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    Abstract
Katharina Pühl, deren Text ebenfalls auf einen Beitrag zur Tagung “Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang” zurückgeht, nähert sich dem Verhältnis von Geschlecht und Globalisierung aus einer Gouvernemenalitäts-Perspektive, die die Selbst- und Fremdführungstechniken gegenwärtiger Subjektivitäten in den Blick nimmt. Diese werden im besonderen auch auf ihre materialisierenden Effekte hin befragt. Zentral ist dabei, ein gesellschaftskritisches Potential sichtbar zu machen, das sich gegen normalisierende vergeschlechtlichende Identitätsbildung stellt und vor allem in alltäglichen Subversionspraxen ausmachen lässt. In dem Text nimmt Pühl zunächst eine dekonstruktiv geleitete Neubestimmung von Geschlecht vor und setzt sich im weiteren kritisch mit der dekontextualisierenden Aneignung dekonstruktiver feministischer Ansätze wie u.a. Judith Butlers durch “neoliberale Chefideologen” auseinander. Im abschliessenden Teil des Aufsatzes betont sie, dass eine additive Perspektive auf das Zusammenwirken von Sexismus, Rassismus, Klassenverhältnissen, Alter und anderen Diskriminierungs- und Herrschaftsverhältnissen durch eine Befragung der situativen Hierarchisierung ihrer Effekte ergänzt werden müsse, um die Unterschiedlichkeit und Kontextabhängigkeit solcher Mikropraktiken wieder in den Blick zu bekommen. Nicht zuletzt auch um alltägliche Widerstandspotentiale und ihre Vielfältigkeit darin aufzufinden.

Geschlechtsspezifische Sozialisation: Arbeit, Geschlecht, Gouvernementalität
von Katharina Pühl


Was haben diese Begriffe miteinander zu tun? Ich möchte ihren Zusammenhang deutlich machen, indem ich sie um eine Fragestellung herum anordne: Welche Möglichkeiten bietet die Perspektive einer feministisch orientierten materialistischen Diskursanalyse, um die Veränderungen, widersprüchlichen und paradoxen Effekte von vergeschlechtlichten Subjektivierungsformen in kapitalistischen westlichen Gesellschaften verstehen zu können? Dass sich aus Sicht einer dekonstruktiven theoretischen Zugangsweise Problematisierungen immer wieder auf die Konstitution und Konstruktion von Identitäten und Identitätspraxen richten, soll nicht davor schützen, nach dem gesellschaftstheoretischen Rahmen und gesellschaftskritischen Konsequenzen solcher Überlegungen zu fragen. Mir geht es schliesslich um die praktischen politischen Perspektiven, die aus dieser Kritik folgen könnten – und hier liegt wahrscheinlich der Diskussionsbedarf für diese Tagung.[1]

1. Feministische Dekonstruktion als Kritik essentialisierender Geschlechtervorstellungen
Die Geschichte der Kritik der Kategorie Geschlecht und ihrer analytischen sowie begrifflichen Ausdifferenzierung hat seit den späten 1960er Jahren einen langen Weg zurückgelegt. Die Kämpfe um die Definitionsmacht dessen, was als avanciertes, d.h. gesellschaftsnahes und gleichzeitig gesellschaftskritisches Verständnis der Geschlechterverhältnisse zu gelten habe, wurden gegenüber der patriarchalen Front männlicher Sozialwissenschaftler und linker Genossen aus den zunächst gemeinsamen Reihen einer marxistisch-kritischen Intellektuellen- und sozialen Bewegung geführt. Mit der Forderung, dass das Private als politisch aufzufassen sei, lenkten feministische Kritikerinnen die Aufmerksamkeit auf den “Subtext” und die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen “Folgen” patriarchal-kapitalistischer Vergesellschaftung. Der Streit um die Definition des Politischen oder des politischen Gehalts bestimmter theoretischer Kritiken - und damit verbunden um ihre Legitimation als Beitrag zu Befreiungs- und Emanzipationswissen - dauert auch innerhalb feministischer