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Festhalten am Gedanken, der radikale Veränderung meint

Interview mit Johannes Agnoli zu den Folgen von ’68

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Der heute in Italien lebende 73jährige Theoretiker der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Johannes Agnoli, eröffnete Ende April die Veranstaltungsreihe "Von wegen ’68 - Wir sind noch nicht zu Ende" des Autonomen Zentrums Marbach a.N. Anläßlich seines Besuches entstand das folgende Interview.

Wenn 30 Jahre nach 1968 über den damaligen 'gesellschaftlichen Aufbruch' und seine Folgen diskutiert wird, gleicht diese Diskussion einem seltsamen Schattenspiel. Dabei treten die alten 68er unter neuen Frontstellungen gegeneinander an: Die einen behaupten, damals habe der Durchbruch stattgefunden, der aus der muffigen BRD der 50er Jahre in die freundliche, bunte, weltoffene Zivilgesellschaft der Gegenwart geführt habe. Die anderen halten dagegen, daß die einst von ihnen selbst geforderte (und viel zu selten auch durchgesetzte) Liberalisierung der Gesellschaft es sei, die die Verantwortung für den gegenwärtigen Werteverfall trage. Ursache von Neo-Rassismus und angeblich zunehmender Jugendgewalt sei die antiautoritäre Erziehung der 68er, und deshalb ginge es nun um die Rückkehr zu Familienwerten, Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit. Wenn sich in dieser Diskussion einmal Nach-68er zu Wort melden, dann allenfalls, um ihre eigenen Interessen in Abgrenzung zu den Altvorderen mediengerecht zu inszenieren. Das kümmerlichste Bild gibt dabei wohl die grüne Jugendbewegung ab, wenn sie die Vorherrschaft der 68er in der Partei beklagt und einmal mehr 'Politikfähigkeit' fordert.

Uns interessiert anderes, wenn wir 30 Jahre später an Johannes Agnoli die Frage nach den Folgen von 1968 stellen. Die Revolte der 68er und ihrer Nachfolger hat zweifellos (wenn auch in viel zu geringem Maße) das gesellschaftliche Klima der BRD verändert. Sie bezog ihre Durchschlagskraft aus einer fundamentalen Kritik der bundesdeutschen Verhältnisse, die Agnoli mitformuliert hat. Die Forderungen von 1968 waren utopisch und ihre Artikulation bediente sich radikaler Formen, die die kulturellen und politischen Konventionen ihrer Zeit sprengten.

Angesichts des jämmerlichen Bildes der gegenwärtigen Gesellschaft, die ihre Zukunft nur noch als 'more of the same' zu denken in der Lage ist, ist daran zu erinnern, daß Zukunft nur aus der radikalen und utopischen Überschreitung des Gegenwärtigen heraus Gestalt annehmen kann. Während die Rede von der 'Politikfähigkeit' auf allen Seiten gebraucht wird, um die Absage an jede Politik zu rechtfertigen, die sich den kapitalistischen Sachzwängen entgegenstellt anstatt diese zu legitimieren und zu verwalten, gilt es nach dem Fortdauern der Ansätze jener fundamentalen Revolte zu fragen.

Das Erbe der 68er, ihrer Kämpfe, Illusionen und Desillusionierungen ist für die heutige Linke ein Steinbruch von Erfahrungen, die es gilt, für eine radikale politische Praxis nutzbar zu machen: nicht mehr, und auch nicht weniger. In einer Situation, in der eine konsequent utopische Politik des 'Unmöglichen' als einzig realistische Alternative zu dem langsamen Weg in die Barbarei erscheint, muß immer wieder nach Möglichkeiten gesucht werden, sich dieser Paradoxie zu stellen.


AZ: Im vergangenen Winter demonstrierten weit mehr Studierende in der Bundesrepublik gegen die Zustände an den deutschen Hochschulen als etwa 1968. Ungeachtet dessen haben sie nichts erreicht. Wieso war die außerparlamentarische Opposition von 1967/68 gesellschaftlich wichtiger als jede Form von Opposition heute?

