Notizen zu Empire: Wer ist zu Juli Zeh?

Inhalt

  1. Adler und Engel
  2. Der juristische Standpunkt
  3. Was sagt die EU dazu?
  4. Wo bleibt Empire?
  5. Literatur

Adler und Engel

Zu befürchten ist diesen Herbst auf der Frankfurter Buchmesse die Entdeckung einer grossen Wissenschaftlerin und Künstlerin, denn schon vor offiziellem Erscheinen ihres 450 Seiten starken Opus Magnum «Adler und Engel» durfte sie das Buch im ersten deutschen TV (Titel, Thesen, Temperamente vom 19.8) inmitten jugoslawischer Kriegstrümmer persönlich ankündigen: zu besprechen ist also Juli Zeh, Jahrgang 74, Inhaberin von drei Uniabschlüssen, mehrfach gefördert und preisgekrönt.

Was will sie, bewegt sie, überdenkt sie, schreibt sie? Nun, die Dame ist auf dem Internet präsent, wir können also bequem vom PC aus die These prüfen, ob ihr Werk auch wirklich imperial im Sinn von Hardt und Negri ist [Empire].

«Im Augenblick muß man bis nach Bosnien reisen, ins zerstörte Mostar, um Juli Zeh zu treffen.» [ARD 20] beginnt das erste deutsche Fernsehen den Bericht über die «Powerfrau» [ARD 17], die «Panzer-Juli» auf «Recherchefahrt mit der deutschen SFOR-Patrouille zu den ehemals serbischen Stellungen» [ARD 100]. Wir sind in medias res.

Die zentrale These ihrer «coolen Prosa» lautet: das Völkerrecht ist unmoralisch und die Wirklichkeit ein «verzweigter Kriminalfall», so dass «das kriminelle oder nicht legale Handeln sogar moralisch vertretbar ist, paradoxerweise». [ARD 100] Der verkaufsfördernde Schocker ist «wie schön die Zerstörung sein kann, also daß Ruinen ihre eigene Romantik haben» [ARD 60], «wie das zusammenfällt: die Zerstörung und die Ästhetik». [ARD 70].

Im Westen (bzw. Südosten) nichts neues also?

Der Spiegel fasste den Inhalt des Romans kurz zusammen. Am Anfang steht der Selbstmord von Jessie aus Angst vor den «Killern des berüchtigten serbischen Berufsverbrechers und Milizenführers "Arkan"» [SPI 42].

Hauptfigur ist Max, wie die Autorin selbst Jurist mit Schwerpunkt Europa- und Völkerrecht [SPI 71]. Er zweifelt «an den moralischen Grundlagen einer Juristerei, die sogar die Verfolgung von Kriegsverbrechern am Prinzip der territorialen Integrität von Staaten scheitern lässt» [SPI 60].

Der Roman hat laut Spiegel entgegen der nüchternen Selbstdarstellung von Zeh «die halluzinatorische Bannkraft eines Alptraums», gewürzt mit Horrorphantasien in welchen z.B. ein «sadistisch zerhackter Hundekadaver von lauter Schmetterlingen bedeckt ist»: «Außer den beiden Helden stecken nämlich, wie es scheint, fast alle Romanfiguren unter einer Decke: Dealer wie Juristen, Kriminelle wie EU-Politiker. Eine einzige Verschwörung?» [SPI 100]

Die beiden Identifikationsfiguren, die Helden, «tun cool und abgebrüht, aber sie sind verletzlich und suchen nach ihrer eigenen Wahrheit.» [SPI 100].

Die übliche Kriegshetzprosa also, mit Hochkonjunktur immer dann, wenn die deutschen Schweine wieder einmal den nächsten Weltkrieg anzetteln wollen? Offensichtlich auch, aber als deutsche Vorzeigeakademikerin gibt Zeh auch Gelegenheit zu weitergehender Analyse.

Der juristische Standpunkt

Im Sommersemester 99 verfasste die «Panzer-Juli» studienhalber eine Hausarbeit mit dem Titel «Das Selbstbestimmungsrecht der Voelker / Beispiel Quebec» [QE].

Das Selbstmestimmungsrecht der Völker (SbR) wird zurückgefürt auf die französische Revolution [QE 4], seit dem Zusammenbruch der Blockkonfrontation habe es neue praktische Bedeutung erlangt. Fragestellung ist, inwieweit die völkisch-nationalen Seperatisten aus Québec (Kanada) ihren Anspruch auf einen eigenen Staat mit dem geltendem Völkerrecht legitimieren können [QE 5].

