Globalisierungskritik und Reaktion - über die Ideologie von attac

Verschriftlichte Version eines Vortrags der gruppe sinistra!, gehalten in Frankfurt am 01.07.2004

I

Zunächst ist darauf hinzuweisen, wie diese Veranstaltung zustande kam, um den Aufhänger deutlich zu machen und das zu Sagende zu verorten. Die Idee zu dieser Veranstaltung entstand, als am 3.4.2004 europaweit Gewerkschaften, Studierende, Attac und andere einen Widerstandstag gegen Sozialabbau ausriefen und dazu aufforderten, in drei Städten der BRD zu demonstrieren. In diesen bunten Reigen wollte sich mit einer eigenen Demonstration die NPD einreihen, mit der sie sich nicht in Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu den stattfindenden Demonstrationen sah. Dazu gleich mehr. Dieser Fakt mag auf den ersten Blick verblüffen oder nicht (mittlerweile nach vielfacher Kritik an attac u.a. wahrscheinlich nicht mehr so stark), es stellt sich die Frage, warum dies so einfach geht und wo die Anschlussfähigkeit der einen Position an die andere liegt. Da die NPD-Demo in Frankfurt stattfinden sollte und attac ebenfalls dazu aufgerufen hat, diese zu verhindern, wollte die sinistra mit einem Flugblatt darauf aufmerksam machen, dass konsequenter Antifaschismus sich nicht damit begnügen kann, eine Nazi-Demonstration zu verhindern (oder dies zu versuchen), sondern dass es notwendig ist zu fragen, warum sich offene Nationalsozialisten problemlos und offensiv in eine Reihe mit den anderen Protesten dieses Tages stellen können.

Vorweg ist daher das geneigte Publikum zu enttäuschen. Dieser kleine Versuch wird nicht nur unvollständig sein, d.h. viele wichtige Punkte, die einen noch tieferen Einblick in das Denken von attac Einblick gewähren würden, wie z.B. das Verhältnis zum sog. „irakischen Widerstand“, müssen aus Zeitgründen außen vor bleiben. Er wird sich zudem auf die Formulierung einiger Thesen reduzieren. Dabei steht nicht im Vordergrund, alle attac-AktivistInnen als antisemitisch, reaktionär oder gar als aktive Querfrontler zu outen. Das wäre allzu plump. Im Mittelpunkt dieses Versuches steht die attacsche Auffassung des Staates, da an diesem Punkt vieles kulminiert, was die gesamte Problematik ausmacht.

Zudem ist noch auf weitere Probleme hinzuweisen. Da attac sich selbst als Bewegung und Netzwerk versteht, ist es schwierig, Positionen als genuine attac-Positionen auszuweisen. Im Untertitel des attac-Rundbriefes „Sand im Getriebe“ heißt es dann auch:

Der Rundbrief ”Sand im Getriebe” ist ein Medium für Menschen, die eine Welt jenseits der neoliberalen Globalisierung verwirklichen wollen. Er gibt Texten von AutorInnen unterschiedlicher Gesinnung einen gemeinsamen Ort. Die enthaltenen Positionen sind nicht notwendigerweise solche der ATTAC-Bewegung.

Bei attac stößt man daher nicht nur auf eine offen propagierte Pluralität (was unter bestimmten Voraussetzungen ja nicht mal etwas Schlechtes sein muss), die aber in diesem Fall sehr problematisch ist. Vor allem vor dem Hintergrund der Theorien und Positionen, die unter dem Label attac vertreten werden (können) ist diese Pluralität zu betrachten, und dort zeigt sich dann in welche Richtungen attac offen und pluralistisch ist. Dem Selbstverständnis nach, welches auf allen Flugblättern und Broschüren nachzulesen ist, ist Attac „ein breites gesellschaftliches Bündnis, das sich den Sachzwängen der Globalisierung widersetzt“. Es darf also jede mitmachen, denn der Ansatz ist, ganz im Linksruck-style, Massen zu bewegen (vgl. Flimmerkiste 2001). Dabei ist es das ausgesprochene Ziel, das Alltagsbewusstsein anzusprechen, und nicht darüber hinaus zu gehen. „JedeR, so die These, fühlt sich von den allgegenwärtigen Finanzmärkten betroffen und lasse sich über diese mobilisieren. Peter Wahl, der eher dem linken Spektrum bei Attac zuzuordnen ist, lehnt in einer Auseinandersetzung mit dem BUKO (Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen) die Notwendigkeit eines "elaborierten Krisen- und Kapitalismusbegriffs" für Attac ab. "Vage Gefühle", "spontane Kritik" und "emotionale Empörung" seien ausreichend“ (Stützle 2004). Gerade dieser Anschluss an das Alltagsbewusstsein, an „emotionale Empörung“ und ähnliche Äußerungen des Bauches machen attac gefährlich.

