der die Juden nach Israel treibt. Eine Million Juden sind in den letzten Jahren aus der Sowjetunion nach Israel gekommen, getrieben durch den russischen Antisemitismus. Vernünftige Araber verstehen, dass der Antisemitismus genau so ein Feind der Araber ist, wie ein Feind der Juden.

Pflüger: Ja vielen Dank, ich denke das ist eine relativ wichtige Antwort für uns hier. Was wäre denn Ihrer Meinung nach eine richtige Konsequenz aus der deutschen Geschichte (sprich insbesondere aus der industriemässigen Vernichtung von Juden und Jüdinnen während des "Dritten Reiches" in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern)? Wie sollten sich Deutsche aufgrund dieser Geschichte zum Israel / Palästina-Konflikt verhalten?
Avnery: Die richtige Konsequenz ist, das Deutschland eine moralische Innen- und Aussenpolitik betreibt und eine moralische Aussenpolitik bedeutet, dass man gegenüber allen Staaten der Welt inklusive Israel die selben moralischen Maßstäbe anlegt. Wenn es Deutschen scheint, dass Israel eine falsche Politik betreibt, dann sollen sie das klar sagen und ich würde sagen, dass eine unkritische Einstellung Israel gegenüber nicht davon zeugt, dass man positiv zu Israel steht, denn wirkliche Freundschaft bedeutet, dass man auch kritisch ist und sagt, was man glaubt, daß gut für Israel ist.

Wir in der israelischen Friedensbewegung werden nicht ermutigt unseren Kampf weiter zu führen
durch eine unkritische Haltung im Ausland und auch in Deutschland. Ich glaube Deutschland sollte eine Friedenspolitik klar unterstützen auf internationalem Gebiet, auf dem europäischen Gebiet usw.

Ich möchte Ihnen ein praktisches Beispiel geben: Wir glauben, dass die Siedlungen das Haupthindernis sind zu einem Frieden. Weil die Siedlungen überhaupt aufgestellt worden sind von Beginn an, besonders von Ariel Scharon, um einen Frieden unmöglich zu machen, um das palästinensische Gebiet so zu zerschneiden, dass ein palästinensischer Staat nicht zustande kommen kann. Da wir das glauben, haben wir schon seit 5 Jahren ein Boykott hier in Israel
verhängt gegen die Erzeugnisse der Siedlungen. In Europa, in der Europäischen Union (EU), ist das registriert und aufgegriffen worden, z.B. in Brüssel bei der Europäischen Kommission. Die Europäische Union hat einen Handelsvertrag mit Israel, der Israel sehr große Vergünstigungen gewährt, der aber nur auf das israelische Hoheitsgebiet beschränkt ist. Trotzdem werden die Erzeugnisse der Siedlungen nach Europa hineingeschleust als israelische Erzeugnisse. Die Europäische Union weiss das. Es handelt sich um ungefähr 200 Millionen Dollars pro Jahr. Die Bürokratie in Brüssel weiss das, will etwas dagegen unternehmen, kann es aber nicht, weil es von gewissen europäischen Staaten, besonders von Deutschland, sabotiert wird. D.h., das muss man klar sagen, dass heute Europa, inklusive Deutschland diese illegalen Siedlungen finanziell jährlich mit 200 Millionen Dollars unterstützt. Ich finde das unerhört!

Pflüger: Ja genau. Im Jahr 2000 wurde in Israel ein Armutsbericht vorgelegt, dass große Kreise in Israel in Armut leben und dass es vor allem bei den palästinensischen Israelis und den orientalischen Juden viel Armut gibt. Der Tourismus bricht im Moment zusammen, sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten und das alltägliche Leben der Palästinenser ist ständig durch Absperrung, Einschränkung usw. durch nächtliche Bombardierung geprägt. Welche Möglichkeiten
gibt es der unter diesen Bedingungen lebenden Bevölkerung von hier aus wirksam zu helfen?

Avnery: Der palästinensischen Bevölkerung und den palästinensischen Institutionen muss täglich geholfen werden diese Situation zu überstehen, denn die palästinensische Wirtschaft, die schon durch die vielen Jahre der Besetzung zertrümmert ist, wird jetzt täglich noch mehr zertrümmert. Die Bedingungen in den besetzten Gebieten sind so unglaublich, dass man sich das überhaupt nicht vorstellen kann, wie heute ein gewöhnlicher Palästinenser lebt, in einem Dorf, das von der ganzen Welt abgeschnitten ist durch die israelischen Streitkräfte, wo jeder Handel und überhaupt jede wirtschaftliche Tätigkeit so gut wie
unmöglich ist, wo die große Mehrheit der Menschen arbeitslos ist, wo täglich geschossen wird von beiden Seiten, wo täglich Leute umkommen, täglich. Das ist ein schrecklicher Zustand und um das zu überstehen, braucht die palästinensische Bevölkerung jede mögliche Unterstützung, Lebensmittel, Medikamente und besonders Geld und so viel ich weiss kommen nur sehr sehr wenige Hilfsleistungen, es kommen Tropfen von Unterstützung an, aber das sind Tropfen im Meer.

Zu Israel: Die Armen werden ärmer und die Reichen werden reicher und die israelische Gesellschaft ist so eingerichtet, dass die Wohlhabenden meistens aus Europa stammen
und die Armen meistens aus den orientalischen Ländern stammen und die ärmste Schicht sind die arabischen Staatsbürger Israels, die eine Minderheit von 20% im Staate sind.

Pflüger: Wie bewerten Sie denn die sogenannte Vermittlung der US-Regierung im Israel-Palästina-Konflikt? Sind die USA neutraler Vermittler? Welche Rolle sollten Ihrer Ansicht nach die europäischen Regierungen und insbesondere Deutschland spielen?

