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Einmal egoexpress nach Freiburg und
zurück, bitte
Helmut Reinecke: Kryptogramme der Macht, Freiburg: Ça
ira, 1998
von Dirk Kretschmer
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Kryptogramme der Macht. Philosophische Attacken
heißt das Buch, das bei einer Redaktionssitzung
der farce vor mir auf dem Tisch liegt. Autor ist
ein gewisser Helmut Reinicke. Mmh, schreibt der nicht
Kinderbücher oder so? Nee, der ist Professor
für Philosophie in Flensburg, erfahre ich aus der
Kurzinfo des Freiburger Ça ira-Verlags, und
daß er schon so einiges veröffentlicht hat.
Etwa ein Hegel-Register und "Revolte im
bürgerlichen Erbe" (was immer das auch
bedeuten mag) in den 70ern oder die
"Gaunerwirtschaft" in den 80ern. Zuletzt was
zur "Sozialpathologie der Deutschen" und
"Verdammtes Mexiko". Warum verdammt? Eine
Freundin erzählt mir dann später, daß
der Reinicke nach USA geflogen ist, sich dort den
Kofferraum voller Donnerbüchsen gepackt hat und
damit die Zapatistas in Chiapas beglücken wollte.
Sah ja auch scheiße aus, die sind teilweise mit
Holzgewehren rumgerannt, als alles anfing, im Januar
1994. Hat aber nicht geklappt. In Mexiko wird sein Wagen
durchsucht. Den mexikanischen Cops ist der Gringo aus
Germany mit dem Buffalo-Bill-Bart wohl nicht ganz
geheuer. Reinicke landet im Knast. Verdammtes Mexiko?
Verdammt dämlicher Plan!
Na ja, auf jeden Fall kuck ich mir das
Inhaltsverzeichnis des Buches an, als der Klaus mich
auch schon fragt "Hast du Lust darüber
'ne Rezension zu schreiben?" Achselzucken,
was steht da denn so? "Kleine Expeditionen ins
afrikanische Bewußtsein" - klingt ja
abgefahren. Im Kapitel "Descartes'
Traum" die Frage "Philosophieren nach
Auschwitz?" - interessant. "Blut, Brunft und
Technik. Ernst Jüngers Rasse aus Stahl" - mein
Antifa-Herz schlägt höher. Und dann noch was
mit Kleist und Krieg sowie Kants "Zum ewigen
Frieden". Kann für mein Hobbythema
Antimilitarismus ja nicht schaden. Warum also nicht?
"Ich mach's", sage ich, und vor mir
steht ein verschmitzt grienender Klaus als Schaffner,
der mit der Frage "Einmal Freiburg und zurück.
ICE Knarf Rellöm?" auf meine Entscheidung
reagiert. "Nee", sag' ich,
"egoexpress", nehme den Fahrschein entgegen,
lehne mich in den Zweite-Klasse-Sitz zurück und
drehe meinen walkman von Telefunken auf. Die Fahrt
beginnt.
track one: deep dark egoexpress
Afrikanisches Bewußtsein. Was heißt das
eigentlich? Von Reinicke erfahre ich, daß es im
Deutschland der kolonialen Expansion am Ende des 19.
Jahrhunderts als Metapher aufgetaucht ist und für
die "Entdeckung des Fremden im Eigenen" steht
(7)*. Als solche steht sie erkenntnistheoretisch aber
eher für eine zappendustere Höhle, als
"dunkles, inneres Afrika" das das Fremde in
mir selbst bleibt. Synchron verläuft die
Ausbreitung dieser Höhle mit der territorialen
Globalisierung jener Zeit. "Es sind Rodungswellen
der Körper und des Bewußtseins," das
"proletarische Klassenbewußtsein" geht
dabei futsch. Da hinter steht die "reelle
Subsumtion der Menschen unters Kapital" (Marx),
schreibt Reinecke. Diese Rodungswellen gehen
offensichtlich bis in unsere Gegenwart. O.K., is'
ja immer noch Kapitalismus. Aber was sagt das schon!?