Völkisch-nationale Befreiungskämpfe habe es in der Neuzeit mehrmals gegeben [QE 6], vor allem auch im Zuge der Dekolonialisierung. Es folgt eine Darlegung einschlägiger Paragraphen der UN-Charta [QE 9]. Offensichtlich muss nun zuerst eine Frage juristisch geklärt werden: «Was ist ein Volk?»
«Erschwert wird die Begriffsbildung durch Bemühungen, durch eine einschränkende Definition die Überdehnung des SbR zu vermeiden und so eine durch Sezessionen erzeugte ,,Atomisierung" der Staatenwelt zu verhindern.» [QE 13] Die Erörterungen sind also eng an deren militärischen Realisierung orientiert.

Alles irgendwie unbefriedigend, denn das «Volk» soll frei von politischen und normativen Gesichtspunkten sein; diese sollen erst in der Durchsetzung des SbR relevant werden [QE 15]. Gefragt ist eine «rein objektive Betrachtungsweise»: «verlangt werden gemeinsame(s) Territorium, Sprache, Kultur, Religion, Mentalität und Historie als Merkmal von Gruppenqualität» [QE 15].

Ein Problem bleibt: «Das Völkervertragsrecht enthält keine explizite Grundlage für ein Sezessionsrecht.» [QE 19], und «Auch die Staatenpraxis bietet keinen Anlaß zur Annahme, es habe sich ein als verbindlich betrachtetes, universelles Recht auf Sezession herausgebildet» [QE 20]. Ein Trick muss also her. Hier ist er: «Dort wird ein Sezessionsrecht ausgeschlossen, soweit es gegen das SbR achtende und schützende Staaten angewandt werden soll. Im Umkehrschluß kann man die Zulässigkeit einer Sezession folgern, soweit ein Staat das SbR eines Volks nicht gewährleistet».
Aha: Kann ein Staat als Schurkenstaat denunziert werden, wird neu gewürfelt.

Das neu gefundene Prinzip wird von Zeh gleich rückwirkend angewendet:
«In der Praxis könnte die Reaktion der Staatenwelt auf die Abspaltung Kroatiens vom ehemaligen Bundesstaat Jugoslawien als eine in der beschriebenen Art durchgeführte Anwendung des SbR gesehen werden.» [QE 21]
Dazu muss in unseren verlogenen Zeiten in Erinnerung gerufen werden, dass der deutsche Staat, genauer Aussenminister Genscher, diese Art der Anwendung initiiert hat; die «Staatenwelt» wurde von Deutschland im Alleingang vor vollendete Tatsachen gestellt, nahm das vergiftete Geschenk aber gerne an. Die Folgen sind bekannt und werden auch von «Panzer-Juli» nach Kräften persönlich ausgenutzt.

Im Zweiten Teil [QE 23] ihrer Arbeit geht es nun darum, dass sich das «Weltinteresse» auf «die Durchsetzung eines (äußeren) SbR» [QE 24] (Wer setzt durch? Deutschland? Juli Zeh? die Nato?) in «weniger entwickelten Staaten» (sprich Jugoslawien) konzentriert. Wie aber kann Sezession in einem hochentwickelten Industrieland erreicht werden?

Dazu muss zeurst die lokale Geschichte von Québec ausgebreitet werden [QE 25], um anschliessend anhand der genannten Kriterien sowohl objektiv als auch subjektiv festzustellen, dass «die in Québec lebende Bevölkerung als ,,Volk" im Sinne des Völkerrechts eingestuft werden kann» [QE 37]. Die leidigen Indianer sind dabei kein Problem: «Auf dem Gebiet Québecs sind die Aboriginals eine kleine Minderheit, deren Existenz nicht daran hindern kann, die Frankokanadier als eigenes Volk anzusehen.» [QE 37] - genausowenig wie die Zigeuner im Kosovo, die mittlerweile dort ganz einfach nicht mehr existieren, was unsere liebe Juli genausowenig kümmert wie die Journalistenmeute des westlich-aufgeklärten Mediensystems.

Doch langsam: bis jetzt ist erst neutral, objektiv, wissenschaftlich und frei von Moral und Politik festgestellt, dass in Kanada ein frankophones «Volk» lebt. Das Recht auf Sezession muss nun sekundär auf der Basis dieser nicht mehr zu bezweifelnden Tatsachen abgeleitet werden.