Avnery: Amerikaner können überhaupt nicht wirklich vermitteln, denn sogar Präsident Clinton, der wirklich große Versuche unternommen hat zu vermitteln, ist so von jüdischen Stimmen in
Amerika abhängig und seine Frau ist mit den jüdischen Stimmen gewählt worden, es war unmöglich für ihn unparteiisch zu sein. Er hat praktisch die israelischen Einstellungen übernommen und als amerikanische Einstellung weitergegeben. Seine letzten Vorschläge, die Vorschläge die er veröffentlicht hat, kurz bevor er sein Amt verlassen musste, sind zwar bei weitem positiver als frühere amerikanische Einstellungen, aber sie sind noch weit entfernt, eine wirkliche unparteiische Vermittlung zu sein. Die neue Regierung sieht auch nicht sehr gut aus in dieser Beziehung, obwohl wir noch abwarten müssen, wie sie sich einstellen wird. Ich glaube sie hat weniger Interesse an diesem Konflikt überhaupt, sie konzentriert sich auf den Irak und versucht die arabische Koalition gegen den Irak wieder herzustellen, das könnte dazu führen, dass sie eine mehr unparteiische Einstellung haben könnte, aber offen gesagt, glaube ich nicht richtig daran. Ich bedauere, dass Europa, das eine viel wichtigere Rolle spielen könnte, schon seit langem abgedankt hat von jeder politischen Einwirkung im Nahen Osten. Im Nahen Osten, bei uns, ist Europa heute eine Mätresse Amerikas. Sie tanzt nach der amerikanischen Musik.

Pflüger: Welche Möglichkeiten gibt es denn für friedensorientierte Basisgruppen hierzulande und in Europa auf der palästinensischen und der israelischen Seite Basisgruppen zu unterstützen, praktisch von Initiativen zu Initiativen?
Avnery: Es gibt sehr viele Möglichkeiten, vor allem Friedensorganisationen auf beiden Seiten finanziell zu unterstützen, materiell zu unterstützen aber auch moralisch zu unterstützen. Man kann auch heute noch in der heutigen sehr sehr schwierigen Situation Friedensorganisationen unterstützen, in dem man in Deutschland oder in Europa überhaupt Konferenzen abhält, zu denen Israelis und Palästinenser eingeladen werden, um die Punkte zu diskutieren, die für eine erneute Friedensbemühung wichtig sind, z.B. die Flüchtlingsfrage, z.B. die Frage Jerusalems, die Frage der Siedlungen usw. Auf diesem Gebiet können europäische Institutionen vieles leisten, obwohl es in diesem Augenblick sehr sehr schwer ist, es ist in diesem Augenblick für Palästinenser sehr schwer sich mit Israelis zu treffen, weil in einem Zustand eines nationalen Freiheitskampfes solche Sachen schwer sind. Man braucht viel Mut dazu, aber es gibt viele mutige Palästinenser, es gibt auch mutige Israelis und ich glaube man könnte sehr viel tun, um diese Gruppen in Israel und Palästina moralisch und materiell zu unterstützen.

Pflüger: Gut, welche?

Avnery: Die Organisation zu der ich gehöre, Gush-Shalom, bekommt Unterstützungen aus Holland und manchen anderen Staaten, aber so gut wie keine Unterstützung aus Deutschland.
Deutschland hat alle möglichen Stiftungen, die alle möglichen offiziellen Organisationen unterstützen, aber nicht die wirklichen Friedensbewegungen. Überhaupt nicht.

Pflüger: Eine abschliessende Frage: Häufig ist ja auch das Problem des Konfliktes Israel/Palästina, dass die Leute nicht wissen, wo sie sich informieren sollen, über welche Presseorgane, wo im Internet. Was würden Sie denn empfehlen, was Menschen ausserhalb Israels über diesen Konflikt lesen sollen?

Avnery: Es ist sehr schwer in Europa wirkliche unabhängige Informationen zu bekommen. Das Bild in allen europäischen Medien - ausnahmslos
- ist geprägt von israelischer Propaganda. Wie in Israel selbst ist es äusserst schwer ein wirkliches und unabhängiges Bild zu bekommen. Wir bei Gush-Shalom haben eine Internetseite: http://www.gush-shalom.org und dort werden Sie auch die Adressen anderer Friedensorganisationen und Medien finden.

Pflüger: Gut, ich bedanke mich ganz herzlich. Ich hoffe, dass wir über "Wissenschaft und Frieden" und über die "Informationsstelle Militarisierung" etwas machen können für die Unterstützung Ihrer wichtigen Arbeit. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben und alles Gute für ihre Arbeit und die von Gush-Shalom.
Avnery: Alles Gute, Ihnen auch. Wiedersehen! Das Interview mit Uri Avnery findet sich auch auf folgenden Homepages:

Das Interview mit Uri Avnery ist leicht gekürzt erschienen in "Wissenschaft und Frieden" (W&F) Nummer 2/2001, Seite 60 - 62. "Wissenschaft & Frieden" ist die führende interdisziplinäre Wissenschaftszeitschrift für Friedensforschung,
Friedensbewegung und Friedenspolitik. Kontakt: "Wissenschaft und Frieden", Reuterstr. 44, 53113 Bonn. Hier können die Nummer 02/2001 von "Wissenschaft und Frieden" und frühere Hefte bestellt werden. Kontakt zu Tobias Pflüger über: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., Hechingerstrasse 203 72072 Tübingen. Über ihn kann auch Kontakt zu Uri Avnery hergestellt werden.

Das Interview mit Uri Avnery darf gerne nachgedruckt werden, wenn obiger Hinweis angebracht wird.
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