Puh, ganz schön viel Holz für die ersten
anderthalb Seiten. Ich schaue aus dem Fenster und
laß mich erst einmal in den Sound aus meinem
walkman fallen. Cool, der Michael Mayer Mix stampft ja
echt ganz gut ab. Der egoexpress bahnt sich unaufhaltsam
seinen Weg, droht aus der Schiene zu kippen, fängt
sich wieder und beginnt von neuem sich nach links, nach
rechts zu neigen, findet wieder zur straighten
Bass-Linie zurück, und...
...und was hat es jetzt mit Reinickes afrikanischem
Bewußtsein auf sich? Alles "notwendig
falsches Bewußtsein"? Aber woher weiss er
dann, daß wir alle in dieser dunklen Höhle
sitzen? Gibt es Auserwählte, denen das Richtige im
Falschen vergönnt ist, ums mal mit Teddy's
flottem 50er-Jahre-Slang zu sagen? Unwahrscheinlich. Mal
weiterlesen.
Meine Augen bleiben dann an der Stelle
"Information und Kommunikation sind Blendwerke der
gegenwärtigen Ideologiebildung" hängen
(10). Reinicke läßt sich aber scheinbar nicht
blenden. In den neuen Technologien offenbaren sich ihm
die aktuellen Rodungswellen. "Noch vor kurzer Zeit
ungeahnte Brutalitätswellen gehen in jeder Form von
Sexismus durchs Internet." (10f.) Mmh, habe ich
letztens auch im Wartezimmer von meinem Zahnarzt
gelesen. War im Spiegel oder Focus. Da
ging's vor allem um Kindesmißbrauch. Die
wußten aber nicht, daß das Kapital
dahintersteckt. Daß die Medien "die Lenden
halbwüchsiger Mädchen zum Schönheitsideal
von Frauen" machen allerdings auch nicht. Meine
Hand gleitet zur Stop-Taste des walkmans. Weiter
erklärt Reinicke, daß der Medien-Sexismus nix
mehr mit "Männerphantasien" zu tun habe,
sondern mit "gesamtgesellschaftlichen und
ökonomischen Perfidien." Das finde ich
unerträglich. "Lenden halbwüchsiger
Mädchen", das hört sich an, als wenn es
um die falsche Beschreibung von
"Rasse-Weibern" geht - that's fucking
bambification! Das scheint mir verdammt wenig mit den
Körpererfahrungen gemein zu haben, die mir einige
meiner Freundinnen mit ihrem Kampf gegen die
Selbstdiziplinierungen vermitteln konnten. Und sein Hieb
auf den von Klaus Theweleit geprägten Begriff der
Männerphantasien hört sich doch eher wie
Selbstentlastungsgequatsche an. Nach dem Alt-68er-Motto
"Das Kapital is' schuld! Damit hab' ich
als linker Mann doch nichts zu tun." Davon,
daß alle Männer natürlich Schweine sind,
halt' ich auch nichts. So einfach ist das wohl
nicht. In Anschluss an den Gedanken von Michel Foucault,
daß die Macht durch die Subjekte hindurchgeht,
ergeben sich wohl andere Möglichkeiten,
Geschlechterverhältnisse zu denken.
"Klick!" Der walkman ist wieder an. Der
wechselhafte Acid-Loop, der Live in Helsinki langsam zum
Vorschein kommt, mogelt sich bald in den Vordergrund,
beschreibt dort wechselhafte Bahnen, bricht ab, setzt
leicht disharmonisch wieder ein, um fröhlich-albern
seine vormaligen Bahnen von neuem zu variiern, und dann,
nur noch als zart wiederhallendes Moment wahrnehmbar,
beendet er den track. Erstaunlich synchron zu den
Bewegungen meiner Gedanken: "sex & gender,
performativer Sprechakt, Körperproduktion."
Keine Statements - mille-plateaux-hopping. Als ich
wieder in das aufgeschlagene Buch blicke, lese ich dort:
"Die Gewaltförmigkeit von Technik und
Kommunikation belegen die Abenddämmerung unserer
Gesellschaft. Dies ist das dunkle Afrika, das zu
entdecken wir ausreisten." Demnach bin ich wohl
sowas wie ein Kulturindustrie-Cyborg. Was soll's,
trotz der leichten Magenverstimmung, die offensichtlich
von der Überdosis Reinicke-Ökonomismus
herrührt, setze ich die Lektüre fort.
