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Grundsicherungssysteme zur Bekämpfung von Einkommensarmut

1. Ausgestaltung, Wirkung und Kritik des gegenwärtigen Grundsicherungssystems in Deutschland

Die neben den Sozialversicherungssystemen etablierte allgemeine soziale Grundsicherung besteht in unterschiedlicher Ausgestaltung in allen westlichen Industriestaaten. Anhand Untersuchungen und Reformvorschlägen vor allem von Richard Hauser und Bruno Kaltenborn soll das System der Sozialhilfe, die Kritik an diesem System sowie der politische und wissenschaftliche Diskurs um Reformen in Deutschland verdeutlicht werden. Die folgenden Kapitel beschränken sich im Wesentlichen auf das Referieren und Kommentieren dieser Arbeiten. Eine eigene umfassende Bewertung wird erst im letzten Teil der Arbeit vorgenommen

 

1.1 Die grundsätzliche Idee und Ausgestaltung einer sozialen Grundsicherung

Kaltenborn begrüßt die in den letzten Jahren aufgekommene Diskussion um Ziel, Wirksamkeit und Reform des bestehenden Systems der Sozialhilfe. Er schlägt ein Verfahren in vier Schritten vor, um zu einem brauchbaren Ergebnis innerhalb des bestehenden Diskurses zu gelangen: 1. Grundsätzliche Überlegung der Aufgabe eines allgemeinen Grundsicherungssystems und dessen Rechtfertigung; 2. Analyse und Beurteilung des bestehenden Systems anhand der aus (1.) gewonnenen Kriterien; 3. Ausgestaltung unterschiedlicher Reformstrategien; 4. Bewertung der unterschiedlichen Strategien und Entwicklung eines möglichst optimalen Modells zur Problembehebung als Ausgangspunkt für eine ausgeweitete gesamtgesellschaftliche Diskussion.

Ein grundsätzliches Merkmale einer sozialen Grundsicherung ist nach Kaltenborn die Orientierung an der Gewährleistung eines entweder physischen oder sozio-kulturellen Existenzminimums. Außerdem unterscheidet er zwischen einer Grund- oder Mindestsicherung im weiten Sinne und im engen Sinne. Für eine Grundsicherung im engen Sinne muß grundsätzlich jede/-r im Inland anspruchsberechtigt sein, für ein Verständnis im weiteren Sinne gilt dies nicht. Für beide Verständnisse gilt aber darüber hinaus: sie beinhalten einen direkten, staatlichen Transfer in Geldform; die Höhe des Transfers ist vorleistungsunabhängig (im Gegensatz zu den Sozialversicherungssystemen); der Transfer ist mindestens zum Teil pauschaliert; der Anspruch besteht nur bei geringen eigenen Mitteln (gilt mit Einschränkung der unbedingten Grundeinkommenssysteme); die Absicherung unterschiedlicher Lebenslagen muß gewährleistet sein.

Hauser nennt neben der fundamentalen Unterscheidung der Leistungsausgestaltung in ein entweder stark pauschaliertes System oder ein stark individualisiertes System primäre Überlegungen der Leistungsgewährung. Eine Möglichkeit besteht in der unbedingten Leistungsgewährung:

"Die einfachste Form einer sozialen Grundsicherung besteht in der unbedingten Gewährung eines Transfers zur Bestreitung des sozio-kulturellen Existenzminimums an sämtliche Individuen [...]. Hiermit sind eine einfache und transparente Leistungsgewährung, geringe Manipulationsmöglichkeiten und die Vermeidung von Armut prinzipiell für alle Bürger/innen [...] verbunden. Allerdings bedeutet diese Lösung einen hohen Aufwand an finanziellen Ressourcen und bewirkt staatliche Transfers, die auch vermögens- und einkommenstarken Gruppen gewährt werden; dementsprechend muß auch die Steuerbelastung der mittleren und oberen Einkommensschichten stark erhöht werden."

Um das Finanzvolumen zu verringern, muß die Leistungsgewährung deshalb von Bedingungen abhängig gemacht werden. Wenn die Grundsicherung nur in Notfällen die Existenz sichern soll, so könnte eine Bezugsberechtigung außer Kraft gesetzt werden, sobald nachweisbar wird, daß die betroffene Person sich dann nicht in einer Notsituation befände, wenn sie angebotene Erwerbsarbeit aufnähme. Es würde die Arbeitsfähigkeit geprüft, um die Berechtigung festzustellen.

"Auf der anderen Seite ergäben sich erhebliche Probleme bei der Durchführung eines solchen ‘work test’, die in der Regel einen erheblichen Verwaltungsaufwand mit sich bringen. [...] Die Arbeitsmotivation eines/r so vermittelten Bürgers/in, der/die es vorgezogen hätte, keine Arbeit zu erhalten und staatliche Transfers zu beziehen, dürfte dabei relativ gering sein. Zudem ist es fraglich, ob in einer Situation dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit [...] großer gesellschaftlicher (finanzieller) Nutzen aus einer allgemeinen Überprüfung der Arbeitsfähigkeit und -willigkeit gezogen werden kann, wenn der/die Arbeitsuchende in der Regel nicht vermittelbar sein wird."

Eine zweite mögliche Bedingung ist die Höhe des zur Verfügung stehenden Einkommens. Der getätigte Transfer hängt dann davon ab, ob das vorhandene Einkommen einer Person unter die Armutsgrenze fällt und wieweit es darunter fällt. Wird der Grenztransferentzugssatz auf 100% festgelegt, wird das gesamte verfügbare Einkommen vom zu erwartenden Transfer abgezogen. Bei Transferbezug kann somit auch mit zusätzlichem Einkommen nie mehr als die der maximal gewährte Transfer an Einkommen bestehen; die Folge von keinerlei Mehreinnahmen ist ein nur geringer oder gar kein monetärer Arbeitsanreiz.

"Je weiter der Transferentzugssatz gesenkt wird, um so größer werden die Arbeitsanreize, um so größer wird aber auch das zu finanzierende Transfervolumen und der Kreis der Anspruchsberechtigten."

Zusätzlich besteht die Möglichkeit, bestehendes Vermögen heranzuziehen, da es zur Bestreitung der Existenz genutzt werden kann (Folge: Notwendigkeit der genauen Abgrenzung des Vermögensbegriffs). Auch Vermögen Dritter (naher Verwandter) können Berücksichtigung finden.

"Nachteilig wäre allerdings, daß von staatlicher Seite zu überprüfen wäre, ob auch tatsächlich ein monetärer Transfer innerhalb der Lebensgemeinschaft erfolgt, und wie dieser Transfer gegebenenfalls zu erzwingen wäre, da ansonsten das Ziel der Armutsvermeidung verfehlt würde. [...] [Es gilt den] Konflikt mit den Zielen der Garantie der persönlichen Würde und der individuellen Freiheit des einzelnen sowie des Schutzes der Privatsphäre [zu vermeiden]."

Kaltenborn sieht für die ökonomische Umverteilungsmaßnahme, die der Anwendung einer Grundsicherung wesentlich ist, keine geschlossene innerökonomische Rechtfertigung. Er nennt lediglich einige Ansätze von Rechtfertigungsmöglichkeiten.

Ein Ansatz behauptet, daß prinzipielle Mängel auf den Versicherungsmärkten eine steuerfinanzierte Grundsicherung notwendig machten. Unter zwei Voraussetzungen, die weitgehend realistisch scheinen, ist ein Versagen freiwilliger privater Versicherung in einem Marktsystem entwicklungshemmend: 1. Es gibt (viele) risikoscheue Individuen; 2. Die Zukunft ist in ökonomischer Hinsicht unsicher.

Unter vielen Nachfragern können Anbieter sich die für sie rentabelsten aussuchen, so daß für Benachteiligte eine Versicherung unbezahlbar werden kann. Wenn sie gegen Risiken aber nur mangelhaft oder gar nicht abgesichert sind, wird dies ihre Bereitschaft zur Übernahme von Risiken weiter schmälern.

"Die Bereitschaft zur Übernahme von Risiken ist jedoch Voraussetzung für die Weiterentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, so daß aus der durch das Marktversagen bedingten Verzerrung gesamtgesellschaftlich schwere Nachteile resultieren können."

Ein weiterer Ansatz könnte im Grunde als utilitaristische Überlegungen gekennzeichnet werden. Er geht von externen Effekten auf den sozialen Frieden aus, da eine starke Ungleichverteilung der Einkommen, etwa durch Kriminalität, die Produktions- und Konsummöglichkeiten vieler Individuen hemmen kann, während die staatliche Sicherung des Existenzminimums positive externe Effekte hervorrufen dürfte. Eine extreme Ungleichverteilung ist demnach auch für die Reichen nur suboptimal.

Eine dritte Rechtfertigungsmöglichkeit beinhaltet stärker abstrahierende Rechtfertigungsweisen und könnte von idealistischen Zügen geprägt sein. Kaltenborn beschreibt sie als eine übergeordnete Sichtweise, die einen Sozialkontrakt verlangt. Er nennt hier vor allem die Überlegungen, die sich eines Versetzens in einen hypothetischen Ur- oder Naturzustand bedienen. Nur so könnten die Maßregeln für die optimale und gerechte Wohlfahrtsverteilung gefunden werden — so deren Vertreter. Kaltenborn nennt hier beispielhaft nur zwei verschiedene Ansätze, nämlich den Ansatz der Nutzenmaximierung, der sich auf Bentham gründet, und den Ansatz von Rawls, der die Ausstattung mit Grundgütern vielfältiger Weise und die Orientierung an der Nutzenmaximierung der am schlechtest Gestellten vorsieht (utilitaristische Interpretation des Rawlsschen Ansatzes).

Nach Bentham könnten starke gesellschaftliche Umverteilungen dann gerechtfertigt werden, wenn dadurch der individuelle Grenznutzen steigt (Akkumulation von ungenutztem Reichtum soll vermieden werden). Rawls setzt eine starke Risikoaversion voraus, die einer Vermeidung des Eintretens in die reale Welt mit der Einnahme der schlechtesten gesellschaftlichen Position einen hohen Stellenwert beimißt, besonders dann, wenn sie mit hohem Abstand zu allen übrigen Positionen steht. Starke Umverteilungen zugunsten der besonders schlecht Gestellten könnte auch dadurch gerechtfertigt werden.

Die rein ökonomische Überlegung der Funktionsweise von Versicherungsmärkten kann im weiteren nicht berücksichtigt werden, da es an Kenntnissen über die Berechnung von optimaler Gestaltung von Versicherungsmärkten mangelt und zudem eine normative Rechtfertigung der Existenz von Versicherungssystemen überhaupt unausweichlich scheint. Da eine solche Rechtfertigung bezogen auf die (steuerfinanzierte) Grundsicherung im Weiteren behandelt wird, muß auf eine gesonderte Rechtfertigung der marktorientierten Versicherungssysteme keine Rücksicht genommen werden.

Zwar werden utilitaristische Überlegungen generell im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder berücksichtigt. Die o.g. Ansätze werden aber nicht weiter verfolgt, da der Zugewinn von externen Effekten auf den sozialen Frieden weder empirisch untersucht ist, noch überhaupt theoretische Ansätze zur Meßbarkeit möglich erscheinen.

Es wird deutlich, daß Begründungen, wie sie Kaltenborn nur für Sozialkontraktstheorien relevant nennt, generell unausweichlich scheinen, da alle weitreichenden Begründungen für eine Grundsicherung den ökonomischen Rahmen verlassen müssen und sich normativer Strategien für eine unter gegebenen (relativierenden) Umständen gültige (bestmögliche) Begründung bedienen müssen. Daher wird im weiteren Verlauf dieser Rechtfertigungsstrategie noch eine stärkere Bedeutung beigemessen.

Hauser begründet die Existenz einer Mindest- oder Grundsicherung durch bestehende verfassungswirksame Sozialstaatsüberlegungen sowie europaweite Abkommen.

"Der Sozialstaat des Grundgesetzes (Art. 20, 28 GG) ist verpflichtet, die Menschenwürde, deren hoher Rang durch die Verankerung in Art. 1 GG unterstrichen wird, zu schützen. [...] Diese grundlegende, im Grundgesetz und im Sozialgesetzbuch getroffene Wertentscheidung des Gesetzgebers muß auch als einer der Ausgangspunkte für die Diskussion der Ziele einer Sozialen Grundsicherung dienen. [...] [Die BRD] hat sich überdies verpflichtet, zur Verwirklichung der ‘Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer’ beizutragen und die im sogenannten ‘sozialen Protokoll’ zum Maastrichter Vertrag getroffenen Vereinbarungen einzuhalten."

Hauser weist darauf hin, daß insbesondere Grundsätze zu beachten sind, die die Gewährleistung eines sozio-kulturellen Existenzminimums in den Mitgliedsländern fordern. Das Sozialstaatsprinzip und die Empfehlungen der EU begründen demnach eine soziale Grundsicherung, die ein Leben in Würde bzw. eine Vermeidung von Einkommensarmut (unter 50% des Durchschnittsnettoeinkommens) vorsehen. Diese Formulierungen können zwar nicht zur Abschaffung von Begleiterscheinungen wie Ausgrenzung und Marginalisierung führen, sie geben jedoch klare Anhaltspunkte für die Höhe einer einzuführenden Grundsicherung.

Um unterschiedliche Grundsicherungssysteme vergleichbar zu machen, steckt Kaltenborn den Charakter eines Grundsicherungssystems anhand einiger besonders wichtiger Parameter ab, von denen allerdings nicht alle hier eingehend behandelt werden können. Es handelt sich im Wesentlichen um:

Den einbezogenen Personenkreis (dies sind alle Personen im Inland bei einer Grundsicherung i.e.S.); die Bedarfsgemeinschaft (etwa Individuum, Haushalt oder (Kern-)Familie); der Bedarf (Niveau, Struktur - individualisiert oder pauschaliert etc.); Verfahren zur Dynamisierung; die Einsatzgemeinschaft; die Familiensubsidarität; die Einkommensanrechnung; die Vermögensanrechnung; der Bemessungszeitraum; die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen; die Sanktionierung mangelnder Selbsthilfe; die Verwaltung; die Kosten und die Finanzierung.

Nach Kaltenborn sind dies die entscheidenden Elemente, die zugleich am klarsten die Unterschiede der zu vergleichenden Modelle aufzeigen.

