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"Richtige Informationen sind für uns unerläßliche
Produktionsmittel und schlagkräftige Waffen im Klassenkampf!"
(Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, 1973)
Von den Kalifornischen Ideologen zu den bundesdeutschen Liberaldemokraten:
Das Netz dient weiter als Projektionsfläche für
Demokratietheorien jeglicher Provienz. Während Altautonome sich in
hilflose Kritik flüchten und behaupten, Computerfreaks
unterlägen allesamt dem Trugschluß, sie würden die
Verhältnisse auf den Kopf stellen (l.u.p.u.s. 1998: 122), so stehen
die liberalen Verfechter der elektronischen Kommunikation fest auf dem
Boden der demokratischen Grundordnung und wollen den besseren Staat machen.
Alle eint, daß ihnen die technischen Möglichkeiten
computerunterstützter Kommunikation Anlaß geben, über
Fragen des politischen Handelns und der Demokratietheorie neu zu
verhandeln beziehungsweise altbekanntes neu zu formulieren. Diese
Diskussionen über Medien, seien es die neuen,
computerunterstützten oder die altbekannten Massenmedien zeichnet
indes seit jeher eine eigentümliche Verknüpfung: die zwischen
eben diesen technischen Möglichkeiten, die Medien zur Verbreitung von
Information und Meinung bieten, und den vermeintlichen Auswirkungen,
welche diese Möglichkeiten auf die Verfasstheit der Gesellschaft
haben.
Eine dieser Möglichkeiten ist dabei zu einem Paradigma erhoben
worden: die Interaktivität. Von den Auseinandersetzungen mit den
klassischen Massenmedien bis hin zu den Konzepten elektronischer
Demokratie steht die Möglichkeit, senden und empfangen zu können
als Chiffre für wahrhaft demokratische Verhältnisse. Medien- und
Kommunikationstheorien verweisen, folgt man dieser Verknüpfung,
demnach direkt auf demokratietheoretische Fragestellungen. Anders gesagt:
Jede Medientheorie ist auch auf ihre demokratietheoretischen Grundlagen zu
untersuchen. Über dieses Verhältnis von Medien, Kommunikation
und Demokratie spricht dieser Text. Er will in Frage stellen, daß
Medientechniken wie etwa Interaktivität 'an sich' und
zwangläufig in einer spezifischen Art und Weise gesellschaftliche
Verhältnisse beeinflussen.
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Martin Hagens Überblick
über die bundesrepublikanische Diskussion über die
Demokratisierungspotentiale Neuer Medien folgend, besteht die
Gemeinsamkeit aller Konzepte von elektronischer Demokratie in dem Wunsch
nach "Revitalisierung öffentlicher politischer
Diskussionen" (Hagen 1997: 88). Neue Medien, so die generelle
Einschätzung, seien wegen der Bereitstellung von interaktiven, raum-
und zeitübergreifenden Kommunikationsmöglichkeiten potentiell in
der Lage, demokratische Prozesse zu unterstützen. Anhand zweier
Exponenten dieser Diskussion lassen sich zentrale Argumentationen
aufzeigen.
Rainer Rilling, Gründer der Initiative "Informationsgesellschaft
- Medien - Demokratie", dem Neue Medien-Forum des Marburger Bundes
demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, konfrontiert
diese potentiellen Möglichkeiten der Computernetze zunächst mit
empirischen Beobachtungen über die faktische Nutzung und kommt dabei
zu dem Schluß, daß das Netz nicht zuletzt wegen der begrenzten
Reichweite des Projektes einer computervermittelten Demokratisierung
unpolitisch sei. Er spricht von drei hegemonial vorherrschenden Arten der
Nutzung: Propaganda und Werbung im althergebrachten Sinn, Bestrebungen der
Rationalisierung politischer Prozesse und mit einem wesentlich geringeren
Stellenwert die gesellschaftliche Organisation von Politik im Netz. Als
Akteure benennt er "Frohsinnsprovider" (Rilling 1996: 6),
welche eine "Kommerzialisierung der Politik" (ebd.) betreiben,
"politische Unternehmer" (ebd.), die ihre Macht aus dem 'real
life' in das Netz übertragen und zuguterletzt den
"Aktivbürger" (ebd.), dem ein Nischendasein eingeräumt
werde. In der Entwicklung der Computernetze sieht Rilling kommunikative
Elemente wie Newsgroups und Mailinglisten gegenüber dem World Wide
Web mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Aufgrund einer
"extrem differenzierten und hochprofessionalisierten technischen
Kultur" (ebd.: 8f) werde es selbst zu einem undemokratischen Medium ,
da
einer potentiell demokratischen Rezeption eine rehierarchisierte
Produktionsweise gegenüberstehe.