Auf den nächsten Seiten geht's weiterhin
um "die Verdunkelung des Bewußtseins."
Daß eben alles noch viel schlimmer ist, als ich es
mit meiner Vermutung, ihm ginge es um dieses
notwendig-falsches-Bewußtsein-Ding, erfahre ich.
Unser gesamtes Sein ist immer schon falsch produziert.
Kulturindustrie und die Medien sind die ideologischen
Helfershelfer des Finanzkapitals usw. und vernebeln uns
nicht nur am Arbeitsplatz sondern rund um die Uhr.
"I think I'm paranoid!" höre ich
Shirley Manson in meinem Kopf singen. Was hat der denn
für Drogen eingeworfen? Wirklich abgefahren. Das
scheint mir auch die einzig plausible Antwort zu sein,
wie der Typ darauf kommt, daß alle außer ihm
vernebelte Blödis sind.
track two: Schizo-Brothers!
Ob ich's riskieren kann, im Abteil eine zu
rauchen? Der HipHop-Typ, der, vor einer halben Stunde
zugestiegen, auch gleich eingepennt war, wird schon nix
dagegen haben. Ein erster tiefer Zug. Das
Magendrücken löst sich in eine angenehme
Ganzkörperentspannung auf. Der wirklich vernebelte
Blödi, der ich nun zu sein bereit bin, dreht den
walkman noch ein wenig auf. Uh, Schlammpeitziger Mix!
Diese Orgel, synthetisches Rumgeschwabbel,
asian-melody-line, Bruch, Unruhe, Bruch, go Orgel go...,
Bruch, wieder langsamere aber noch vertrackter
erscheinende Neuvariation, das Tempo nimmt ab, Harfe im
traumartigen Nebelsound... Wie psychedelisch der ist,
habe ich vorher noch gar nicht wahrgenommen. Ich
nehm' mir wieder das Buch vor. Und da lese ich
"Das Abenteuer ist überall, gerade wenn hier,
im abenteuerlosen Raum, eine bestimmte Zigarette
geraucht oder im Wohnblock die verwaltete Welt als
tropische Insel erlebt wird. Das Abenteuer ist da, wo
keines mehr sein darf, deshalb ist Afrika
allüberall" (13) Endlich verstehe ich, was er
meint. "No sleep til Freiburg!", schreit es
aus mir heraus. Erschrocken über mich selbst,
schaue ich nach dem Typen, der mich aus halb
geöffneten Augen zunächst verdutzt anschaut.
Ich reich' ihm den Joint. Sein verknittertes
Gesicht formt sich zu einem erwartungsfreudigen breiten
Lächeln, dem die Laute "Yo man!"
entweichen. "Was liest'n da?", fragt
mein Mitreisender nach 'ner Weile, der sich als
Tom vorgestellt hat. Ich erzähle ihm die Story des
abgespacten Cowboys, der in Dänemark auf 'ner
Ranch lebt (auch das hat mir meine Freundin
erzählt). Und das ich jetzt entdeckt habe,
daß der da adornitisch-psychedelische Schriften
verfaßt. "Klingt ja abgefahren", findet
auch Tom und setzt sich neben mich. Nach einem kleinen
Was-bisher-geschah-Bericht, biete ich ihm einen der
beiden walkman-Ohrstecker an. Wir lächeln uns an
und lesen gemeinsam weiter. Bild- und Wortreich wird das
Szenario weiter ausgemalt: "Freiwillige
Verzüchtigung", die über die
Gesundheitsideologie der
"Bewußtseinsindustrie" funktioniert und
sich in einer "Verjugendlichung" zeigt.
"Pervertierte Erfüllung", das ist z.B.