Agnoli: Es geht nicht nur darum, ob man etwas erreicht hat oder nicht, sondern um das, was gewissermaßen die Substanz der Bewegung ist. Bei einem Vortrag in Berlin wurde ich gefragt, was der Unterschied sei zwischen ’68 und der heutigen Studentenbewegung. Meine Antwort war zwar schlicht und naiv, aber meines Erachtens treffend: Ihr wollt vom Staat mehr Geld haben, eine besser funktionierende Universität. Aber Ihr wollt die Gesellschaft nicht verändern, das ist der Unterschied. Es ist das gute Recht der jetzigen Studenten etwas zu verlangen. Aber ich habe bis jetzt noch nicht erfahren, daß sie eine gewisse Potentialität zur radikalen Veränderung der Gesellschaft - zumindestens theoretisch - entwickelt hätten. Sie wollen von einer Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist, etwas haben, was diese Gesellschaft wahrscheinlich nicht geben kann, eben weil sie aus den Fugen geraten ist. Nicht nur der Sozialstaat, sondern auch die Universität wird abgebaut. Es ist richtig, dagegen zu kämpfen und es mag leider nicht erfolgreich sein, aber das hat mit der 68er Bewegung wirklich nichts zu tun.

Daß die Studenten sich heute darauf beziehen, ist vollkommen richtig, warum denn nicht? 1848 hat man sich auf die Französische Revolution bezogen. Die Franzosen haben sich auf die Cromwellsche Revolution bezogen. Aber Ihr dürft nicht sagen, Ihr seid jetzt die geschichtliche Nachfolgeerscheinung von '68. Vielleicht wäre die Frage anders zu stellen: ob der Prozeß heute - ‘68 und die Folgen - in dieser Form möglich wäre, wenn es ‘68 nicht gegeben hätte.


AZ: Wie schätzt Du das ein, daß heute einerseits offensichtlich mehr Leute auf die Straße gehen, andererseits die heutige Studentenbewegung unter politischen Gesichtspunkten nichts, aber auch überhaupt nichts erreicht hat. Also nicht einmal in einem realpolitischen Sinne (wenn man von der Sache mit der gesellschaftlichen Veränderung von vorneherein einmal absieht). Die Studenten 1968 waren zahlenmäßig weniger und haben vielleicht eine sehr viel größere Wirkung gehabt.

Agnoli: Ich weiß nicht, ob es weniger oder mehr waren. Im übrigen waren es nicht nur Studenten. ‘68 war eine gesellschaftliche Erscheinung und war auch nicht auf Deutschland beschränkt. Wenn sie heute mehr Leute auf die Straße bringen, dann hat das eine gewisse Bedeutung. Nicht etwa in dem Sinne, daß mehr erreicht wird oder nicht. Aber es kann sein, daß eine solche Demonstration bewußtseinsbildend wirkt. Denn, wenn sich die Leute auf der Straße treffen, gilt immer noch mein altes Wort: "Die Vernunft begibt sich auf die Straße." Die Straße ist heutzutage der Platz der Vernunft geworden. Möglicherweise setzt ein Vernunftprozeß ein. Wenn die Leute nach Hause kommen und sie nichts erreicht haben, hat sich dennoch bewußtseinsmäßig etwas bewegt -, woraus ein Potential der Negation entstehen kann. Das ist eine Hoffnung. Wenn daraus im Sinne der Bildung eines Bewußtseins, das auf Veränderung aus ist, etwas wird, ist es im Grunde gleichgültig, ob sie nun mehr Geld haben wollen, oder ob sie den Kaiser stürzen wollen. Weder das eine noch das andere ist erreichbar. Aber es besteht die Möglichkeit, daß man durch mühsame Arbeit versucht - früher nannte man das politisieren -, die Leute dazu zu bringen, zu merken, daß es nicht nur darum geht, daß man mehr Geld hat. Die heutige Gesellschaft ist nicht im Umbruch, sondern sie ist dabei zusammenzubrechen. Was kann daraus werden? Können wir da irgend etwas bewirken? Aber das ist Eure Aufgabe.


AZ: Wenn ich mir die Studentenbewegung des letzten Jahres anschaue, dann habe ich dennoch das Gefühl, daß die Bewegung von '68 und auch die Personen, die ‘68 aufgestanden sind, in einem sehr langen und mühseligen Prozeß wieder in diese Gesellschaft integriert werden mußten. Demgegenüber hat diese neue Studentenbewegung ihre eigene Integration schon selbst aktiv vorweggenommen. Im Moment scheint erstaunlicherweise die Konsensmaschine in dieser Gesellschaft - zumindest an der Oberfläche - äußerst reibungslos zu funktionieren. Warum war das '68 nicht der Fall?