Claus Leggewie, Gießener Politikprofessor mit Lehrverpflichtung in
New York und Vorzeigewissenschaftler der "Burda Akademie zum dritten
Jahrtausend", einem industrienahen Münchner Think Tank
orientiert sich in seiner Beschäftigung mit den 'Netizens' und ihrem
Medium an der Demokratieverträglichkeit des Mediums selbst und
konstatiert zunächst zwei widersprüchliche Entwicklungen: Dem
am politischen Betrieb desinteressierten Durchschnittsbürger stehe
ein wachsendes Potential alltagsdemokratischer Mitbestimmung
gegenüber. Dieses Auseinanderklaffen sei unter anderem dadurch
verursacht, daß sich die Alltagskommunikation mehr und mehr von
lebensweltlicher Erfahrung und Interaktion entfernt habe. Als Orientierung
definiert er einen Idealtypus des demokratischen Prozesses: "Eine
Höchstzahl von Bürgern informiert sich über alle relevanten
öffentlichen Angelegenheiten, wägt sie in rational
strukturierter Meinungs- und Willensbildung ab, wählt unter einer
ausreichenden Zahl von Alternativen politische Eliten aus, die in
repräsentativen Organen (Parlamenten) entscheiden und dabei durch
direkte Abstimmungen unterstützt werden. Zu diesem Prozeß
gehört die Chance zur Revision einmal getroffener Entscheidungen und
auch die periodische Meta-Reflexion über Funktionstüchtigkeit
und Legitimationsbasis des politischen Körpers." (Leggewie 1996:
5) Dieser Idealtypus sei durch die Aufhebung der Identität von
Herrschaftsobjekten und -subjekten und dem Zerfall eines gemeinsamen
kulturellen Fundaments bedroht. Die demokratietheoretischen Forderungen,
die sich für Leggewie aus dem konstatierten Zustand der Demokratie
und den technischen Möglichkeiten der Neuen Medien ergeben, beziehen
sich vor allem auf den Umgang mit Informationen: Meinungsfreiheit,
Pressefreiheit, Schutz vor Pressekonzentration, informationelle
Selbstbestimmung. Datenschutz, ungehinderter Zugang zu staatlichen
Informationsquellen und eine gesicherte informationelle Grundversorgung
seien die Garanten für potentielle positive Auswirkungen des
Internets auf die Demokratie. Nur wenn die informationelle Grundversorgung
gesichert sei, eine bürgernahe Verwaltung bestehe und Medienkompetenz
vermittelt werde, könne das liberalisierende Potential des Internets
überhaupt ausgeschöpft werden. Kurzum, für Leggewie steht
das Internet für die Ablösung des Fernsehens als Medium der
"Zuschauerdemokratie" (Leggewie 1996: 2) zugunsten einer
'Beteiligungsdemokratie', in der die alten demokratischen Formen der
Kommunikation, Diskussion und Publikation wiederbelebt würden.
Der Status Quo: Demokratie am Ende?