Erstens werden vom politischen Subjekt «souveränistisches Québec» Verstösse des Staates Kanada gegen die «frankokanadische Selbstbestimmung» festgestellt.
Es wird eine Komission bestehend aus «fünf internationalen Völkerrechtsexperten» einberufen [QE 44] aufgrund folgenden Problems: Die Indianer haben dummerweise lesen gelernt und fordern im Falle einer Sezession Québecs ebenfalls ihren eigenen Staat in Analogie zur Aufspaltung Bosniens nach der Abspaltung von Jugoslawien [QE 45]. «Dabei berufen sich die Ureinwohner auf ein eigenes SbR, das ihnen als Indigenous People zustehe» [QE 48].
Zur demokratischen Legitimierung der Sezession werden auch Referendums-Abstimmungen durchgeführt [QE 50] weil «Québec wenn überhaupt nur mit einer klaren Mehrheitsentscheidung der Bevölkerung zur Sezession berechtigt wäre» [QE 51]. Eine 50%-Merhheitsentscheidung wird dabei aufgrund des historischen Beispiels als unzureichend erachtet: «Slowenien und Kroatien votierten mit zustimmenden 88 bzw. 94 Prozent, und trotzdem war die Legitimität der Sezession nicht unbestritten» [QE 54].

Alles in allem ist die Situation also unbefriedigend. Doch die fünf Experten haben einen Ausweg gefunden: Die Lehre des «effective control». [QE 55] Es handelt sich damit um um eine abstrakte Staatsdefinition: Staat ist das Subjekt, welches empirisch gesehen effektiv die Regierungsgewalt ausübt, unabhängig von dessen konkreten juristischen Status. Ein synonymer Begriff im Zusammenhang mit zerfallenden Staaten ist der des «stabilisierten de-facto-Regimes», der «partiell völkerrechtsfähig werden» kann. [QE 56]

Aus der Sicht der völkisch-nationalen Separatisten stellt sich dann das Problem, «auf welche Weise die vielzitierte ,,effective control" zu erlangen ist, wenn man nicht offen zum Einsatz aufständischer Gewalt, zu Revolution und Bürgerkrieg aufrufen will» [QE 58]. Für «rückständige Staaten» wie Jugoslawien war und ist das offensichtlich das Mittel der Wahl. Es wurde und wird vom aufgeklärt-demokratischen Westen offen legitimiert.

Kanada hingegen verdient als fortschrittlicher Staat offenbar eine juristische Lösung. Die vielen, vielen Punkte [QE 59] entziehen sich dem Verständnis eines Nicht-Juristen, es läuft aber darauf hinaus, dass in diesem - und nur in diesem! - Fall «das verfassungsändernde Verfahren i.S.d. s.35 der kanadischen Verfassung eingehalten werden» müsste [QE 64].

Völkerrechtlich ist noch nicht alle unter Dach und Fach: «Nach der hier vertretenen Auffassung müßte feststellbar sein, daß den Quebeckern auf diskriminierende Weise die Ausübung ihres inneren SbR innerhalb Kanadas unmöglich gemacht wird, daß erhebliche Menschenrechtsverletzungen stattfinden oder eine sie repräsentierende Verwaltung nicht vorhanden ist.» [QE 64]. Die Verfassungsreform von 1982 fürte aber leider «den ,,Multikulturalismus" als eine Auslegungsregel der Grundrechtscharta ein» [QE 66] und auch sonst sind keine TV-wirksamen Menschenrechtsverletzungen zu erkennen.