Auseinandersetzungen bis heute an. Eines der Totschlagargumente in diesem Zusammenhang ist die vermeintliche Gefahr der Entpolitisierung, die dekonstruktivistische Theorien angeblich zwangsläufig zur Konsequenz hätten, weil sie den gesamtgesellschaftlichen Rahmen aus dem Blickfeld ihrer Kritikperspektive verlören. Um es vorweg zu nehmen: An dieser Sorte unproduktiven Grabenkämpfen bin ich nicht interessiert, und die daran oft aufgehängten Generationsunterschiede feministischer Theoretikerinnen, die behauptet werden, langweilen mich mittlerweile erheblich. Fruchtbarer ist meiner Meinung nach eine kritische und genaue Hebung des Potentials der Kritik, das von Foucaults Diskurs- und Machtanalyse hinsichtlich Subjektivierungsformen und Normalisierungspraxen ausgeht, sie auf gegenwärtige gesellschaftliche Transformationsprozesse anzuwenden versucht, und den Bezug auf eine materialistische ideologietheoretische Perspektive im Anschluss an Louis Althusser immer wieder herstellt. Mit einem auf diese Grundlagen gestellten Verständnis von Geschlecht könnte eine vorläufige Definition der Kategorie Geschlecht vielleicht so lauten: Es handelt sich um ein komplexes Geflecht von Herrschaftspraktiken, in denen Sexismus, Rassismus, Klassenverhältnisse aufeinandertreffen und in dessen Kreuzungspunkt die Zumutungen identitärer und heteronormativer vergeschlechtlichender Subjektivierungspraxen stattfinden und erfahren werden. In dieser Formulierung ist “Identität”: - Effekt und Produkt, nicht Voraussetzung sozialen Handelns, - kein Charaktermerkmal oder Wesenseigenschaft, - ein gesellschaftliches veränderliches Repertoire kollektiver und individueller Praxen, in denen “Identität” gelernt, erworben und bearbeitet wird, - nicht außerhalb hegemonialer gesellschaftlicher Diskurse zu plazieren, - keine statische Größe, die linear in sozialisationstheoretischer Analyse einfach verfolgt werden könnte, - nicht einfach Folge oder auch Voraussetzung einer strukturell eingeschriebenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die sozusagen als gesamtgesellschaftliche Handlungsanweisung der Vergeschlechtlichung verstanden werden könnte.

2. Prekäre Identitäten?
Interessanterweise wird die Krise der Identität von denen ausgerufen und analysiert, die sie am stärksten vertreten, nicht von denen, die Identitätsformationen bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften als ideologische Ressource infrage stellen und ihren fiktiven Charakter betonen. Individualisierungstheoretische Ansätze wie die von Ulrich Beck oder sozialphilosophische Zeitdiagnosen im Anschluss an die Kritische Theorie, wie sie aktuell auch das Institut für Sozialforschung Frankfurt programmatisch verfolgt, konstatieren den Zerfall von sozialmoralischen Milieus, die angeblich die sicheren Bedingungen gelingender Identitätsprozesse garantiert hätten - wenn auch im Rahmen kapitalistischer Gesellschaftsbedingungen. Man gewinnt den Eindruck, diese seien besser als die neoliberale und postmodernisierte “Unübersichtlichkeit” der gegenwärtigen Verhältnisse. In dieser Kritik wird an einem reflexiv gewendeten Subjektbegriff eisern festgehalten. Er legt nahe, wir hätten feststehende Eigenschaften, etwas, das verloren geht. Unterstützt würden diese Entwicklungen durch eine Politik dekonstruktiver bzw. postmoderner KritikerInnen, die Subjektivität, Identität und sozialen Zusammenhang fragmentierten und in Frage stellten. Die KritikerInnen werden hier für das gescholten, was die realen gesellschaftlichen Umbauprozesse zunächst mit sich zu bringen scheinen: Zwang zur Flexibilisierung, biografische und berufsbiografische Brüche und Diskontinuitäten, die Überforderung durch sich