II

Begonnen wird mit dem Ausgangspunkt, den Demonstrationen gegen Sozialabbau am 3.4.04. Daraus folgend ist das attacsche Verständnis von Staat und Ökonomie zu untersuchen.

Am 3.4. versammeln sich in Stuttgart, Köln und Berlin die GegnerInnen der „Globalisierung“ und des „Sozialabbaus“ von attac und co, während in Frankfurt diejenigen der NPD auf die Straße gehen wollten. Ihre Demonstration wurde zwar abgesagt, aber dies ändert nichts an dem hier zu Sagenden. Während die einen beklagen, dass der „ehemals abgeschottete deutsche Markt (...) zu einem europäischen Markt geworden“ ist und „nationale Grenzen und Schutzgesetze für den Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr (..) weitgehend außer Kraft gesetzt und auf die europäische Ebene übertragen“ (attac) wurden, beschweren sich die anderen über die „Globalisierungspolitik der herrschenden Parteien. Seit Jahrzehnten fördern diese eine Politik, in deren Folge Waren, die in Ländern produziert werden, in denen es quasi keine Sozialversicherungen gibt und brutale Ausbeutung durch Hungerlöhne betrieben wird, problemlos in der BRD verkauft werden“ (NPD). Auch in der Bewertung der Nominierung von Horst Köhler als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ist man sich weitgehend einig: "Köhler steht für die neoliberale Politik des Internationalen Währungsfonds, die nicht den Menschen, sondern den multinationalen Konzernen dient. Es ist völlig konsequent, dass die neoliberale Einheitspartei solche Kandidaten aufstellt (...)“, so Peter Wahl in einer attac-Pressemitteilung. Bei der NPD hört sich das dann so an: Es sei „bezeichnend, dass die Unionsparteien mit dem derzeitigen IWF-Chef Köhler ausgerechnet einen besonders fanatischen Vertreter des kapitalistischen Wirtschaftssystems neoliberaler Prägung ins Rennen um das höchste Amt im Staate schickten. So wäre dieser ein Garant für weitere Einschnitte in die Sozialsysteme und damit den Ausverkauf der Prämisse des sozialen Staates.“

Die Wortlaute sind schlicht austauschbar. Wie wenig bei attac verstanden wird, zeigt sich daran, dass sie die bewusste Einreihung der NPD in die Proteste in Köln, Stuttgart und Berlin („Wir marschieren getrennt und schlagen die Ausbeuter der Völker gemeinsam, ob in Stuttgart, Köln, Berlin oder Frankfurt.“ NPD-Aufruf) als „plumpe Anbiederung“ abtun und meinen, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus seien mit „globalisierungskritischen Positionen nicht vereinbar“ (Angelika Wahl in einer e-mail). Das Gegenteil ist der Fall. Es handelt sich schlicht und einfach um übereinstimmende Ressentiments, die sich hier wie dort als „Kritik“ oder „Widerstand“ verkaufen wollen. Dass attac zudem nicht immer Berührungsängste gegenüber offenen deutschen NationalistInnen hat, zeigt die Zusammenarbeit mit dem „Bürgerbündnis für Frankfurt“ in der Kampagne gegen das „Cross-Border-Leasing“ der Frankfurter U-Bahn (vgl. www.copyriot.com/sinistra).

