Deutsche Täter sind keine Opfer!

Heute, am 22. März 2004 findet in Frankfurt eine „Gedenkveranstaltung“ statt, bei der sich – ähnlich wie bei dem alljährlichen Ritual zum 13. Februar in Dresden – Deutsche aller Couleur versammeln, um ihren ehemaligen Kameraden und Kameradinnen, ihren Vätern und Müttern bzw. ihren Großvätern und Großmüttern zu gedenken, die bei den Luftangriffen der Alliierten ums Leben kamen. Würde es sich lediglich um individuelle Trauer für verstorbene Angehörige bzw. Freunde handeln und würde der Kontext der notwendigen Luftangriffe mitgedacht und mitgenannt werden, wäre dagegen wohl nicht allzu viel einzuwenden. Doch mit individueller Trauer geben sich die Deutschen nicht ab und mit dem Kontext der alliierten Luftangriffe wollen sie sich gleich gar nicht beschäftigen. Wenn die FrankfurterInnen an den 22. März 1944 oder die DresdnerInnen an den 13. Februar 1945 denken, kommt das deutsche Gemüt in Wallung und ihnen Begriffe wie „alliierter Bombenterror“ oder „Luftgangster Arthur T. Harris“ in den Sinn. Jährlich wird zum Jahrestag der Bombardierungen ein Stück weiter am nationalen Mythos gestrickt, nachdem die alliierten Streitkräfte angeblich „unnötige Verbrechen“ begangen hätten. Am 22. März geht es den FrankfurterInnen – und mit ihnen den meisten Deutschen – nicht um individuelle Trauer, sondern einzig und allein um eine kollektive Opferidentität. Sie verwenden die Bombardierungen als Symbol für alliierte „Schuld“ und setzen damit die Befreier in Bezug zu den singulären Verbrechen der deutschen NationalsozialistInnen, die bis dato nicht nur einen Vernichtungskrieg angezettelt hatten, an dessen Ende über 50 Millionen Tote standen, sondern auch das gesamte europäische Judentum vernichten wollten. Über 6 Millionen Jüdinnen und Juden fielen dem antisemitischen Wahn der Deutschen binnen kürzester Zeit zum Opfer.

Doch die FrankfurterInnen denken am 22. März weder an die Opfer der Shoa noch an den Segen der Befreiung vom deutschen Faschismus, sondern sie empfinden – und hier gelang vielen Städten über das Buch „Der Brand“ von Jörg Friedrich, der bei der heutigen Veranstaltung in Frankfurt persönlich anwesend ist, der Anschluss an den Dresdner und Hamburger Mythos – die alliierten Bombardierungen während des 2. Weltkrieges als „größte Katastrophe der Stadtgeschichte“ (so u.a. in dem Buch „Frankfurt am Main im Bombenkrieg“, welches sich mit den Bombardierungen Frankfurts beschäftigt).

Um die singuläre deutsche Schuld zu relativieren, werden zum einen die Opferzahlen der Bombardierungen deutscher Städte überhöht (teilweise tauchen in Bezug auf Dresden Opferzahlen auf, wonach sich fast mehr Tote nach der Bombardierung als Einwohner vorher halluziniert werden) und zum anderen darf kein Wort über die Gründe der Luftangriffe auf deutsche Städte durch die alliierten Streitkräfte verloren werden. Damit wären die Deutschen nämlich unweigerlich vor die Frage gestellt, ob sie ernsthaft geglaubt hatten, dass sie 6 Millionen Juden und Jüdinnen ermorden und im Osten einen barbarischen Vernichtungskrieg führen können, ohne dass sie mit Konsequenzen zu rechnen haben. Die alliierten Bomber haben den DresdnerInnen am 13. Februar 1945 die banale Konsequenz vor Augen geführt, dass der „totale Krieg“ (Goebbels) der Deutschen eine Antwort der Angegriffenen zur Folge hat. Warum hat das heute so verdammte „moral bombing“ nur bei den Deutschen keine Wirkung gezeigt? Warum haben die Deutschen „bis zum letzten Blutstropfen“ gekämpft, obwohl der Ausgang des Krieges schon lange vor dem 13.02.1945 besiegelt war? Weil sie fanatische Träger der nationalsozialistischen Ideologie waren und in dem Vernichtungs- und Rassenkrieg „rationale Argumente“ hinter dem ideologischen Eifer zurückstehen mussten, schließlich ging es den Deutschen um nicht weniger als die „Befreiung der Welt vom Judentum und vom Bolschewismus“.

bild 1: westendsynagoge am 9. november 1937
bild 2: fanatischer durchhaltewille
bild 3: allierter bomber
bild 4: brennendes haus in frankfurt (22. märz 1944)


Dass dem Mord an den JüdInnen, Sinti, Roma, Homosexuellen, KommunistInnen und den anderen Opfern des Rassenkrieges unter anderem durch die Bomberangriffe auf deutsche Städte ein Ende gemacht wurde, ist für uns ein Segen. Auch, weil es einigen wenigen Opfern des antisemitischen Vernichtungswahns das Leben gerettet hat (z.B. Victor Klemperer konnte durch das Zusammenbrechen der nationalsozialistischen Infrastruktur infolge der Angriffe vom 13.02.1945 auf Dresden überleben). Aber vor allem, weil dadurch die schnellstmögliche Beendigung des Krieges erreicht werden konnte. Wir finden es zynisch, wenn den alliierten Streitkräften vorgeworfen wird, dass sie sich nicht auf den Schlachtfeldern aufgerieben haben, sondern stattdessen mit Mitteln reagiert haben, die die Deutschen schon vor dem 2. Weltkrieg angewendet haben (Guernica). Kein Pilot wäre das persönliche (und nicht geringe) Risiko eingegangen, über Feindesland abgeschossen zu werden, wenn die Deutschen nicht unbedingt bis zum letzten Mann hätten kämpfen wollen.