vervielfältigende emotionale Bezüge z.B. durch Mehrfach- und Patchworkfamilien, lebenslanges Lernen etc. Kurz: Der Wegfall oder die Auflösung stabiler Sozialisationsinstanzen wie einer geschlossenen Berufsbiografie oder einer festen Familienform werden als Ursprung eines Teils individueller und sozialer Desorientierung charakterisiert. Nicht in den Blick rücken die Neu- und Umcodierungspraxen, die sich auf Identitätsformationen und Subjektivierungsformen richten. Gleichzeitig steckt in dieser Perspektive zumeist der Vorwuf des Versagens an die Politik, diesen ökonomisch induzierten gesellschaftlichen Prozessen nichts entgegenzusetzen. Die Steuerungsfähigkeit sozialer Problemlagen sei verlorengegangen. Diese Kritik verfehlt, dass das “Versagen” der Politik bereits die neue Form ihrer Regulierung ist. Die Rationalität politischer Steuerung findet genau auch auf der Ebene der Subjekte ihren Ausdruck. Es sind die Chefideologen der “schönen neuen Welt”, die, wegführend von autoritären und patriarchalen Führungsstilen, das Subjekt- und Identitätsverständnis konstruieren, das die Wirtschaft der Zukunft braucht. Dafür muss man nur einmal Stellenausschreibungstexte beispielsweise für Teilzeitjobs in Callcentern aufmerksam lesen. Im Grunde geht es im Namen behaupteter Freiheiten um die Neuerfindung des Menschen, die sich von einem alteuropäischen Personenideal, das durch persönliche Tiefe und stabilen Charakter gekennzeichnet wird, abwendet. In den Worten eines Schweizer Wirtschaftsberaters, der sich ausdrücklich auf die neuere Identitätsforschung bezieht, klingt das folgendermaßen: “Sich persönlich fit zu machen wird nicht mehr heißen, ein starkes Ich zu entwickeln, sondern in virtuellen Beziehungen zu leben und multiple Identitäten zu pflegen. Das heisst: Ich setze nicht mehr auf einen persönlichen ‘Kern’ und suche ihn, sondern ich trainiere mir die Fähigkeit an, mich nicht mehr definitiv auf etwas festzulegen. Damit bleibe ich fit für neue Wege. Metaphorisch gesprochen: Statt in die Tiefe gehe ich in die Breite. Ich werde zum Oberflächengestalter, ich gestalte mit meinen Stilen, torsohaften Charakteren und Identitäten Oberflächen. (...) Dreh- und Angelpunkt der persönlichen Fitness ist nicht mehr der Aufbau einer eigenen, stabilen Identität, sondern das Vermeiden des Festgelegtwerdens.” (zitiert nach Heiner Keupp 1996, 43) Fitness ist der grosse Trend, auf den wir uns in allen Lebensbereichen einzustellen hätten, und die Haltung sei sowohl für den Wirtschaftsstandort als auch für die persönlichen Lebenschancen ausschlaggebend. Neben mentaler Fitness komme es natürlich auf ein “Body Management” an, das die Störanfälligkeit des Körpers möglichst ausschaltet. Interessanterweise bezieht sich dieser neoliberale Erneuerer ausgerechnet auf Judith Butler, um mit ihrer Perspektive ein Ende des Geschlechterzwangs festzustellen. Es sei nun möglich, eine optimale Mischung des Weiblichen und Männlichen jenseits einer auf ein bestimmtes Geschlecht bezogenen Ableitung von Ressourcen und Fähigkeiten zu erreichen. Dass dies keineswegs nur Reissbrettentwürfe betrieblicher Personalführung sind, belegen beispielsweise Interviews, die Studentinnen im Callcenter der Lufthansa machten, das in Kassel angesiedelt ist. Im Gespräch mit dem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit versuchten sie, den Zusammenhang von Dienstleistungsorientierung und Geschlecht näher zu bestimmen. Dies artikuliert sich in den Antworten ihres Gegenübers eher durch Widersprüche als durch ausdrücklich formulierte ideologische Formeln. Heute 36 Jahre alt, kinderlos, hat er nach abgebrochenem Wirtschaftsstudium und Ausbildung zum Werbefachmann, weil er in beiden Bereichen