III

Die attacsche Vorstellung des Staates liefert einen möglichen Schlüssel, warum solche Allianzen, ob nun gewollt oder nicht, möglich sind. Dass der Staat in der Welt von attac als das Gute gedacht wird, der gegen eine „entfesselte“ Ökonomie zu stärken sei, wird schon durch den Namen dieser Vereinigung deutlich. Zunächst stand die Abkürzung für „action pour une taxe Torbin d`aide aux citoyen“ (Aktion für eine Tobinsteuer als Hilfe für die Bürger), mit dem starken Anwachsen und Erfolg aber wurde eine allgemeinere Bezeichnung erfunden: „Association pour une taxation des Transactions financieres pour l’aide aux citoyens“ (Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der BürgerInnen) (vgl. Stützle 2004). Da steckt das ganze Programm schon drin. Der Staat soll eine Steuer einführen, die das angeblich entfesselte Finanzkapital in die Schranken weist und diese Steuereinnahmen sollen dann den BürgerInnen zu Gute kommen. Wie jemals irgendjemand auf die Idee kommen konnte, bei attac handele es sich um Linke oder AntikapitalistInnen, bleibt mir verschlossen. Schon allein der uneingeschränkt positive Bezug auf den Begriff des citoyens deutet die Affirmation des Staates an. Citoyen fungiert als Gegenbegriff zum Bourgeois und meint den/die StaatsbürgerIn, während letzterer den Privatmenschen meint. Diese Teilung des Menschen ist in den Strukturen des Staates und des Rechts angelegt und ohne jene Strukturen nicht denkbar. Doch die Strukturen des Staates interessieren attac nicht. So wie das Kapital in den multinationalen Konzernen und deren Vorstandsetagen personalisiert wird, so wird der Staat nur als Gegenprinzip zur Ökonomie gesehen, welchem nun in der Phase des „ultraliberalen Kapitalismus“ (Ramonet) die Steuerungsmöglichkeiten abhanden gekommen seien. Damit wird die fordistische Phase des Kapitalismus hypostasiert und als Beispiel für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz betrachtet.

Illustrieren lässt sich dies mit einem Artikel aus dem attac-Rundbrief „Sand im Getriebe“ nr.33. Dort wird ein Auszug, mit dem oben genannten Vorbehalt, dass dies nicht notwendig attac-Position sei, aus dem unglaublich erfolgreichen Buch „Global Brutal“ von Michael Chossudovsky publiziert. Dadurch wird dieses zumindest in den Stand eines diskussionswürdigen Beitrags erhoben. Der Autor salbadert in einem Abschnitt namens ‚Luxusverbrauch und parasitäre Wirtschaft’:

„Mit dem Niedergang der Fertigungsindustrie hat sich in den reichen Ländern eine »parasitäre Wirtschaft« entwickelt, die praktisch nichts mehr produziert. Sie konzentriert sich auf den Dienstleistungssektor und schöpft die Gewinne aus der Fertigung in der Dritten Welt ab. (...) Die materielle Produktion wird der nichtmateriellen unterworfen, indem sich der Dienstleistungssektor die Wertschöpfung des Fertigungssektors aneignet. (...) Die parasitäre Wirtschaft eignet sich die Gewinne der Direkterzeuger an“ (Chossudovsky 2004, 6, Hervorhebung im Original)

Dass im Kapitalismus Gewinne, oder genauer: der produzierte Mehrwert, nicht von den unmittelbaren Produzierenden angeeignet werden (sonst wäre es ja auch kein Kapitalismus), scheint Herr Chossudovsky nicht zu wissen, denn dies ist für ihn etwas neues, was nach der „Umformung der Wirtschaft“ (ebd.) eingesetzt hat. Auch hier zeigt sich das Verständnis des Kapitalismus als in der Phase des Fordismus zum Wohle der Menschen eingerichtetes System, welches nun sich gegen die Menschen entwickelt. In diesem Lamento, die Fertigungsindustrie in den entwickelten Zentren verschwinde, was als Tendenz sicher zutrifft, aber so eindeutig noch nicht mal der Fall ist, und dann „parasitär“ auf Kosten der schaffenden ArbeiterInnen gelebt werde, dass alles noch nicht brutal war als in den Zentren selbst noch materielle Produkte hergestellt wurden, wird die konkrete Seite des Kapitals, die schaffende Arbeit, als das Gute verstanden. Dies hat extrem problematische Implikationen (vgl. auch Heinrich 2002). Wenn also die schaffende Arbeit das Gute darstellt, was ist nun das Böse? Selbstverständlich das Geld, allerdings nur in Form des Zinses.

