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Schluss mit dem jüngsten
Gericht
(frz. im Orig: Pour en finir avec le jugement de
dieu*)
von von Franco "Bifo"
Berardi
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Wohin - wann?
Die Bewegung von `77 war im wesentlichen ein
Prozeß der Kritik der bestehenden Politik zu
Gunsten einer Politik des alltäglichen Lebens. Es
ist das Terrain des alltäglichen Lebens, der Arbeit
und der Kommunikation, auf dem der Kampf zwischen
Herrschaft und Befreiung sich abspielt. Es ist das
Terrain des unendlich kleinen, der neurophysischen,
psychochemischen, informatischen und biotechnologischen
Mikromutationen, auf dem das Schicksal des unendlich
Großen, des unendlich Komplexen, des
Global-Lokalen sich entscheidet.
Und wo ist der Ort, an dem dieser Prozeß der
Veränderung sich organisiert, von wo er
bewußt gesteuert wird? Diesen Ort gibt es nicht:
es ist nicht die Politik und es wird nie wieder die
Politik sein. Dieser Ort muß sich entwickeln im
Inneren des Prozesses der mentalen Arbeit, im Inneren
der Prozesse der informatischen Programmierung, im
Inneren des Systems der medialen Vermittlung.
In Italien waren die Centri Sociali eine optimale
Gelegenheit, Bedingungen für eine bewußte
Veränderung in diesen Bereichen zu schaffen. Leider
aber ist es ihnen im Moment nicht gelungen, Kerne einer
eigenen Produktion zu werden, die sich der
Außenwelt, dem Markt, dem gesellschaftlichen
Imaginären zuwendet. Aber es ist dort, an den
Punkt, an dem kreative Intelligenz sich verschmilzt, um
kollektiv die Bedingungen für eine bewußte
Veränderung zu schaffen, wohin mensch wird
zurückkehren müssen, wohin mensch
zurückkehrt. Es ist dort, wo wir ohne Nostalgie,
ohne Lobreden, die Erbschaft von `77 wiederfinden,
hundertfach verstreut aber niemals verschwendet.
Der lange Übergang
In A/traverso veröffentlichte Texte vom Herbst
1975 bzw. vom Spätfrühling 1977 weisen auf
vier Punkte hin, die uns dazu dienen, den Weitblick der
Bewegung zu klären, die Gründe für ihre
Niederlage und ihre Aktualität. Wenn ich
Aktualität sage, will ich keineswegs von
politischer Aktualität sprechen. Die Bewegung von
`77 hat keine politische Aktualität, sie hat denen,
die heute Politik machen, nichts zu sagen: wer heute
Politik macht, täuscht im Allgemeinen vor, sich mit
der Zukunft der Welt zu beschäftigen und
beschäftigt sich dagegen nur mit den eigenen
nutzlosen Kastenprivilegien oder mit nostalgischer
Konservierung von toten Worten, Perspektiven und
Ritualen. Wenn ich von der Aktualität von `77
spreche, meine ich die Fähigkeit zur
antipolitischen und postpolitischen Weissagung, die dem
Ereignis `77 innewohnt und der Theorienbildung, die ihm
vorausging, es begleitete und ihm folgte. Kommen wir zu
den vier Punkten.
1) Die Zurückweisung der Arbeit und die
potentielle emanzipatorische Funktion der Technologien
bilden den Hintergrund der Reflexion, die die Explosion
der Bewegung vorbereitet. `77 war die Bewegung der
Unvernünftigkeit, das ist wahr. Viva! Sie war die
Bewegung der Unvernünftigkeit, weil wir uns in
keiner Weise verantwortlich fühlten für die
katastrophalen Wirkungen, die die Hegemonie der
Ökonomie im Leben produziert hatte, in der
Organisation der Gesellschaft und in der Struktur der
Technologie. Wir waren genausowenig verantwortlich wie
wir das heute sind. Verlangt nicht von uns,
ökonomische Sachzwänge anzuerkennen. Wir
glauben nicht an Sachzwänge und wir werden niemals
daran glauben, weil wir nicht glauben, daß die
Ökonomie ein Naturereignis ist. Als wir die
Marxschen Grundrisse wieder lasen, sagten wir: Das in
der Verbindung von Technologie und Produktion enthaltene
Potential führt zur Befreiung von der Arbeit. Aber
damit dies möglich wird, muß die
Leistungsfähigkeit der Technologien von der
Vorherrschaft der kapitalistischen Ökonomie befreit
werden. Allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit,
Umverteilung der von der Arbeit befreiten Lebenszeit,
Umverteilung des von der vergangenen Arbeit produzierten
gesellschaftlichen Reichtums: Das war die Essenz des
sozialen Programms der Bewegung. Sie bombardierten uns
mit allen Waffen, die ihnen zur Verfügung standen.