Die Bewertung der Unterschiede innerhalb der Ausgestaltung erfordert Grundsätze, die aus den Ansätzen für eine prinzipielle Rechtfertigung einer Mindestsicherung noch nicht gewonnen werden konnten. Kaltenborn setzt eine Reihe von Grundsätzen fest, ohne sie weiter zu begründen, stützt sich dabei allerdings zum Teil auf weitgehend unstrittige Anforderungen. Die Grundsicherung soll:

Scheint die Auswahl der Grundsätze im Ganzen sinnvoll, so ist sie doch, neben der schon angesprochenen teilweise mangelhaften Begründung, etwas ungeordnet. Außerdem ließen sich einige Grundsätze zusammenfassen. So ist etwa der Interessenausgleich zur Vermeidung innergesellschaftlicher Spannung nicht uninteressant, tritt jedoch schnell in den Hintergrund, sobald die Bestbegründung eine Grundsicherung rechtfertigt und fordert, die dem Interesse der TransfergeberInnen oder TransferempfängerInnen entgegensteht. Weiterhin wirft die Definition der Notlage zusätzliche Fragen auf und es bleibt ungeklärt, warum eine Recht auf Grundsicherung auf Notlagen beschränkt bleiben sollte. Einerseits wird davon ausgegangen, daß Selbsthilfe attraktiver ist als Grundsicherungsbezug, Anreize zur Beendigung des Bezugs sollen aber trotzdem zusätzlich geschaffen werden. Der Grundsatz der fiskalische Sparsamkeit steckt schon in einigen anderen Grundsätzen und ist zwar selbstverständlich aber auch banal.

Hauser nennt zusätzlich u.a. noch folgende Kriterien:

"Die individuelle Freiheit und die persönliche Würde des Empfänger/innen sollte gewahrt werden; [...] (Prinzip des Rechtsanspruches und der Pauschalierung). [...]

Die Leistungen der sozialen Grundsicherung sollten nachrangig zu allen Erwerbseinkommen und Vermögenseinkommmen sowie zu Unterhaltsansprüchen und beitragsfinanzierten Sozialleistungen gewährt werden; sofern Ansprüche auf weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen bestehen, die unabhängig von einer Einkommensüberprüfung gewährt werden, sollte auch diesen Leistungen gegenüber Nachrangigkeit bestehen; Vermögen ist bis auf ein zu definierendes Schonvermögen ebenfalls heranzuziehen; gegenüber der Sozialhilfe bestehe jedoch Vorrang (Prinzip des Nachrangs bzw. Subsidaritätsprinzip)

Die Mittelaufbringung für die Soziale Grundsicherung sollte in solidarischer Form entsprechend der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Steuerbürger/innen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe geschehen (Prinzip der Mittelaufbringung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit).

Die Soziale Grundsicherung muß auf kurze und lange Sicht bei sich ändernden Rahmenbedingungen finanzierbar und funktionsfähig bleiben (Prinzip der Finanzierbarkeit und Funktionsfähigkeit).

Die Soziale Grundsicherung sollte eine hohe Zielgenauigkeit in bezug auf den zu begünstigenden Personenkreis aufweisen (Prinzip der Zielgenauigkeit).

Die Soziale Grundsicherung sollte möglichst geringe Mißbrauchsmöglichkeiten bieten und entsprechende Kontrolleinrichtungen umfassen (Prinzip der Mißbrauchskontrolle).

Die Soziale Grundsicherung sollte den Empfehlungen des EU-Ministerrats nicht widersprechen (Prinzip der EU-Konformität).

Das Risiko unerwarteter Auswirkungen bei der Einführung einer sozialen Grundsicherung sollte begrenzt bleiben (Prinzip der inkrementalen Reformen)."

Obwohl Hausers insgesamt 22 Grundsätze nicht alle wiedergegeben werden können (oder wiedergegeben werden müssen, da sie z.T. fast deckungsgleich mit Kaltenborns sind), so fehlt auch hier für viele Prinzipien eine ausgiebige Begründung, eine hierarchische Ordnung der Prinzipien würde auch bei Hauser die spätere Bewertung klarer machen.

Trotzdem sind Kaltenborns und Hausers Grundsatzlisten geeignete Ausgangspunkte, um die weiter oben genannten Parametern inhaltlich weiter auszudifferenzieren. Genauer betrachtet werden hier wegen der stark unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten nur noch einmal der Bedarf, die Einsatzgemeinschaft, die Familiensubsidarität, die Einkommens- und Vermögensanrechnung, die Verwaltung und die Finanzierung betrachtet.

Für den Bedarf gilt also:

"Grundsätzlich sollte der Bedarf so festgelegt werden, daß - interpersonelle Vergleichbarkeit vorausgesetzt - allen ein gleiches Wohlfahrtsniveau garantiert wird. Die Wohlfahrt ist jedoch durch den Staat nicht direkt beobachtbar und überdies sind interpersonelle Vergleiche problematisch. Daher müssen geeignete Differenzierungen für die Bedarfsbemessung befunden werden, so daß unterschiedliche Individuen in eine vergleichbare Lage versetzt werden." (Hervorhebung - D.E.)

Des weiteren ist die Größe der Bedarfsgemeinschaft so berücksichtigen, daß eventuelle Kostenersparnisse durch gemeinsames Wirtschaften nicht zu ungleichen Wohlfahrtsniveaus der Individuen führt. Gegen ein Haushaltsprinzip und für ein Individualprinzip spricht andererseits die Problematik der Erfassung. Behinderung, Krankheit und Pflegebedürftigkeit führen ceteris paribus i.d.R. zu niedrigeren Wohlfahrtsniveaus, so daß ein gesonderter Ausgleich gerechtfertigt scheint. Das Lohnabstandsgebot limitiert den Bedarf nach oben. So sollte nie mehr gewährt werden, als den untersten Lohngruppen über Erwerbsarbeit zur Verfügung steht, um Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung zu schaffen (dies ist allerdings als grundsicherungsinterne Begründung umstritten).

Für die Einsatzgemeinschaft, die Familiensubsidarität sowie die Einkommens- und Vermögensanrechnung gilt:

"Wegen des Grundsatzes der Anreize zur Selbsthilfe sollten Erwerbseinkommen (im Gegensatz zu anderen Einkommen) nicht vollständig, sondern nur partiell angerechnet werden." (Hervorhebung - D.E.)

Der Verlust an Freizeit solle mit der Zunahme des Nettoeinkommens verbunden sein.

"Ergänzend zum Einkommen kann auch das Vermögen bedarfsdeckend verwendet werden. Daher sollte grundsätzlich auch das gesamte Vermögen unabhängig von seiner Anlageform angerechnet werden." (Hervorhebung - D.E.)

Anrechnungsfrei bleiben Vermögen, die unmittelbar zum Bedarf gehören, z.B. Gebrauchsgegenstände (Hausrat).

"Da zwischen Ehepartnern sehr weitgehende Unterhaltsverpflichtungen bestehen, können sie im Interesse der Verwaltungsvereinfachung zu einer Einsatzgemeinschaft, [...] zusammengefaßt werden. Darüber hinaus bestehen auch von unverheirateten minderjährigen Kindern gegenüber ihren Eltern weitreichende Unterhaltsansprüche. Allerdings sind die Unterhaltsansprüche von minderjährigen Kindern i.d.R. geringer als ihr Sozialhilfeanspruch, [...]" (Hervorhebung - D.E.)

Für die Verwaltung gilt:

"Die Verwaltung sollte sowohl aus Sicht des Leistungsempfängers als auch aus der Sicht der Leistungserbringung möglichst effizient erfolgen. Dies dürfte im allgemeinen für eine möglichst geringe Anzahl möglicher Stellen sprechen."

Als zuständige Stellen kommen trotzdem mehrere in Betracht. Entweder eine örtliche, da von ihr die beste Betreuung zu erwarten ist (bisher die Sozialämter), oder eine die auch für andere staatliche Transfers zuständig ist (Finanzamt, Versicherungsträger, Bundesanstalt für Arbeit).

Für die Finanzierung gilt:

"Die Finanzierung wird nur aus allgemeinen staatlichen Mitteln erfolgen können. Dabei sollte die gesamte Gesellschaft die Verantwortung für die Existenzsicherung ihrer Mitglieder treffen, so daß eine Bundesverantwortung für die Finanzierung geboten ist."

 

1.2 Das System der Sozialhilfe

Als gegenwärtiges Grundsicherungssystem in Deutschland fungiert die Sozialhilfe.

Sie soll mit ihren zwei Hauptzweigen, der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), und der Hilfe in besonderen Lebenslagen (HBL) für alle Gesellschaftsmitglieder ein Leben in Menschenwürde garantieren (§1 Abs.2 BSHG).

"Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt haben grundsätzlich alle, die sich tatsächlich in Deutschland aufhalten [...]. Darüber hinaus kann in besonderen Notfällen auch Deutschen im Ausland und deren Familienangehörigen Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt werden [...]."

Die HLU ist somit zunächst eine Grundsicherung i.e.S.. Vom Bezug der HLU ausgeschlossen sind i.d.R. Personen, die Leistungen nach anderen Gesetzen (Asylbewerberleistungsgesetz, Kinder- und Jugendhilfe, BAföG) erhalten oder erhalten könnten.

Schaubild 3

"Der Bedarf setzt sich zusammen aus dem Regelbedarf, etwaigen Mehrbedarfen und einmaligen Bedarfen. [...] Der Regelbedarf besteht aus dem Bedarf für Ernährung, für die Hauswirtschaft einschließlich Haushaltsenergie, für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens, den kalten Wohnkosten (einschließlich laufender kalter Nebenkosten) und den laufenden anfallenden Heizkosten. Der Regelbedarf mit Ausnahme der kalten Wohnkosten und der Heizkosten wird in der Regel in Form von pauschalen Regelsätzen gewährt."

Der Eckregelsatz, der 1998 im westdeutschen Bundesgebiet durchschnittlich bei DM 539,- lag, wird nur einer Person im Haushalt gewährt. Alle anderen Personen im Haushalt (soweit vorhanden) erhalten nicht den vollen Regelsatz. Seit 1990 erhalten weitere Erwachsene 80%, 14-17jährige 90%, 7-13jährige 65% und 0-6jährige 50-55% des geltenden Regelsatzes. Zusätzlich werden noch Mehrbedarfszuschläge gewährt, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Seit 1996 gilt außerdem ein gesetzliches Lohnabstandsgebot, welches sich am Nettoeinkommen und den Wohnkosten eines Haushaltes mit Alleinverdiener/-in in der unteren Lohngruppe orientiert, und hinreichend konkret ausformuliert wurde. Dieses Abstandsgebot begrenzt den Regelsatz und die Übernahme der Wohnkosten bei den LeistungsempfängerInnen. Hieraus ergeben sich folgende durchschnittliche Transferleistungen der HLU:

z.B. Alleinstehende DM 1154; Elternteil mit einem Kind (Æ ) DM 1858; Ehepaar ohne Kind DM 1823; Elternteil mit zwei Kindern (Æ ) DM 2515; Ehepaar mit zwei Kindern (Æ ) DM 2848 (Kaltenborn 1998).Diese Leistungen werden aber nur mit folgenden Einschränkungen gewährt:

Unterhaltsansprüche gegenüber nahen Verwandten werden vorrangig geltend gemacht. Alle regelrechten Einkommen (mit Ausnahme u.a. von Grundrenten, Mutterschaftsgeld und Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege) werden im Prinzip zu fast 100% angerechnet. Verwertbares Vermögen wird bis zum Verbrauch zu 100% angerechnet (mit Ausnahme von einem geringen Barfreibetrag, Hausrat, einem angemessenes selbstbewohntes Hausgrundstück bzw. einer Eigentumswohnung u.ä.).

Hinzu kommen mögliche Kürzungen als Sanktionsmaßnahmen mangelnder Selbsthilfe:

"Eine Tätigkeit ist nur dann nicht zumutbar, wenn die Erziehung eines Kindes gefährdet wäre [...], der Hilfeempfänger körperlich oder geistig hierzu nicht in der Lage ist, die künftige Ausübung der bisherigen Tätigkeit wesentlich erschwert würde oder ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht.

Arbeitsverweigerung wird durch den Verlust des (klagbaren) Anspruchs auf Hilfen zum Lebensunterhalt sanktioniert. Dies bedeutet jedoch nicht notwendigerweise den (vollständigen) Wegfall der Hilfeleistungen, allerdings wird seit August 1996 ‘in einer ersten Stufe’ die Hilfe um mindestens 25% des maßgeblichen Regelsatzes gekürzt (§ 25 Abs. 1 BSHG). [...] Eine Kürzung kommt aber nur dann in Betracht, wenn sie Hilfe zur Selbsthilfe ist, also die Chance besteht, daß der Hilfeempfänger zu einer Arbeitsaufnahme veranlaßt wird."

Für die Verwaltung der Sozialhilfe sind i.d.R. die kreisfreien Städte und die Landkreise zuständig. Während die Finanzierung der Bruttokaltmiete von Bund und Land getätigt wird, fällt den Kommunen die komplette Finanzierung der HLU zu.

Wichtig für die Bewertung der Wirksamkeit der bestehenden HLU als Grundsicherung (und damit Armutsvermeidungsstrategie) ist die genaue Betrachtung der Inanspruchnahme, insbesondere die Anzahl der Personen, die Dauer des Bezugs und die Gesamtkosten sowie die Höhe der in Anspruch genommenen Leistungen.

Schaubild 4

In der obigen Abbildung sind deutliche Sprünge bei den EmpfängerInnenzahlen zu sehen. Starke Anstiege sind von ’71 - ’77 und seit ’82 zu verzeichnen, horizontale Bewegungen oder gar Reduktionen sind nur von ’77 - ’81 und (wegen der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes) im Jahre ’94 beobachtbar. In Westdeutschland stieg der Anteil der EmpfängerInnen von ca. 1% bis auf 3,6% im Zeitraum von 1963 (Einführung) bis 1996.

"Bei der Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes 1961/62 wurde allgemein davon ausgegangen, daß die Gewährung von ‘Hilfe zum Lebensunterhalt’ zur Absicherung des Risikos der Einkommensarmut durch wirtschaftliches Wachstum und den Ausbau des vorgelagerten Systems der sozialen Sicherung nach und nach an Bedeutung verlieren und ‘Hilfen in besonderen Lebenslagen’ in den Vordergrund treten würden. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt."