Dass das Problem das Geld ist (aber nicht eine Gesellschaft, aus deren sozialen Beziehungen Geld als deren Ausdruck entsteht), bzw. das Kreditsystem, darüber klärt uns attac-Coburg auf: So veranstaltete das Netzwerk ATTAC-D, Regionalgruppe Coburg, AG "Zukunftsfähige Geld- und Wirtschaftsordnung" eine KONFERENZ zum Thema "GELD UND FINANZMÄRKTE" am 22/23. MAI 2004 in COBURG. Dort fanden dann Veranstaltungen wie die folgende statt: „VORSCHLÄGE FÜR EIN ANDERES GELDSYSTEM“ mit dem Einleitungstext:

Für den Erhalt des Sozialstaates, aber wie? Vorschläge für eine neue Finanzordnung.

Erst wenn man erkennt, dass die gegenwärtige Staatsverschuldung und Wirtschaftsmisere nicht Folge schlechten Wirtschaftens, sondern Folge eines widersinnigen (historisch gewachsenen) Kreditsystems ist, kann man alternative Finanzsysteme entwickeln, in denen Krisen nicht vorprogrammiert sind. (Das angeblich notwendige Element der "kreativen Zerstörung" ist nichts als der Ausdruck der Ohnmacht vor der destruktiven Eigendynamik unseres Geldsystems. Dieses System aber ist von Menschen geschaffen, und Menschen können es ändern.)

Die Anschlussveranstaltung zeigt dann wie es gehen soll:

Thomas Mayer: JENSEITS DER GLOBALISIERUNG - REGIONALGELD AM BEISPIEL „Chiemgauer“ Wie können wir ein demokratisches, soziales und regionales Geld schaffen?

Dies erinnert nicht nur fatal an Gesellianische Tauschringe und deren „Theorie“ vom Schwundgeld (vgl. dazu Bierl 2004), sondern hier wird ein solcher Tauschring propagiert. Wer nur ein paar Minuten im Internet recherchiert, kann das leicht erkennen. (Neben diversen begeisterten Zeitungsberichten der Lokalpresse stößt mensch sehr schnell auf illustre Seiten wie www.killerzins.de, auf der erklärt wird, der Zins sei an allem Schuld). Es ist allerdings nirgends zu lesen, ob zur Aufnahme in diesen Tauschring, der dort propagiert wird, deutsch-völkische Gesinnung und deutsches Ariertum Voraussetzung sind, wie dies in Gesells Landkommune „Oranienburg-Eden“ der Fall war (vgl. zur Kritik an Gesell auch: Rakowitz 2000).

Doch wer ist nun schuld am „schlechten“ Geldsystem? In einer Broschüre zu „deregulierten Finanzmärkten“ heißt es unter der Überschrift „Wer regiert die Welt?“: „Die liberalisierten Finanzmärkte geben den KapitaleignerInnen die Möglichkeit, Regierungen unter Druck zu setzen.“ So, das Kapital ist personell identifiziert, die Weltherrscher gleich mit. Die Staaten sind zudem noch entlastet.

Das Unbehagen an einer unverstandenen Welt agiert sich aus in der Identifikation von Macht mit „Mächtigen“, die es persönlich anzugreifen gelte und enthält damit schon das antisemitische Ticket und die Drohung mit dem Pogrom. Der Prozess der Verwertung des Wertes, der „hinter dem Rücken der Akteure“ (Marx) abläuft, als geronnenes und mit einer eigenen Dynamik prozessierendes gesellschaftliches Verhältnis, welches also zur zweiten Natur wird, ist im globalisierungsbauchkritischen Ansatz nur als Verschwörung denkbar. Da wundert es nicht, wenn die Lehre eines bekennenden Antisemiten wie Gesell für die Lösung aller Probleme herangezogen wird.

Die Globalisierung, die also als die Entfesselung des Finanzkapitals gedeutet wird, ist in diesem Sinne ein den Staaten äußerlicher Prozess. Die Staaten sind nur Instrumente, die von den böswilligen „Finanzmagnaten“ (Ramonet) missbraucht werden. Genauso könnten die Staaten deshalb auch dazu eingesetzt werden, die Globalisierung zu stoppen, um zurückzukehren zu einem Sozialpakt.