keine Aussichten auf Beschäftigung gesehen habe, beim Lufthansa Call Center als Telefonagent angefangen, in Teilzeit, und sich über interne Schulungen zu einer leitenden Vollzeitstelle hochgearbeitet. Die Erzählung über seinen Werdegang ist eine mehr oder weniger selbstbewusste berufliche Erfolgsstory, wenn diese auch genauso gut als über Suchen und Zufälle gestaltete hätte erzählt werden können. Befragt, ob Frauen für diese Arbeit besonders qualifiziert wären, verneint er zunächst. Wichtig sei insgesamt eine Dienstleistungsorientierung mit Fokus auf die Zufriedenheit der Kunden. Auf die Frage, welche Chancen Teilzeitbeschäftigte im Betrieb hätten, sich beruflich zu verbessern, sagt er: Das seien Frauenarbeitsplätze (!), Frauen, die Familie und Arbeit verbinden wollten. Mit dieser eher disqualifizierenden Einschätzung bedient er die Norm(alität) der stundenweise arbeitenden Mutter als Zuverdienerin des hauptverdienenden (Ehe-)Manns. Statt sich über die Verdrängungsleistung seiner mittlerweile stark ausgeprägten Aufstiegsorientierung zu wundern, könnte man sich auf die Flexibilität der Konstruktion Teilzeitarbeit und damit die strategischen oder diskursiven Aspekte der Selbst- und Fremdverortung konzentrieren. Je nach der Disponibilität der im Call Center Arbeitenden ( zu 2/3 Frauen) und den Erfordernissen der effizienten Schichtgestaltung verschieben sich Bewertungs- und Anerkennungsweisen dieser Arbeit: aus “Frauenarbeitsplätzen” wird eine qualifizierte Tätigkeit, die vielfache Schulung und Selbstentwicklung zur Dienstleistungspersönlichkeit erfordert. “Human Ressource Management” ist eines der Führungskonzepte neuerer Provenienz, auf das hier angespielt wird. Managen muss nicht nur der Manager seine MitarbeiterInnen, sondern jede und jeder sich selbst. Wir werden als UnternehmerInnen unserer selbst angerufen - allerdings auch in die Pflicht genommen. Selbstdisziplinierung wird hier zugleich zum Prozess der Subjektivierung. Ulrich Bröckling beschreibt in seiner Untersuchung neuer Managementtechniken als “totale Mobilmachung” die Erschließung dieser individuellen Ressourcen auch jenseits der Vernutzung der Arbeitskraft: “Die Anrufung der Selbstverantwortung ist ohne victim blaming nicht zu haben; die frohe Botschaft, jeder sei seines Glückes Schmied, bedeutet im Umkehrschluss: An seinem Unglück ist jeder selbst schuld. Wer Erfolg hat, beweist damit “mentale Fitness”; wer scheitert, muss sich das auch noch als persönliches Versagen anrechnen lassen.” (Bröckling 2000, 156) Hier wird noch einmal deutlich, dass “Angebote” auf dem Markt der Identität nicht einfach nur die Wahl der “richtigen” Erzählung über sich selbst sein können und werden. Die solchen Führungstheorien zugrundeliegenden psychologischen Ansätze gehen soweit, das Team-Modell einer idealen Mitarbeiter-Kooperation gar in die Persönlichkeitskonstruktionen jeder und jedes einzelnen hineinzuverlagern. Danach sind widersprüchliche Anteile oder Identitätsbezüge einer Person im Team auszugleichen. “Nicht Selektion, sondern ‘ökologische Integration’ (...) ist gefordert, kein autoritäres Regime des ‘Kopfs’ über den ‘Bauch’, sondern Mitbestimmung und partnerschaftliche Kooperation. Weil das ‘Ich’, anders als ein ‘wirkliches’ Unternehmen, sich seine Mitarbeiter weder aussuchen noch sie bei unbefriedigender Leistung kurzerhand entlassen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die heterogenen, möglicherweise widerstreitenden Elemente miteinander zu versöhnen. Moralisierung ist dabei kontraproduktiv: Es gibt keine guten und schlechten Persönlichkeitsanteile, sondern nur ein gut oder schlecht kooperierendes Team.” (Bröckling 2000, 159f.) Das gilt natürlich auch für die