Was die Bezugsdauer angeht, so ist auffällig, daß der Sozialhilfebezug i.d.R. eher kurz ist. Die HLU scheint gerade bei Ehepaaren mit Kindern nur eine Überbrückungsfunktion zu haben, während sie bei Alleinstehenden öfter auch über viele Jahre in Anspruch genommen werden muß. Interessant ist auch, daß sich die Gründe für den Sozialhilfebezug gewandelt haben. Obwohl die vorgelagerten Sicherungssysteme bei Verlust der Erwerbsarbeit Einkommen über Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sichern sollen, ist der Anteil der SozialhilfebezieherInnen wegen Arbeitslosigkeit von 14,4% 1972 auf 27,9% 1992 gestiegen. Im gleichen Zeitraum ging der Bezug wegen unzureichenden Versicherungs- oder Vorsorgeansprüchen von 25,8% auf 11,5% zurück.

Die Kosten für die HLU (also für den eigentlichen Grundsicherungskern der Sozialhilfe) sind seit der Einführung kontinuierlich auf 17,9 Mrd. (Brutto) in Westdeutschland im Jahre ’97 gestiegen (gesamtes Bundesgebiet ca. 20 Mrd.). Aussagekräftiger ist allerdings der Anteil an den kommunalen Ausgaben, da sie für die HLU zuständig sind. Während die Bruttoausgaben für die HLU im Vergleich zum BIP nur einen geringen Teil ausmachen (0,55% im Jahre ’97), ist der Anteil an den kommunalen Ausgaben doch erheblich. Er stieg von ca. 2,5% in den sechziger Jahren auf 6,4% im Jahre 1997.

"Trotzdem hat sich die relative Position der Sozialhilfeempfänger/innen in den vergangenen beiden Dekaden kontinuierlich verschlechtert: Betrug das gewichtete Durchschnittseinkommen der Sozialhilfeempfänger/innen 1972 noch 53, 6% des Bundesdurchschnitts, so lag es 1993 nur noch bei 48, 9%."

Schaubild 5

Trotz der erheblich gewachsenen kommunalen Haushaltsbelastung sind die Gesamtkosten für die HLU abzüglich der Einnahmen doch eher gering. Behauptungen, die HLU stelle eine erhebliche Belastung für die öffentlichen Haushalte insgesamt dar, sind nicht aufrechtzuerhalten, wenn die Kosten auf den Haushalt des Bundes bezogen würden.

"Die reinen Ausgaben für die Hilfe zum Lebensunterhalt (17,6 Mrd. DM) sind für eine Reformdiskussion der Hilfe zum Lebensunterhalt das maßgebliche Finanzvolumen, von dem ausgehend fiskalische Mehrausgaben notwendig oder Einsparungen möglich sind. Die gesamtfiskalische (geringe) Bedeutung dieses Betrages soll anhand einiger Vergleiche illustriert werden:

Die reinen Ausgaben für die Hilfe zum Lebensunterhalt entsprechen etwa dem Finanzvolumen von einem Beitragssatzpunkt zur gesetzlichen Sozialversicherung.

Eine Variation des Mehrwertsteuersatzes um einen Prozentpunkt entspricht etwa ebenfalls dem Finanzvolumen der reinen Ausgaben für die Hilfe zum Lebensunterhalt.

[...]" (Hervorhebung - D.E.)

Nach Kaltenborn sowie nach Sesselmeier, Klopffleisch und Setzer besteht für etwa ein Drittel der EmpfängerInnen die Möglichkeit, den HLU-Bezug bei einer erfolgreichen Arbeitsvermittlung mit ausreichender Entlohnung zu beenden. Allerdings befindet sich eine Teil dieses "Nettoarbeitspotentials" bereits in Maßnahmen zur Eingliederung, die in den seltensten Fällen zu einer Beschäftigung von mehr als 2 Jahren führt.

"Während 1996 durchschnittlich jeweils etwa jeder vierte arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger [...] an einer Maßnahme der Hilfe zur Arbeit teilgenommen hat, konnte durchschnittlich jeweils etwa nur jeder fünfzehnte Arbeitslose an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme der Bundesanstalt für Arbeit partizipieren."

Die Beschäftigungsdauer bei den Maßnahmen der Hilfe zur Arbeit liegt in 76% der Fälle unter einem Jahr, nur in 6% der Fälle über 2 Jahren.

 

1.3 Bewertung des gegenwärtigen Systems anhand der für die einzelnen Parameter erarbeiteten Kriterien

Erste Kritikpunkte betreffen das Niveau und die Berechnung der HLU. Seit 1990 gibt es ein sensibleres Bedarfsbemessungssystem für die Regelsätze der HLU, das sich auf die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und die Haushaltskundenbefragung der Vereinigung deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) stützt.

Die auf den Daten von 1983 und 1988 ermittelten hypothetischen Eckregelsätze (DM 555,55 bzw. DM 565,36) liegen für Juli 1998 bereits deutlich über dem tatsächlichen Durchschnittseckregelsatz. Dabei ist zu vermuten, daß bei der Berechnung mit den aktuellsten Daten der hypothetisch ermittelte Eckregelsatz noch höher liegen dürfte. Eine Anhebung der geltenden Regelsätze scheint also unter den gegebenen Bedingungen unausweichlich.

Außerdem fraglich ist, warum aus der EVS nur stark selektierte Daten als Berechnungsgrundlage dienen. Die herangezogenen Referenzhaushalte spiegeln offensichtlich nicht die gesamtgesellschaftliche Situation wieder. Das Verbraucherverhalten einer (unteren) Einkommensgruppe ist nicht repräsentativ, die Vernachlässigung von Ehepaaren mit Kindern bei der Berechnung bleibt nicht nachvollziehbar. In die Festlegung der Referenzhaushalte selber flossen wieder (zu niedrige) Sozialhilfesätze des Jahres 1983 ein. Es gibt noch eine Reihe weiterer ähnlicher Einwände, die deutlich machen, daß das Regelsatzniveau bei korrekter Berechnung ein anderes (wahrscheinlich ein höheres) wäre.

Die grundsätzlichen Kritikpunkte an der Leistungsfähigkeit der Sozialhilfe lassen sich unterscheiden nach solchen, die eher eine Ausweitung der angedachten Leistungen fordern, und solchen, die eine Einschränkung für unausweichlich halten.

Zur ersten Kategorie führt Kaltenborn an:

"Das durch die Sozialhilfe abgesicherte Existenzminimum (Bedarf) sei zu niedrig bemessen.

Die Sozialhilfe erfülle ihre Funktion als letztes Sicherungsnetz nur unvollständig, weil es viele Personen gebe, die ihren Anspruch nicht wahrnähmen (Dunkelziffer). Nach verschiedenen Schätzungen kommen zu jedem tatsächlichen Empfänger noch ein bis zwei Personen, die ihren Anspruch nicht wahrnehmen. [...]

Die unzureichenden Möglichkeiten zur Übernahme der Mietschulden durch die Sozialhilfe führe zu Obdachlosigkeit und damit zu einer Abwärtsspirale, die schließlich in noch höheren Sozialhilfeaufwendungen münde.

Der Individualisierungsgrundsatz führe aufgrund der damit verbundenen Kontrolle zu einem zu starken Eindringen in die Privatsphäre, insbesondere bei den einmaligen Leistungen."

Kaltenborn merkt weiter an, daß es erhebliche Abstimmungsprobleme der Sozialhilfe mit anderen Rechtsgebieten gebe. Dies betreffe v.a. die Höhe des einkommensteuerfreien Existenzminimums sowie die Mindestbedarfe im Unterhaltsrecht, der Beratungs- und Prozeßkostenhilfe sowie dem Pfändungsschutz.

Als Punkte, die für eine Einschränkung sprechen, führt Kaltenborn an:

"Das Sozialhilfeniveau sei zu hoch, der Lohnabstand nicht gewahrt.

Es gebe Mißbrauch der Sozialhilfe, sie würde auch von Personen bezogen, die keinen Anspruch hätten.

Das Ausmaß der Anrechnung eigenen Erwerbseinkommens sichere keine ausreichenden Arbeitsanreize.

Die Kosten der Sozialhilfe seien zu hoch.

Die Verwaltung sei zu aufwendig."

Eine Reform der Sozialhilfe, insbesondere der HLU, liegt deshalb auf der Hand. Im Laufe der letzten 10 - 15 Jahre wurden aus Wissenschaft und Politik eine Reihe von Reformmodellen entwickelt, die im weiteren Verlauf vorgestellt und bewertet werden sollen.

 

2. Alternative Grundsicherungssysteme

2.1 Alternative Reformmodelle aus dem wissenschaftlichen Diskurs

Aus den bisher vorgestellten Grundsätzen für ein Grundsicherungssystem und aus der geäußerten Kritik ergeben sich im Wesentlichen drei Reformansätze, die einen Teil der gesetzten Ziele erreichen und dabei die entstandenen Probleme umgehen oder lösen können.

  1. Eine starke Reform des bestehenden Sozialhilfesystems, bzw. zusätzlich zur Sozialhilfe in die Sozialversicherungen integrierte Mindestsicherungsregeln oder Sockelbeträge.
  2. Eine Negative Einkommensteuer (NIT oder Bürgergeldmodell) als Integrationslösung für das Steuer- und Transfersystem.
  3. Die Ablösung der bisherigen Sozialhilfe und der (meisten) Sozialversicherungen durch ein unbedingtes (garantiertes) Grundeinkommen (einer Sozialdividende).

Zu 1:

Diese in unterschiedlichen Varianten u.a. auch von Hauser und Kaltenborn selbst vertretene Strategie möchten die bestehende Sozialhilfe z.T. verbessern und erhalten, aber durch eine zusätzliche Mindestsicherung die Massenrisiken, also die von Armut besonders Betroffenen und bisher mangelhaft Geschützten, minimieren. Es soll damit Armut trotz Arbeit, trotz Bezug von Sozialversicherungsleitungen oder trotz Bezug von Sozialhilfe vermieden werden. Oder das bestehende System der Sozialhilfe soll durch eine verbessertes bedarfsorientiertes System als Grundsicherung i.e.S. ersetzt werden. Dieses System zeichnet sich, außer durch verschiedene Reformschritte zur Ausräumung von Problemen des bisherigen Systems, durch insgesamt erhöhte Transferleistungen aus. Da diese Strategien konkrete Schlußfolgerungen aus den Bewertungsergebnissen von Kaltenborn und Hauser enthalten, soll erst später genauer auf sie eingegangen werden.

 

Zu 2:

Eine noch umfassendere Reform sehen die Vertreter der NIT vor. Dieses ursprünglich in den 60er Jahren von Milton Friedman entwickelte Konzept wurde für die Bundesrepublik vor allem von Joachim Mitschke fortgeführt und auch vom "Kronberger Kreis" angenommen. Außerdem gibt es noch das etwas variierte Modell des "Ulmer Kreises", das wesentlich von Helmut Pelzer entwickelt wurde.

"Der Grundgedanke dieser Vorschläge liegt darin, die Pflicht zur Steuerzahlung und das Recht auf Transferleistungen (Sozialleistungen) in einem einzigen System, dem Einkommensteuersystem zusammenfassen. [...] Vorrangiges Ziel dieser Vorschläge ist die Vereinfachung des Steuer- und Transfersystems. Umverteilungsmaßnahmen das Staates, die gegenwärtig in allen Zweigen das sozialen Sicherungssystems, aber auch als Steuerbegünstigungen im Steuersystem zu finden und häufig nicht aufeinander abgestimmt sind, sollen in ein System der Negativen Einkommensteuer integriert werden."

Die primären Vorteile der NIT sind, daß erstens jede steuerpflichtige Person Zahlungen erhält, sobald ihr Einkommen gering ist, unabhängig von der Arbeitswilligkeit und unabhängig von der Zahlungsfähigkeit näherer Verwandter, und daß sich zweitens der Übergang von Arbeitslosigkeit und geregelter Erwerbsarbeit fließender gestaltet, da das Einkommen auch bei geringer Erwerbsarbeit direkt steigt.

Ein Hauptproblem stellt neben der Finanzierung das durch den geringen Grundbedarf ausgedrückte Leistungsniveau dar. Als Armutsvermeidungsstrategie, kommt die NIT deshalb nur mit der Garantie eines angemessen hohen Grundbedarfs in Betracht.

Friedman entwickelte die NIT als Bestandteil seiner Steuerreformvorschläge mit besonderem Augenmerk auf die Armutsvermeidung. Neben der Verminderung der absoluten Armut in den Industrieländern sieht er eine Steigerung von Formen relativer Armut in den reichsten Ländern. Zwar scheint ihm die private Wohlfahrt eine für die Armutsbekämpfung angemessene Vorgehensweise zu sein, doch gebe es Anzeichen dafür, daß bei steigender relativer Armut andere Mittel hinzugezogen werden müssen.

" [...] Wir wären vielleicht allesamt dazu bereit, zur Beseitigung der Armut beizutragen, vorausgesetzt, jeder beteiligte sich daran. Ohne eine derartige Zusicherung würden wir vielleicht nicht den gleichen Betrag aufbringen. [...] Angenommen, man akzeptiert diese Erwägungen als Begründung staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut, so wie ich es tue; dies soll bedeuten, den Lebensstandard jedes Individuums in der Gemeinschaft auf ein bestimmtes Niveau festzusetzen."

Er befürwortet ein Programm, das marktfähig und speziell auf die (Einkommens-)Armut zugeschnitten ist.