In schlechter Tradition wird der Staat also als ein reines Instrument herrschender Cliquen gesehen, als eine leere Hülle, mit der man veranstalten kann was man will, ist man nur in der Position dazu. In gleicher Weise taucht diese Vorstellung dann auch bei internationalen Institutionen wie der WTO auf (vgl. den Band der attacBasisTexte „WTO Demokratie statt Dracula“ von Susan George). Dass aber Ökonomie und Politik nichts einander äußerliches, sondern ineinander vermittelt, sich gegenseitig konstituierende Momente sind, dass Staat und Kapital soziale Verhältnisse darstellen, die es zu überwinden und nicht irgendwie menschlich einzurichten gilt, das ist attac fremd. Eben weil für attac der Staat in Form des Sozialstaats die höchste Form der Menschlichkeit darstellt.

Da wundert es nicht, wenn das Recht als die Möglichkeit gesehen wird, Gerechtigkeit durchzusetzen. Beispielhaft dafür ist das Programm des Europäischen Sozialforums, welches 2003 in Paris stattfand und an dem attac maßgeblich beteiligt war. Nur ein kurzer Auszug:

Für ein Europa der Bürgerrechte, die demokratischen Rechte; Analyse und kritische Bewertung des EU-Konvents. Rolle der Institutionen, partizipative und repräsentative Demokratie.

2. Die Unteilbarkeit des Rechts und die Entwicklung sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und ökologischer Rechte. Charta der Grundrechte, Rechte der abhängig Beschäftigten (Recht auf Arbeit und Arbeitsrecht). Bürgerschaftlichkeit und Universalität der Rechte.

Hier schließt sich der Kreis. Staat und Recht werden vom Alltagsbewusstsein als Einrichtungen für das Allgemeinwohl betrachtet, die es nur richtig einzusetzen gelte. Deshalb auch der penetrante Gebrauch des Begriffs des Citoyens in Texten von Bernard Cassen et al. Die Apologie der Bürgerrechte (und der Menschenrechte) will von deren Dialektik nichts wissen. Diese gilt es daher kurz genauer zu betrachten:

Der Mensch wird als Rechtssubjekt einerseits als freies und gleiches als auch als vernunftbegabtes anerkannt. Ihm wird damit auch ein Recht auf Achtung seiner Menschenwürde zugesprochen. So weit so gut. Doch diese Achtung seiner Menschenwürde wird nicht dem historisch konkreten Individuum zuteil, sondern nur dem abstrakten Menschen (vgl. Maihofer 1992). Oder, wie Bruhn schreibt: „Der Mensch als Material des Staates erscheint, bevor die Nation `hinzutritt’, vielmehr als das Gattungswesen schlechthin, als abstrakter Mensch. So gelten die Bestimmungen und Verbote des Gesetzes weder den konkreten Einzelnen noch ihrer empirischen Vielheit. Sie meinen nicht die Menschen, sondern l’homme, d.h. den Menschen überhaupt als Subjekt wie Objekt der politischen Souveränität“ (Bruhn 1994, 77f.).

D.h. in der zum Warentausch notwendigen Abstraktion der Menschen zum Menschen an sich liegen die Menschenrechte begründet, die im Staat nur als Staatsbürgerrechte ins Werk gesetzt werden können. „Und diese Staatsbürgerschaft beruht grundsätzlich auf vielfältigen Diskriminierungen und Ausgrenzungen: der Trennung von >>Öffentlich<< und >>Privat<< und der damit verbundenen Begründung eines ungleichen Geschlechterverhältnisses, dem Ausschluss von >>Fremden<< innerhalb und außerhalb der nationalen Grenzen und auf der Ungleichheit sozialer Möglichkeiten und Rechte“ (Hirsch 2002, 47). D.h., Menschenrechte sind untrennbar mit Rassismus und Antisemitismus verbunden. „Der Universalismus der Menschenrechte ist die objektive Ideologie der Produktivierung der Gesellschaft und die Legitimation aller geistigen Ausschlüsse, praktischen Ausgrenzungen und tödlichen Ausmerzungen aus dem Patriotismus des Privateigentums. Kein Unterschied zwischen traurigem Sein und utopisch-wahrhaften Sollen ist am Menschenrecht zu notieren, sondern, vielmehr, die Einheit des bürgerlichen Seins, das aus der Differenz zu allem erwächst, was nicht kapitalproduktiv ist“ (Bruhn 1994, 42).