dienstleistungsbezogenen Elemente der Arbeitskraft. Während einerseits sogenannte “weibliche Tugenden” wie Zugewandtheit, Kommunikationsorientierung etc. zunehmend als Ressource der Dienstleistungs-Arbeitspersönlichkeit abgefragt werden, werden handfeste Diskriminierungsverhältnisse im Team- und Kollegenmodell desartikuliert. Verallgemeinerter gesprochen, konkurrieren Teamfähigkeit mit Leistungsorientierung bis zum Letzten. Das Spiel mit der Existenzangst wird hier zum sozialisierenden und subjektivierenden Faktor. “Weil unter den Bedingungen eines flexibilisierten Kapitalismus selbst die Gewinner ihre Position immer nur “für den Moment” behaupten können, verallgemeinert sich die nur allzu berechtigte Sorge, vielleicht morgen schon auf der Verliererseite zu stehen. Für den Einzelnen ergibt sich daraus eine paradoxe Situation: Einerseits ist er den Kräften des Marktes ausgeliefert wie einer Naturgewalt, andererseits kann er seinen Erfolg wie sein Scheitern niemandem zuschreiben als sich selbst.” (Bröckling 2000, 163) Nach den möglichen Formen des Widerstands gegen die totale Mobilmachung und gegen die “Freuden des Marketings” befragt Bröckling Gilles Deleuze. Der hatte Anfang der 90er Jahre in seinem Postscriptum über die Kontrollgesellschaften allerdings vorerst keine anzubieten: “Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, ‘motiviert’ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Fortbildung; an ihnen ist es, zu entdecken, wozu man sie einsetzt, wie ihre Vorgänger nicht ohne Mühe die Zweckbestimmung der Disziplinierungen entdeckt haben.” (Deleuze, zit. nach Bröckling 2000, 163). Die Ungleichzeitigkeiten der Situation stechen ins Auge: Judith Butlers Theorie scheint sich zur Rechtfertigung neoliberaler Identitätsvorstellungen anzubieten. Das Aufkommen theoretischer Bemühungen um neue Identitätskonzepte und Persönlichkeitsmuster ist nicht immer einfach ein Fortschritt des Wissens. Vielmehr sind diese Bemühungen meist selbst Teil – sowohl Effekt als auch Motor - der gesellschaftlichen Veränderungen und tragen selbst zur Entstehung neuer Sozialcharaktere bzw. neuer Existenzmodi bei (vgl. Maihofer 2002, 4) Während der Streit innerhalb feministischer Debatten noch auf die Dekonstruktion des bürgerlichen weißen männlichen gesunden heterosexuellen Subjekts gerichtet ist, bauen andere mit dieser Kritik bereits den “neuen Menschen”. Ähnlich wie sich der differentielle Rassismus rechter Provenienz auf linke poststrukturalistische und marxistische Kritiken bezieht und sie umdeutet, vollzieht sich auch die ideologische Verwendung feministischer Identitätskritik. Nur nicht irre machen lassen: der diskursive Trick ist auch immer der gleiche, nämlich die De-Kontextualisierung der Argumente aus ihrem theoretischen und sozialen Zusammenhang. Nicht um ein Zitat, eine Überführung dekonstruktiver Kritik in neoliberale Strategien geht es hier, sondern um Neu-, Re- und Umcodierungsstrategien und die gezielte Desartikulation kritischer Perspektiven. Die Frage ist allerdings, wie durchschlagend der Erfolg bzw. Effekt solcher Strategien wirkt. Damit komme ich zurück auf die Geschlechterverhältnisse und die soziale und politische Situation heute. Wenn beispielsweise junge Frauen sagen - medial aufbereitet und ins öffentliche Bewusstsein gerückt -, dass sie sich nicht diskriminiert fühlen, die gleichen Chancen wie Jungen und Männer hätten und sich deutlich vom sogenannten Differenzfeminismus ihrer lilabelatzhosten Mütter und älteren Emanzen distanzieren, wird dies als Ausdruck einer gewonnenen neuen Normalität gewertet. Dass sich in diesem Statement auch manche jüngere Frau mit anderem politischem Selbstverständnis nicht wiederfinden