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 [* referat, gehalten auf dem antifa-camp 2005 in oberhausen]

 Was die Wissenschaft gestern und heute sagt  – zur Einstimmung

„Der jähe Umschlag vom übersteigerten (und schwer missbrauchten) Patriotismus zu skeptisch-kühler Neutralität dem Gedanken des Vaterlandes gegenüber ist natürlich eine Folge der totalen Katastrophe von 1945…“ (Gerhard Ritter, 1966)

„Tatsächlich, und dies kennzeichnet die Tragik des Patriotismus in Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes, missbrauchte der Nationalsozialismus das patriotische Engagement zahlreicher Deutscher, die für ihr Land einzutreten bereit waren und ihren Dienst für das Gemeinwesen leisten wollten, ohne damit zwangsläufig die Ziele Hitlers und seiner engsten Gefolgsleute gekannt oder gar geteilt zu haben. Der patriotische Dienst an der Nation, er kann, wie die nationalsozialistische Erfahrung zeigt, missbraucht und damit pervertiert werden“ (Volker Kronenberg, 2005)

 

 Vorweg

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass ein so komplexes Problem in der gebotenen Kürze eines Vortrages im Prinzip nicht adäquat zu behandeln ist. Wir versuchen dies dennoch und weisen deshalb darauf hin, dass vieles nur angerissen werden kann und einiges auch ganz unter den Tisch fallen muss. Der Vortrag ist grob in zwei Teile geteilt: im ersten Teil wird es sowohl um den Begriff der Nation als auch um die herausragenden Momente der historischen Genese der Sache selbst gehen, immer mit dem Fokus auf Deutschland, auch wenn Seitenblicke nach Frankreich getätigt werden. Im Zweiten Teil schließlich wird es um den gegenwärtigen Zustand der deutschen Nation gehen, der sich im Zentrum mit der Kontinuität der Shoah und des NS beschäftigen wird. Eine deutsche Nation ist ohne Auschwitz nicht denkbar.

 

Begriff und historische Genese der Nation

Begriff: In der hier vorgenommenen Darstellung wird mit dem Begriff vor der historischen Genese begonnen, nicht weil man das irgendwie trennen könnte, sondern da mit einem entfalteten Begriff der historischen Genese besser auf die Spur zu kommen ist („Die Anatomie des Menschen ist der Schlüssel zur Anatomie des Affen“ sagte Marx). Dies birgt ein Problem, welches benannt werden muss, um es zu vermeiden: mit dieser Darstellungsweise kann es historisch so erscheinen, dass alles so kommen musste, dass es eine teleologische Bewegung gab. Dies ist aber nicht richtig, es ist zwar so gekommen und man kann versuchen zu erklären warum es so gekommen ist, aber es gab immer auch die Option die „Notbremse“ (Benjamin) zu ziehen und eine andere Entwicklung einzuschlagen. „Die Menschen machen“ wie Marx sagte „ihre eigene Geschichte aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (MEW 8, 115).

Die Nation als Organisationsform der kapitalistischen Gesellschaft (vgl. Adorno 2001) ist historisch gesehen recht jung, hat sich aber mittlerweile so durchgesetzt, dass alle Staaten, zumindest offiziell, Nationen beherbergen (vgl. Hobsbawm 1992). Da sie sich in relativer Zeitgleichheit mit der kapitalistischen Vergesellschaftung herausbildete, kann sie nur in diesem Zusammenhang begriffen werden. Deutlich wird dies an der Etymologie des Wortes Nation. Bis zur Französischen Revolution bedeutete dies Wort nichts anderes als Herkunft, abgeleitet vom Lateinischen Natio, Geburt. Es bezeichnete daher die Zugehörigkeit zu einem Stand, in der Regel zum Stand des Adels. Dazu später mehr.

Es muss nach den gesellschaftlichen Bedingungen gefragt werden, die die Nation als verallgemeinerte Form der Organisation von Gesellschaft möglich mach(t)en. Sowohl der Begriff der modernen Nation als auch die Sache selbst muss daher im Zusammenhang der Wertvergesellschaftung verortet werden. Dies Bedeutet, dass der gesellschaftliche Grundzusammenhang, die gesellschaftliche Synthesis über den Wert als deren Träger und über den Staat als materialisierter Ausdruck der politischen Herrschaft, bestimmte Denkformen hervorbringt, die es erst ermöglichen Nation zu denken. Andersons Begriff der Nation als „vorgestellter Gemeinschaft“ gibt hierauf mehr als nur einen ersten Hinweis.

Der Kapitalismus besteht nicht aus einem personalen Herrschaftsverhältnis zwischen Kapitalistin und Arbeiterin, sondern aus einer Grundstruktur, die jeder Einzelnen gegenübertritt, dem Wertverhältnis. Das Wertverhältnis ist die Form, in der die Reproduktion sich derart mit der Produktion vermittelt, dass die Gesellschaftlichkeit der Arbeit nicht unmittelbar ist, sondern die Arbeit von voneinander unabhängigen PrivatproduzentInnen erst über den Markt vermittelt wird. Alle Menschen sind als Subjekte “vereinzelte Einzelne” (Marx), die als Warenmonaden über gesellschaftliche Strukturen miteinander in Kontakt treten. Sie sind dabei vom gesellschaftlichen Prozess der Verwertung des Werts bzw. der Kapitalakkumulation abhängig und werden durch ihn in einer je spezifischen Klassenposition überhaupt erst als Subjekte konstituiert, wobei sie je spezifische Klassenpositionen sowie rassifizierte und vergeschlechtlichte Identitäten zugewiesen bekommen. Dieses strukturelle Ungleichheitsverhältnis, in dem die atomisierten Subjekte sich befinden, ist gleichzeitig ein Gleichheitsverhältnis, indem sie als formal Freie und Gleiche, d.h. als abstrakte Menschen, auf dem Warenmarkt sich als KäuferIn und VerkäuferIn gegenübertreten. Durch die kapitalistische Produktionsweise werden die Individuen einerseits atomisiert, individualisiert, als abstrakte Menschen gleichgesetzt und gleichzeitig durch die Abstraktheit ihrer Individualisierung hindurch als Bestandteile der Nation in einem spezifischen Raum hergestellt, der mit einer spezifischen Zeit, die in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen impliziert ist, verbunden ist, welche die moderne Historizität überhaupt erst möglich macht und damit geschichtliche Ereignisse sich erst als Verkettung von Ursachen begreifen lassen. Und über den Raum (Raum ist hier auch als Abstraktion zu verstehen, sozusagen eine Realabstraktion des erscheinenden Territoriums) des Staats werden die atomisierten abstrakt gleichen Individuen (in ihrer konkreten Ungleichheit) als Volk und Nation homogenisiert, deren erfundene Traditionen (Zeit) ebenfalls in staatlichen Apparaten eingelagert werden.