"Die Maßnahme, die sich aus rein technischen Gründen anbietet, ist eine negative Einkommensteuer. Derzeit besteht nach dem Bundeseinkommensteuergesetz ein Steuerfreibetrag von 600 Dollar pro Person [...]. Wenn eine Person ein steuerpflichtiges Einkommen von 100 Dollar bezieht, d.h. ein Einkommen von 100 Dollar über den Steuerfreibetrag und die absetzbaren Sonderausgaben, zahlt sie dafür Steuern. Nach meinem Vorschlag würde sie, wenn das Einkommen ‘minus’ 100 Dollar betrüge, d.h. 100 Dollar weniger als der Steuerfreibetrag plus der absetzbaren Sonderausgaben, negative Steuern bezahlen, also eine Zuwendung erhalten. Wenn der Zuwendungssatz beispielsweise 50 Prozent wäre, würde sie in unserem Beispiel 50 Dollar erhalten. Wenn sie überhaupt kein Einkommen bezöge [...], würde sie bei konstantem Zuwendungssatz 300 Dollar erhalten. [...] Die genaue Höhe des Grundeinkommens hinge davon ab, was die öffentliche Hand aufbringen könnte"

Die Vorteile des Systems gestalten sich Friedman zufolge in mehrerer Hinsicht: die Unterstützung für die Armen erfolgt in der für Friedman einzig sinnvollen Weise - in Bargeld; verschiedene Sondermaßnahmen könnten aufgegeben werden; die Kostenbelastung wird deutlich aufgezeigt; der Antrieb zur Selbsthilfe verringert sich nicht im vollen Maße; insgesamte Verringerung des Verwaltungsaufwandes; finanzieller Vorteil gegenüber der Summe von einzelnen Wohlfahrtsmaßnahmen.

Gefahren sieht Friedman lediglich durch politische Machtverschiebungen. So wie der Generationenvertrag beispielsweise in zweifacher Hinsicht, durch das insgesamt steigende Rentenaufkommen und durch die stärker werdende politische Einflußmöglichkeit der RentnerInnen gefährdet ist, so könnte auch eine mögliche Mehrheit der von der NIT Profitierenden den von ihr nicht Profitierenden höhere Steuerlasten aufzwingen.

In seiner ausgeprägtesten Variante sieht der Vorschlag von Mitschke sogar nicht nur eine NIT vor, sondern lediglich die Besteuerung von verbrauchtem Einkommen, also dem Konsum. Das nicht verbrauchte Einkommen, das als Vermögen anfällt, soll erst am Lebensende besteuert werden. Mitschke wie auch Friedman schlagen eine Vereinfachung der Steuersätze vor, diese führt von proportional progressiven oder gar unproportional progressiven Steuersätzen weg hin zu konstanten. Der Kronberger Kreis (Mitschke) schlagen den negativen Steuersatz von 50% und den positiven von 30% vor. Entscheidend für die Ausgestaltung der NIT ist also der Grundsicherungsbetrag, der sich an dem Einkommensteuerfreibetrag orientiert, die Transfergrenze "break even income" und die Höhe der positiven und negativen Besteuerung.

trj = bj - tax1 * yj für yj £ yfj = bj / tax1

sti = (yi - yfi) * tax2 für yi > yfi = bj / tax1

tr = Transferbetrag; st = Steuerbetrag; y = Einkommen bzw. Konsum/Reinvermögenszuwachs; b = Existenzminimum, Bürgergeld; yf = Transfergrenze; tax1 = Anrechnungssatz; tax2= Steuersatz

In einer einfachen Umsetzung könnte dies beispielsweise für einen Einpersonenhaushalt unter den Voraussetzungen: b = DM 1000; yf = 2000 DM; Eingangssteuersatz = 20%, Spitzensteuersatz = 50% (tax2); tax1 = 50% für unterschiedliche Bruttoeinkommen folgendes bedeuten:

yj1 = 0 DM; yj2 = 400 DM; yj2 = 1400 DM

Im ersten Fall würde dies zu einem Nettoeinkommen von DM 1000,- führen, im zweiten Fall zu DM 1200,- und im dritten Fall zu DM 1700,- .

Und für die Fälle Bruttoeinkommen DM 3000,-; DM 5000,- und DM 15000,- die Nettobeträge: DM 2800,-; DM 3950,- und DM 8500,-

Etwas anders sieht das Modell von Pelzer aus, da es schon stärker in Richtung eines unbedingten Grundeinkommens tendiert. Es wird deshalb genauer im folgenden Kapitel behandelt, so daß es hier auch nur kurz vorgestellt werden soll:

"Nach dem Ulmer Modell erhalten grundsätzlich alle Bürger, u.z. ohne Ansehen der Person, des Alters und der sozialen Lage ein Bürgergeld in Höhe des Existenzminimums als Grundeinkommen. Zusätzliches Einkommen (Zuverdienst) wird proportional zu etwa 10% versteuert und unterliegt außerdem einer Bürgergeldabgabepflicht in Höhe von etwa 30% des Bruttoeinkommens. Aus der Bürgergeldabgabe wird in einem Umlageverfahren das "Bürgergeld für alle" finanziert bzw. mit den zu zahlenden Abgaben (Lohn- oder Einkommensteuer plus Bürgergeldabgabe) verrechnet. [...]. Das Bürgergeld nach dem Ulmer Modell ist dynamisiert und an das Pro-Kopf-Einkommen gekoppelt. Es ist grundsätzlich für den Fiskus aufkommensneutral und für den Normalbürger vollkommen transparent."

 

Kostenschätzungen für eine NIT

Die erste Berechnung von Mitschke für das Jahr 1982 erfolgte unter der Bedingung der Haushaltsneutralität, d.h. das daß der Saldo aus Vermögens- / Einkommenssteuer und dem Transfervolumen der bisherigen Sozialhilfe dem Saldo aus Konsum- / Reinvermögenszuwachsteuer und dem Aufkommen für das Bürgergeld im Modell Mitschkes entsprechen sollte. Wie bereits oben angesprochen, sollte die Besteuerung oberhalb des Grenzsteuersatzes niedriger sein als die Transferentzugsrate unterhalb. Mitschke kommt bei seiner ersten Berechnung auf die Steuersätze 36% bzw. 30% und die Anrechnungssätze 45% bzw. 50%.

"Demnach erscheint eine Negative Einkommensteuer in der vorgeschlagenen Form für die Bundesrepublik Deutschland als durchaus finanzierbar, wenn man von den veränderten Rahmenbedingungen und vermutlich höheren Kosten infolge der deutschen Wiedervereinigung einmal absieht."

Hauser merkt aber an, daß in Mitschkes Vorgehensweise nur zu wenige und undifferenzierte Verteilungsinformationen einfließen. Die genaue Berechnung kann hier allerdings nicht behandelt werden. Weiterhin wird der Bedarf bei Mitschke schon für 1982 als zu niedrig angesehen, unter Zuhilfenahme aktueller Berechnungsmethoden würde die Differenz wohl noch deutlicher ausfallen. Daraus folgt ein höherer Transferaufwand und mindestens eine andere Steuer- und Anrechnungsgestaltung bei Mitschke. Auch die neueren Berechnungen für das Jahr 1992 stützen sich nach Hauser auf z.T. veraltete und ungenügende Daten aus dem Jahre 1986. Hauser bezeichnet Mitschkes Arbeit als "Überschlagsrechnung" und sieht die Haushaltsneutralität als empirisch nicht ausreichend gestützt. Es ist deshalb davon auszugehen, daß eine wirkungsvolle Ausgestaltung der NIT mit ausreichend hohem Bürgergeld nicht haushaltsneutral gestaltbar ist und deshalb auf Akzeptanzschwierigkeiten stoßen könnte.

Nach Hauser und Kaltenborn ist der zusätzliche Finanzbedarf einer NIT als erheblich einzustufen. Diese Auffassung wird gestützt durch neuere Berechnungen des DIW (1996) und von Sesselmeier, Klopfleisch und Setzer (1996). Letztere berechnen bei einem Grundbedarf für eine Alleinstehende von DM 1000,- unter Streichung der Sozialhilfe, des Wohn- und Kindergeldes, der Arbeitslosenhilfe, dem Erziehungsgeld sowie dem BAföG Mehrkosten von DM 126,4 Mrd. Für einen Anrechnungssatz von 50% und einen Spitzensteuersatz von 53%; DM 103,3 Mrd. für 53/53%; DM 81,1 Mrd. für 55/55% (alles bei einem Eingangssteuersatz von 30%). Die Mehrausgaben könnten eventuell über Einsparungen bei der Verwaltung gesenkt werden. Über die Größenordnung der Einsparung kann aber offensichtlich nur spekuliert werden.

Eine frühere grobe Berechnung von Gerhardt und Weber geht bei Einsparungen im Bundeshalt von einer problemlosen Finanzierbarkeit aus:

"Den Kosten einer negativen Einkommensteuer von 60 bis 100 Mrd. DM stehen Einsparungen gegenüber. [...] Von daher formulieren wir wie bereits oben: die Nettokosten eines garantierten Mindesteinkommens in der Form der Negativen Einkommensteuer dürften sich auf 30 bis 70 Milliarden DM beziffern. Wir sind so frei, dafür Einsparungen [...] vorzuschlagen, die sich auf insgesamt 85 Mrd. DM belaufen könnten. [...]

Die ‘hard facts’ sind: Reduzierung des Verwaltungsaufwandes durch Straffung und Vereinheitlichung eines integrierten Steuer- und Transfersystems, durchschnittliche Transfersumme je Empfänger bzw. Verbesserung der individuellen Verdienstmöglichkeiten und dergleichen. Zu berücksichtigen wären aber auch die monetär nicht bewertbaren Nutzen, die sogenannten ‘intangiblen Nutzen’. Die Beurteilung dieser Nutzen ist nach Effizienzkriterien kaum möglich, denn die Bemessung erfolgt üblicherweise im Wege der Budgetierung, und das heißt: auf politischem Wege."

Die meisten der bisherigen SozialhilfebezieherInnen hätten im Vergleich zum status quo einen geringeren Leistungsbezug, nur bei zusätzlicher Erwerbsarbeit kann deshalb das Einkommen über der bisherigen Sozialhilfeleistung liegen. Ein Vorteil könnte für Niedrigeinkommenshaushalte bestehen, die bereits einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Zum Teil könnten auch bisher Anspruchsberechtigte, die den Ämtergang vermeiden wollen, über höhere Einkommen verfügen, da sie nicht gesondert Antrag auf Sozialhilfe stellen müssen. Wie viele der Anspruchsberechtigten allerdings keinen Antrag auf Sozialhilfe stellen aber eine Einkommenssteuererklärung abgeben, bleibt ungeklärt. Außerdem ungeklärt bleiben die Arbeitsanreizwirkungen, die der NIT zugeschrieben werden und die die Gesamtausgaben des Staates verringern könnten.

 

Zu 3:

Obwohl Übergangsformen von einer NIT zu einem Grundeinkommen möglich sind, unterscheidet sich die Idee des garantierten (oder unbedingten) Grundeinkommens (UBI) von der NIT wesentlich. Sie ist die radikale Ausformulierung des Rechtsanspruchs auf ein Grundeinkommen für alle und wird ex ante ausgezahlt. Die NIT hingegen gewährt Transferzahlungen nur ex post. Bei einem UBI vollziehen sich demnach monatlich "zwei gegenläufige Geldströme, einerseits in Form der Grundeinkommenszahlung vom Staat an das Individuum und andererseits in Form der Steuerzahlung das Individuums an den Staat."

"Prinzipiell sind zwei Formen garantierten Einkommens zu unterscheiden:

Die Sozialdividende. Sie ist als Bruttorechnung aufzufassen. Jede Person erhält am ersten eines Monats einen gewissen Geldbetrag vom Finanzamt überwiesen. Es ist nötig, zu ihrer Finanzierung Steuern zu erhöhen. Jeder erhält also den Garantiesatz, aber ob er netto einen Vorteil gegenüber dem jetzigen Zustand hat, hängt davon ab, wie er von den nötigen Steuererhöhungen getroffen wird.

Die negative Einkommensteuer. Sie ist als Nettorechnung aufzufassen. Nur derjenige erhält etwas, dessen persönliches Einkommen entsprechend gering ist."

Schaubild 6

In der Diskussion ist die Sozialdividende oder das UBI schon seit einigen Jahrzehnten, die Ursprünge der Überlegung liegen sogar noch weiter zurück. Besonders dort, wo die Kritik am Kapitalismus etwa in eine "freie Assoziation der Produzenten" (K. Marx) oder in ein "Recht auf Wohlstand" (Kropotkin) münden soll, klarer noch in stark libertär oder antizentralistisch aufgeladenen politischen Theorien, wird die Forderung nach einem UBI deutlich.

Wegweisend zum Wechsel in das 20. Jahrhundert waren die Arbeiten von Karl Ballod (Atlanticus) und Josef Popper-Lynkeus. Popper-Lynkeus verfolgte die Trennung der Wirtschaft in zwei Sektoren. Ein Sektor sollte das Notwendige produzieren, und vom Staat organisiert sein, ein zweiter Sektor, in welchem der Luxus produziert werden sollte, frei marktwirtschaftlich organisiert sein. Die gesicherte Grundversorgung, in Naturalien ausgezahlt, besteht das ganze Leben lang und ist mit einer Verpflichtung zur Arbeit im notwendigen Sektor verbunden.

In den 1940er Jahren wurde ein Modell der Sozialdividende von Lady Rhys-Williams vorgestellt. Als relativ frühe Beschäftigung mit dem UBI können auch die Arbeiten von Erich Fromm bezeichnet werden. Zwar sind die hier behandelten Modelle zur Reform der HLU oder zu deren Ablösungen primär zur Bekämpfung der Einkommensarmut ausgelegt. Dennoch sind sekundäre Effekte, die Begleiterscheinungen von Einkommensarmut behandeln, nicht minder von Interesse, müssen hier aber notwendigerweise zurücktreten. Die psychologischen Aspekte eines UBI, die Fromm behandelt, können an dieser Stelle nicht gesondert behandelt werden.

In der Bundesrepublik Deutschland machten auf politischer Ebene die Vorschläge von Wolfram Engels (1968, 1975) aus den Reihen der CDU und vor allem ein Arbeitskreis um Michael Opielka bei den "Grünen" Mitte der achtziger Jahre die Anfänge in der Diskussion um das UBI.

Unter dem Titel "Staatsbürgergeld" forderte Engels einen garantierten Betrag für jede Erwachsene (für Kinder einen geringeren) zuzüglich einmaliger Zuwendungen pro Haushalt. Er sah vor, dafür sämtliche Einkommen zu besteuern, um zu massiv höheren Staatseinnahmen zu gelangen. In einer Modellrechnung für ein Grundeinkommen von DM 3000,- (!) kam er auf zusätzliche Kosten von 190 Mrd. p/a.