Auffallend an den Beiträgen ist zunächst der durchweg positive
Bezug auf Öffentlichkeit als zentrale Institution von
Demokratisierungsprozessen. Öffentlichkeit wird gemäß
ihrer normativen Grundlagen als Institution der bürgerlichen
Gesellschaft angesehen, die sich ihrem Anspruch nach niemals
abschließt und dem Staat als Ort der Entscheidungsfindung
vorgelagert ist. Dieser Blickwinkel ist geprägt durch eine Logik der
Demokratisierung, innerhalb derer Kommunikation wiederum das
Schlüsselwort ist. Zivilgesellschaft, ein Begriff, dessen empirische
Evidenz nicht erst mit den rassistischen Übergriffen im Zuge der
deutsch-deutschen Vereinigung schwand, erlebt in der Netzdebatte eine Art
Renaissance. Die rund um 1989 in breiten Kreisen vollzogene Abkehr von
Kapitalismuskritik steht in ihrem Kern für einen Rückzug auf
liberaldemokratische idealtypische Modelle, die mit den realen
Entwicklungen im höchst widersprüchlichen Zusammenhang von
Kapitalismus und Demokratie nicht mehr abgeglichen werden. Wenn etwa
Leggewie von einem konstatierten Mißverhältnis zwischen
politikverdrossenen Bürgern und den durch die
"Beteiligungsrevolution" (Leggewie 1996: 1) um 1968 entstandenen
Mitsprachemöglichkeiten spricht, so reduziert er den Topos
"68" auf einen Zivilisierungsakt der 50er Jahre-BRD. Dabei steht
gerade die um 1968 erstarkende Neue Linke für die Thematisierung der
ideologischen Funktion dieses liberaldemokratischen Anspruches der
potentiellen Beteiligung aller und der Realität von Demokratie als
ein Herrschaftsmechanismus der bürgerlichen Gesellschaft.
Unter den liberaldemokratischen Voraussetzungen der Debatte, dem Ausgehen
von freien und gleichen Bürgern, die rational aufgrund der ihnen
vorliegenden Informationen über gesellschaftliche Fragestellungen
entscheiden, erscheint der Schluß verständlich, daß eine
Repräsentationskrise dieses Modell in Frage stellen würde.
Rainer Rilling beschreibt das Modell der Repräsentation als zentrale
Errungenschaft moderner Demokratie: "Die zentrale politische
Innovation des 19. und 20. Jahrhunderts war die Massenorganisation der
Arbeiterbewegung - Partei und Gewerkschaft - als Nomenklatur oder
Repräsentanz der neuen Klasse [...]. Diese politische
Repräsentanz basierte auf Gruppenidentität, auf deren
Erfahrungshintergrund individuelle Entscheidungen getroffen wurden und
Wahl, Mandat, Delegation Bedeutung hatten. Diese alte Kohärenz
zerbricht. Das Resultat ist die Krise der politischen Repräsentanz,
als deren Element Politikverdrossenheit, Gleichgültigkeit und
Delegitimation einzelner politischer Mehrheitsentscheidungen oder dieses
Verfahrens selbst gelten können - Stichwort 'Demokratieversagen'."
(Rilling 1996: 15) Repräsentation wird somit nicht in ihrer
doppelten Funktion als Grundlage von Demokratie im Sinne der Emanzipation
der Individuen und als Herrschaftsinstrument im Sinne der Bildung von
Zwangskollektivitäten wie Klasse, Geschlecht und Ethnie gesehen.
Identitätslogik und die damit verbundenen Ausschlüsse werden
stattdessen im Sinne einer klassischen Demokratietheorie als
veränderbare Praxen einer Öffentlichkeit angesehen, die ihrem
Ideal nach alle Ausgeschlossenen früher oder später in ihre
zivilgesellschaftlichen Konfliktregelungsmechanismen mit einbezieht. Dem
entgegen steht eine Kritik an Repräsentation, die genau diese Art
der Öffentlichkeitsbildung durch Stellvertreter, die für eine
bestimmte Gruppe sprechen sollen, als herrschaftlichen Akt kritisiert.