Nation bezeichnet die identifikatorische Bindung und Zusammenfassung einer Menschenmasse über die Vermittlung durch den Staat und über ein bestimmtes Territorium, womit sich die Nation als nationale Identität und somit als Nationalismus in jeder einzelnen Angehörigen Geltung verschafft. Die Nation ist also als die Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft die Einheit der zu einem Staat gehörenden Subjekte. Sie ist ein Zwangszusammenhang, der sich verselbständigt und gegen das Individuum wendet, welches als Subjekt nur noch Nationalstaatsbürgerin sein soll.

Doch nicht nur die Objektivität der Nation ist zu beachten, sondern ebenso die subjektive Hinwendung zu ihr. In der Nation identifiziert sich das Individuum mit der Allgemeinheit. Die Nation kann so als zum Scheitern verurteilter Versuch gefasst verstanden werden, die aus der ökonomischen Vereinzelung folgende Ohnmacht des zum Objekt degradierten Subjektes aufzuheben. Diese Aufhebung in der Nation scheitert notwendig, da das sich mit dem kapitalistischen Zwangszusammenhang  identifizierende Subjekt sich selbst durchstreichen muss, um im Kollektivsubjekt Nation aufzugehen. Diese gedanklichen Identifikation des Individuums mit der Gesellschaft bringt die Nation als negative Identität von Subjekt und Objekt hervor, die Antagonismen der kapitalistischen Gesellschaft werden also verdeckt und verschleiert, aber keinesfalls aufgehoben. Die nationale Identität erweist sich so als die maßgebliche Form, in der Individuen in das System kapitalistischer Ausbeutung integriert werden (vgl. ISF 1990) und als Nation formieren sich so im gesellschaftlichen Zwangszusammenhang Bevölkerungen als Konkurrenzsubjekte im Weltmaßstab. Oder anders ausgedrückt: Die Nation ist eine apriorische Ordnungskategorie gesellschaftlicher Realität, eine „objektive Gedankenform“ (Marx), die außerkategoriale Realität besitzt, und die die Grenzen der Aufklärung schmerzhaft deutlich macht (Claussen 2000).

Mit dieser Formierung der Gemeinschaft geht logisch und historisch notwendig eine doppelte Abschottung nach innen und außen gegen diejenigen einher, welche per definitionem nicht dazugehörten. Ein Kollektiv bildet sich daher nur durch gleichzeitigen Einschluss und Ausschluss von anderen Kollektiven.

Der Ausschluss von Menschen aus der Nation ist immer Teil des Einschlusses der Dazugehörenden, d.h. die Festlegung wer nicht dazugehört impliziert die Festlegung, wer dazugehört. „Das Kollektiv der Eingeschlossenen ist also sowohl der logische Bezugspunkt als auch das Aktionszentrum des Ausschließens“ (Hoffmann 2001, 44). Die Form der Nation ist daher immer verbunden mit der Ausschließung von Nicht-Dazugehörigen; Rassismus und Antisemitismus sind die zwei wirkungsmächtige Formen dieses Ausschlusses, wobei sie aber nicht, wie es oftmals gemacht wird als ein und dasselbe, sondern als qualitativ zu unterscheidendes behandelt werden.

Die konkrete Ausformung der Nation, und das heißt die konkrete Form der gesellschaftlichen Organisation des Ausschlusses sowie des Einschlusses ist dabei abhängig von spezifischen geschichtlichen Situationen, Kämpfen und in ihnen ausgeprägten, von ihnen nicht trennbaren  Ideologien, d.h. die Realität der Fiktion stellt sich je spezifisch in komplexen gesellschaftlichen Prozessen her. Somit kann auch rein auf der begrifflichen Ebene (ebenfalls in der Realität) die Unterteilung in einen guten Patriotismus und einen bösen Nationalismus als ausgemachter Unsinn entlarvt werden. Oder in den Worten Adornos: „Gesundes Nationalgefühl vom pathischen Nationalismus zu scheiden, ist so ideologisch wie der Glaube an die normale Meinung gegenüber der pathogenen; unaufhaltsam ist die Dynamik des angeblich gesunden Nationalgefühls zum überwertigen, weil die Unwahrheit in der Identifikation mit dem irrationalen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die Person zufällig sich befindet“ (AGS 10.2, 589).

 

Genese:

Ihren ersten welthistorischen Auftritt hatte die Nation in ihrer modernen Form in der Französischen Revolution. Dort wurde der dritte Stand zur Nation erklärt und der Adel war sozusagen das Gegenmoment, welches bekämpft und geköpft gehörte. „Der Dritte Stand umfasst alles, was zur Nation gehört. Und alles was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als einen Bestandteil der Nation betrachten.“(Sieyés, zitiert nach: Weidinger)  So einer der Autoren der Französischen Verfassung von 1791. Schon in der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, die darauf zielte sich von den feudalen Strukturen zu befreien und stattdessen allgemeine Menschenrechte zu setzen, die nebenbei bemerkt Frauen so weit ausgeklammert hatten, dass Olympe de Gouges, die als erste Rechte der Frauen proklamierte, geköpft wurde, ist die Ausgrenzung impliziert, da die Menschenrechte an die Form des Nationalstaats, an das Gesetz, gebunden waren. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz ist zum einen Bedingung für kapitalistischen Tausch und zugleich ideologische Verschleierung der Ungleichheit der Individuen in den Produktionsverhältnissen. Das verschleierte Konkurrenzverhältnis der Individuen untereinander wird von der zur Nation formierten Gesellschaft im Nationalstaatlichen Konkurrenzkampf nach außen übertragen, sowie gegen die als ‚zersetzende Elemente’ ausgemachten nach innen exekutiert. So liegt von Anbeginn an der Umschlag der universell formulierten Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit aller in die nationale Gleichheit der ‚rassisch’ Dazugehörenden in der Idee der Nation. Der Adel „bildet wahrhaftig ein Volk für sich, aber kein echtes Volk, da er aus Mangel an nützlichen Organen nicht durch sich selbst existieren kann, sich vielmehr einer wirklichen Nation wie jene Schmarotzerpflanzen anhängt, welche nur vom Saft der Bäume leben können, die sie krank machen und  austrocknen.“(Sieyés, zitiert nach: Bruhn) Es zeigen sich hier schon biologische Metaphern, die die Nation als das Organische, Gesunde, Natürliche beschreiben, die von Krankheitserregern angegriffen wird, sowie der Zwang der Produktivität um zur Nation dazuzugehören. In dieser bürgerlichen Polemik in revolutionärer Absicht – das darf nicht vergessen werden, dass die französische Revolution immerhin emanzipatorischer Art war, also alte Ausbeutungsverhältnisse abschaffen wollte – war nichtsdestotrotz „das geistige Instrumentarium der Massenvernichtung“(Bruhn 1994, 42) angelegt. „Die Ordnung, die 1789 als fortschrittliche ihren Weg antrat, trug von Beginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich“ (Horkheimer 1939, 324).