mag, ist Ausdruck der Kehrseite von Normalisierungspraxen und der Desartikulation von abweichenden politischen Positionen. Im Gegensatz zu einer Perspektive Kritischer Theorie, die den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang kapitalistischer Verhältnisse als Maßstab und Horizont ihrer Analysen definierte, ist aus einer an Foucault orientierten Sicht vielleicht eher vom “Gesamtzusammenhang der Normalisierungspraktiken” (Castel, zit. nach Keupp 1994, 259) zu sprechen, natürlich nicht ohne leichte Polemik hinsichtlich des damit verbundenen Erklärungsanspruchs, den es in dieser umfassenden Sicht nach Foucault nicht geben kann, weil die Zentralperspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse ebenfalls eine Fiktion (bürgerlicher) Sozialwissenschaften ist, die ihr eigenes Verwobensein in gesellschaftliche Diskurse verleugnet.

3. Gouvernementalität und Geschlecht
Was ergibt sich nun aus diesen Aspekten für eine Sicht auf die Kategorie Geschlecht und auf eine gesellschafts- und kapitalismuskritische Geschlechtertheorie? Viel Arbeit auf jeden Fall. Foucault entwickelte seine späten Überlegungen zur gouvernementalité, also zur Verbindung von Führen, Regieren und Mentalität, nicht geschlechtsspezifisch. Im Anschluss an seine früheren Überlegungen zu Wissen/Machtkomplexen und einem produktiven, nicht-repressiven Verständnis der Wirkung von Macht bringt er die produktive Verschmelzung von Herrschaftstechniken mit “Technologien des Selbst” in Verbindung, die oft nicht auf Zwang, sondern auf Freiwilligkeit zu beruhen scheinen. Neoliberalismus als umfassendes Herrschaftsprojekt wird dabei nicht allein als ideologische Rhetorik oder als politisch-ökonomische Realität aufgefasst, sondern vor allem als ein politisches Projekt, das darauf zielt, eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt. (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000, 9) Techniken der Selbst- und Fremdführung sind dabei nicht ausschließlich in einem gesellschaftlichen Bereich zu suchen, etwa staatlicher Politik, der Betriebsführung, der Medizin, der Gesundheit oder der Risikovorsorge. Alles dies sind bevorzugt beforschte Felder der sogenannten governmentality studies, die kein abgeschlossenes Programm darstellen. Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke sehen zurecht die Gefahr, dass mit einer solchen Analyse, die vor allem auf die Produktivität regulatorischer Praktiken zielt, u. U. die Frage vernachlässigt werde, wie “irrationale”, “unökonomische” oder “gewaltförmige” Elemente innerhalb politischer Rationalitäten artikuliert werden. (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000, 18) “Zwang und Repression treten in vielen Arbeiten zugunsten der Analyse von Programmtexten und ‘Führungsmentalitäten’ zurück, die Heterogenität und Vielfalt von Regierungspraktiken erfahren mehr Aufmerksamkeit als ihre Zentralisierung und Homogenisierung.” (ebd.) Das ist natürlich ein Problem, dem sich auch feministische Kritikperspektiven zu stellen haben. Die Komplexität der Kategorie Geschlecht macht es schwierig, empirisch genau nachzuvollziehen, wie Geschlechterverhältnisse einerseits gegenwärtig desartikuliert werden, andererseits damit gleichzeitig das hartnäckige Fortbestehen bestimmter vergeschlechtlichender kollektiver und individueller Praxen zusammenhängt. Judith Butler hat den Versuch unternommen, die materiellen Effekte der diskursiven Konstruktion von sex und gender näher zu ergründen. Ihr Entwurf von Performativität diskursiver Praxen, die hervorbringen, was sie zitieren oder benennen, knüpft an Foucaults Vorstellung der Produktivität vermachteter Diskurse an. Danach ist das sogenannte biologische Geschlecht