Die Räuber von der Democrazia Cristiana
bombardierten uns und die Stalinisten des Partito
communista. Die Ökonomen und Industriellen
bombardierten uns, die Intellektuellen, die heute
berlusconische Ärsche lecken, aber damals in den
Reihen der stalinistischen Partei kämpften.
2) Jene Bewegung fügte sich ein in die
Geschichte der proletarischen Kämpfe gegen den real
existierenden Sozialismus, den Kampf der Intellektuellen
gegen die Bürokratie und den Autoritarismus der
Linken, ganz gleich ob sie nun leninistisch oder
sozialdemokratisch war. Panzerwagen auf der Piazza Verdi
(Bologna). Wie in Berlin `53, Budapest `56, wie in Prag
`68, wie in Danzig `76. Panzerwagen und Marginalisierung
für all die, die sich weigerten, sich in die Partei
des obligatorischen Konsenses einzuschreiben. Die
Bewegung von `77 (ich spreche vor allem über die
Bewegung in Bologna, aber so war die mehrheitliche
Neigung (vocazione) in allen anderen Städten) war
die bewußte Revolte gegen den Sozialismus, gegen
den National-Kommunismus, der in Italien seine
Verkörperung im Berlinguerismus findet, aber auch
im Wiederauftauchen der Spätleninismen. Auf diesem
Gebiet errang die Bewegung von `77 einen substantiellen
Sieg. Nach dem März von Bologna hatte der
historische Kompromiß jegliche politische Maske
verloren. Er ist das geworden, was er in seinem
Innersten war: eine andreottinisch-breshnevianische
Militärdiktatur. Die Entführung von Aldo Moro
1978 war eine Aktion, die sich bewußt gegen die
Bewegung richtete, um sie zu zerstören und die
sterblichen Überreste zu annektieren. Im Gegensatz
zu dem, was gewöhnlich gesagt wird, war diese
Entführung überhaupt kein Todesstoß
gegen den historischen Kompromiß, der schon am
Ende war, weil ihm die Bewegung des März den Garaus
gemacht hatte. Sie war, im Gegenteil, eine posthume
Heiligsprechung des historischen Kompromisses, sie war
eher ein Mund voll Sauerstoff für die politische
Klasse der Christdemokraten und Parteikommunisten, die
durch die Bewegung demaskiert worden waren.
3) Die Bewegung erkannte sehr bald den Ausverkauf der
politischen Sphäre. Der Prozeß der
Umgestaltung des Alltagslebens, der Prozeß der
Transformation der Beziehung zwischen Technik und Arbeit
durchdrang nicht mehr die Politik und wurde nicht mehr
von ihr durchdrungen, von einer Politik, die
Ausübung des Willens, Kunst der Vermittlung und der
Regierung ist. Es gibt keinen Willen mehr, es gibt keine
Vermittlung mehr, es gibt keine Regierung mehr.
Abtrennung der Formen des selbstbestimmten Lebens von
der Herrschaft der Ökonomie, Abspaltung nomadischer
Kolonien, experimentelle Formen der Produktion, in denen
Technologie und Kreativität die Ökonomie und
die repetitive Disziplin der Arbeit ersetzten: Dies war
die Straße, auf der die Bewegung unterwegs war.
Aber der Zwang zur Wiederholung wirkte auch in der
Bewegung; die organisierte Autonomie funktionierte wie
das Element der Reproduktion eines Verhaltensmodells,
das auf Opposition basiert, das heißt,
unfähig ist, in einem authentischen Sinne
"Autonomie" zu sein.
4) Die `77er Bewegung ist nicht nur das, was in
Bologna und Rom, was in Italien geschah. Die `77er
Bewegung ist auch das, was in London geschah in
denselben Tagen und Monaten: Der Punk, das verzweifelte
Bewußtsein, daß es keine Alternative zur
vereinigten Diktatur von Technik und Ökonomie gab.
Von dem Moment an, an dem die Technologie (deren
emanzipatorische Potentiale die Bewegung geahnt und
verherrlicht hatte) von der Ökonomie - ihrer
Technik der Verdinglichung und ihrer Ersetzung des
Lebens durch Wert - gefangengenommen und unterworfen
wurde, erschien das Menschliche reduziert auf einen
kleinen Rest und ging zunehmend verloren. Vom Ende her
gesehen, erscheint die `77er Bewegung im Wesentlichen
so: klares Verständnis (hört hört, d.
Ü.) des Versiegens der Moderne, klares
Verständnis der Tatsache, daß der
Kapitalismus - System der Zerstörung des
Menschlichen, des Aufsaugens und Pervertierens der
Intelligenz und der Kreativität - keine Alternative
mehr hat. Es begann also die Durchquerung einer
Wüste, die bis zum heutigen Tag nicht zu Ende ist.
Es begann der lange Marsch durch die
Unmenschlichkeit.
*Settantasette. La rivoluzione che viene. Roma
(1997): Castelvecchi, Seite
161-170.
Übersetzung: Matthias Brieger und Heike
Herzog
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