 

Daher gilt es, sich die Entwicklung der Nation anzuschauen, die schließlich Auschwitz hervorgebracht hat. Hierbei stehen vor allem die Intellektuellen im Zentrum, da sie eine erhebliche Bedeutung einerseits für die Durchsetzung der Idee der Nation als auch auf den spezifischen Gehalt, d.h. die darin konstruierten Feinbilder hatten und haben. Generell können drei zentrale Elemente der Erfindung der Nation ausgemacht werden: die Entwicklung eines säkularen Äquivalents zur Kirche, die Erfindung von öffentlichen Zeremonien sowie die Massenproduktion von öffentlichen Monumenten und Denkmälern (vgl. Hobsbawm 1994., 77f.). Zusätzlich, bzw. als Grundlage für öffentliche Zeremonien, die eine christlich-religiöse Liturgie übernahmen, war die Projektion der Entstehung der Nation in die Vergangenheit; so soll die deutsche Nation bereits seit dem Sieg von Arminius (eingedeutscht auch als Hermann bezeichnet) über den römischen Feldherren Varius im Jahre 9 nach Christus im Teutoburger Wald bestehen. Solche Vorstellungen erhielten Wirkungsmächtigkeit allerdings erst im Widerstand gegen die Napoleonische Armee unter reger Beteiligung von Intellektuellen. „Angeführt wurden diese Intellektuellen von Johann Gottlieb Fichte, der die Politisierung der germanischen Kultur aufs eifrigste betrieb, indem er die Franzosen der Gegenwart mit den Römern des 1. Jahrhunderts gleichsetzte und sich selbst und seine deutschen Zeitgenossen mit den germanischen Aufrührern identifizierte, die gegen die römische Expansion kämpften“ (Geary 2002., 35). Diese Vergangenheitsprojektionen dienten zudem als Grundlage für öffentliche Zeremonien und Festen. Die Entstehung einer kollektiven Identität der Deutschen basiert hier auf der Konstruktion einer kollektiven Bedrohung durch die Franzosen. „Im Medium der gemeinsamen Bedrohung wird der Feind immer mehr zum Gegenspieler einer sich allmählich formierenden kollektiven Identität“ (Hoffmann 1994, 101). Intellektuelle wie Arndt brachten genau dies zu Papier: er erkannte den „Vereinigungspunkt“ des deutschen Volkes im „brennenden und blutigen Haß“ gegen die Franzosen.

Die Abgrenzungen gingen aber nicht nur nach außen, sondern auch der innere Feind wurde schnell von der deutschen Nationalbewegung unter ihrem exponiertesten Vertreter – Turnvater Jahn – ausgemacht: „die weltflüchtigen Zigeuner und Juden“ (Jahn 1935, 20). So machte sich dann die sich konstituierende kollektive Identität auch nach innen gewaltsam geltend, einerseits in Bücherverbrennungen wie auf dem Hambacher Fest, andererseits in Pogromen gegen Jüdinnen und Juden in Zeiten revolutionärer nationaler Erhebungen, die sich in manchen Gegenden gänzlich in der Judenverfolgung erschöpften (vgl. Rohrbacher 1999, 30).

Vermittelt sind diese Ausgrenzungspraktiken über die Idee einer naturwüchsigen, mit dem Boden unauflöslich verbundenen Nation, die schon immer bestand. Während Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation die Deutschen zum „Urvolk“ [„… alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche…“ (Fichte 1909, 126)] erklärte, welches sein angestammtes Territorium niemals verlassen hätte, bezogen sich die Dichter der Romantik auf ihre Weise auf eine idealisierte Vergangenheit. In Ablehnung der Aufklärung und damit der Gegenwart wurde der Glanz einer verlorenen Vergangenheit gepriesen, die es wiederzuerlangen galt. „Die romantische Idee des Volkes bezieht sich auf einen jenseitigen Horizont der Verständigung und des Verstehens, der die universalistische Gemeinschaft der Aufklärung durch die partikulare Gemeinschaft der Nation ersetzte“ (Giesen 1999, 178). Die Dichter erschienen als Priester des Kultes der Nation (vgl. ebd., 179).

Dies alles war zudem verbunden mit einer Erscheinung, die in anderen Ländern keine Entsprechung hat, mit dem Kult der germanischen Rasse, der deutsche Nationalismus nahm von Anbeginn an eine von biologischen Vorstellungen bestimmte Form an. Vor allem die Reinheit des Blutes und die Warnung vor „Rassenmischung“ standen zu Beginn im Mittelpunkt (so bei dem schon erwähnten Arndt (vgl. Poliakov)). Es entwickelte sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts die Vorstellung der überlegenen arischen „Rasse“, als deren Gegensatz vor allem Jüdinnen und Juden gesehen wurden. Mit dem Darwinismus wurde die scheinbar wissenschaftliche Basis gelegt für die Überzeugung der „Zwangsläufigkeit“ von „Rassenkriegen“ nach dem Prinzip des „Survival of the fittest“. Bei Houston Stewart Chamberlain, der exemplarisch hier steht, ging das alles 1899 dann so zusammen: „Die Deutschen sind darin die Erretter der Menschheit und Träger der westlichen Kultur. (…) Die »Arier« hätten ihre Reinheit im »Chaos der Rassen« bewahrt, aber eine »Mischlingsrasse«, die der Juden, sein zur gleichen Zeit in die Geschichte eingetreten und stehe ihnen jetzt in einem Endkampf gegenüber“ (Enzyklopädie S.1187).