nichts, worauf wir uns als gegebene Naturtatsache beziehen, sondern ist ebenso diskursiv beschaffen wie das sogenannte soziale Geschlecht. Diskursiv treten wir in ein soziales (Selbst-)Verhältnis, das unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen heteronormativ und rassistisch organisiert ist und uns soziale Körpernormen ansinnt. Butler betont, dass Subjekte nicht einfach in Verhältnisse eintreten und ihnen unterworfen werden. Der Prozess der Materialisierung von Körper und Psyche wird selbst als diskursiver gedacht. Damit steht aber nicht zur Debatte, wir könnten willkürlich einen Körper entwerfen oder annehmen - ein häufiges Missverständnis ihres Performativitäts-Begriffs. Butler hebt hervor, dass es vielmehr auch die verletzenden, ausschließenden, verwerfenden bzw. verworfenen Aspekte der diskursiven Anrufung von Körpern und Individuen sind, die über Zeit hinweg materialisierte, vergeschlechtlichte Subjekte hervorbringen und in denen sie sich selbst hervorbringen. Im Zitat und der Wiederholung geschlechtsbezogener Normen liegt die Produktivität, die Materialität des hegemonialen Geschlechterdiskurses. Während z.B. psychoanalytische Perspektiven die Konstitution von Geschlecht in einem Entwicklungshorizont oder als die Wirkung einer dauerhaften symbolischen Struktur deuten, fasst Butler die konstituierende Wirkung regulierender Macht als ständig wiederholte und wiederholbare auf. Im Grunde kann dies als Versuch betrachtet werden, eine Nahaufnahme der Prozesse zu machen, in denen Diskurse mit Körpern verschaltet werden, ohne dass deren Funktionieren gänzlich klar wäre; viele Fragen bleiben offen. Nicht Struktur und Subjekt oder Struktur und Handlung stehen sich gegenüber, sondern in einem Akt reproduzieren sich normalisierende Norm und Normalität. Allerdings nicht bruch- und fugenlos. Und hier setzt auch der viel umstrittene Widerstandsbegriff von Butler an: Subversion funktioniere auch durch Zitierung von Normen. Dies ist kein willkürlicher Akt, der bewußt erfolgt, sondern eine Frage von Mikropolitiken im Alltag. Aber in der Wiederholung von Normen liegt auch ein Gestaltungsspielraum von Handlungsmöglichkeiten und Veränderungen. Gegenüber einer ohnmächtigen Perspektive, dass “alles Diskurs sei”, mithin auch immer nur die Wiederkehr des Gleichen mit diesem Modell zu denken sei, geht es hier um die Möglichkeit diskursiver Guerillataktiken. Erweitert man das sprachverengte Diskursverständnis dahingehend, unter Diskursen auch nicht-sprachliche Praktiken zu fassen, ist das alltägliche Repertoire der Zitierung von Geschlechternormen unübersehbar groß. Der Kritik an dekonstruktiven Ansätzen, sie würden über die diskursive Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht die gesellschaftliche Wirklichkeit weg erklären, steht auf dekonstruktiver Seite die Notwendigkeit gegenüber, sich über die Art und Beschaffenheit der Materialität vergeschlechtlichter sozialer Beziehungen weiter Gedanken zu machen. In der dekonstruktiv orientierten Sozialisationsforschung hat sich der kritische Blick vom Individuum weg hin zu den Geschlechterverhältnissen sowie zu den sozialen Interaktionen und Kontexte verschoben, in denen es agiert. Weiterhin verschob sich die Sicht weg von Geschlecht als Endergebnis sozialisatorischer Prozesse hin zu den Konstruktionsprozessen von Geschlecht und ihren materiellen Effekten. Andrea Maihofer kritisiert aber zurecht, dass vor lauter Angst, selbst wieder essentialistisch oder substantialistisch zu argumentieren, nicht mehr darüber nachgedacht werden kann, wie wir als Geschlechter existieren und dass es biografisch sehr unterschiedliche Erfahrungen sind, in denen wir in heteronormative Praktiken