Agnoli: Ich halte den Vergleich schon deshalb für brüchig, weil die Gesellschaft eine andere geworden ist. Eben das ist das Problem. Ob sie in diesem Fall integriert sind oder nicht ist egal - gut, sie sind integriert. Aber auch integrierte Arbeiter können streiken und können eine Bruchsituation herbeiführen. Das liegt aber nicht am Integriertsein oder Nicht-Integriertsein, sondern, Du hast die Frage selbst so gestellt, daß liegt daran, daß diese Integration so weit gediehen ist. Es hat mit dem gesellschaftlichen Konsens zu tun, daß die berühmte Lehre aus ‘68 nicht zu ziehen ist. Die Situation war eine ganz andere. Wenn die Gesellschaft sich derart verändert hat, kann man nicht nostalgisch sagen: Wie können wir ein '68 herbeiführen. Das ist Geschichte. Die Französische Revolution kann nicht wiederholt werden. Einige haben es versucht, es ist schief gelaufen. Natürlich ist es schief gelaufen, weil die Gesellschaft in Wirklichkeit eine andere geworden war. Gleichzeitig besteht dann die Gefahr, in Resignation zu verfallen, daß man sagt, da ist sowieso nichts zu machen. Aber schon 1965, also unter Adenauer, hieß es, man kann sowieso nichts machen. Das war eine völlig verkrustete Situation. Und genauso 1989: Ebenso wie Anfang Oktober keiner wußte, daß Ende Oktober die Mauer zusammenbrechen würde, wußte 1965 niemand, daß 1967 in Berlin ein Chaos ausbrechen würde. Aber es gab diese Kräfte, die unterschwellig, mit vielen Illusionen, daran gearbeitet haben. Wenn Ihr davon ausgeht, daß es sowieso zum Kladderadatsch kommt, und es kommt zum Kladderadatsch in der sogenannten Weltgesellschaft, dann muß man sich überlegen, was sich in dieser Situation machen läßt. Die großen Pläne der '68er sind gescheitert. Es ist weder ein Vietnamkrieg da, der war sehr wichtig. Die Sandinisten sind weg. Die Normalität ist wieder eingekehrt. Was kann man in der Normalität machen?

Ich hatte damals die Parole vom Überwintern geprägt, weil man in der Normalität nur überwintern kann. Nur, es kommt darauf an, ob man das Überwintern so versteht, daß man sich ins Private zurückzieht und in vollem Bewußtsein, ein besserer Mensch zu sein, nichts tut und sich damit begnügt, daß man sagt: Ja, diese armen Kerle, die glauben an den allgemeinen Konsens. Wir aber wissen, daß es falsch ist. Das genügt natürlich nicht, das ist klar. Aber das sind Probleme, auf die ich keine Antwort weiß. Wenn ich gefragt würde, was heute zu tun sei, dann müßte ich etwa sinngemäß antworten: Vor einiger Zeit, vor drei Jahren war ich sehr unsicher, was zu tun wäre. Heute weiß ich überhaupt nichts mehr. Aber zumindest bei mir entsteht daraus keine Resignation, ich versuche immer weiterzuwirken.


AZ: Du sagtest, die Gesellschaft sei eine andere geworden. Aber sie hat ja auch eine Geschichte. Gibt es überhaupt politische oder soziale Impulse aus der 68er-Bewegung, die heute noch eine Bedeutung haben?

Agnoli: Das ist eine sehr interessante Frage, denn die Frage müßte ich Euch stellen. Gibt es bei Euch noch diese Impulse, denn bei mir sind die Impulse nach wie vor da. Aber bei mir hat das keine Bedeutung. Die Frage ist also, ob etwas geblieben ist von diesen Impulsen. Ich kann es nicht beurteilen, erstens ist das von Land zu Land verschieden. Es hat eine Verschiebung stattgefunden und deshalb meine - ich will nicht sagen - Skepsis, aber mein Fragezeichen gegenüber dieser Studentenbewegung. Ist es nicht zum Beispiel so, daß die in Italien und Frankreich viel virulentere Arbeitslosenbewegung heute wichtiger ist, als eine Studentenbewegung hierzulande? Ob sich da nicht ein Potential entwickelt? Und da müssen die Studenten sich überlegen, ob das studentische Dasein sinnvoll ist für eine radikale Bewegung, für radikale Veränderung.