Insgesamt war die Konstruktion der deutschen Nation damit ein Gemisch aus romantischer Vergangenheitsverklärung, Hass auf Frankreich und Hass gegen Jüdinnen und Juden sowie dezidiert gegen die Aufklärung gerichtet und basierte auf einem biologistischen Kult der Reinheit des Blutes. Die solchermaßen von allen Seiten vermeintlich bedrohte deutsche Nation konstituierte sich daher in gewalttätigen Akten gegen die „Urheber“ dieser Bedrohung. Damit einherging die Entwicklung eines nationalen Politikstils, der sich in quasi-religiösen öffentlichen Massenzeremonien ausdrückte. Hier waren schon alle Elemente angelegt, die später auch die Nationalsozialisten in den Mittelpunkt ihres Wahns stellten. Das in der weiteren historischen Entwicklung immer mehr radikalisierte Programm der deutschen Nation ist damit die alltagsreligiöse Grundlage der wahnhaften deutschen Krisenlösungsstrategie der Nationalsozialisten, die ihr Zentrum in Auschwitz hat. Die Erhebung der Vernichtung um ihrer Selbst Willen zum obersten Staatszweck und ihre Durchführung markieren die Grenze der Logik des Kapitalismus und zugleich die Grenze der Begreifbarkeit. Der organisierte Massenmord ist vollendete Herrschaft und blinder Selbstzweck, ist die äußerste Konsequenz dessen, was im 19. Jahrhundert seinen Anfang nahm. Auschwitz liegt außerhalb der Logik der Verwertung des Werts, welcher aber zugleich als Modus der Vergesellschaft eine notwendige Bedingung der Möglichkeit darstellt. Auch wenn die Shoah das Unbegreifliche ist, so sind gesellschaftliche Bedingungen zu erkennen, die Auschwitz ermöglicht haben und die fortexistieren.

Deutsche Ideologie kann heute dann eine spezifische alltagsreligiöse Konstellation heißen, die ihre Bezugspunkte eben in genau jenem anti-aufklärerischen romantischen Denken einer qua Natur bestehenden und permanent von außen bedrohten deutschen Entität, in welchem immer das Potential der wahnhaften Krisenlösung liegt, welches im Nationalsozialismus entfesselt wurde, hat.

 

ReProduktion der Nation

Die derzeit so vehement geforderte Normalisierung heißt vor diesem Hintergrund, dass eine ungebrochene Identifikation der Einzelnen mit dem Kollektiv eingefordert wird. Wir interpretieren die gegenwärtigen Prozesse als eine Neuherstellung der deutschen Nation. Da in Deutschland eine solche Identifikation nach 1945 allerdings nur noch in Relation zum Zivilisationsbruch Auschwitz stehen kann, muss dies so interpretiert werden, dass eine ungebrochene positive nationale Identität Auschwitz mit in sich aufnehmen kann. Der Nationalsozialismus und Auschwitz sind daher die Konstitutionsbedingungen der postnazistischen Nation, da letztere sich immer im Verhältnis zu ersterem definieren muss. Der nicht vollzogene Bruch markiert die Kontinuität und das Fortwesen im unbewussten oder bewussten Rekurs in postnazistischen Denk- und Praxisformen.

Die Kontinuitäten manifestierten sich nach der Zerschlagung des NS in materieller, ideologischer, institutioneller und personeller Hinsicht. Als Stichworte seien die Zahlungsverweigerung gegenüber den Opfern, Nazi-Eliten auf hochrangigen BRD-Positionen, Arisierungs- und Zwangsarbeitsprofite und das Fortbestehen eines kollektiven Mythos in Wiederaufbau und doppeltem Wunder – Wirtschaft und Weltmeister, Prosperität und Fußball – genannt. Die Zugehörigkeit zur Nation wurde erneut nicht als Resultat politischer Aushandlung begriffen, sondern über essentielle Werte wie Strebsamkeit, Disziplin, Zusammenhalt, reibungslose Unterordnung unter eine Gemeinschaft geregelt, im stillschweigenden Wissen um die Komplizenschaft bei den begangenen Verbrechen und damit gegen die Opfer, allerdings unter Abwesenheit expliziten Rassenwahns oder Judenhasses. Die Integration in das westliche Verteidigungsbündnis gegen die realsozialistischen Staaten ermöglichte die Beibehaltung eines tradierten Antikommunismus, erforderte jedoch auch die widerstrebende Annahme demokratischer Normen und Institutionen, eine Tendenz, die durch die antiautoritäre Revolte der 68er und ihr Fortwesen in den diversen Bewegungen und der Partei der Grünen einerseits angekratzt, andererseits bestärkt wurde. Wie wenig derlei Zivilisierungsbemühungen gefruchtet hatten, zeigte sich spätestens Mitte der 80er Jahre, als Bundeskanzler Kohl sich mit dem Besuch an den SS-Gräbern in Bitburg ohne großen Widerstand befürchten zu müssen an einer offenen Versöhnung mit der Tätergeneration versuchte. Ein Jahr darauf wurde die Attacke des revisionistischen Lagers, welches die Verantwortung für die deutschen Verbrechen exterritorialisieren wollte – Ernst Nolte brachte damals die Figur von der “asiatischen Tat” des Gulags als Vorbild und Bedingung von Auschwitz in den Diskurs ein – von einer kleinen liberalen Riege im Historikerstreit zurückgeschlagen, wobei der scheinbar progressiv argumentierende Flügel um Habermas schon damals Auschwitz für die eigene Identitätsfindung heranzuziehen gedachte und argumentierte, es sei besser die Geschichte selbst zu erzählen als sie sich immer wieder von den Anderen, den Fremden, vorbeten zu lassen.