Diese Kritik beschreibt Repräsentation nicht als ein einfaches
Verhältnis, sondern als ein Regime: Repräsentation ist nicht
ein neutrales Vermittlungsstück, daß dem Pluralismus der
Gesellschaft zum Ausdruck verhilft, sondern übt vielmehr die
Funktion eines Filters aus, der über Einschluß und Ausgrenzung
gesellschaftlicher Gruppen entscheidet. Das was aus ersterer Perspektive
als eine im Demokratie-stabilisierenden Sinn zu behebende Krise der
Demokratie erscheint, ist in der hier präferierten Sichtweise eine
Krise, die es erlaubt, das System der Repräsentation vielleicht nicht
zu überwinden, aber dennoch radikal zu kritisieren.
(Vgl. Bojadzijev 1997; Hall 1994)
Helfer in demokratietheoretischer Not: Neue Medien als Instrument kritischer Gegenöffentlichkeit?
Werden in der Diskussion zwar zahlreiche Kritikpunkte an der
Cyberspace-Euphorie benannt, so erscheint das Netz dennoch als eine
mögliche Welt, in der genau das wieder aufgebaut werden könnte,
was in der 'real life'-Demokratie gescheitert ist: eine
liberaldemokratische frühbürgerliche Öffentlichkeit. Im
Netz, das alle Möglichkeiten der vielfältigen, differenzierten
und bequemen Meinungsäußerung bietet, soll eine neue alte Form
der Versammlungsöffentlichkeit entstehen. Die 'Virtual City'
erwächst aus einer Verbindung von postmoderner Technikeuphorie und
moderner Faszination des Urbanen und erinnert schon allein in ihrem
Rückgriff auf Metaphern des Städtischen eher an
klassisch-bürgerliche Demokratien, als daß das Idealbild der
Versammlungsöffentlichkeit, das einer von Medien gesteuerten
Öffentlichkeit entgegengestellt wird, neue Wege aufweisen würde.
(Vgl. Roller/Schönberger 1998)
Diesem Verständnis von Demokratie gilt es, einen anderen Blick auf
die zentralen Institutionen der Demokratie entgegenzustellen:
Öffentlichkeit ist keine der Macht äußerliche Sphäre
sondern ein durch Hierarchisierungen gekennzeichneter und umkämpfter
Raum. Das emanzipatorische Potential des Begriffes Öffentlichkeit ist
wesentlich geringer, als insbesondere in der Diskussion um elektronische
Demokratie angenommen. Öffentlichkeit ist nicht etwa das Gegenteil,
sondern fester Bestandteil von Macht in mehrfacher Weise. Die Struktur des
öffentlichen Raumes besteht in einem kämpferischen
Verhältnis miteinander in Konflikt um die Grenzziehungen des
Öffentlichen stehenden differenzierten Öffentlichkeiten. Es
kann demnach auch keine allgemeinverbindliche Demokratie- und
Öffentlichkeitstheorie geben, sondern lediglich widerstreitende
Definitionsversuche, eine "Sorge um Demokratie" (Demirovic
1994: 46), die sich in genau diesem Rahmen bewegt. (Vgl. Demirovic 1994
und 1997)
Zivilgesellschaft als die klassische Sphäre der Öffentlichkeit
ist zum einen privat, da nicht direkt dem Staat unterstellt aber auf der
anderen Seite, als dem Staat vorgelagerte Sphäre der politischen
Meinungsbildung öffentlich. Staat als Gewaltverhältnis und
Zivilgesellschaft als Sphäre der Demokratie erscheinen somit nicht
mehr als abstrakte Gegensätze, sondern als sich wechselseitig
bedingende Einheit. Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit als die
Orte der Demokratie sind beides: Garant bestehender
Herrschaftsverhältnisse und Möglichkeit der Emanzipation.