AZ: Aber es gibt ja gesellschaftliche Entwicklungen, wenn man diese 30 Jahre einmal Revue passieren läßt. Du sagtest, die Situation war 1965 verkrustet. Keiner hätte sich vorstellen können, daß etwas passiert. Und heute hast du gesagt, vielleicht ist es die Folge von '68, daß die Studenten sich überhaupt bewegen. Also, was für Impulse sind davon ausgegangen und was ist heute noch geblieben?

Agnoli: Ihr dürft nicht vergessen, daß '68 nicht auf der Straße begonnen hat. Die Vernunft ging zwar auf die Straße, aber begonnen hat die Sache in Wahrheit in ganz langwieriger Vorbereitungsarbeit. In Deutschland gab es die Kritische Theorie. In Italien fing es Anfang der 60er Jahre an. Dort hatte sich mit Unterstützung der Faschisten eine Regierung gebildet. Daraufhin gingen die Arbeiter, die Arbeiter wohlgemerkt, in Norditalien auf die Straße. Das war eine halbe Revolution. So fing es an. Da haben die Leute das Bewußtsein gewonnen, daß die Straße etwas bewirken kann. Aber als Begleitform, oder vielmehr nicht als Begleitform, sondern zusammenhängend damit gab es in Italien die ganzen Überlegungen in den Quaderni Rossi-Heften. Da wurden die "Grundrisse" von Marx wieder entdeckt, da wurde wieder die Frage nach dem revolutionären Subjekt gestellt: wer macht die Revolution?

Und das war in Deutschland genauso. Denn die Anfänge waren eigentlich ganz bescheiden. Am Anfang lautete die Frage: Kann man überhaupt etwas machen? Man hat sich keine Gedanken darüber gemacht, ob man Fensterscheiben einschlagen kann, ob man Tausende von Leuten auf die Straße bringen kann, sondern man hat angefangen sich Gedanken zu machen, wie das geschlossene System aufgebrochen werden kann, wo die Schwachpunkte dieses Systems sind. Und die Universität war in dieser Hinsicht ein Schwachpunkt: "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren!" Es hat völlig universitär angefangen. Es ging um Bildung, um Beteiligung der Studenten an den universitären Entscheidungen etc. So fing es an. Und das ist vielleicht ein Gedanke, den man heute auch ein bißchen zur Kenntnis nehmen muß, der Anfang im kleinem. Also vielleicht wäre es heute falsch - ich sage vielleicht, weil ich es genau nicht weiß - mit großen revolutionären Parolen anzufangen. Es ist wahrscheinlich viel besser, auch viel schwieriger, einen Weg zu beschreiten, der zugleich zwei Dinge erreichen soll: auf der einen Seite die Entwicklung, das Festhalten und die Ausbreitung dieses Gedankens, der radikale Veränderung, also auf deutsch Revolution meint. Und auf der anderen Seite nicht in die Falle des Reformismus hineinzugeraten. Denn die Gefahr ist sehr groß, daß man sagt, verändern können wir nicht, also verbessern wir. Nicht, daß das unberechtigt wäre: für diejenigen, denen es wirklich schlecht geht, ist viel gewonnen, wenn etwas verbessert wird. Aber erstens ist das Verbessern etwas prekär, und zweitens löst es das Problem nicht. Man kann sich Gedanken machen, ob eine Form von Existenzminimum vom Staat garantiert werden kann. Da ist viel gewonnen für diejenigen, die nichts haben. Aber zugleich ist das ist das ein mächtiges Integrationsinstrument. Nicht von ungefähr stammt in Deutschland die Sozialversicherung von Bismarck.