 

Vereinigung macht frei

Die kritischen Stimmen, die in jenen Jahren vor einer Vereinigung von BRD und DDR zu einem “4. Reich” warnten, wie z. B. der Liberale Immanuel Geiss, verstummten im Begeisterungs-taumel, als sich die Annektion der fünf neuen Bundesländer unter völkischen Vorzeichen tatsächlich vollzog. Das vielbeschworene Bild der organischen Vereinigung zweier zuvor getrennter Partner evoziert Assoziationen an den Geschlechtsakt, in dem die BRD selbstverständlich den nehmenden, aktiven Part darstellt, eine maskulinistische Zuschreibung, die in den kommenden Jahren als “Handlungsfähigkeit”, “Autonomie” und “nationale Unabhängigkeit” zum Programm erhoben wurde. Seitdem steht erneut das Streben nach Weltmacht auf der Agenda, die als Lehren aus dem NS von außen auferlegten Beschränkungen  - Verzicht auf Auslandseinsätze der Bundeswehr, Garantie von Asyl für politische Flüchtlinge, Trennung von Polizei, Militär und Geheimdiensten – werden nach und nach abgelegt. Damit einher geht eine Transformation nationaler Ideologie, die sich in endlosen Debatten vollzieht, die den Schein einer an Streit und Auseinandersetzung orientierten Zivilgesellschaft heraufbeschwören, letzten Endes aber nichts weiter als innerdeutsche Selbstgespräche darstellen. Besondere Relevanz kommt dabei den vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen zu, die sich mittlerweile zu einer schier ununterbrochenen Kette von Diskussionen und Diskursen aufreihen lassen. Goldhagen, Wehrmachtsausstellung, Walsers Paulskirchenrede, die in den Entschädigungsverhandlungen als Investition in die Zukunft verkaufte Zahlungsverweigerung, Günter Grass` Vertriebenen-Epos und die Ineinssetzung der Bombardierung deutscher Städte mit den Krematorien der Vernichtungslager in Jörg Friedrichs “Der Brand” seien hier nur als wichtigste Stationen aufgeführt. Mit der Teilnahme an den D-Day-Feierlichkeiten sowie der Moskauer Festivität anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung wurde klargestellt: Deutschland steht auf der Seite der Sieger, denn Hitler war schließlich Österreicher und der übergroße Rest der Bevölkerung inklusive der bedauernswerten Wehrmachtsmassenmörder bis zum 8.5.1945 zweifach geknechtet, Opfer einer brutalen Diktatur wie auch eines verbrecherischen Bombenkrieges seitens der Alliierten. An der Implementierung des Holocaust-Mahnmals ins geographische Herz der Berliner Republik zeigt sich paradigmatisch deren neu erarbeitetes Selbstverständnis als Aufarbeitungsweltmeister, welches vor Selbstgerechtigkeit, Überlegenheitsdünkel und Leistungsfetisch nur so trieft. Mit dem monumentalen Stelenfeld wurde nach langen Attacken des Stammtisches und der revisionistischen Eliten ein Projekt realisiert, welches zur Erinnerung an das Grauen einen Platz schafft, zu dem die gemeine Staatsbürgerin laut Kanzler Schröder gerne gehen soll, eine Aufforderung, die Gehör findet, wie die Besucherzahlen zeigen. Auschwitzgedenken als Funpark – damit kann sich auch die FAZ anfreunden, die in einem Kommentar anlässlich der Eröffnung des Mahnmals demonstriert, wie sehr sich hier ein deutscher Schulterschluss gegen die Juden vollzieht: “Selbst wenn man die solchen Anlässen innewohnende Neigung zur Harmonie berücksichtigt, bleibt diese Einhelligkeit, dieses Unwidersprochene doch bemerkenswert, und die vorsichtigen Einwände, die Paul Spiegel [..] gegen die Namenlosigkeit der Opfer im Quadratfeld erhob [...] unterstrichen eher noch die Allgemeinheit der Zustimmung."

 

Neues aus Berlin

Der rhetorischen Anerkennung der Schuld wird stets der Verweis auf die Unbeschreiblichkeit der Verbrechen zur Seite gestellt, der in diesem Kontext lediglich dazu dient, jeden Erklärungsversuch von vorneherein abzuwürgen, kritisches Denken im Keim zu ersticken. In welchem Ausmaß Auschwitz als Reklame für die wiedergutgemachte Nation herangezogen wird, zeigen Roland Kochs Worte “Wer Auschwitz leugnet oder relativiert, leugnet oder relativiert in gleichem Maße, Deutscher zu sein.”. Durch diese Fixierung von Auschwitz in der nationalen Identität als Chiffre des Bösen schlechthin werden die Vorbedingungen, das Ausmaß, der Verlauf und die Resultate des Massenmordes mit dem barmherzigen Mantel des Schweigens bedeckt: “They remember in order to forget.” (Miriam Hansen). Es ergibt sich das Paradox des Fortwesens und der beständigen Reaktualisierung wesentlicher Elemente deutscher Ideologie im antifaschistischen Gewand, da der braune Eisberg lediglich eingehegt, seiner Spitze beraubt und in ein neues Kleid gehüllt, aber nicht abgeschmolzen wurde. Im Klartext: Offener Judenhass, Rassenbiologie, ungezügelte Führer- und Heldenverehrung waren und sind im öffentlichen Raum weitgehend tabu und nicht offizieller Bestandteil nationaler Identität. Die Ausfälle der Hoh- und Möllemänner sprechen zwar Otto Normalvergaser und Franzi Durchschnittsvernichterin aus der Seele, prallen aber am zivilgesellschaftlichen Firniss des derzeit hegemonialen, modernen Deutschlands ab. Doch unter, neben und in diesem Softcore-Nationalismus reproduziert sich eine illiberale Grundlage, die alte Ressentiments unter neuen Vorzeichen tradiert. Ich werde nun zunächst dieses modernisierte Deutschland-Verständnis skizzieren, um dann aufzuzeigen wie diese Ideologie notwendig der Schaffung innerer und äußerer Feinde bedarf und das anschließend am Beispiel der sozialdemokratischen Heuschreckenkampagne belegen.