Herrschaft in der Demokratie wird nicht in erster Linie durch Repression,
sondern durch Hegemonie innerhalb der zivilgesellschaftlichen Sphäre
ausgeübt: "Hegemonie wird nicht allein in der
Öffentlichkeit und um die Grenzen der Öffentlichkeit
praktiziert, sondern Öffentlichkeit ihrerseits praktiziert Hegemonie,
eine Form von kultureller Herrschaft, insofern mit einem enormen Form-,
Regel-, Anstands- und Hierarchiebewußtsein die freie diskursive
Praxis von den sozialen Akteuren getrennt, reduziert, kontrolliert,
diszipliniert und normalisiert wird." (Demirovic 1997: 182) Genau
diese Dimension läßt die Debatte um elektronische Demokratie
vermissen. Statt dessen soll ein vermeintlicher Rückgriff auf
Argumente des Konzeptes Gegenöffentlichkeit den kritischen Impetus
der 'Cyberlogen' untermauern. Der Grundgedanke, daß die vom Volke
kommenden und zu ihm zurückkehrenden Nachrichten, wie es der
Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten zu seiner
Gründung 1973 formulierte, wesentlich für emanzipative
Veränderungen sei, hat sich von den alternativen Medien der 70er
Jahre in das Computerzeitalter hinübergerettet. Der informierende
und informierte Aktivbürger mit seinen rationalen politischen
Entscheidungen und alltäglichen Handlungen hat als zentrale
Subjektposition den Sprung aus den Szenepublikationen in die
Onlinemagazine geschafft. Der Rückgriff auf das Konzept
Gegenöffentlichkeit zeichnet sich durch zweierlei aus: Einmal,
daß nahezu ungebrochen an eine Diskussion angeknüpft wird, die
vor nun schon 30 Jahren ihren Ausgang nahm und innerhalb derer inzwischen
zahlreiche Erfahrungen angehäuft wurden, die nicht umsonst zum Ende
zahlreicher Projekte der Gegenöffentlichkeit in den letzten Jahren
beitrugen. Darüber hinaus nimmt der alleinige Bezug auf Information
als Grundlage emanzipativen Handelns dem Konzept Gegenöffentlichkeit
den darüber hinausgehenden gesellschaftskritischen Impetus.
Um dies zu verdeutlichen, sei auf den Kontext verwiesen, innerhalb dessen
sich das Konzept Gegenöffentlichkeit entwickelte. Das Konzept
Gegenöffentlichkeit speist sich aus dem gesellschaftstheoretischen
Kontext des westlichen Marxismus und der Neuen Linken, der in bezug auf
bürgerliche Herrschaft davon ausging, daß die Herrschaft der
Bourgeoisie irrational geworden sei. Es ginge der bürgerlichen
Klasse nicht mehr um die Verwirklichung der Ziele der bürgerlichen
Revolution, sondern um ihre eigene Machterhaltung, so das zentrale
Argument. Diese sei nicht mehr vernünftig begründbar und so
bedient sich die herrschende Klasse des Mittels der Manipulation, welches
helfe, die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zu verdecken.
In ihrer Kritik an den Massenmedien entwickelte die Neue Linke eine
soziale Praxis, die sich in Teilen auf frühbürgerliche Ideale
einer rational diskutierenden Öffentlichkeit bezog, aber auch
dezidiert gegen das Repräsentationsprinzip und für die
Selbstorganisation und Selbstartikulation der Individuen eintrat.
Die soziale Praxis der Gegenöffentlichkeit hat allerdings deutlich
gezeigt, daß es nicht möglich ist, ungebrochen an
frühbürgerliche Konzepte einer liberalen
Versammlungsöffentlichkeit anzuknüpfen. Diese Vorstellung einer
'authentischen' Meinungsbildung und -äußerung von
Aktivbürgerinnen und -bürgern ignoriert die Rolle von Medien
und gesellschaftlicher Kommunikation, die komplexe Art und Weise, wie
Öffentlichkeit und öffentliche Meinung mit den verschiedenen
Instanzen ihrer Erzeugung verwoben sind.