Bei Opielka u.a. war der Ausgangspunkt der Überlegungen

"[...] eine Kritik an dem erwerbsarbeitszentrierten sozialen Sicherungssystem, welches in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Sicherungslücken offenbarte. Der Vorschlag enthielt deswegen die Forderung nach einer Entkopplung von Arbeit und Einkommen durch Gewährung eines unbedingten Grundeinkommens und die gleichzeitige Einführung von Maßnahmen der Arbeitszeitumverteilung (20-Stunden-Normalarbeitserwerbswoche)."

Opielka und Vobruba nennen ihre Variante eine "sozialökologische Position", die sie als Alternative neben der neoliberalen Position, die nur ein Recht auf Einkommen unterhalb der Armutsgrenze fordert, und der traditionell-sozialistischen Position, die an einem Recht auf Arbeit festhalten will, welches in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit nur durch Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung lösbar zu sein scheint, diskutiert wissen wollen. Das UBI sehen sie als einen "überbetrieblichen Lohnausgleich", der "die staatlich überwachte Pflicht zur Arbeit verhindern" soll.

"’Recht auf Erwerbsarbeit’ und ‘Recht auf Einkommen’ seien nicht alternativ, sondern zwei wesentliche Bestandteile einer ökologisch orientierten Sozialreformstrategie (ergänzt um ein ‘Recht auf eigene Produktivmittel’).

Auch Thomas Schmid weist auf die überholte Hegemonialstellung der Lohnarbeit hin. Er bezeichnet sie als "das Allerheiligste des Kapitalismus", welches in der Auseinandersetzung von Gewerkschaften und Unternehmen, wie durch einen Pakt gesichert, unantastbar bleiben muß. Eine garantierte Mindestsicherung könne von den Unternehmen nicht befürwortet werden, da sie Faulheit fördere und die Arbeitsproduktivität gefährde. Die Gewerkschaften auf der anderen Seite seien Arbeitsorganisationen, die nicht die Interessen von Nichtarbeitern vertreten, sondern vielmehr an der Aufrechterhaltung der Ideologie der Vollbeschäftigung interessiert seien, um ihr Klientel (die beitragzahlenden Mitglieder) nicht zu verlieren.

Nicht erst die Theorie des Liberalismus (die eine Grundlage der Idee des UBI ist) fordert, daß den Opfern der Macht des Zentralstaats eine Lebensgarantie gegeben wird, die eine an dem Zustand der Gemeinschaft orientierte Qualität besitzt.

"Das Mindesteinkommen will ganz wenig und doch sehr viel. Wenig: es will die Arbeitslosigkeit nicht mehr - wie bisher - bestraft und stigmatisiert sehen. Viel: es will Räume schaffen, die es den Einzelnen ermöglichen (nicht vorschreiben!), auf Distanz zur Arbeitsgesellschaft zu gehen und die Abhängigkeit von Großorganisationen zu mindern."

Schmid möchte die Option etablieren, die die Menschen vom Rentabilitätskalkül der Unternehmer, daß sinnentleerte und unwürdige Arbeit schafft, befreit. Als Maximierungsansatz für individuelle, freie Wahlmöglichkeiten scheint das UBI besonders geeignet, nicht zuletzt deshalb, weil eine vollkommene Entkopplung von Arbeit und Einkommen in weiter Ferne zu liegen scheint. Das liegt u.a. an der Strukturierung des Zeithaushaltes, am Selbstbild, dem Selbstbewußtsein und der sozialen Anerkennung der Menschen die wesentlich über die Erwebsarbeitsprozesse und deren Teilhabe geregelt werden. Bei zunehmend verminderten Erwerbsarbeitsplätzen ohne Reform besteht auf der anderen Seite die Gefahr der Spaltung der Gesellschaft in Erwerbsarbeitsbesitzende und Nicht-Besitzende.

Die stärkere Betonung auf das Staatsbürgerrecht auf ein Grundeinkommen, die in den Theorien des UBI verankert ist, macht sie zu mehr als einer rein ökonomischen Alternativrechnung zur NIT. Dahrendorf140 fordert, daß zuerst die Staatsbürgerrechte definiert werden müssen, auf denen die Methoden aufbauen können. Diese verbindliche Festlegung als Ausgangslage schütz vor möglichen politischen Manipulationen, die der Grundintuition entgegenwirken.

"Wer Arbeit und Einkommen entkoppeln will, muß ein möglichst hohes Mindesteinkommen fordern. Wer nur die Vereinheitlichung der Skalen in einem einzigen (positiven und negativen) Steuersystem will, kann so herzlos sein wie er will. Wer dagegen das garantierte Mindesteinkommen als Staatsbürgerrecht will, muß mit einem mäßigen, aber eben garantierbaren Betrag beginnen. Dieser braucht nicht wesentlich über dem gegenwärtigen Sozialhilfesatz zu liegen. Entscheidend ist nur seine grundsätzliche Unangreifbarkeit, also sein Anrechtscharakter."

In den Reihen der Grünen wurde die Forderung nach dem UBI im Parteiprogramm schrittweise durch eine Reformstrategie der bedarfsorientierten Mindestsicherung abgelöst. Überhaupt läßt sich sagen, daß die Diskussion in Deutschland fast zehn Jahre lang nicht stattgefunden hat. Erst in den letzten Jahren hat sich die Ulmer Gruppe "Bürgergeldreform" um Pelzer stärker bemüht, die Vorteile eines UBI erneut wissenschaftlich zu fundieren.

Das Ulmer Modell ist im Gegensatz zum Modell Mitschkes ein UBI im eigentlichen Sinne, obwohl es aus der deutschen NIT Diskussion heraus erwachsen ist. Zwar ist die Zielsetzung z.T. deckungsgleich mit der der NIT, doch legen Pelzer u.a. einen größeren Wert auf die Gewährung eines garantierten Grundeinkommens ohne Bedürftigkeitsprüfung. Auch sie behaupten, dies sei haushaltsneutral durchsetzbar. Pelzer schlägt eine direkte Finanzierung des Bürgergeldes durch einen "Bürgergeldabgabesatz" vor, der aus den bisherigen Steuerabgaben isoliert wird. Mit seinen "Daten der Weltbank von 1996" kommt er zu folgendem Ergebnis:

"Für ein Bürgergeld von monatlich 1000 DM (Kinder die Hälfte) müßte der Abgabesatz etwa 22% des jeweiligen Bruttoeinkommens betragen, für monatlich 800 DM entsprechend weniger (17%), für 1200 DM mehr (27%). Regionale Unterschiede des persönlichen Bedarfs können rechnerisch berücksichtigt werden. Die zusätzliche Steuer für den restlichen Finanzbedarf des Staates wäre mit konstant etwa 10% oder progressiv von 0% bis 20% anzusetzen. Das Bürgergeld wäre das steuerfreie Existenzminimum, für jedes zusätzliche Einkommen (z.B. Zuverdienst) ergibt sich eine Gesamtbelastung von proportional 40% oder progressiv 30% (Eingangssatz) bis 50%. Die konstant 30 Prozentpunkte sind als Bürgergeldabgabe zweckgebunden. [...] Die Gesamtbelastung in % vom Bruttoeinkommen ist somit die Summe aus Steuer plus Bürgergeldabgabe minus Bürgergeld. Die verfügbaren Nettoeinkommen weichen im mittleren und oberen Einkommensbereich nur wenig von denen gemäß Steuertarif 1996 inklusive Kindergeld ab. Im unteren Einkommensbereich und insbesondere bei Familien mit Kindern sind sie im Ulmer Modell wegen des Bürgergelds höher."

Pelzer stellt sein eigenes Konzept als Korrektur des Mitschke-Modells vor. Es fußt auf drei Korrekturen bzw. Kritikpunkten des Mitschke-Modells:

"1) Die Berechnung und Auszahlung der gesamten steuerfinanzierten Sozialtransfers durch das Finanzamt ist nicht sinnvoll und nicht machbar.

2) Die unterschiedliche Behandlung der Bürger bei der Festsetzung des Steuerfreibetrags ist juristisch und moralisch nicht tolerierbar.

3) Das System ist aus Steuermitteln nicht finanzierbar."

Während Pelzer eine Lösung der in (1) geäußerten Kritik schuldig bleibt, meint er die Punkte (2) und (3) wie folgt lösen zu können. Pelzer behauptet, daß wegen der Unterscheidung von Anrechnungssatz und positiver Steuer eine Ungleichbehandlung von BürgergeldbezieherInnen und Nicht-BezieherInnen entstünde. Da die eigentliche Besteuerung über dem Steuerfreibetrag liege (der um das 2-fache über dem Grundbetrag bei einem Anrechnungssatz von 50% liegt), hätten die BezieherInnen einen doppelten Freibetrag, während die Nicht-BezieherInnen bereits ab dem Existenzminimum besteuert würden.

Obwohl diese Analyse nicht ganz richtig ist, wird die Zielrichtung doch deutlich. Mitschkes Modell hat auf Grund der Favorisierung von Arbeitsanreizen das Problem, die Ungleichbehandlung begründen zu müssen. Klarer wäre es, allen ein Grundeinkommen zu garantieren und alles zusätzliche Einkommen zu versteuern. Nach dem Ulmer Modell gibt es keine negativ/positiv Rechnung mehr, sondern die Vereinheitlichung von Hilfeempfängerin und Steuerzahlerin in einer Person.

"Bei Mitschke wird die Hälfte des Zuverdiensts vom Bürgergeld abgezogen (auf dieses angerechnet), im Ulmer Modell ist der abgezogene Teil eine Steuer auf das Einkommen, das Bürgergeld selbst bleibt unangetastet, d.h. es bleibt in voller Höhe erhalten."

Die Finanzierung eines Grundeinkommens etwa von DM 1000,- läßt sich nach Pelzer sehr einfach berechnen. Bei einem Durchschnittsbruttoeinkommen von DM 3300,- (1993) ergebe sich eine direkte Steuerabgabe von 30% zur Finanzierung. Pelzer geht davon aus, daß auf Grund dieser direkten Abgaberegelung, die mit starken Einsparungen im Sozialbudget verbunden ist, die sonstigen Staatsausgaben über eine Steuer von rund 10% finanziert werden könnten. Genaueres zur Berechnung und Kritik folgt im Abschnitt über die Kostenschätzung.

Am intensivsten setzt sich auch heute noch der belgische Wissenschaftler Philippe van Parijs mit dem UBI auseinander. Er hat nicht nur zwei wichtige Veröffentlichungen über das UBI verfaßt bzw. herausgegeben (Real Freedom for All 1995; Arguing for Basic Income 1992), sondern ist auch wesentlich an der Arbeit des Basic Income European Network (BIEN) beteiligt, in welchem u.a. das europäische Parlament, das International Labor Office und die britische Forschungsgruppe BIRG organisiert sind.

Kostenschätzungen für ein UBI

Orientiert an der Kostenschätzung für eine NIT, die hier anhand von Hauser (1996) und Kaltenborn (1995 und 1998) präsentiert wurde, ist für ein UBI von armutsvermeidender Höhe mit einem noch größeren Finanzaufwand zu rechnen. Obwohl exakte Berechnungen fehlen, gehen die meisten Schätzungen von einem etwa 10 mal höheren Finanzbedarf als bei einer NIT aus. Wie auch bei der NIT sind die Einsparmöglichkeiten begrenzt. Zwar wäre prinzipiell bei einem sehr hohen UBI auch die Substitution des Arbeitslosengeldes denkbar, da es sich dabei aber nicht um eine steuerfinanzierte Sozialleistung handelt, sondern um eine Sozialversicherung, die Leistungen nach unterschiedlichen Beiträgen gewährt, und somit Leistung ungleich belohnt werden könnten, ist die Einbindung in das Grundsicherungssystem problematisch. Hauser (1996) kommt auf Einsparmöglichkeiten im Rahmen von 57 Mrd. DM (das entspricht ca. 5,7% des Sozialbudgets) für das Jahr 1996. Die Zahlen für 1999 dürften davon nur geringfügig abweichen.

Gerd Grözinger kommt bei einer Berechnung für die Bundesrepublik unter Verwendung von Daten aus dem Jahre 1982 für das Jahr 1985 zu einem zusätzlichen Finanzbedarf von DM 760 Mrd. Er geht für seine Berechnung von einem Konzept aus, das als Standardeinrichtung für alle gelten soll. Er hält dies nur für finanzierbar, wenn dafür möglichst alle bestehenden Sozialleistungen wegfallen. Des weiteren strebt er einen einheitlichen Steuersatz zur Finanzierung an.

"Diese doppelten Überweisungen - vom Finanzamt, an das Finanzamt - mögen als überflüssige Aufblähung des Transaktionsvolumens erscheinen. Aber gerade weil es für das Staatsbudget gleich ist, ob am Ende des Jahres alle Einnahmen von und alle Auszahlungen an eine beliebige Person verrechnet werden oder monatliche Steuern und GEK unabhängig fließen, kann das letztere gewählt werden."

Er sieht einen integrierten Steuer- und Sozialversicherungssatz vor, der wie folgt aussehen soll:

"Alle um die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung erhöhten Bruttolöhne und -gehälter werden ohne Freibetrag und Progression mit dem ISS belegt.

Jede Gewinnausschüttung unterliegt dem ISS.

Bei Objekten, wo Arbeitsleistung versteckt sein kann (z.B. Immobilien) oder Gewinn verborgen (z.B. Wertpapiere), wird auf eine eventuelle positive Differenz zwischen Verkaufspreis und Kaufpreis (bzw. Gestehungskosten) der ISS erhoben.

Sollte zur Planungsgewinnabschöpfung keine weitgehendere Forderung erhoben werden, so gilt die gleiche Regelung wie oben auch für Grund und Boden."

Neben dem Grundeinkommen schlägt Grözinger für Kinder ein Nicht-Erwachsenen-Einkommen (NEK) in Höhe von 50% des GEK vor, sowie eine Grundrente (GR) für Ältere, die ursprünglichen Fehlentscheidungen bei der privaten Altersvorsorge entgegenwirken soll, und bei Nichterwerbstätigkeit im Rentenalter ein Nettoeinkommen ermöglicht, was über dem reinen GEK liegt. Zusätzlich sollte es einen garantierten Schutz vor Krankheit, Invalidität und vor Unfällen geben. Dafür sorgt eine Krankenversicherung (KV), für die der Staat bürgt, und die durch einen einheitlichen Beitrag von allen BürgerInnen finanziert wird. Das GEK soll für das Jahr 1985 DM 900,- betragen, das NEK DM 450,- und die GR DM 1125,-. Für seine Berechnung arbeitet er allerdings mit geringeren Leistungen (DM 800,-; 400,- und 1000,.-). Der Staat hat weiterhin für das Aufkommen der KV zu sorgen, das mit DM 199,- pro Person pro Monat angegeben wird Dieses Aufkommen muß der Staat über Steuereinnahmen decken.