«Demnach besteht kein Sezessionsrecht für Québec» [QE 77] lautet die niederschmetternde Schlussfolgerung. Die wiederaufheiternden Folgezeilen müssen nun ganz genau gelesen werden:
«Es soll nochmal betont werden, daß einer ,,rechtlos" durchgeführten Sezession dennoch das Völkerrecht nicht entgegenstände. Es könnte kein völkerrechtswidriges Verhalten der Frankokanadier angenommen werden.» [QE 77].
Die folgt aus der behaupteten Neutralität des Völkerrechts gegenüber Sezessionsbestrebungen. Damit ist der Weg frei für:
«Einer Anerkennung durch andere Staaten stände jedenfalls bei Vorliegen der Anerkennungsvoraussetzungen (effektive Regierungsgewalt der Quebecker) nichts entgegen;» [QE 77]. Nicht die Anerkennung durch eine Staatengemeinschaft, UNO oder was auch immer, sondern nur die Anerkennung durch Einzelstaaten eröffnet zum Beispiel Deutschland die Möglichkeit, eine Sezession aktiv einzuleiten wie bei der Zerschlagung Jugoslawiens.
«beim Erreichen der Voraussetzungen soll aber jede Gewaltanwendung vermieden werden.» [QE 77]. Zehs «soll» wurde von einer Juristin bewusst als nicht bindende Soll-Bestimmung gesetzt und bedeutet hier nichts anderes als «Wenn Gewalt angewendet wird für höhere Ziele, schwamm drüber.», oder profaner: «Feuer frei!» Bravo, «Panzer-Juli»!

Das Schlusswort enthält eine unerwartete Wendung: die ganze stringente Argumentation wird total umgekehrt und umgelogen als «praktisches Beispiel zu den Überlegungen, inwiefern sich das Konzept Föderalismus und die Gewährung immer weitergehender Autonomie zur Verhinderung von Sezessionsbestrebungen einsetzen läßt». [QE 73]

Für die Europäische Union folgt daraus folgendes: entweder Festhalten an einem «vor-föderativen Zustand» (d.h. Stop der Integration) oder «im Gegenteil ein viel höherer Integrationsgrad» als er in Kanada vorzufinden ist [QE 74] denn:
«Eine instabile Situation, wie sie in Kanada seit seiner Gründungszeit und in den letzten 30 Jahren mit immer größerer Brisanz vorzufinden ist, sollte zugunsten von Frieden und Sicherheit soweit als möglich in allen Teilen der Welt vermieden werden.» [EQ 74]

Was sagt die EU dazu?

«Der Eierkuchen, oder: Leitbilder der Europäischen Union im Widerspruch» [EL] lautet der Titel eines Essays von Juli Zeh, das sich «auf nicht-wissenschaftliche Weise mit der Entwicklung der Europäische Union vor allem in Bezug auf Erweiterungsfähigkeit und -bedürftigkeit auseinandersetzt». Für günstige 0,39 Euro (0,76 DM) [hey, das war vor ein paar Tagen; inzwischen ist der Marktwert auf 0.49/0.96 gestiegen] kann man sogar eine PDF-Version runterladen. Ich begnüge mich daher mit dem üblichen HTML.

Handeln tut der Text vom EU-Gipfel in Nizza, spielen tut er unter zwei Freundinnen vor dem TV. Erste Beobachtung: «Tränengas kriecht durch die Korridore des Konferenzzentrums» [EL 8].
Nach der altchinesischer Weisheit «Erkenne dich selbst in deinen Gegnern» [EL 9] wird geschlussfolgert: «Die EU, das wäre die Diagnose, ist in sich dermaßen widersprüchlich, dass sie es noch nicht mal zu einer homogenen Gruppe gewaltbereiter Gegendemonstranten bringt.» Die Häme ist typisch für Imperiale.

In Harts & Negris «Empire» ist dieselbe Gegnerschaft bezeichnet als «struggle» der «multitude», der seine Akteure grundsätzlich gar nicht homogenisieren will: gemeinsam ist der Kampf gegen das Imperium - nicht mehr und nicht weniger.

Gesprächspartnerin der Hauptperson (Zeh1) ist eine Historikerin (Zeh2), die deswegen «immer eine beruhigend organische Vorstellung vom Gewordensein der Dinge» hat [EL 20]. Nach Zeh2 war Europa schon in der Antike dialektisch bewegt in lokalen Ethno-Kulturen und einem suprakulturellen System [EL 16]. Zeh1 wendet ein, dass die Moderne viel komplexer ist, und also wenden sich die beiden dem Konkreten zu: der Osterweiterung der EU.

Diese bringt die EU in ein Dilemma: «Je mehr neue Mitglieder, desto größer die Heterogenität, desto weniger Integration.» [EL 31] Was - siehe oben - schnell zu einem weiteren grosseuropäischen Bürgerkrieg führen kann. Wie kann der Widerspruch aufgelöst werden?