Adorno folgend kann daraus nur der Schluss zu ziehen sein, wem tatsächlich noch an der Einrichtung einer emanzipierten Gesellschaft etwas liege, die/der „sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren“ (Adorno MM 130f.). Doch bei attac u.a. wird nicht nur diese abstrakte Gleichheit des Menschen propagiert, sondern auch ihre Umsetzung in den Bürgerrechten, die sich nur als Staatsbürgerrechte ins Werk setzen lassen. An dieser Stelle wird bestimmt, wer zur staatlichen Allgemeinheit, für deren Allgemeinwohl attac einzutreten gewillt ist, gehört und wer nicht.

Dies alles ergibt eine gruselige Melange. Zusammengefasst:

Das Problem ist also weder Staat noch Kapital, sondern die Verteilung von Reichtum. „Der Reichtum der westlichen Welt hat auch in den vergangenen Jahren zugenommen, nur die Verteilung wird immer ungerechter“ (attac-Aufruf). Was stattdessen angestrebt wird, ist der korporative Sozialpakt zwischen UnternehmerIn und LohnarbeiterIn, die Illusion eines menschlichen Kapitalismus. Dass der vielgepriesene keynesianische Staat der Nachkriegsgeschichte ohne den Nationalsozialismus in dieser Form nicht geschaffen hätte werden können und das sogenannte ‚Wirtschaftswunder’ „die Vernichtung zur Voraussetzung“ hat, welche „die Deutschen organisierten“ (Scheit), interessiert selbstverständlich niemanden. Genausowenig, dass Nationalsozialismus und Faschismus als erstes die Arbeiterbewegungen zerschlagen mussten, um jene zu verstaatsbürgerlichen und auf das Große und Ganze zu verpflichten. Stattdessen wird der Sozialstaat gedacht als, wie schon gesagt, vernünftige Einrichtung der Welt, dessen „emanzipative Potentiale“ genutzt werden sollen (vgl. AttacBasistext 6). So wird der Staat eben nicht als Form der politischen Herrschaft im Kapitalismus gedacht, sondern als Hilfsorganisation für die Menschen. In dem affirmativen Blick auf den Fordismus und den Sozialstaat werden die Rollen des Nationalsozialismus und der Faschismen in deren Herausbildung konsequent ausgeblendet. Dies zeigt sich in Band nr.6 der AttacBasisTexte. Dort wird die Geschichte des Sozialstaats in 4 Phasen eingeteilt:

„a) Entstehung des Sozialstaats 1870-1914

b) „Die Verarbeitung und Anpassung an soziale, ökonomische und politische Prozesse sowie Krisen der Zwischenkriegsperiode 1914-1945 (so elegant wird der NS selten verleugnet)

c) Stabilisierung und Ausweitung ab 1945

d) Um-/Abbau ab 1970er „ (S. 12f.)

Den Rückfall in die Barbarei als „Anpassung an soziale, ökonomische und politische Prozesse sowie Krisen“ darzustellen, dazu bedarf es schon eines besonderen Blicks auf den Sozialstaat. Auch die genauere Beschreibung lässt keine Wünsche übrig: In der Weimarer Republik wurden die Sozialversicherungssysteme stark ausgebaut, doch dann kam die Krise 1929. Die Schlussfolgerung, die von den Autoren gezogen wird: „Auf Not und Massenelend musste politisch reagiert werden. Im >>Dritten Reich<< wurden sozialpolitische Leistungen punktuell und entsprechend der völkisch begründeten Familienpolitik ausgeweitet, doch die Auflösung der Rücklagen der Sozialversicherung zum Zweck der Aufrüstung bzw. der Kriegsfinanzierung sowie die Kriegsfolgen ruinierten die finanziellen Grundlagen des Sozialversicherungssystems, so dass diese nach der Gründung der Bundesrepublik neu geordnet werden mussten“ (BasisTexte 6, 18).