Nach Grözinger würde dieses System gegenüber dem status quo besonders Ledigen, Kindererziehenden, Frauen und weniger Wohlhabenden zugute kommen. Er rechnet mit mehreren Reformschritten, die über einen Zeitraum von fünf Jahren verteilt werden könnten.

Die Höhe des zur Finanzierung nötigen neuen Steuersatzes (ISS) läßt sich Grözinger zufolge einfach berechnen:

205069 + (162,8208 x NEK) + (430,758 x GEK) + (146,072 x GR) = ISS

13986

Die Zahl 13986 ergibt sich aus dem Nettosozialprodukt, das zur Versteuerung mit dem ISS herangezogen werden kann. Ein Prozentpunkt entspricht Einnahmen in Höhe von 13 986 Mio. DM. Die sich ergebende Finanzlücke würde einen ISS von 54% fordern.

Hauser kritisiert an dieser Berechnung erstens die herangezogene Steuerbemessungsgrundlage, die er bei Grözinger als zu optimistisch gewählt ansieht. Zweitens hält er den ermittelten Steuersatz für nicht durchsetzbar, da er einen bereits in der Kritik stehenden von 50% noch übertrifft. Hauser hält allenfalls ein "partial basic income" für durchführbar. Erkenntnisse aus Analysen für die USA und GB scheinen dies zu unterstützen. Hauser zitiert A.B. Atkinson, der Schätzungen von Hermoin Parker und Philip Vince aus den Jahren ’82 und ’83 als zu niedrig einstuft. Er kommt im Gegensatz zum angegebenen Steuersatz von 44% auf 48 - 51%. Neuere Überlegungen Parkers verfolgen ein Zweischrittsystem, in dem nur ein "partial basic income" angestrebt wird. Selbst für den ersten Schritt eines niedrigen GEK ist nach Atkinson und Parker mit einem Steuersatz im Bereich von 27 - 45% (progressiv) zu rechnen.

So erscheint die Idee zwar politisch durchsetzbar, geht jedoch an der Grundintuition, Leistungen für alle zu garantieren, die über den Sozialhilfesätzen liegen, vorbei.

Wie schon weiter oben angesprochen, schätzt Pelzer die Finanzierbarkeit eines ausreichend hohen UBI optimistischer ein. Er kommt bei einem Volkseinkommen von DM 3000 Mrd. bei unterschiedlicher Höhe des UBIs nie über eine Gesamtbesteuerung der Einkommen von 43%.

An dieser Einschätzung besteht aber selbst aus den eigenen Reihen Kritik. In einer Arbeitsgruppe wurde diese Einschätzung untersucht und korrigiert. Da Pelzer in seinem Modell die Sozialabgaben in vollem Umfang beibehalten muß, ist mit einer Besteuerung von über 60% zu rechnen. Da dies als viel zu hoch angesehen wird, hat sich die Arbeitsgruppe darauf geeinigt, über das Bürgergeld lediglich das physische Existenzminimum zu garantieren. Bei einem BG von 800 DM geht die Gruppe von einer Steuer von 45% aus (15% Bürgergeldabgabe - F - ; 10% sonstige Steuern, progressiv bei 0 beginnend, um hohe Arbeitsanreize zu schaffen - S -; 20% Sozialabgaben). Da allerdings Pelzer selbst bei einem BG von DM 800,- eine F von 22,1% berechnet hat, ist dieses Ergebnis ohne weiteres nicht nachvollziehbar.

Die Gruppe hält es darüber hinaus für denkbar, die Sozialabgaben bei einem BG langfristig zu senken.

Pelzer und Bissels kommen in einer genaueren mathematischen Berechnung mit zwei Steuermodellen auf eine Spitzenbelastung 40% (konstant) bzw. 55% (progressiv) für ein BG von DM 800,- (scheinbar incl. Sozialabgaben). Das führt zu Steuerabgaben zwischen DM 0,- und DM 55200,- (konstant), und zu 0,- und 60718,- bei zu versteuernden Einkommen von DM 0,- bis DM 150000,- (progressiv) ohne Sozialabgaben.
 

Schaubild 7

Um eine Einführung zu erleichtern, schlagen sie eine Integration in das bisherige System mit einem BG von DM 500,-/250,- vor. Dadurch könnte der Regelsatz und das Kindergeld ersetzt werden. Dafür wäre ein konstanter Steuersatz von 25,9% ohne Sozialabgaben nötig. Ob eine solche Teilreform aber überhaupt vorteilhaft für die Personengruppen wäre, die letztlich von einem UBI profitieren sollen, ist äußerst fraglich, da die Transferleistungen nicht über den aktuellen liegen. Lediglich die fehlende oder geringe Besteuerung von Erwerbseinkommen bei geringer Entlohnung könnte Vorteile bieten. Auch scheint das Modell so insgesamt noch fragwürdig, da Personen ohne Erwerbseinkommen auch bei einem UBI von DM 1000,- pro Person noch weniger Leistungen erhalten, als ihnen aktuell nach dem BSHG zusteht (DM 1154,-, nicht korrigiert). Da davon ausgegangen werden muß, daß Pelzer u.a. das Wohngeld streichen wollen, ist das eine Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Zustand.

Gerade bei einem niedrigen UBI fällt auch der Vorteil für Personen in einem festen Arbeitsverhältnis mit geringer Entlohnung eher gering aus, da die Besteuerung bei einem UBI auch für sie stark erhöht wird.

 

2.2 Die Reformmodelle in der politischen Diskussion

Im politischen Diskurs werden z.Z. vielerlei Reformen behandelt. Die meisten politischen Organisationen (incl. der wichtigsten Parteien) sehen eine Reform des bestehenden Systems vor. Hier sollen nur einige Vorschläge herausgegriffen werden, die sich an den wissenschaftlichen Diskurs anschließen und eine weitreichende Reform vorsehen. Es handelt sich um den Vorschlag von B90/die Grünen, der sich an einer bedarfsorientierten Grundsicherung orientiert, um den Vorschlag der PDS, der eine stark pauschalierte Grundsicherung vorsieht, um die Vorschläge der CDA und der F.D.P., die sich an einer NIT orientieren sowie um den Vorschlag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen, der ein UBI (Existenzgeld) vorsieht.

Das Modell von B90/die Grünen

Während die Grünen zu Beginn der 80er Jahren noch langfristig die Einführung eines unbedingten Grundeinkommens vorsahen, beruht ihr aktueller Vorschlag auf einer Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung. Dieses Modell wurde 1988 erstmals aufgegriffen und in den Jahren ’91 und ’94 erweitert. 1996 wurde das Modell noch einmal stark überarbeitet (u.a. unter Mitwirkung von Kaltenborn) und 1997 auf dem Parteitag verabschiedet. Wie auch das Modell der SPD sehen die Grünen die Anknüpfung an die HLU und eine teilweise Integration in die bestehenden Sozialversicherungssysteme vor. Obwohl es sich nur um eine Reform mit begrenzter Reichweite handelt, soll das garantierte Existenzminimum doch erheblich angehoben werden. Weiterhin ist eine Ausweitung des anspruchsberechtigten Bevölkerungskreises vorgesehen.

"Das Konzept folgt vier Grundsätzen:

  1. Achtung der Autonomie der Leistungsempfänger,
  2. Achtung der Bürgerrechte,
  3. Unterstützung der Teilhabe an der Arbeitswelt und
  4. Orientierung an der Lebenswirklichkeit und an der Lebensform in einer modernen Gesellschaft."

Die Transferleistung orientiert sich nicht an Individuen, sondern an Haushalten. Die Leistung verringert sich für die Individuen mit steigender Haushaltsgröße, Altersunterschiede bleiben unberücksichtigt.

Während die einmalige Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten bleiben soll, wird die laufende Hilfe durch eine Leistung aus fünf Elementen ersetzt, die sich jedoch weitgehend am bestehenden System orientieren. Die Transferleistung besteht aus:

Dies führt zu einer monatlichen Transferleistung an einen Einpersonenhaushalt von DM 1285,67 (West) und DM 1134,18 (Ost) im Jahre 1997 zzgl. eventuellem Mehrbedarf, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung.

Die Feststellung der Bedürftigkeit findet bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften auf individueller Basis statt, während sie bei Ehepartnern unter Halbteilung der gemeinsam verfügbaren Ressourcen erfolgt. Unterhaltsansprüche sollen darüber hinaus v.a. gegenüber nahen Verwandten der vorigen Generation geltend gemacht werden müssen. Genauer:

"Gegenüber der Grundsicherung vorrangig sein sollen [...] Unterhaltsansprüche gegenüber dem dauernd getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten sowie - soweit sie nicht ohnehin zu einer gemeinsamen Einsatzgemeinschaft gehören - von Kindern in Erstausbildung bis zum Alter von 26 Jahren und von minderjährigen Kindern gegenüber ihren beiden mit ihnen lebenden Elternteilen, ihren nicht mit ihnen lebenden Elternteilen sowie gegenüber ihrem mit ihnen lebenden Elternteil, falls ein Elternteil verstorben ist."

Was die Einkommensanrechnung betrifft, sieht das Modell vor, Erwerbseinkommen bis 25% der Pauschale frei zu stellen, weiteres Einkommen zu 80% anzurechnen sowie sonstiges Einkommen voll anzurechnen - mit folgenden Ausnahmen:

Erziehungsgeld, Mutterschaftsgeld, Geldleistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz, Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme, Leistungen der HbL, Schmerzensgeld als auch Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Arbeit etc.

Vermögen, welches DM 8000,- (Alleinstehende, jede weitere Person 70%) übersteigt, soll voll angerechnet werden. Mit Ausnahme von:

"Vermögen, das zur alsbaldigen Gründung eines angemessenen Hausstandes bestimmt ist, unabhängig von seiner Herkunft,

Vermögen, das nachweislich zum alsbaldigen Erwerb einer angemessenen Wohnmöglichkeit (Hausgrundstück oder Eigentumswohnung) bestimmt ist,

Vermögen, das für eine alsbaldige Berufsausbildung, zum Aufbau oder zur Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage oder zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung bestimmt ist."

Die Verwaltung soll unter Ämtern aufgeteilt werden:

Die Arbeitsämter sollen bei Erwerbslosigkeit, die Finanzämter bei unzureichendem Erwerbseinkommen, die Rentenversicherungsträger bei Rentenansprüchen, die Landesvesicherungsanstalten bei Rentenalter ohne Rentenansprüche, die Sozialämter für sonstige Fälle zuständig sein. Allerdings scheint diese Regelung verwirrend, da betroffene Haushalte zugleich unterschiedlichen Ämtern zugewiesen werden könnten.

Die Kosten sollen Bund und Länder tragen, die Kommunen sollen entlastet werden. Insgesamt wird ein finanzieller Mehraufwand nach unterschiedlichen Studien von DM 10 Mrd. bis 24,4 Mrd. erwartet. Zur Finanzierung sollen eine Reform der Erbschafts- und Vermögenssteuer sowie eventuelle Einsparungen durch die Integration von Arbeitslosenhilfe und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beitragen.

 

Der Vorschlag der PDS

Die PDS hat ihr 1993 vorgestelltes und 1996 weiterentwickeltes Konzept einer sozialen Grundsicherung mit dem Titel "Soziale Grundsicherung gegen Armut und Abhängigkeit, für mehr soziale Gerechtigkeit und ein selbstbestimmtes Leben" auf dem Parteitag 1997 angenommen und verfolgt es bis heute. Ziel ist ein stark pauschaliertes Grundsicherungssystem, das auf Individuen ausgerichtet ist.

Einer Person ab 16 Jahren soll eine Pauschale von DM 1425,- (1996, vorläufig) zzgl. Krankenversicherungsbeitrag zustehen. Allen jüngeren Personen steht ein Betrag zwischen DM 570,- und 740,- zu. Die Höhe des Betrages bemißt sich einerseits an der 50% Æ NEK-Armutsregelung, andererseits an einem Warenkorbmodell. Offensichtlich soll der geleistete Transfer die 50% Grenze nicht unterschreiten, aber auch nicht wesentlich überschreiten. Der Warenkorb soll von einer Expertenkommission aus Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften, Betroffenenverbänden und Initiativen zusammengestellt werden. Da die Pauschale nicht explizit das Wohngeld mit einschließt, kann offensichtlich außerdem Wohngeld bezogen werden.

Unterhaltsansprüche bestehen nur unter nicht getrennt lebenden Ehegatten und offenbar eingeschränkt zwischen Eltern und Kindern. Die Einkommens- und Vermögensanrechnung bleibt etwas unklar. Offensichtlich soll jedoch jegliches eigenes Einkommen voll auf die Grundsicherung angerechnet werden.

Die Verwaltung soll weitestgehend von den Sozialämtern an die Sozialversicherungsträger übergehen. Die zusätzlichen Kosten werden auf DM 164,5 Mrd. bis 175 Mrd. geschätzt. Die Finanzierung soll v.a. durch Einsparungen und Steuererhöhungen in folgenden Bereichen gesichert werden:

" - Die Ausdehnung der (Sozial-) Versicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen,

- eine deutliche Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen,

die Heranziehung des betriebswirtschaftlichen Ertrages als zusätzliche Beitragsbemessungsgrundlage (für die Beiträge zur Sozialversicherung),

eine Ausdehnung der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, wie sie von der Einkommensteuer-Kommission vorgeschlagen wurde,

eine Reduktion steuerlicher Subventionen,

eine wirksamere Bekämpfung von Steuermißbrauch, -hinterziehung und -flucht sowie

die Einführung einer Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte."

Das Modell sieht zusätzlich vor, die einmaligen Hilfen, die Arbeitslosenhilfe und das Erziehungsgeld langfristig zu streichen. Für Auszubildende soll eine Mindestvergütung von 40% des Æ NEK eingeführt werden. Eine Mindestlohnregelung soll durchgesetzt werden, die Erwerbseinkommen bei Vollzeitbeschäftigung über der sozialen Grundsicherung sichert.