Musik hören, Bier trinken, parfümierte Kondome
benutzen, surfen im Internet oder Parties feiern. Mit
charmant gespielter Empörung wirft Tom ein,
"So einer bist du also, verführt mich hier mit
pervertierter Erfüllung. Willste 'n
Bier?" Zosch, und weiter geht's mit der
Erklärung, warum wir uns so umstandslos pervertiert
verführen können. Der "Sinn des
Lebens", manipuliert verordnet zur Ware geworden,
kann je nach Kleingeld eingesackt werden. Ergebnis:
"Pervertierung unkenntlich". Widerstand ist
zwecklos. Das sollen "die Kampagnen der
Deschizophrenisierung", etwa vom Sozialistischen
Patientenkollektiv (SPK) in den Siebzigern, gezeigt
haben. Deren "Zurschaustellung von
Beschädigungen" hätten es
bewußtseinspolitisch nicht so gebracht. Immerhin
"offenbaren sich Züge des Grauens, die der
gesellschaftlichen Totalität immanent sind."
Mit einem "Oh shit" befördere ich das
Buch auf den Boden des Abteils. Vielleicht hätte
ich beim kiffen bleiben sollen? Egal. "Der hat doch
'n Knall. Der pathologisiert das SPK doch selber,
dieser blöde Wahrheitsapostel."
"Stimmt", antwortet Tom. "Bei der
Antipsychiatrie gings wohl eher um die Sichtbarmachung
abweichender Lebensweisen, sein Schizo-Sein aus dem
inneren Gefängnis zu befreien, zu leben eben. Hey,
das ist doch...äh? Mach' mal lauter."
Die Scratches von DJ Kotze fahren uns erst durch den
Oberkörper. Dann die fetten Beats. Shake your
hipps. Und diese acid-mäßige Soundlinie. Die
Arme fliegen durch die Luft. "Mh, ähm. Haben
sie Telefunken? ... Telefunken ... Te-Telefunken"
Das ist MC Hanayo. Der Sound hebt völlig ab und wir
auch. Bald wird das Abteil zu klein für unser
wirres Rumgezucke. Ab geht's durch den Gang. Der
Schlauch verpaßt unseren Bewegungen einen
straighten Vorwärtsdrall. Da uns zudem die kurzen
Kabel des Kopfhörers eine gewisse
Körpernähe nahelegen, kommt das ganze wohl
ziemlich Blues-Brothers-like rüber. Kurz vor dem
Wagonende kommt uns so 'n griesgrämiger
Armanianzug, Modell Fischer, entgegen. "Ihr werdet
wohl nie erwachsen." Schlängelt sich mit
markantem Blick auf den Boden der Tatsachen an uns
vorbei und hastet in Richtung erste Klasse weiter.
"So ist es nicht, mein Herr", quakt es mit
shakespearhaftem Ernst aus mir heraus, und Tom
ergänzt nicht minder theatralisch, "Es
offenbaren sich hier Züge des Grauens, die der
gesellschaftlichen Totalität immanent sind."
Ich korrigiere: Schizo-Brothers!
track three: join kanak attak!
Zurück im Abteil begrüßt uns eine
Frau in 'nem originellen Techno-Look. "Hi
Jungs, nennt mich Boh." Es folgt der übliche
smalltak. Wie man heißt, wo man gerade
hinfährt und so. "Was geht ab? Ihr habt da ja
gerade 'ne schräge Show abgezogen, mit
'Totalität des Grauens' oder irgentwie
sowas. Seid ihr auf Pilze?" Tom und ich schildern
ihr, daß es eher um ein intellektuelles Problem
geht. Was Reinicke mit seinem afrikanischen
Bewußtsein eigentlich aussagen will; sein Zugang
zum Thema Geschlechterverhältnisse recht antquiert
ist; ebenso das Ding mit der Kulturindustrie als reiner
Brutalitätszusammenhang. "Dreht es sich um das
hier?" Boh greift sich den immer noch am Boden
liegenden Ça ira-Band, der doch sichtlich von der
kleinen Session in Mitleidenschaft gezogen worden ist
und beginnt darin zu blättern. "Ah ja, ich
verstehe was ihr meint. Hier ist eine Stelle, an der die
soziale Funktion von Musik 'in der fernen
Barbarei' verhandelt wird, gewissermaßen als
anthropologische Konstante. Es geht um Ein- und
Ausschlüsse und, haltet euch fest, der Beleg
dafür ist echt der Hammer!" Sie erläutert
uns weiter, daß Reinicke einen hessischen
Söldner, der im 16. Jahrhundert "in Brasilien
sein Wesen trieb", als authentische Quelle
heranzieht. Der Söldner wird von Kannibalen