AZ: 1967 hast Du mit Peter Brückner zusammen die "Transformation der Demokratie" geschrieben und die politischen Herrschaftsmechanismen der repräsentativen Demokratie bürgerlicher Provinienz analysiert. Auch im "Staat des Kapital" geht es um die Rolle der politischen Macht in Nationalstaaten im Spätkapitalismus. Und zur Zeit erleben wir in Europa eine ganz andere Transformation der Demokratie, im Rahmen der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

Agnoli: Nein, das Prinzip bleibt gültig. Es gibt auf jeden Fall eine politische Form, die die abhängigen Klassen aus allen Entscheidungsmechanismen entfernt. Wie sich das dann insitutionell umsetzt, das ist im Grunde relativ belanglos. Denn ich bin überzeugt, daß es in dieser Gesellschaft auch weiterhin freie Wahlen und alles mögliche andere geben wird, was unter Liberaldemokratie läuft. Nur wird es wie die sogenannte notwendige Fiktion noch mehr Fiktion sein als heute. Die Leute werden mitmachen, obwohl die Entscheidungen nicht mehr von ihnen gefällt werden. Aber insofern ist das, was dieses alte Buch meinte - es ist ja schon 30 Jahre alt -, das was weiterhin gültig ist, die Tatsache, daß die politische Form in einer kapitalistisch produzierenden Gesellschaft immer diese zwei Fragen lösen muß: Wie kann man die Massen politisch befriedigen und sie zugleich von allen Entscheidungen fernhalten. Das Problem bleibt nach wie vor bestehen. Der institutionelle Weg des bürgerlichen Verfassungsstaats war gewissermaßen eine geniale Erfindung und ich nehme an, daß man weiter nach dieser Formel vorgehen wird. Ralf Dahrendorf hat in einer italienischen Zeitung von der Gefahr zwar keines faschistischen Staates gesprochen, aber angesichts der großen Schwierigkeiten von der eines autoritären Staats. Aber dieser autoritäre Staat wird wahrscheinlich keine Konzentrationslager bauen. Wir hoffen es jedenfalls. Er wird sie nicht nötig haben, wenn er Konsens erreicht. Aber was ist die Funktion der Parteien heute? In ihrer ursprünglichen Fassung waren die Parteien die Übersetzer von gesellschaftlichen Bedürfnissen und Tendenzen des gesellschaftlichen Wollens ins Politische. Heute sind die Parteien die Organisatoren des allgemeinen Konsensus. Darauf reduziert sich ihre politische Aufgabe, und die werden sie nach wie vor haben.


AZ: 1968 war nicht bloß eine politische Bewegung, sondern wenn man so will, auch eine kulturelle Bewegung. Angeblich gab es eine kulturelle Revolution, und auch die 68er, die heute mit ihrer Vergangenheit hausieren gehen, sagen: Damals haben wir die Kultur in der Bundesrepublik verändert und verbessert. Hat sich für Dich auf der kulturellen Ebene tatsächlich eine fundamentale Veränderung ergeben, oder war das nur eine Art Modernisierung?

Agnoli: Ich akzeptiere das Wort Modernisierung. Ob sich wirklich etwas verändert hat und hoffentlich ins Bessere, das kann man nur beurteilen, wenn man weiß, wie die Atmosphäre vor ‘68 war. Davon könnt Ihr Euch keine Vorstellungen machen. Wenn Ihr von Repression redet heute, dann ist bei euch diese geschichtliche Erinnerung natürlich einfach nicht vorhanden. Ich war 1961 Assistent in Köln. Ich hielt damals einen Vortrag vor Studenten und sprach mich für die Anerkennung der DDR aus. In der darauf folgenden Woche war ich schon entlassen. Das war damals die Situation. Und kein Mensch hat sich darüber geärgert. Wohlgemerkt, das war gang und gäbe.

Als Kohl vor ungefähr zehn Jahren sagte, man müsse '68 rückgängig machen, dann wohl deshalb, weil die Konservativen festgestellt haben, daß tatsächlich etwas anders geworden ist. Die Frage ist, ist etwas Besseres daraus geworden, und da habe ich einige Zweifel. Nehmen wir die Universität als Beispiel. Was ist heute aus der Bewegung für die Demokratisierung der Universität und der Gesellschaft geworden? Inzwischen ist eine Verschulung der Universität eingetreten, die ihresgleichen sucht. Aus der Demokratisierung der Universität ist eine Bürokratisierung geworden.