Konsensfabrik Kommunikation
Kommunikation dient indes nicht nur zur Meinungsbildung der Einzelnen,
sondern auch zur Bildung eines gesellschaftlichen Konsenses. In den
Theorien der Neuen Medien werden diese als Elemente einer neuen
Individualkommunikation angesehen, welche die Massenkommunikation der
klassischen Zuschauermedien ablösen würde. Während die
einen davon ausgehen, daß nur diese Massenmedien mit ihrem
universellen Charakter überhaupt Öffentlichkeit herstellen
können, sehen die Neue Medien-Protagonisten wie etwa Claus Leggewie
in der Individualkommunikation eine neu entstehende
Beteiligungsmöglichkeit für den engagierten Staatsbürger.
Dieser innerhalb der angeführten Diskussion relevanten Unterscheidung
ist entgegenzuhalten, daß es eine gemeinsame strukturelle Grundlage
von Massen- und Individualkommunikation gibt: Diese kann gegen das
Paradigma der Interaktivität, das einen aktiven Part in der
Kommunikation nur den Sendenden einräumt, mit Stuart Hall als ein
per se zweiseitiger Akt beschrieben werden: "In der Tat, genauso wie
die Kodierung von Realität eine soziale Praxis ist (oder eine Reihe
von Praxen), so auch der 'Empfang der Botschaft'. Das Publikum oder der
Empfänger muß auch einen Interpretationsrahmen entwickeln,
damit die 'Botschaft ankommt' und die 'Bedeutung begriffen wird'."
(Hall 1989: 135) Das heißt also, daß Kommunikation als soziale
Praxis nicht allein dadurch bestimmt werden kann, welche Botschaften
gesendet werden, sondern in großem Maße von eben diesem
Interpretationsrahmen abhängig ist, der eine spezifische Art und
Weise der Aufnahme durch die Rezipienten ermöglicht. Hall führt
für diesen Sachverhalt den Begriff des Konsenses ein und er stellt
zur Diskussion, daß "Objektivität [...] ein anderer
(höflicherer oder zweckmäßigerer) Name für Konsens
[ist]. Die Berichterstattung kann 'objektiv' sein, vorausgesetzt der
Konsens hält. Zerbricht er, ist die Objektivität in
Schwierigkeiten. Es folgt weiterhin, daß Rundfunk und Fernsehen zur
Wahrung der 'Objektivität' ständig dazu genötigt sind,
eine konsensuelle Position einzunehmen, Konsens zu finden (sogar wenn er
nicht existiert) und, wenn erst einmal Streit losgebrochen ist, Konsens
zu produzieren." (ebd.: 137f) Die Medien sind somit nicht etwa
Spiegel des gesellschaftlichen Konsenses, sondern "konstruieren,
formen und beeinflussen" (ebd.: 139) diesen. Das trifft nicht nur
auf Massenmedien zu, die den ideologischen Kitt des Fordismus produziert
haben, sondern auch auf die Neuen Medien, als deren zentrales Element
'Kommunikation und Information mit immer weniger Zwischenstationen'
gelten kann. Das in der Netzdebatte in Abgrenzung zu den klassischen
Massenmedien hervorgehobene Moment des Individualismus und des
Libertären geht darüber hinweg, daß die Individuen schon
allein in der Art, wie sie nach Hall die soziale Praxis dekodieren -
nämlich vermeintlich individuell vor den Fernsehgeräten oder
eben auch Computerbildschirmen - gesellschaftliche Konflikte
vorstrukturieren und hegemoniale Diskurse damit bestätigen.
Mit diesem Ansatz läßt sich also beschreiben, daß
Kommunikation als Fabrikation von Konsens selbst schon in
gesellschaftliche Herrschaft eingebunden ist. Sie stellt eine zentralen
Bestandteil bürgerlicher Gesellschaft dar, innerhalb derer eben
nicht mehr zentral über Repression, sondern über die
Diskursivierung des vermeintlich Verbotenen Herrschaft ausgeübt wird.
Diese Art und Weise, mittels derer Konsens produziert wird, ist eine Form
von Normalismus, die gesellschaftliche Diskurse prägt und
Diskussionen über politische Themen dadurch vorbestimmt, daß
beispielsweise vorsortiert wird, was überhaupt als politische
Äußerung gelten darf und was den vorgegebenen Rahmen
verläßt.