Dies muss nicht weiter kommentiert werden, es spricht für sich selbst.

Es wird fröhlich geträumt vom neuen Sozialpakt, davon, die da oben’ würden endlich einmal durch den Protest eines ‚breiten gesellschaftlichen Bündnisses’ - was schlicht als anderer Ausdruck für Volk zu werten ist - etwas für ‚uns da unten’ machen. Es ist dieser vom Bauch gesteuerte Blick auf die Welt, der den Egoismus der Reichen für die Krise verantwortlich macht und im Staat den geeigneten Partner dafür sieht, ihnen den Egoismus auszutreiben, was im harmlosesten Fall sich als Forderung nach Besteuerung darstellt. Das zu Kritisierende sind die Sphären der Distribution und Zirkulation, nicht die Form der Produktion, nicht das gesellschaftliche Verhältnis Kapital. Es ist nicht zufällig, dass dieser Blick auf die Welt nicht nur den Staat, sondern auch Volk und Nation als naturgegeben und affirmativ betrachtet, und nicht als die reale Erniedrigung der Individuen, die sie sind.

IV

Die im Hintergrund bleibende Tradition des Wunsches nach dem nicht egoistischen Kapitalismus, nach der Gemeinschaft im breiten gesellschaftlichen Bündnis, welches durch den Hass auf die gemeinsamen Feinde zusammenhält, speist sich aus dem Nationalsozialismus.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus lohnend, sich einmal die Wortwahl genauer anzuschauen, mit der über den so genannten „Neoliberalismus“ gesprochen wird, vor allem wenn es um den Unterschied USA - Europa geht. In dem Flugblatt „Bushtrommel“, welches - wie der Name schon sagt - anlässlich des Besuches von George W. Bush in Deutschland verfasst wurde, ist als Zitat des Öffentlichkeitsreferenten von attac Deutschland zu lesen (von der Karikatur auf der ersten Seite, auf der ein „Uncle Sam“ die Welt als JoJo am Finger baumeln lässt, ganz zu schweigen): "Auch wenn die Politik der EU derzeit vom gleichen neoliberalen Zeitgeist infiziert ist, so scheint doch eine Abkehr und eine Rückbesinnung auf wohlfahrtstaatliche Tradition wesentlich leichter durchzusetzen.". Europa ist infiziert, aber noch nicht vollständig gestorben. Das Wörtchen „infiziert“ ist das ausschlaggebende. Medizinisch betrachtet wird ein Körper von einem Virus infiziert. D.h. Europa ist ein Körper. Dieser Virus ist nun etwas von Außen kommendes, was etwas an sich Gesundes angreift und krank macht.

Ins Deutsche übersetzt: Der europäische Volkskörper wird vom amerikanischen Virus des Neoliberalismus (also der Finanzmärkte) angegriffen und muss sich nun zur Wehr setzen. Dies tut er am Besten in radikaler Abkehr von den USA.

An eine solche Rhetorik können sich Nazis selbstverständlich nur plump anbiedern, um den Ausgangspunkt kurz einzuholen.

Aber es kommt noch besser. Diesmal aus dem Mutterland von attac, aus Frankreich. In einem 2002 publizierten Buch kommen die Gründungsmitglieder zu Wort. Unter ihnen Ignacio Ramonet. In seinem Beitrag geißelt er die Globalisierung in unnachahmlicher Weise: Sie „wirkt bis in die verborgensten Winkel des Planeten und ignoriert die Unabhängigkeit der Völker ebenso wie die Verschiedenheit der politischen Systeme“ (Ramonet 2002, 81). Der Kapitalismus in seiner derzeitigen „ultraliberalen Phase verwandelt alles, was er berührt, in eine Ware“ - da fragt man sich doch, ob dies nicht das Wesen des Kapitalismus ausmacht, aber anscheinend wohnte ihm vor der „ultraliberalen Phase“ kein Zwang zur Expansion inne, doch das ist nicht alles, denn es geht weiter: „er zersetzt die gewachsenen Gemeinschaften und zerstreut die Einzelnen in der >>einsamen Masse<<“ (ebd. 85). Und das geht nun wirklich nicht, denn daraus resultiert das Schlimmste, was Herr Ramonet sich anscheinend vorstellen kann: „Die Globalisierung bedeutet die endgültige Durchsetzung des Ökonomismus: die Erschaffung eines „Weltmenschen“, bar jeder Kultur und jeden Gemeinsinns; sie zwingt dem ganzen Planeten ihre neoliberale Ideologie auf“ (ebd.).