Ich kann es zwar von mir aus nicht genau beurteilen, aber ich nehme an, schon die Tatsache, daß wir heute darüber diskutieren können, ist ein Zeichen dafür daß sich etwas geändert hat. Autonome Zentren, das war Anfang der 60er Jahre undenkbar. In den 50er Jahren wäre die Polizei eingeschritten, aber nicht um Fensterscheiben zu schützen, das wäre unverständlich gewesen, sondern dagegen, daß sich so etwas bildet. Da stellt sich natürlich wiederum die Frage, ob das Substanz hat oder ob das eine andere Form von Selbstbestätigung ist.


AZ: Vielleicht ist es kein Verdienst, aber es ist zumindest ein Fakt, daß die ‘68er-Bewegung - das ging dann weiter in der Autonomenbewegung - den Slogan "Das Private ist politisch" geprägt hat. Es ging darum, Politik in der ersten Person zu machen. Das hat zu einem weiten Politikbegriff geführt. Das heißt, daß eben nicht nur Programme und Theorien unter den Politikbegriff fielen, sondern auch die Lebensweise als ein Politikum gefaßt wurde. Das hat ja zumindest die autonome Bewegung und die Frauenbewegung sehr entscheidend ausgezeichnet. Die Frage lautet: Wie ist das von heute aus zu beurteilen?.

Agnoli: Moment, zunächst einmal eine kleine Korrektur: Daß das Private politisch sei, ist eine deutsche Erfindung. Denn weltweit hieß es: "Das Persönliche ist politisch", nicht das Private. Wenn das Private politisch ist, dann ist auch das Privateigentum zu schützen. Das Persönliche ist politisch, das bedeutete den Einbruch der Subjektivität in die Politik. Nun, was heißt Politik? Die Frage ist wichtig: Ich meine, das ist ein sehr zweideutiger Begriff. Zum einen kritisiere ich die Politik. Nehmen wir den Marxschen Begriff: hier ist Politik die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Auf der anderen Seite bin ich aber auch für Politisierung.

Man muß also an diesem Begriff zwei Dinge sehr scharf unterscheiden. Zum einen die Politik als Herrschaftssystem und zum anderen Politik verstanden als Negation der Herrschaft. Das ist aber keine Politik im klassischen Sinne, das ist Antipolitik. Bei dieser Antipolitik besteht die Gefahr, daß anstelle der Politisierung die Privatisierung eintritt. Das scheint mir so eine allgemein Tendenz zu sein, in der sogenannten Postmoderne. Das Café ohne Zukunft; alles ist privat. Mit diesem Widerspruch müssen wir uns abfinden. Auf der einen Seite die Politik kritisieren, auf der anderen Seite wissen, daß man die Leute politisieren muß. Aber was heißt politisieren? Vergessen wir nicht, daß politisieren im klassischen Verständnis mehr Beteiligung an den Wahlen bedeutet. Das heißt im Grunde: Anerkennung des Systems. Und das wollen wir nicht. Insofern ist die von mir gemeinte Politisierung Antipolitik, wenn man unter Politik erstens das Konsenssystem und zweitens die Festigung der Institutionalisierung versteht.

Zu den Autonomen: Es gibt da Schwierigkeiten mit dem Begriff, denn in Italien ist die Autonomiebewegung im Arbeitermilieu entstanden, in Deutschland ist sie das Produkt von Lehrern, Intellektuellen, Klein- oder Großbürgern, hat also eine ganz andere Bedeutung. Ich habe einmal irgendwo gesagt, die machen alles falsch, die Autonomen, aber sie geben Hoffnung. Ich meine das in dem Sinne, daß wahrscheinlich die Perspektive falsch ist, aber wenn schon in dieser Gesellschaft ein Element des Bruchs vorhanden ist, dann ist das diese Autonomiebewegung. Ihr macht alles falsch, aber das ist sozusagen ein Funke Hoffnung. Die Autonomen als die Realisierung des Prinzips Hoffnung von Ernst Bloch in einer wieder geschlossen gewordenen Gesellschaft.

Die Kritik am utopischen Sozialismus war richtig, aber wahrscheinlich sind wir geschichtlich und gesellschaftlich in eine Situation geraten, in der der einzige Ausweg aus der Aporie, aus der Auswegslosigkeit in der Utopie besteht; es gibt keinen anderen Ausweg. Oder man paßt sich an und ist glücklich darin, als angepaßter Mensch.


Das Interview wurde am 26. April 1998 vom Autonomen Zentrum Marbach a.N. geführt.