 

Die Modelle von F.D.P. und CDA

Die Reform der CDA sieht im Wesentlichen eine Erhöhung der Transparenz des Steuer- und Transfersystems sowie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vor. Dies soll in Anlehnung an den NIT Vorschlag von Mitschke sowie in Anlehnung an die Kombi-Lohn- bzw. Kombi-Einkommensvorschläge (Lohnsubvention) geschehen. Die F.D.P. hat eine identische Zielsetzung mit einer noch stärkeren Anlehnung an Mitschke.

Während die CDA als Bedarfsfestlegung nur den gesetzlichen Lohnabstand angibt, will sich die F.D.P. an dem verfassungsmäßigen Existenzminimum orientieren. Weiterhin fordert sie eine Begrenzung nach oben, die Arbeitsanreize erhalten soll. Für eine alleinstehende Person ohne Kind fordern sie ein Bürgergeld in Höhe von DM 1050,-, was unterhalb der bisherigen Sozialhilfeleistung liegt. Bei der Einkommensanrechnung sieht die F.D.P. generell einen Freibetrag von DM 150,- für Erwerbstätige vor. Jedes weitere Erwerbseinkommen soll zu 50% auf das Bürgergeld angerechnet werden. Die CDA sieht generell eine Anrechnung von 50% vor. Sie sieht außerdem eine Vereinfachung der Verwaltung vor, die F.D.P. ebenso, sie will die Verwaltung den Finanzämtern übertragen.

Beide Organisationen wollen ihr Modell haushaltsneutral finanzieren. Es wird mit Einsparungen durch Zielgenauigkeit, Verwaltung und Arbeitsanreize gerechnet. Die beitragsfinanzierten Leistungen (Sozialversicherung) sollen erhalten bleiben, während das Kindergeld, das Erziehungsgeld, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie das Wohngeld integriert (ersetzt) werden sollen (explizit bei der F.D.P.)

 

Das Modell der BAG SHI

"Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen [1992] und die Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut [1992] haben weitgehend identische Forderungen nach dem Existenzgeld vorgelegt.

Das Existenzgeld wird an alle Individuen ohne Antrag ausgezahlt und soll das sozio-kulturelle Existenzminimum abdecken. Das Existenzgeld ist eine einfache Variante eines UBI in Höhe von monatl. DM 1500,- pro Person zzgl. Wohnkosten. Für den monatl. Bedarf werden in DM veranschlagt:

Ernährung und Dinge des tägl. Bedarfs 500,-; Gesundheit (incl. Krankenversicherung) 250,-; Energie 50,-; Urlaub 150,-; Bekleidung 150,-; Kommunikation, Soziales, Hobbys, Freizeit, Kultur, Sport, Mitgliedsbeiträge, Interessenvertretung 200,-; Mobilität 100,-; Instandhaltung, Möbel 100,-.

Da es sich um ein UBI handelt, entfällt die Überprüfung von Unterhaltspflichten. Es gibt keine Einkommens- und Vermögensanrechnung. Die Verwaltung ist auf ein Minimum reduziert, da das Existenzgeld ex ante pauschal ausgezahlt wird.

Die Bruttokosten werden auf ca. DM 1467 Mrd. geschätzt, sie sollen durch Wegfall von Sozialleistungen und der Privatisierung der Sozialversicherung verringert werden. Außerdem soll eine zweckgebundene Abgabe (die die bisherigen Sozialabgaben beinhaltet) in Höhe von 50% auf alle Nettoeinkommen und Erbschaften eingerichtet werden. Das Modell wurde 1997 noch einmal überarbeitet, bleibt aber weiterhin holzschnittartig. Die Organisationen hoffen Erkenntnisse über die Durchsetzbarkeit durch lokal begrenzte Experimente gewinnen zu können.

 

2.3 Die Bewertung der Vorschläge nach Kaltenborn und Hauser

2.3.1 Kaltenborn

Allgemeine Bewertung

Nach Kaltenborn sieht keines der Reformmodelle aus parteipolitischer Richtung eine relevante Senkung der Transferleistung vor. Allerdings sehen nur die Vorschläge von B90/die Grünen, der PDS und der BAG SHI sowohl eine neue Strukturierung, als auch eine deutliche Erhöhung vor. Von diesen Modellen ist der Vorschlag der Grünen mit einem eher geringen, die Vorschläge der PDS und der BAG SHI sind mit einem erheblichen Finanzaufwand verknüpft.

Die Bedarfe für unterschiedliche Familientypen würden sich gegenüber dem status quo z.T. drastisch erhöhen:

z.B. Grüne PDS BAG SHI

1) Für eine alleinstehende Frau: +23% +29% +60%

2) Für ein Ehepaar: +23% +63% +83%

3) Für eine Alleinerziehende, Kind 5 Jahre: +17% +9% +76%

4) Für ein Ehepaar, 2 Kinder, 5 u. 10 Jahre: +34% +54% +125%

Auch die Transfergrenzen der unterschiedlichen Vorschläge variieren:

in DM HLU Grüne PDS NIT

1) 1900 2950 2050 3550

2) 2650 4150 4150 5550

3) 2250 Sonderregelung 7150 4750

4) 3350 6900 8550 8150

Der Vorschlag der BAG SHI sieht keine Transfergrenze vor.

Etwas unterschiedlich fallen dementsprechend auch die Gewinnschwellen für den Staat aus:

1) 1200 1550 1250 1450

2) 1750 2300 2300 3050

3) 1850 2800 1850 2350

4) 2500 3650 3550 3400

Das Modell der BAG SHI wurde von Kaltenborn nicht weiter verfolgt. Nach eigenen (D.E.) Schätzungen wird die Gewinnschwelle erst bei über DM 3000,- für eine Alleinstehende liegen.

Ein Vergleich der Transfergrenzen und Gewinnschwellen zeigt, daß das Steuer-Tansfersystem in allen Vorschlägen nicht ausreichend überarbeitet wurde, da der Staat schon bei Bruttolöhnen Gewinn schöpft, bei denen Transferbezug noch möglich ist. Einzig das von Kaltenborn nicht weiter beobachtete Modell der BAG SHI bietet hier einen Ausweg, da es keine Transfergrenze, dafür allerdings eine äußerst hohe Gewinnschwelle beinhaltet.

Die Modelle im Überblick beim Vergleich von Bruttolöhnen und Haushaltsnettoeinkommen einer Alleinstehenden:

Schaubild 8

Einige Ergebnisse Kaltenborns aus den Einkommensvergleichen:

"Alle Reformvorschläge erhöhen die Transfergrenze, d.h. jenen Bruttomonatslohn, ab dem ein Grundsicherungsanspruch endet. Besonders deutlich wird die Transfergrenze von den Grünen, der negativen Einkommensteuer und mit Ausnahme für die Alleinstehenden auch von der PDS erhöht. [...] Wesentliche Ursache für die deutliche Erhöhung nach den Modellen der Grünen und der PDS ist die geringe oder fehlende Berücksichtigung der Elterneinkommen bei Kindern. [...]

Auch erhöhen alle Reformvorschläge die gesamtfiskalische Gewinnschwelle, wenngleich diese Erhöhung nicht so deutlich wie diejenige der Transfergrenze ausfällt. Dies betrifft besonders die gleichen Modelle und Familientypen wie die Erhöhung der Transfergrenze. [...]

Die betrachtete Variante der negativen Einkommensteuer (NIT) führt dazu, daß die Aufnahme oder Ausweitung einer Beschäftigung nahezu durchgehend mit einer relevanten Erhöhung des verfügbaren Nettoeinkommens verbunden ist. Gleichzeitig können jedoch Familien mit zwei Personen häufig und größere Familien regelmäßig kein Einkommen erzielen, daß einen Transfer der Negativsteuer ausschließt."

Bewertung der einzelnen Modelle

Die von Kaltenborn untersuchten Modelle sind nicht nur in ihrer gesamten Reichweite, sondern auch in ihrer Zielsetzung und Ausgestaltung sehr unterschiedlich. Für die gesteckten Ziele hält er nur die Vorschläge von SPD, den Grünen, der PDS und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband für geeignet und hinreichend ausformuliert. Trotzdem soll hier nicht nur seine Bewertung dieser Modelle wiedergegeben werden, sondern auch diejenigen, die sich an den wissenschaftlichen Diskurs anschließen (F.D.P., CDA und BAG SHI).

Die von ihm bevorzugten Modelle unterliegen sämtlich der geäußerten Kritik an der geringen Attraktivität der Aufnahme von Vollzeitbeschäftigung unter Grundsicherungsbezug. Er schlägt vor, die Arbeitsanreize bei hohem Sicherungsniveau stärker zu verfolgen.

Das Modell der NIT hält er insgesamt für unattraktiv, da zwar der Anreiz zur Aufnahme von Erwerbsarbeit relativ hoch ist, jedoch die Transfers in sehr hohe Einkommensbereiche geleistet werden. Die damit verbundenen fiskalischen Risiken hält er für nicht vertretbar.

Er äußert zudem Kritik an Änderungen der Verwaltungszuständigkeit. Fast alle Modelle wollen die Verwaltung splitten oder vereinfachen, um sie kostengünstiger oder leistungsfähiger zu machen. Kaltenborn hingegen möchte an der Zuständigkeit der Sozialämter festhalten. Gegen eine Zersplitterung spricht ihm zufolge, daß mehrere Behörden a) die Vermeidung von Mißbrauch erschweren, b) Unklarheiten über die vorrangige Zuständigkeit schaffen, wenn mehrere Lebenslagen gleichzeitig vorliegen und c) bei einem Wechsel der Lebenslage zusätzlichen Verwaltungsaufwand schaffen.

Gegen eine Änderung der Zuständigkeit hin zu den Finanzämtern spricht die Notwendigkeit der neuen Ausbildung der Mitarbeiter, die einen erheblichen Aufwand darstellen könnte.

Zum Modell der Grünen:

Als Verbesserung gegenüber dem gegenwärtigen Zustand ist beim Modell der Grünen zu nennen, daß a) grundsätzlich alle Personen im Inland Grundsicherung beziehen können, d.h., daß der berechtigte Personenkreis stark ausgeweitet wird; b) strukturelle Probleme der Sozialhilfe beseitigt werden; c) ein geeignetes Mittel zur Dynamisierung gefunden wurde, das die Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstands wiedergibt; d) der Bund an der Finanzierung intensiv beteiligt wird; e) die Arbeitslosenhilfe zugunsten der Grundsicherung abgeschafft werden kann.

Neben den weiter oben angesprochenen allgemeinen Mängeln ist beim Modell der Grünen noch folgendes als besonders problematisch zu bewerten: a) finanzielle Anreize zur Auflösung von Ehen mit Kindern und Anreize zur Aufgabe von gering bezahlter Vollzeitbeschäftigung bei allen Haushaltsformen außer bei Alleinstehenden; b) fehlende Sanktionierung mangelnder Selbsthilfe; c) Anrechnungsfreiheit des Erziehungsgeldes; d) der zu gering eingeschätzte zusätzliche Finanzbedarf.

Zum Modell der PDS:

Zwar ist Kaltenborn zufolge das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit beim Vorschlag der PDS unklar, jedoch bewertet er das Modell als insgesamt geeignet um die gesteckten Ziele zu erreichen. Das Modell ist interessant, weil es a) strukturelle Probleme der Sozialhilfe beseitigt; b) durch fast vollständige Pauschalierung der Transfers eine hohe Transparenz und Verwaltungsvereinfachung schafft; c) das Wohnungsmarktrisiko unter EmpfängerInnen und Allgemeinheit teilt; d) vom Bund finanziert werden soll.

Zusätzlich zu den weiter oben schon angesprochenen allgemeinen Problemen ist noch zu nennen, daß das System der Dynamisierung bei der PDS nicht an die Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstandes gekoppelt ist und somit nicht geeignet scheint.

Zum Modell der F.D.P. und CDA:

Als Hauptargument für dieses Modell dient die hohe Transparenz durch die Zusammenfassung verschiedener Transfers, die einheitlichen Regelungen und die einheitliche Verwaltung. Weiterhin positiv bewertet er den Vorrang der Selbsthilfe.

Die Nachteile überwiegen jedoch. Kaltenborn sieht sie v.a. in Unklarheiten in der Ausgestaltung. Es fehlt a) eine exakte Bestimmung des Einkommensbegriffs; b) eine einheitliche Definition des Steuer-Transfersubjekts; sowie c) die Festlegung auf einen klaren, durchgängigen Tarif für Anrechnung und Besteuerung. Außerdem hält er die Erkenntnisse über den Effekt auf den Arbeitsmarkt für unzureichend, so daß zunächst die Einführung von lokal begrenzten Experimenten notwendig wäre, um das fiskalische Risiko zu minimieren.

Zum Modell der BAG SHI:

Dieses Modell hält er für absolut ungeeignet, um die akuten Probleme von Einkommensarmut zu lösen.

"Die Aufbringung des enorm hohe[n] Finanzbedarfs dürfte ohne eine grundlegende Veränderung von Staat, Gesellschaft sowie Wirtschafts- und Sozialsystemen nicht möglich sein.

Es ist keine Rechtfertigung ersichtlich, weshalb Personen von der Allgemeinheit Grundsicherungsleistungen erhalten sollen, die ihrer nicht bedürfen."

Kaltenborns Vorschlag

Insgesamt überzeugt Kaltenborn keines der hier vorgestellte und von ihm untersuchten Modelle. Sein eigener Vorschlag übernimmt zwar einige überzeugende Elemente, kann aber dennoch als eigene Konzeption einer nicht expliziten bedarfsorientierten Grundsicherung angesehen werden. Einige wichtige Merkmale seien hier kurz zusammengefaßt.