Von diesem Verständnis von Kommunikation läßt sich der
Bogen schlagen zu dem liberaldemokratischen Verständnis von
Öffentlichkeit wie es Rainer Rilling und Claus Leggewie exemplarisch
für die liberaldemokratische Debatte vertreten: Kritik an beiden
fußt auf den wesentlichen Begriffen der Hegemonie und des Konsenses,
die beide zentrale Aspekte von Herrschaft innerhalb demokratischer
Gesellschaften adäquat beschreiben. Wird Herrschaft als hegemoniale
Position innerhalb eines ideologischen Kampfes um den gesellschaftlichen
Konsens beschrieben, bekommt das Paradigma der Interaktivität einen
neuen Stellenwert. Die Zuschauerdemokratie des Fernsehzeitalters und die
in vielen Theorien skizzierte elektronische Demokratie eines kommenden
Computerzeitalters unterscheiden sich unter diesem Blickwinkel nicht mehr
wesentlich: Beide Kommunikationformen verwickeln sowohl den Sender, als
auch den Empfänger in ein komplexes System des Kodierens und
Dekodierens nach den Kritierien des gesellschaftlichen Konsenses. Dieser
wird nicht nur durch die Sender bestimmt, sondern auch zu einem
großen Maße durch die Empfänger. Interaktiv ist demnach
die Herstellung des Konsenses und das unabhängig von der Form der
Kommunikation.
Gottfried Oy
Literatur
Bojadzijev, Manuela (1997). "Kritik der Politik".
Magisterarbeit, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann
Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.
Demirovic, Alex (1994). "Öffentlichkeit und die alltägliche
Sorge um die Demokratie". Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen
1, 46-59
- (1997). "Hegemonie und Zivilgesellschaft: Metakritische
Überlegungen zum Begriff der Öffentlichkeit". Ders.
Demokratie und Herrschaft: Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie.
Münster: Westfälisches Dampfboot, 165-182
Hagen, Martin (1997). Elektronische Demokratie: Computernetzwerke und
politische Theorie in den USA. Hamburg: LIT
Hall, Stuart (1989). "Die strukturierte Vermittlung von
Ereignissen". Ders. Ausgewählte Schriften: Ideologie, Kultur,
Medien, Neue Rechte, Rassismus. Hamburg / Berlin: Argument, 126-149
- (1994). Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument
Kleinsteuber, Hans J. / Martin Hagen (1998), "Was bedeutet
'elektronische Demokratie'? Zur Diskussion und Praxis in den USA und
Deutschland". Zeitschrift für Parlamentsfragen 1, 128-142
Leggewie, Claus (1996). "Netizens
oder: der gut informierte Bürger heute: Ein neuer Strukturwandel der
Öffentlichkeit?
Chancen demokratischer Beteiligung im Internet - anhand US-amerikanischer
und kanadischer Erfahrungen. Internationale Konferenz des
Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und
Technologie am 9. September 1996.
l.u.p.u.s. (1998). "cross the border? Autonomer Antifaschismus in den
90er Jahren und virtuelle Kritik". Die Beute. Neue Folge 2: 113-128
Rilling, Rainer (1996), "Auf dem Weg zur Cyberdemokratie?"
Vortrag auf dem Kongreß "Demokratie an der Schnittstelle. Neue
Medien und politische Perspektiven" der Hessischen Gesellschaft
für Demokratie und Ökologie e.V. (HGDÖ) am 7.12.1996 in
Frankfurt/M.
Roller, Franziska / Klaus Schönberger (1998). "Vom aufrechten
Gang zum Cybers(chl)urfen? Kurze Kritik des großen digitalen
Abgesangs auf die Stadt". Stadtrat [Hg.]. Unkämpfte Räume:
Städte & Linke. Hamburg/Berlin/Göttingen: VLA/Schwarze
Risse/Rote Straße, 169-178
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