diskursiv sozialisiert werden. Im Anschluss an Foucault lässt sich sagen, dass sich gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht nur durch und mit Hilfe von Individuen reproduzieren, sondern sie “durch die Individuen hindurchgehen und sie auf sehr komplizierte Weise miteinander verketten.” (Maihofer 2002, 5) In einer Situation, sei es beruflich, sei es “Zuhause”, sei es in anderen sozialen Zusammenhängen treffen dann Individuen aufeinander, die bereits innerhalb eines komplexen und vielschichtigen Netzes von Macht- und Kräfteverhältnissen stehen. Und diese artikulieren die Bedingungen der Situation des Zusammentreffens mit. Die additive Perspektive auf das Zusammenwirken von Sexismus, Rassismus, Klassenverhältnissen, Alter und anderen Diskriminierungs- und Herrschaftsverhältnissen müsste genauer nach der situativen Hierarchisierung ihrer Effekte fragen. Oder mit Maihofer: Je nach Kontext ist in manchen Fällen möglicherweise die ethnische Zugehörigkeit einer Person entscheidender als die Frage des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, oder es ist umgekehrt oder gar nicht genau voneinander zu trennen. (vgl. Maihofer 2002, 12) Wie es in dieser Situation gelingen kann, sich Identitätszumutungen als auch Homogenisierungs- und Normalisierungspraktiken zu entziehen, lässt sich beispielsweise mit einem dekonstruktiven Verständnis von Biografie näher erkunden. Encarnación Gutiérrez Rodríguez hat gezeigt, wie die Verkettung individueller Deutungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Sexismus, Klassenverhältnissen, Rassismus am Beispiel intellektueller Migrantinnen nachzuzeichnen ist, ohne dass Biografien als abschliessende Metaerzählungen verkannt werden. (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999) Es ist aber auch eine Frage der politischen Praxis des Alltags. Auch wenn es laut Adorno kein “richtiges Leben im falschen geben kann”, so sind doch die ideologischen Formationen geschlechtlicher Vergesellschaftung nicht als aufzuklärendes falsches Bewusstseins zu behandeln, sondern in subversiven Alltagspraktiken aufzuweichen und zu bekämpfen. Was dies heute in neoliberalisierten Zeiten heißt, müssen wir neu herausfinden und gemeinsam klären.

Anmerkung
1.) Dieser Text basiert auf einem Vortrag, der auf der Tagung “Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang” vom 9.-11.02.2001 gehalten wurde, vgl. dazu auch den Beitrag im danach veröffentlichten Band: Katharina Pühl, “Geschlechtspezifische Sozialisation: Arbeit, Geschlecht, Gouvernementalität”, in: Jan Deck/Sarah Dellmann/Daniel Loick/Johanna Müller: Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang. Texte zu Subjektkonstitution und Ideologieproduktion, Mainz, 2001, S. 112-123.

Literatur
Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschführung im Qualitäts- und Selbstmanagement. In: Bröckling/Krasmann/Lemke, S. 131-167.
Ders./Susanne Krasmann/Thomas Lemke (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/M.
Keupp, Heiner (1994): Grundzüge einer reflexiven Sozialpsychologie. Postmoderne Perspektiven. In: ders. (Hg.), Zugänge zum Subjekt. Perspektiven einer reflexiven Sozialpsychologie. Frankfurt/M., 226 - 274.
ders. (1996): Wer erzählt mir, wer ich bin? Identitätsofferten auf dem Markt der Narrationen. In: Psychologie und Gesellschaft 4, 39-64.
Maihofer, Andrea (2002): Geschlecht und Sozialisation. In: Erwägen Wissen Ethik Jg. 13, Heft 1, S. 13-26.
Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (1999): Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung. Eine postkoloniale dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung, Opladen.
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