 

Nicht trotz sondern mit und wegen

Da man ja aus Auschwitz gelernt hat wie Sau, wurde Abkehr vom Nationalsozialismus mitsamt dessen diktatorischer Elemente, dem übersteigerten Rassebewusstsein, dem aufgeputschten Militarismus und der Ausgrenzung sozialer Gruppen gehalten. Die Deutschen können auf diesen Lernprozess stolz sein, vor allem auf sein Resultat, die Entwicklung einer demokratischen, sozial gerechten und friedlichen Gesellschaft in der Mitte Europas. Statt auf Diskriminierung wird nun auf Integration gesetzt, Karnevale der Kulturen und Deutsch-Jüdische Begegnungswochen veranstaltet, also auch mal Döner und Gefilte Fisch anstelle von Sauerkraut und Bratwurst auf den Speiseplan gesetzt. Statt eines weltweiten Krieges, der sowieso nur zu verlieren war, werden weltweit Verhandlungen geführt, gar um einen Platz im Weltsicherheitsrat, der Bastion schlechthin gegen Pogrome, Massaker und ungerechte Kriege. Statt selbst aggressiv zu expandieren wird der Imperialismus der Anderen gerügt, statt selbst Menschenrechte zu brechen sucht man deren globale Einhaltung zu garantieren. Statt der Bereicherung korrupter Parteibonzen und weniger Monopolkonzerne wie der IG Farben wird nun die soziale Gerechtigkeit gepflegt, die zwar je nach Lage der Anpassung bedarf, prinzipiell aber die Schere zwischen Arm und Reich nicht auseinanderklaffen lässt, um das Abdriften unzufriedener Elemente in die Hände brauner Rattenfänger zu verhindern. Die Deutschen sind nicht nur eine normale Nation wie alle anderen auch, sie sind etwas ganz Besonderes, da sie ihre Lektion gelernt, ihre Fehler aufgearbeitet haben und nun verantwortungsbewusst, voller Ideale und abseits von egoistischem Machtstreben in die Zukunft schreiten. Das schließt das Vertreten eigener Interessen nicht aus, doch handelt es sich hierbei nicht um kurzsichtigen und skrupellosen Chauvinismus, wie von anderen Staaten der westlichen Hemnisphäre bekannt, sondern um das Ineinanderfallen von Deutschlands Wollen und dem Wohle der Welt.

 

Die verfolgende Unschuld bedroht

Bei so viel gutem Willen, wahren Worten und schönen Taten stellt sich die Frage, wieso die Welt dennoch schlecht eingerichtet ist und die Republik von Krise zu Krise schliddert. Da die Deutschen nie auch nur eine Sekunde an den Gedanken verschwenden, es könnte sich hierbei um das Resultat der rücksichtslosen Konkurrenz aller gegen aller unter dem Diktat totaler Verwertbarkeit handeln, müssen sie die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ursächlich bei den Anderen vermuten, deren moralische Qualität entweder ungenügend ist oder die sich gar hinterrücks gegen sie verschworen haben. Um sicherzustellen, dass sich niemand der völligen Verpflichtung auf Kapital und Staat entzieht, wird in einander jagenden Kampagnen ständig nach diesen Anderen, den Volksfeinden, gefahndet. Die Bedrohung der Gemeinschaft geht von jenen aus, die sich auf Kosten des Kollektivs bereichern, die sich unter Hinzuzug unlauterer Methoden mehr nehmen als ihnen zusteht, damit das Tauschprinzip verletzen und somit quasi “aus der Art” schlagen. Diese Charakterisierung kann letzten Endes jeder Gruppe übergestülpt werden, die Ausbildung äußerer Feindbilder wird durch die stete Suche nach dem inneren Feind ergänzt und verquickt zu einer paranoiden Allroundmobilisierung. Alles was sich nicht in diese objektiv dem Kleinbürgertum entsprechende Ideologie von Strebsamkeit, Arbeitsdienst, Ordnung und Sauberkeit einfügt, muss durch den Multikulti-Filter gepresst, ergo exotisiert, oder gleich offen verdammt und bekämpft werden. Für Differenz, Individualität ist kein Platz, alles was das Stigma ungehemmten Hedonismus und egoistischer Vergesslichkeit gegenüber der Gemeinschaft auf sich zieht, wird vom Extremismus der Mittelmäßigkeit gnadenlos wegrationalisiert. Nach außen galt und gilt es sowohl eine unkontrolliert flutartig herandrängende Asylbewerberinnen- und Ausländerinnenschwemme abzuwehren, als auch die etlichen Hitlers der Welt – Milosevic, Sharon, Bush u.a. – mitsamt deren unmoralischen Imperialismus in die Grenzen zu weisen, notfalls und unter viel Bedauern auch mit militärischen Mitteln. Im Innern der Republik richteten sich die Kampagnen der letzten Jahre z. B. gegen rücksichtslos in autochthone Vorgärten urinierende und kackende Sinti und Roma, vagabundierende rumänische Diebesbanden, Scientology, Raucherinnen, Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerinnen, Pädophile und schlussendlich gar gegen Nazis. Jene, die zwar deutscher als deutsch sich gerieren, wurden im Antifa-Sommer 2000 als Gefahr für das Allgemeinwohl ausgemacht und auch in den letzten Wochen wieder als “Schmarotzer, die der Allgemeinheit auf der Tasche liegen” (Spiegel) und “Maden im Fleische” des Volkes (CDU Niedersachsen) ausgemacht.

 