gefangengenommen, was dieser folgendermaßen
schildert: "Es fanden sich die Frauen aus allen
sieben Hütten ein und ergriffen mich, während
die Männer weggingen. Die Frauen zerrten mich dabei
- einige an den Armen, einige an den Strikken, die ich
um den Hals hatte - so hart, daß ich kaum atmen
konnte. ... Sie bildeten einen Kreis um mich, und zwei
Frauen banden Rasseln an ein Bein und einen Fächer
aus Volgelfedern hinten auf den Hals, so daß er
mir über den Kopf ging... Nun stimmten alle einen
Gesang an, und ich mußte im Takt stampfen, so
daß das Rasseln mit dem Gesang
zusammenstimmte." (29) "Wenn das keine
Männerphantasie von der verschlingenden Frau
ist...", werfe ich ein. "So etwas kennt dieser
Reinicke wohl nicht", stellt Boh fest, "der
lebt sie wahrscheinlich. Gleichzeitig verstärkt
sich auch der rassistisch-koloniale Blick, von wegen
'dunkles Afrika'." Inzwischen hat Tom
mit dem Querlesen weitergemacht. "Ich hab'
hier noch was zur Kulturindustrie gefunden." Das
ist das Stichwort. Boh kramt 'nen kleinen Casi aus
ihrer Reisetasche, sieht stark nach Achtziger aus das
Teil, und befördert mit freundlich-fragender Geste
das Tape aus dem walkman in den Recorder. Ich
lach' mich schlapp, der ist ja von Telefunken.
Nachdem wir smoke-technisch noch mal nachgelegt haben,
im Hintergrund stampft der egoexpress mit der
LP-version, und es uns bequem gemacht haben, legt Tom
los. "Mmh, ist gar nicht so einfach zusammzufassen.
Es geht hier um die 'Schwerhörigkeit'
in Adornos Theorie über den Jazz. Die besteht nach
Reinicke darin, daß die Genealogie von Musik
'völlig im geltenden Warencharakter'
aufginge und Adorno so das Nicht-Identische, das
Subversive in der Musik vernachlässigt. Er lasse
als 'Exilant ... andere Weisen' nicht an
sich ran." Das läßt mich aufhören,
erst recht als Tom zitierend fortfährt: "Auch
kann nur der bürgerliche Ästhet davon
träumen, daß die Gesellschaft derart
verblendet sei, wie er immer kritisiert." (43)
"Der sollte sich selbst mal reden hören",
denke ich laut. "Jedenfalls", fährt Tom
fort, "hat der das mit dem Subversivem anscheinend
von Marcuse. Und jetzt kommt's, the
real-frankfurt-psychedelic-school." Andere sagen
dazu wohl Dialektik. "Die läßt sich hier
als einen Prozeß herauslesen, in dem das
Subversive selbst Bestandteil der
'herrschaftlichen Komponente der Musik' ist.
Das Nicht-Identische werde 'durch den
Überhang der Musikform als
Wiedererkennungmelodie' ausgetrieben. Das Ganze
ist also in Bewegung und verbleibt trotzdem im
'Kontinuum der Geschichte'. Und das bedeute
in der Kulturindustrie: 'Das Kommando wird
freiwillig befolgt.'" Nach dem Input-Overkill
kehrt erst mal schweigen ein. Moh ist es, die dann als
erste die grübelnde Stille durchbricht. "So im
Allgemeinen mag das ja alles so stimmen, aber ist das
nicht einfach zu hermetisch gedacht?" Tom und ich
nicken ihr zustimmend zu. "In diesem Prozeß
finden doch auch gesellschaftliche Kämpfe
statt", setze ich an, "und man kann doch wohl
zwischen verschiedenen Praktiken und Rezeptionsweisen
unterscheiden." Ein wenig skeptisch dreinschauend
meint Tom, "Vielleicht sollte man die subversive
wie auch die herrschaftliche Seite von Popkultur zur
Erklärung der Welt nicht
überstrapazieren." "Si, die große
Illussion von Subkultur als das kleine gallische
Dörfchen, das dem Kulturimperium trotzig die Stirn
bietet, können wir spätestens seit Nirvana
vergessen", führt Moh weiter aus. "Selbst
die kleinen Labels mit den coolsten DJanes sind ja heute
ökonomisch von den großen Labels
abhängig. Aber die Vorstellung von
Indie-Subversion, die über so `ne
Das-ist-unsere-Band-Identifikation läuft, finde ich
sowieso öde." "Correct! Ich denke,
Subversion muß ständig neu erfunden werden.