Für die Deutschen dagegen ist die Bombardierung deutscher Städte das so ziemlich schlimmste, was in einem Krieg, in dem immerhin über 50 Millionen Menschen starben, passieren konnte. Wo ist dann allerdings die alljährliche Empörung über die Bombardierung von Guernica, Warschau, Rotterdam und Coventry? Oder über die Bombardierung Serbiens vor nicht einmal fünf Jahren, als die deutsche Luftwaffe ihren ersten Kampfeinsatz nach dem 2. Weltkrieg ausgerechnet gegen ein Land flog, dass bereits im 2. Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde?

Es ist also keine Unterstellung, hier andere Interessen als die reale Anteilnahme an dem Schicksal der betroffenen Opfer dieser Bombennacht zu vermuten. Vielmehr steht die Diskussion um den Bombenkrieg in einem Kontext deutscher Identitätsbildung, die der nicht mehr zu leugnenden deutschen Schuld eine Erfahrung deutschen Leids zur Seite stellen will und damit die Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Erinnerungen der TäterInnen und der Opfer des Nationalsozialismus negiert.

Übrig bleiben soll eine – am besten deutsch-europäische – Geschichtserfahrung, die von einem Jahrhundert der Grausamkeiten ausgeht und damit die Singularität der deutschen Verbrechen relativiert. So ist es kein Zufall, dass die Debatte um den alliierten Bombenkrieg zusammenfällt mit den revanchistischen Forderungen der Vertriebenenverbände, die ein Zentrum gegen Vertreibung in Berlin errichten wollen und die das politische und wirtschaftliche Gewicht Deutschlands innerhalb der EU zur Erpressung der Opfer des deutschen Überfalls auf Polen und der Annexion der Tschechoslowakei einsetzen wollen, um eine Verurteilung der Benes- und Beirut-Dekrete zu erreichen, als wären nicht die Henlein-Nazis durch ihren Terror selbst für ihre Ausweisung verantwortlich.

Die Bombardierung Dresdens (und Hamburgs) war für den deutschen Opfermythos schon immer von besonderer Bedeutung. Während Frankfurt und die anderen Städte erst jetzt – nachdem die Sieger, denen man, als sie noch vor der Tür standen, 40 Jahre Läuterung geheuchelt hat, aus den Städten abgezogen sind – in größerem Stil ihre eigenen Bombardierungen auswälzen und anprangern, gab es die Gedenkveranstaltungen für Dresden schon ab 1946. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden diese vornehmlich gegen die Westalliierten instrumentalisiert. Seit der Wiederbelebung der Veranstaltungen durch die DDR-Opposition 1982 und vor allem seit der Wiedervereinigung 1989 erlebten diese jedoch eine neue Qualität. Galt die Teilung Deutschland auch als sichtbares Symbol der deutschen Schuld, wurde das deutsche Selbstbewusstsein durch den Fall der Berliner Mauer beflügelt. Die „Berliner Republik“ hat zwischenzeitlich mit ihrer Vergangenheit aufgeräumt. Nach der kathartischen Wirkung der Wehrmachtsausstellung – welche zuerst die Verbrechen der „normalen“ deutschen Wehrmachtsangehörigen thematisierte, um sie danach in allgemeine Grausamkeiten, die der Krieg so mit sich bringt, einzuebnen – wurden den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen ein Handgeld in selbige gedrückt. Nebenbei absolvierte die Bundeswehr ihren ersten Kampfeinsatz nach der deutschen Niederlage 1945, wobei aus dem „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“ ein „Wegen Auschwitz müssen wir Krieg führen“ wurde.

Der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee schreibt im Geleit zum Buch „Leipzig brennt“, dass „wer die Haltung der Deutschen zum Irakkrieg verstehen will, … auch um ihre Erfahrungen im Bombenkrieg und mehr noch in den zerstörten Städten der Nachkriegszeit wissen [muss]“, ohne dabei die Bombardierung Serbiens 1999 durch deutsche Kampfflieger auch nur zu erwähnen. Galt es damals angebliche, in Wirklichkeit jedoch nie vorhandene „KZs im Kosovo“ zu verhindern, sollte nun im Irak – nur weil die USA entgegen deutscher Wirtschaftsinteressen im nahen Osten einen grausamen Despoten entmachten wollten – die deutsch-europäische Leiderfahrung lehren, dass Krieg generell nur die äußerste Ultima Ratio sein dürfe, nur um ein paar Monate später selbst wieder Kampftruppen in den nächsten Einsatz nach Kongo zu schicken.

Hinter dieser selektiven Wahrnehmung wird der kollektive Wunsch nach „Normalisierung“ nur allzu deutlich. Die Deutschen wollen sich als Opfergemeinschaft und als geläuterte deutsche Nation fühlen können, ohne dabei noch von der eigenen singulären Schuld sprechen zu müssen.


Thank you Mr. Harris - No tears for krauts.

text: BgR Leipzig | www.nadir.org/bgr | update: sinistra!