Heuschrecken erschrecken

Als Paradebeispiel für eine solche virtuelle Hetzjagd sei die von Franz Müntefering ausgelöste Kapitalismusdebatte angeführt. An den Eröffnungsschachzug des SPD-Generalsekretärs, das Statement gegen die anonymen Finanzinvestoren, die ein Unternehmen nach dem anderen abgrasen, und die in antisemitischer Terminologie als Heuschrecken verdinglicht wurden, können sich wohl noch alle erinnern. In Münteferings Worten offenbarte sich ein tradiertes Verständnis von deutscher Arbeit als Berufung, als Wert an sich, der gegen ein angeblich raffendes Finanzkapital in Anschlag gebracht wird, und der fest verwurzelte Glauben an eine moralische Qualität des Kapitalismus als einer einzigen großen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die allein von einzelnen, verdorbenen Subjekten zersetzt werde. Die Degradierung sogenannter Finanzspekulantinnen zu nicht verwurzelten, in den Lüften lebenden Tieren wurde von der IG Metall mit einer Karikatur auf den Punkt gebracht, die ein als amerikanisch gezeichnetes, mit Goldzahn ausgestattetes Insekt zeigt, welches einen robusten, phallischen, aber wehrlosen deutschen Fabrikschornstein aussaugt. Dieser Diskurs, der so schöne Blüten hervorbrachte wie die Meldung “SPD will Kapitalismuskritik in Gesetzesform gießen”, entfaltete eine breite Wirkung und beherrschte für einige Wochen die Titelseiten und Kommentarspalten der Zeitungen. 75% äußerten in einer Umfrage, befragt nach dem antisemitischen Nationalsozialdemokratismus Münteferingscher Prägung, ihre Zustimmung. Es blieb einem jüdischen Historiker vorbehalten, auf die nazistische Tradition solcher Schädlingsmetaphern aufmerksam zu machen. Zwar machten sich Teile der Öffentlichkeit aus taktischen Überlegungen die Wolffsohnsche Interpretation ebenfalls zu eigen, im Vordergrund der Kritik stand jedoch nicht der antisemitische und antiamerikanische Gehalt der SPD-Agitation, sondern wahlweise deren mangelhafte Konsequenz oder der befürchtete Schaden für Deutschland. So unterschieden sich die Ressentiments der  Kritikerinnen lediglich graduell vom Objekt ihrer Kritik, der sozialdemokratischen “Heuchelei” wurde von der Deutschen Bank mit dem antijüdischen Vorwurf des “Pharisäertums” begegnet, die FAZ bemängelte “Damit dient die Regierung sich selbst, aber nicht dem Volk”, während Guido Westerwelle die eigentliche Landplage in den Gewerkschaften ausmachte und zu deren Zerschlagung aufrief. Getoppt wurde das Spektakel von einem CDU-Bundestagsabgeordneten, der gleich die ganze Debatte als “Plage” bezeichnete, das Abrutschen auf den Status einer “Bananenrepublik” befürchtete und seinen volksgemeinschaftlichen Versöhnungsapell an die “Streithähne” in den Sätzen gipfeln ließ: “5 Millionen Menschen suchen eine Arbeit und wir führen solche Debatten! Machen wir eine konkrete Politik zur Verhinderung eines Verkaufs von Unternehmen in Deutschland. Am besten ist es, die Unternehmen bleiben in Familienbesitz. [....] Rüsten wir verbal ab! Alles andere ist nur schädlich und vergiftet das Klima.”

 

Logik der Mobilmachung

Da auch die außerparlamentarische Linke dem nichts entgegenzusetzen hatte, vielmehr in Teilen, etwa in Gestalt von attac, gar noch mitzumischen suchte, muss festgehalten werden: Je weniger die Deutschen tatsächlich von Staat und Kapital zu erwarten haben, desto enger klammern sie sich an deren empirische oder ideale Ausformungen und behaupten diese Charakteristika als typisch deutsche, die ihnen stets bedroht erscheinen. Wer schmarotzt ist eine Gefahr für die Nation und gehört bekämpft. Das biologistische Weltbild ist tief verankert, gestritten wird im Haus des Henkers lediglich um die Frage, wer aktuell als Belastung für das Allgemeinwohl oder als Gefahr im Weltmaßstabe zu gelten habe. Der Titel des Volksfeindes wird dabei unter Beibehaltung der Logik jeweils an die nächste sich anbietende Gruppe weitergereicht, wie von den Sozialdemokratinnen an die wegen Arbeitsplatzabbau “undeutsche” Deutsche Bank und von Westerwelle an die Gewerkschaften, so vom Mittelstand an die faulen Arbeitslosen und von jenen an die unfähigen und korrupten Politikerinnen. Die ständige Fahndung nach allem Unproduktiven, Ausscherenden und Überflüssigen wird zur dauernden Drohung an alle, selbst ins Visier zu geraten, selbst überflüssig zu werden. In diesem Sinne handelt es sich trotz aller Ontologie und allem wesenhaften Geraune beim Deutschtum um eine Volksabstimmung in Permanenz, die jeden Tag ein neues Ergebnis zeitigen kann, solange es nur die Form der Herrschaft beibehält. Deutschland bewegt sich, wie der Slogan der Agenda 2010 lautet, und duldet keinen Stillstand. Wolfgang Pohrt formulierte diesen Sachverhalt 1984 folgendermaßen: “Der deutsche Nationalismus [...] zehrt nicht von der Erinnerung ans herausspringende historische Datum, sondern er nährt sich [...] vom Alltagserlebnis, von der Lebenserfahrung, er regeneriert sich in jedem Familienkrach, in jedem Zank zwischen Nachbarn, er profitiert von zahllosen kleinen Bürointrigen wie von der einen großen Arbeitslosigkeit. [...] Basierend auf ihren Misshelligkeiten, dem Einzigen, worauf im Leben wirklich Verlass ist [...] ist dieser Nationalismus gleichsam auf Granit gebaut. Das Unspezifische, Ahistorische ist gerade seine Besonderheit, seine Eigenart, und sie erklärt, wieso er unter wechselnden Bedingungen immer derselbe bleiben konnte [...]”.

 