Durch die Wirtschaft! «trompetet» Zeh1. Denn erstens ist das schon der status quo: «DIE INTEGRATION im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften basiert ihrer Entstehungsgeschichte nach und bis heute auf einem einzelnen Sektor des kulturellen Spektrums: Dem ökonomischen.» [EL 39]
Und zweitens: «Der Clou ist jedenfalls, sage ich, dass die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele ganz von selbst manchen ideellen Werten dient und vice versa.» [EL 52].

Wir haben es also mit der klassischen Auflösung der Sphäre des Politischen zugunsten ökonomischer Management-Prozesse im Empire zu tun.

Zeh2 ist überzeugt und liefert gleich den Titel des Essays: «Was zunächst wie ein Widerspruch zwischen Werten und Wirtschaft aussieht, sagt Anke, entpuppt sich als eine Symbiose von Friede, Freude und Eierkuchen.» [EL 77]

Zeh1 überzeugt also Zeh2, also sich selbst, dass eine Wirtschafts-EU die beste aller möglichen Welten ist. Das Augenzwinkern im Eierkuchensatz signalisiert der Elite, dass sie um die Lüge weiss.

Wo bleibt Empire?

Ziel der langen Lektüre war, Juli Zeh imperiale Propaganda im Sinne von Hard & Negri [Empire] nachzuweisen. Das Ziel wurde stellenweise verfehlt. So abgrundtief deutsch war die juristische Schlussfolgerung bezügl. Völkischem gar nicht zu erwarten: entweder «Stop EU» oder «Deutsch-National-EU». Alles andere führt - mit tatkräftiger Unterstützung Zehs - unweigerlich in den nächsten grosseuropäischen Krieg.

Laut Hard & Negri sind beide diese Wege in der Gegenwart (sie bezeichnen sie mit «Postmoderne») definitiv verbaut. Wieso? Empire will nicht. Ganz einfach:

Einerseits ist das postnationale Empire ein Produkt der proletarischen Migrationsbewegungen im Sinne eines kollektiven Exodus. Andererseits ist es ein System zum Selbstschutz des kollektiven Kapitals.
Europäische Kleinstaaterei hindert Kapital und Waren an gewinnbringender Zirkulation, wobei die zum Funktionieren der Wirtschaft benötigten ausländische Arbeitskräfte als Waren zählen. «Weg damit!» sagt deswegen Empire.
Ein hochintegriertes viertes Deutsch-Europäisches Reich hat darin ebenfalls keinen Platz: Voraussetzung wäre eine Neu-Implementierung einer klassisch-bürgerlich-modernen Sphäre des Politischen, und genau diese will Empire eliminieren zugunsten der Gestaltungsmacht der Netzwerke der Produktion. Diese bestehen einerseits aus den grossen transnationalen Konzernen, die sich ihre eigenen politischen Regeln setzen wollen, andererseits aus der «multitude», der heterogenen multikulturellen Vielheit der Arbeitskräfte, die auf traditionell-politischem Weg nicht mehr zu integrieren sind.
Deutschland hat ausgeknockt. Das 4. Reich wird nicht kommen.
Man möchte es gerne glauben und hofft, die Deutschen könnten wenigstens dieses eine mal auf den Weltkrieg verzichten.

Erinnern wir uns: Es war nur der Schluss, der irritierte. Könnte es sein, das die schlaue Juli ihre akademische Karriere ganz im Sinne der «Rational Choice Theory» mit Zugeständnissen an den verbreiteten deutschen Reichs-Nationalismus fördern wollte? Dass ihr Weg näher am Empire als an neuen deutsch-nationalen Projekten liegt, kann anhand ihres Texts «Brauchen wir noch Tabus? - Gespräche auf dem Europäischen Markt» [TM] gezeigt werden.

Handlungsfeld ist Europa, symbolisiert durch einen Supermarkt, der für Zeh den europäischen Lebensraum adäquat darstellt: «Freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital - hier gelten die Gesetze der Europäischen Union». [TM 5] Für Hardt & Negri ein klassischer imperialer Raum der Freiheit. Zehs Sexfreund heisst denn auch ihr «Partner für den Frieden» [TM 4] - Nato-Raketen sind immer noch die potentesten Phallussymbole.
Angeboten werden alle Waren ausser Tabus, was sie zuerst erstaunt. Aber: «Beim Verlassen des Parkplatzes stecke ich im Stau. Vor mir kriecht im Schneckentempo ein LKW, auf dessen Heckklappe zu lesen ist: >Das Europäische Parlament - Wir können über alles reden<. » Wo über alles geredet werden kann, kann es auch keine Tabus mehr geben. [TM 13] Nur eine leere Schachtel ist geblieben: «>Tabus - Made in Germany<» [TM 12].