Wenn so 'n DJ den Sprung zu `nem Major schafft,
schön für ihn. Wenn er auf 'm Teppich
bleibt und trotzdem noch coole Sounds hinkriegt, auch
gut. In die schweineteuren Läden werde ich ihm dann
trotzdem nicht folgen. Dann gibt `s eben in den
kleineren Clubs wieder Raum für was neues..."
Tom schüttelt Moh und mir in übertrieben
förmlicher Pose die Hand. "Welcome to the
later nineties. Mrs. Adorno and Mr. Marcuse." Wir
brechen in ein wildes Lachen aus, das nicht mehr enden
will. Die trancig-monotonen Beats im Christian
Morgenstern Mix sind unsere Rettung. Sie fahren uns als
rythmisches Achselzucken in die Körper. Dazu weit
aufgerissene Augen - ernste Minen, die sich mit
Grinsefratzen abwechseln. Na, wer schafft 's am
längsten...? Noch ein wenig ausser Atem, wirft Tom
ein "Äh, dazu fällt mir ein, daß
ich euch noch gar nicht gesagt habe, was ich in
Frankfurt vorhabe. Passt ganz gut zum Thema." Er
kramt so 'n Wisch aus seinem Rucksack auf dem fett
"KANAK ATTAK UND BASTA!" draufsteht. "Das
is` so `n Zusammenschluß von Leuten, die kein Bock
mehr auf diese rassisitischen Zuschreibungen haben. Auch
nich' auf dieses liberale Gequatsche von
'Mein Freund ist Ausländer' und so. Ja
und in Frankfurt gibt 's heute fette Beats auf die
Ohren und dazu soll 's so videotechnisch noch
einen auf die Augen geben. Das wird ziemlich cool!"
"Da möchte ich mich doch noch mal als Mrs.
Adorno zu Wort melden", räuspert sich Moh
grinsend. "Das wird die Kulturindustrie unter der
Kategorie young wild turks ganz schnell aufsaugen. Dann
hat Viva auch mal was ganz ghetto-mässiges made in
germany." "Das ist aber nicht zwingend
so", höre ich mich sagen. "Wenn die die
kulturellen Dinger ordentlich mit Politik mixen, wird
's für die Medienfutzies gar nicht so
einfach. Und wenn dieser Mix trotz seiner politischen
Aussagen immer noch groovy bleibt, warum sollte das
nicht auf Viva gezeigt werden. Schön im autonomen
oder Ausländer-Zentrum bleiben, das wäre
Ghetto!" "Was ist Leute? Gleich sind wir in
Frankfurt. Pennplätze sind kein Problem. Kanak
Attak?" "Kanak Attak!!" Wir
beschließen also Reinicke Reinicke und Freiburg
Freiburg sein zu lassen, und uns allen möglichen
Erfüllungen hinzugeben. Pervertierte, versteht
sich.
"Hey Dirk, wohin so eilig. Wir haben doch noch
gar nicht geklärt, wie wir zur Kanak-Veranstaltung
kommen." Diese Stimme kenn' ich doch... Das
ist die Lu! Ich befinde mich also wieder in der
Face-to-face-Sitzung der Farce. "Ach, Klaus.
Für die Rezension vom Reinicke-Buch hätte ich
schon so 'ne Idee..."
*Alle Seitenangaben beziehen sich auf Reineckes
Buch |
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