Spezifische historische Formen

In den letzten Sätzen wurde der Aspekt der Beliebigkeit in Hinsicht auf die Ideologie und vor allem in Hinblick auf die Austauschbarkeit von Opfern und Täterinnen betont, vielleicht überbetont, denn der scheinbar blind wütenden Mobilisierung sind enge Grenzen gesetzt: die spezifische Form deutscher Ideologie bedingt auch die Ausrichtung auf spezifische Opfergruppen. Wer erinnert sich heute noch an die Agitation gegen Kampfhundehalterinnen, die vor wenigen Jahren die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken versetzten? Solche Feindbilder können nur kurzfristig Emotionen binden, sie erfüllen keine wichtige Funktion im Haushalt der nationalen Identität. Das basale Misstrauen, die totale Paranoia, der brutale Hass, die sich schon mal gegen “die da oben” oder die Bewohnerinnen des Nachbardorfes richten, kanalisiert sich vorwiegend in ganz bestimmten Phantasmen, die die widersprüchlichsten Anforderungen vereinen und zu Chiffren des ganz Anderen, des kompletten Anti, des Undeutschen zugerichtet werden. Primär konstituiert sich deutsche Identität negativ gegen Migrantinnen, Jüdinnen und außenpolitisch gegen die USA und Israel. Migrantinnen werden als Sinnbilder für Nähe zur Natur, Unvernunft, Herrschaft des Triebes gelesen, was wahlweise als positiv im Sinne von Exotik, Offen- und Direktheit, Bereicherung durch Vielfalt begriffen oder negativ im Sinne von Faulheit, Dummheit, Unfähigkeit zur Selbstkontrolle und damit zum Subjektstatus verstanden wird. In der Angst vor Überschwemmung durch eine Asylflut und der gleichzeitigen Begeisterung für das Selbstbestimmungsrecht der autochthonen Völker weltweit zeigt sich der latent völkische Charakter der Berliner Republik. In der 1992 im Zusammenwirken von Pogrom, Polizei und Parlament, also dem Bündnis von Mob und Elite, vollzogenen Abschaffung des Asylrechts wurde die Legitimität politischen Mords zum Wohle der Reinhaltung Deutschlands ratifiziert. Das solcherlei purifizierte Kollektiv richtet sich notwendig gegen die zu Jüdinnen Gemachten, die vom sekundären Antisemitismus als Störenfriede der Erinnerung, externalisierte Gewissensinstanzen und rachsüchtige Opponenten einer Normalisierung interpretiert werden. Zugleich werden sie zu Repräsentantinnen von Geld ohne Arbeit und Macht ohne Grenzen, zu Omnipotenz, Hyperzivilisation und Dekadenz, also den als negativ begriffenen Erscheinungen der Moderne, die doch für die heimlichen deutschen Träume stehen, zugerichtet. Die links, Mitte und rechts einigende Attacke auf die USA und Israel codiert die antimodernen und antisemitischen Ressentiments und ermöglicht so eine ungehemmte Artikulation eines ehrbaren Judenhasses, der mittlerweile von 60-90% der Bevölkerung vertreten wird.

 

Vorwärts rückwärts: Doppelte Bewegung

Die Deutschen bewegen sich nun also in einer zweifachen Bewegung fort: Zum einen dreht man sich bei allen schier übermächtigen Wünschen nach Leugnung und Vergessen ständig um jene ominösen 12 Jahre, von denen es kein Loskommen zu geben scheint, die ständig neu aufbereitet werden und die nun gar ihren festen Platz in der Selbstdefinition zugewiesen bekommen. Das heißt, die Vernichtung findet ihren Stammsitz in der deutschen Identität, und je mehr in pseudo-antifaschistischer Manier ihre historische Realität anerkannt wird, desto nötiger wird die Diagnose, der Tatbestand des organisierten Massenmordes liege aktuell im Ausland vor, zwecks Weißwaschung der eigenen Weste, und um den Makel als Standortfaktor in der Konkurrenz gegen die anderen Nationen wenden zu können. Aus dem nationalisierten Auschwitzgedenken resultiert also der Versuch der Tilgung der Singularität und damit automatisch die Halluzination einer Bedrohung, die die Deutschen im Abwehrkampf gegen die heutigen Vernichtungswütigen, die neuen Nazis, wähnt, weswegen die von Adolf Milosevic ausgelösten kosovarischen Flüchtlingstrecks zu sudetendeutschen Vertriebenenströmen verschwimmen, Bagdad unter dem Bombardement von George W. Hitler zum ohne Schuld, Not und Schutz attackierten Dresden gerät und die sogenannte Globalisierung als faschistischer Ausplünderungskrieg gegen das schaffende Volk erscheint.

Die andere Bewegung ist die mit dem beschriebenen Prozess korrelierende Modernisierung deutscher Ideologie, in deren sozialer Gerechtigkeit der tradierte Arbeitsfetisch und in deren Friedlichkeit die Begeisterung für das Volk unabdingbar enthalten ist. Weil die Welt nun aber ganz im Gegensatz zur idealistischen Moral der Deutschen gar schlecht eingerichtet ist, wird ständig die Schuldfrage auf die Agenda gesetzt und sogleich beantwortet, denn sozial ist allein was Arbeit schafft und friedlich nur was das organische, gewachsene Volk verkörpert. Die Schuldigen, solchermaßen bestimmt als asoziale Unproduktive und künstliche Anti-Völker, sollen mit den Lehren der Vergangenheit konfrontiert werden und finden sich darum in der freien deutschen Assoziation beständig in Zusammenhang mit der Vernichtung gestellt. Einstweilen ist die Glorifizierung derselben, selbst in der Anwendung auf erwiesene Volksfeinde, noch eine Sache einzelner Strömungen und Stammtische, die von Arbeitslagern raunen, die Vergesslichkeit beim Vergasen bedauern oder, wie in den Morden an angeblichen Pädophilen, Jüdinnen, Migrantinnen und Obdachlosen der letzten Jahre, gleich zur Tat schreiten. Als Option der breiten Masse und als potentielles Staatsprogramm wird sie aufbewahrt in der omnipräsenten Metaphorik von Parasiten, Schmarotzern, Landplagen und Heuschrecken, ergo lebensunwertem Leben, das ausgemerzt gehört. Beide Tendenzen, die Reklamierung und Verdrängung von Auschwitz einerseits, die Eigenwahrnehmung als friedliche, verfolgte Unschuld andererseits, fließen ineinander, verschmelzen und gewinnen ihre größte Dynamik schließlich dort, wo sie sich gegen die einstigen Befreier – allen voran die USA – oder die früheren Opfer – zu aller erst die Jüdinnen – ausagieren können. Die mächtigste Energie staut sich im Antizionismus auf, der ständig bar jeglicher Realität Israel einen Vernichtungskrieg andichtet und gleichzeitig die finanzielle und ideelle Unterstützung antisemitischer palästinensischer Mordbanden besorgt. Der sich schließende Konsens über den Volksvernichter Israel, das zionistische Gebilde, das zum Hauptfeind der Deutschen mutiert, kennzeichnet die Verfassung einer Gemeinschaft, die, auf abstrakter Arbeit, Opfer, Neid und Paranoia beruhend, wesentlich zum Mord drängt und stellt ihre Bereitschaft zur Vernichtung unter antifaschistischen Vorzeichen unter Beweis.

 

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