Der Inhalt der Schachtel war einmal die den Deutschen nach dem Krieg «verordnete» Demokratie [TM 49]. «"Aus dem Rückblick", sage ich, "aus Sicht des Jahres 2100, ist leicht zu erkennen, dass sich hinter der Überzeugung, bei der Demokratie handele es sich um die einzig mögliche Staatsform, ein Tabu verbarg."» [TM 84]

Wieso dieses Tabu? Zeh erklärt es ihrer staunenden Zuhörerschaft. Sie beginnt mit einer bekannten Lüge: «Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem und die Demokratie als Staatsform, sind von ihren Wurzeln an miteinander verschränkt, bedingen einander und treten bislang nur paarweise auf.». [TM 86]
Südamerika liegt bekanntlich nicht in Europa, Afrika noch weniger, und von den vorbildlichen Öl-Demokratien wie Kuwait schweigen wir hier lieber. Es geht Zeh ja auch nicht um souveräne Nationalstaaten, sondern um die EU:
«Bei Setzung des Europäischen Rechts fehlt es nach wie vor fast vollständig an der Mitwirkung eines demokratisch legitimierten Organs.» [TM 88] und weiter: «Es besteht nämlich ein praktischer Grund für das Demokratiedefizit in der EU. Die Organisation folgt den Bedürfnissen der Wirtschaft.» [TM 90], demgegenüber: «Das parlamentarische Entscheidungsverfahren aber ist langsam, gekennzeichnet durch manchmal endlos erscheinende Verhandlungen, die zwar dem demokratischen Interessenausgleich dienen, aber lähmende Wirkung auf die Handlungsfähigkeit haben.» [TM 90].

Schlussfolgerung: «"Ich plädiere hiermit für mehr Klarsicht", sage ich, "dafür, den demokratischen Schein nicht gegen bestehende Realitäten aufrechtzuerhalten und lieber herauszufinden, was wir wirklich wollen und brauchen." » [TM 97] Und damit keine Zweifel aufkommen, wer in Europa das Sagen hat: «Und Deutschland hat durch seine Stellung in der EU durchaus eine Vorreiterrolle beim Vorantreiben dieser Entwicklungen inne.» [TM 97]

Die angestrebte politische Konstitution der EU ist also mehr ein effizientes Management von Bedürfnissen der grossen Wirtschaftskonzerne und weniger Politik im klassischen Sinne - ganz wie Hardts & Negris Empire. Die Voraussetzung für die effiziente und totale Verwirklichung dieser Pläne ist jedoch die Eliminierung möglicher Widerstände aus der «multitude».

Und genau hier setzt der neue völkische Nationalismus an: «It is extremely important from this point of view that Empire uses its powers to manage and orchestrate the various forces of nationalism and fundamentalism.» [Empire S. 398]
Denn Empire steckt laut Hardt & Negri in einem ganz grossen Dilemma:
Einerseits ist es auf den Kommunismus der «multitude» in seinen globalen Produktionsnetzwerken angewiesen. Nur durch deren zusammenwirkende Vielfältigkeit entsteht heutzutage noch neue gewinnbringende Produktivität.
Andererseits darf diese Vielheit, die naturgemäss einem einheitlichen kapitalistischen Ausbeutungs-Empire entgegensteht, unter Kontrolle gehalten werden: jeder Widerstand gegen die Enteignung der Arbeit der «multitude» muss gebrochen werden.
In ihren Worten [Empire S. 392]: «Empire recognizes and profits from the fact that in cooperation bodies produce more and in community bodies enjoy more, but it has to obstruct and control this cooperative autonomy so as not to be destroyed by it."»

Zeh empfiehlt als geeignetes Mittel das gezielte Ausspielen des völkischen Nationalismus, damit kein revolutionäres politisches Subjekt - bei Hardt & Negri die sich selbst und die Welt produzierende «multitude» - entstehen kann. (Siehe [Empire S. 132]: "The Poisoned Gift of National Liberation")

Die deutsche Wissenschaft, Kunst und Kultur werden diesen Herbst heftig applaudieren.


Quellen

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Verwendung des Lineals

Das Prozedere ist etwas mühsam, aber mir fiel nichts besseres ein:

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Created on ... August, 2001