Die Hetze gegen Kosmopolitismus ist historisch ja aus verschiedenen Richtungen und nicht nur aus dem Nationalsozialismus bekannt. Immer jedoch war der Angriff auf den „Weltmenschen“ eine Erscheinungsform des Antisemitismus. Hier werden tatsächlich nicht nur nationale Borniertheiten, sondern völkische Gemeinschaften propagiert. Dieses ist nicht zufällig oder der Verwirrung einzelner attac-Mitglieder zuzurechnen, sondern der ganzen Ausrichtung des Vereins. Gerade die Gefahren und Auswirkungen der Anknüpfung an die zu Beginn genannten „vagen Gefühle“ und „emotionalen Empörungen“ mit der strikten Weigerung, darüber hinauszugehen, werden hier sichtbar. Dieses Alltagsbewusstsein ist geprägt von den zur zweiten Natur geronnenen gesellschaftlichen Verhältnissen, die in verdinglicht-objektivierter Gestalt hinter dem Rücken der Akteure prozessieren. Daher sind im fetischisierten Alltagsbewusstsein die materiellen Ausdrücke dieser Prozesse, Staat, Recht, Volk, Nation, als natürliche und einzig mögliche gesetzt. Wird nun bewusst darauf verzichtet, dieses zu hinterfragen, dann wird Protest immer strukturell (und/oder offen) nationalistisch, rassistisch, antisemitisch und staatsfixiert bleiben. Es gäbe eigentlich noch viel mehr zu sagen, auch noch viel mehr zu untersuchen und zu beleuchten, trotzdem schließe ich mit einem Zitat von Gremliza: „attac hat kein Problem, attac ist das Problem“.


Literatur:

Adorno, Theodor W. 1969: Minima Moralia, Frankfurt

Antideutsche Kommunisten Berlin 2002: Warum man Attac nicht kritisieren kann, Vortrag (http://www.antideutsch.tk)

Attac-Rundbrief „Sand im Getriebe“ nr.33, (http://www.attac.de)

Attac-Broschüre „Deregulierte Finanzmärkte“

Attac-Flugblatt „Bushtrommel“

Bierl, Peter 2004: „Schaffendes“ und „raffendes“ Kapital. Die Tauschringe, die Lehre des Silvio Gesell und der Antisemitismus, http://www.trend.infopartisan.net

Bruhn, Joachim 1994: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg

Chossudovsky, Michael 2004: Die globale Niedriglohnökonomie, in: attac-Rundbrief Nr.33

Christen, Christian/Michel, Tobias/Rätz, Werner 2003: Sozialstaat. Wie die Sicherungssysteme funktionieren und wer von den „Reformen“ profitiert, AttacBasisTexte 6, Hamburg

Flimmerkiste 2001: Fundamente einer Bewegung. Zur Notwendigkeit einer Kritik an attac, http://www.copyriot.com/lili

Heinrich, Michael 2002: „Entfesselter Kapitalismus“? - Zur Kritik der Globalisierungskritik, in: Antifaschistische Aktion Berlin (Hrsg.): Global Resistance, Berlin 2002, S.18-23, http://www.oekonomiekritik.de

Hirsch, Joachim 2002: Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg

Maihofer, Andrea 1992: Das Recht bei Marx, Baden-Baden

Rakowitz, Nadja 2000: Die Kritik am Zins - eine Sackgasse der Kapitalismuskritik, Vortrag am 15. November 2000, http://sozialistische-studienvereinigung.frankfurt.org/archiv/rakowitz.htm

Ramonet, Ignacio 2002: Morgenröte, in Ruth Jung: Attac: Sand im Getriebe, Hamburg

Stützle, Ingo 2004: Sand im antikapitalistischen Alltagsverstand, http://www.trend.infopartisan.net