Es handelt sich um eine Grundsicherung i.e.S., in die alle tatsächlich im Inland lebenden Personen, sowie in Sonderfällen Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft im Ausland, einbezogen werden. Der Bedarf setzt sich aus einer Grundsicherungspauschale, den Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung und zusätzlichen Bedarfen bei Härtefällen und besonderen Lebenssituationen zusammen. Langfristig soll der Bedarf unterschiedlicher Haushaltsgrößen und Lebensgemeinschaften an einer differenzierten Äquivalenzskala orientiert werden. Bis dahin gilt die Aufteilung: Alleinstehende 100%, zweites Mitglied 60%, drittes Mitglied 50%, viertes 40%, jedes weitere 30%. Die letztliche Höhe der Grundsicherungspauschale geht von der momentanen HLU aus und soll im gesellschaftlichen Diskurs festgelegt werden. Offen bleibt, wie dieser Diskurs gestaltet werden soll, und nach welchen Kriterien ein Ergebnis als (vorübergehend) optimal gilt. Ergänzend zur Grundsicherung soll weiterhin Wohngeld beansprucht werden können. Hier besteht eine Unklarheit, da laut Kaltenborn im Betrag von DM 1154,- für eine Alleinstehende z.Z. die Wohnkosten nach dem Wohngeldgesetz bereits enthalten sind. Es wird nicht explizit, ob und unter welchen Voraussetzungen zusätzlich Wohngeld beansprucht werden kann. Kaltenborns Grundsicherungspauschale von DM 1150,- soll sich aber an der HLU orientieren, wären darin die Wohnkosten nicht enthalten, so läge der Bedarf insgesamt weit über der HLU.

Staatliche Sozialleistungen zur vertikalen Umverteilung sollen schrittweise in die Grundsicherung integriert werden, um das System zu vereinheitlichen und die Grundsicherung zu erhöhen. Dafür kommen heute insbesondere die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die Arbeitslosenhilfe und das BAföG in Betracht. Diese Vereinheitlichung soll auch der horizontalen Gerechtigkeit dienen, da mehrfache Transferleitungen und dadurch die Förderung bestimmter Lebensweisen vermieden wird (wie z.B. Lebensgemeinschaften gegenüber Alleinstehenden, in Ausbildung stehender gegenüber gering Beschäftigten etc.).

Die Dynamisierung sollte sich nicht an den unteren Einkommensschichten orientieren, sondern am privaten Verbrauch der mittleren 20%. Alle fünf Jahre sollte dazu die EVS herangezogen werden, jährlich die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung.

Nettoeinnahmen sollen mit Ausnahmen vollständig angerechnet werden. Das Nettoerwerbseinkommen wird nur partiell angerechnet. Die ideale Höhe des Anrechnungssatzes soll über lokale Experimente herausgefunden werden. Gänzlich anrechnungsfrei bleiben max. 20% der Grundsicherungspauschale. Leistungen aus der Sozialversicherung, Pflegegeld u.ä. bleiben anrechnungsfrei, ebenso Wohngeld, HBL und Sachzuwendungen der freien Wohlfahrtspflege. Diese Formulierung soll dem Grundsatz der vorrangigen Selbsthilfe folgen, ohne Arbeitsanreize gänzlich abzuschaffen.

Mangelnde Selbsthilfe soll grundsätzlich sanktioniert werden. Wird die tatsächliche Aufnahme einer Arbeit unter akzeptablen Bedingungen verweigert, so kann die Grundsicherungsleistung teilweise eingestellt werden. Die Sanktionierung erfolgt nicht, wenn die betroffene Person die angebotene Arbeit aus Altersgründen, einer Krankheit, wegen Behinderung, wegen einer mangelnden Arbeitserlaubnis, wegen Kindererziehung, wegen mangelnder Eignung o.ä. nicht annehmen kann. Eine weichere Variante sieht lediglich die Gewährung von sachlichen Leistungen über einige Wochen als Sanktionsmaßnahme vor.

Die Verwaltung soll bei den Sozialämtern bleiben. Es scheint vorteilhaft, sie aus finanziellen Gründen zu Bundesbehörden zu machen. Die Grundsicherung soll nur auf Antrag bei den Behörden gewährt werden. Sind die Behörden von sich aus über die Bedürftigkeit informiert, so kann die Grundsicherung auch ohne Antrag gewährt werden. Wegen der unbestimmten Höhe der Grundsicherung können keine genauen Angaben zu Kosten und Finanzierung gemacht werden. Darüber hinaus sind folgende Einsparungen und zusätzliche Aufwendungen zu erwarten:

" - einmalige fiskalische Mehraufwendungen fallen durch die Systemumstellung von der Hilfe zum Lebensunterhalt der Sozialhilfe auf die Grundsicherung an;

- die Verwaltungsvereinfachung durch die starke Pauschalierung führt dauerhaft zu fiskalischen Einsparungen; [...]

- eine fiskalisch optimal ausgestaltete Anrechnung von Erwerbseinkommen führt mittelfristig ebenfalls zu dauerhaften fiskalischen Einsparungen;

- auch die Überführung von anderen Sozialleistungen zur vertikalen Umverteilung in die Grundsicherung führt zur dauerhaften Reduktion fiskalischer Aufwendungen;

- die Einbeziehung von Auszubildenden und Asylbewerbern führt zu fiskalischen Mehraufwendungen; [...]

- die ggf. erforderliche Anpassung des einkommensteuerlichen Grundfreibetrags und des Kinderfreibetrags [...] sind mit erheblichen fiskalischen Mehraufwendungen verbunden."

Um den Bezug von Grundsicherung und die Entrichtung von Einkommensteuern auszuschließen, soll der Freibetrag an die Höhe der Grundsicherung angeglichen werden. Die Unterhaltspflicht zwischen Verwandten zweiten und entfernteren Grades soll entfallen.

Abschließend beurteilt Kaltenborn den Stand der gegenwärtigen Diskussion als fortgeschritten, aber nicht abgeschlossen. Die unterschiedlichen Vorschläge (seine eingeschlossen) können den gesellschaftlichen Diskurs nur anregen, keines der Modelle ist problemlos übernehmbar. Zwar haben viele Modelle Vor- und Nachteile, die sie mit andren Modellen nicht teilen, insgesamt scheint Kaltenborn jedoch besonders die Modelle mit großer Reichweite der Grünen und der PDS besonders positiv hervorzuheben. Mit seinem Vorschlag behauptet er, noch weitere Unklarheiten ausgeräumt zu haben.

"Dieses Konzept kombiniert geeignete Elemente der vorliegenden Vorschläge und ist ergänzt um neue Gestaltungsoptionen. So löst der Vorschlag etwa sowohl das Problem der Wohnkostenübernahme als auch der Bedarfsdifferenzierung. Dabei sollte dieses Konzept keinesfalls unkritisch übernommen werden, sondern die Diskussion um ein geeignetes Konzept bereichern."

 

2.3.2 Hauser

Hauser hat in seiner Studie weniger die Vorschläge politischer Organisationen unter die Lupe genommen, als sich vielmehr um die Durchführbarkeit dreier großer Reformkonzepte aus dem wissenschaftlichen Diskurs gekümmert: das UBI, die NIT und die bedarfsorientierte Grundsicherung. Sein besonderes Augenmerk lag auf der Durchführbarkeit einer NIT und deren Vor- und Nachteilen. Er kommt allerdings insgesamt zu ähnlichen Ergebnissen wie Kaltenborn, da auch ihm die Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung gegenüber den beiden Alternativen als am unproblematischsten erscheint.

Nach Hauser gilt es herauszuarbeiten, welchen Weg eine Reform einschreiten sollte, um Einkommensarmut bei den mittlerweile hauptsächlich betroffenen Gruppen (nicht mehr alte Menschen, sondern Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene, Alleinerziehende und AusländerInnen) nachhaltig zu bekämpfen. Er geht davon aus, daß die bestehende Lösung keine ausreichenden Antworten mehr auf die heutige Armutsproblematik bietet. Zugleich machen sie "aufwendige Verwaltungsprozeduren und Kontrollen [...] zu einer Sozialleistung zweiter Klasse". Die größten Probleme seien z.Z. zu geringe Transferleistungen, mangelhafter Umgang mit verdeckter Armut und die geringe subjektive Sicherheit für die Betroffenen u.a. durch die Ermessensspielräume bei der Verwaltung.

Wichtig ist ihm auch, daß die Reformvorschläge nur so lange von engerem sozialpolitischen Interesse sein können, wie sie mit verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar sind. Als ein Grundmerkmal für eine Reformstrategie nennt er einerseits die Entscheidung für eine einkommensunabhängige oder einkommensabhängige Leistung, andererseits die Orientierung am Individualprinzip, am Familienprinzip oder am Haushaltsprinzip. Die drei prinzipiellen Strategien unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres Finanzaufwandes erheblich ( nach Hauser bM 5 - 10 Mrd., NIT 50 - 80 Mrd., UBI min. um das 10-fache höher), sondern auch in bezug auf ihre primäre Zielsetzung. Soll eine starke gesellschaftliche Umverteilung vermieden werden und das bestehende Steuer- Transfersystem erhalten bleiben, so bietet eine bedarfsorientierte Mindestsicherung die zielgenaueste Armutsvermeidung. Nimmt man einen höheren Mitteleinsatz in Kauf und möchte man untere Einkommensschichten generell unterstützen, so bietet sich eine NIT an. Sie würde außerdem höhere Arbeitsanreizwirkungen und Verwaltungsvereinfachungen bieten (wenn auch Wirkung von Hauser niedriger geschätzt wird als allgemein angenommen) und sie bietet die beste Reform des Steuer- und Transfersystems. Unter den gegebenen Bedingungen hält Hauser allerdings eine NIT mit wirksamer Armutsvermeidung für gesellschaftlich kaum akzeptabel.

Zwar hebt Hauser die Vorteile eines UBIs hervor (gesichertes Existenzminimum für Kinder, erwerbstätige und nichterwerbstätige Ehegatten, Vermeidung von Diskriminierung). Er hält es wegen des hohen Finanzaufwandes und der notwendigen gesellschaftlichen Neuordnung mit zu hohen Risiken behaftet und deshalb für ceteris paribus undurchführbar. Für ein monatliches UBI von DM 1058,- schätzt der die Deckungslücke auf DM 200 — 300 Mrd./anno.

 

Resümee zu Teil B

Die Armutsproblematik in den westlichen Industrieländern hat sich innerhalb der letzten drei Jahrzehnte nicht nur stark gewandelt, sondern auch insgesamt verstärkt. Es hat sich als schwierig herausgestellt, die gesamte Armutspopulation zu erfassen und ihre Charakteristika einheitlich festzuhalten und verfügbar zu machen. Fest steht, daß es Armut in der Bundesrepublik gibt, daß sie ständig zunimmt und durch die bestehenden Sozialversicherungssysteme und die Sozialhilfe nicht befriedigend bekämpft wird. Das liegt daran, daß einerseits die Leistungen der HLU zur Armutsbekämpfung nicht ausreichen, andererseits, daß auch unter den nicht Sozialhilfeberechtigten eine Menge Menschen arm sind. Ein weiteres Problem ist, daß viele Sozialhilfeberechtigte die Sozialhilfe nicht beziehen wollen, oder nicht wissen, daß sie ein Recht auf diese Leistung haben. Eine weitere Frage ist, ob mit der Bekämpfung der Einkommensarmut schon allein der Bekämpfung der gesamten Armutsproblematik genüge getan werden kann. Eine weitere Frage, die zu beantworten wäre, ist die nach der Bekämpfung gesellschaftlicher Ursachen von Armut. Welches Grundsicherungssystem bekämpft nicht nur auf individueller Ebene punktuell Einkommensarmut über einen begrenzten Zeitraum, sondern bietet nachhaltig reale Chancen zur Selbsthilfe und hebt den gesellschaftliche Status des Armseins auf?

Wenn nach der gesamtgesellschaftlichen und historischen Implementierung des Armutsproblems gefragt wird, müßte auch beantwortet werden, inwiefern die Armut mit allgemeiner, systematischer Chancenungleichheit und Ungleichverteilung verbunden ist. Wenn nach begrenzteren Anforderungen gefragt wird, scheinen die von Kaltenborn und Hauser vorgestellten Modelle und ihre eigenen Einschätzungen weitgehend verständlich und sinnvoll. Auf der anderen Seite ist es aber so, daß sie einige Fragen offen lassen und von z.T. nur mäßig begründeten Voraussetzungen ausgehen.

Es wird deutlich, daß bei einer anderen Gewichtung das Ergebnis eines optimalen Lösungsvorschlages anders aussehen kann, je nachdem wie weitreichend die Problematik abgesteckt wird. Kleine Probleme lassen sich schon durch Korrekturen am bisherigen System lösen: Bundesfinanzierung statt kommunale Finanzierung, Anpassung des tatsächlichen Regelsatzes an den korrekt ermittelten, nicht vollständige Anrechnung der Erwerbsarbeit. Ein großer Teil weiterer Probleme, u.a. das der verdeckten Armut, lassen sich offensichtlich weitestgehend durch die Reformmodelle lösen, die bisher positiv abgeschnitten haben. Das bei jeglicher Art von Antragstellung, sei es beim Sozialamt oder allein durch eine ausführliche Einkommensteuererklärung u.ä., eine Dunkelziffer durch Scham, Unwissen, Unfähigkeit und Angst erhalten bleibt, berücksichtigen die Autoren kaum. Eine optimale Einkommensarmutsbekämpfung muß solchen Phänomenen vorbeugen. Vermeidung von Einkommensarmut muß deshalb nicht als gleiche Chance angeboten werden, sondern als Garantie ohne weiteres Zutun unmittelbar vorhanden sein. Weiter wäre zu prüfen, welche weiteren Maßnahmen außer der Bereitstellung von finanziellen Mitteln zur vollständigen Armutsbekämpfung nötig wären.

Da in dieser Arbeit nicht auf alle Fragen, die aufgeworfen werden gleichermaßen eingegangen werden kann, sollen im nächsten Teil v.a. folgende Probleme aufgegriffen werden.

Sind die Grundsätze zur Bewertung der Modelle bei Kaltenborn und Hauser doch insgesamt brauchbar und weitreichend, so sind sie doch nicht alle gleichermaßen wichtig und stehen nicht in einer begründeten hierarchischen Ordnung. Aus diesem Grund soll im folgenden Teil eine Ordnung entscheidender Grundsätze zur Bewertung entwickelt und begründet werden.

 

Inhalt und Einleitung

A: Armut und Armutsforschung

B: Grundsicherungssysteme zur Bekämpfung von Einkommensarmut

C: Gerechtigkeit und soziale Grundsicherung

D: Vorschlag für ein gerechtes Reformmodell zur Vermeidung von Einkommensarmut

Literatur

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