Der wohlbestallte Klassenkaempfer

Ein zynischer und realitätsferner Beitrag zum Thema Streik, mit der Faschismuskeule schwenkend sowie verschiedenerlei Nationen auf das scharfsinnigste vergleichend

Es nimmt wunder, dass hierzulande noch niemand zu der Forderung sich hat hinreißen lassen, zur Feier des 124. Jahres der Niederschlagung der Pariser Commune, deutsche Truppen nicht nur nach Ex-Jugoslawien, sondern auch nach Frankreich zu schicken. Denn "archaisch", so Cohn-Bendit (WoPo 50/95), sei die französische Gesellschaft, weil sie die Sozialpartnerschaft nicht kenne, die so famos den Antagonismus von Kapital und Arbeit zu schlichten vermag. Anders als bei "uns", wo die Gewerkschaften von vornherein zu nichts anderem da sind, als "der Wirtschaft" bei ihren Maßnahmen zur Maximierung der Profitrate zu assistieren, scheint das polit-ökonomische System Frankreichs, jener heiligen Institution entbehrend, die armen Franzosen geradezu in die Radikalität zu zwingen.

Gleichzeitig muß man das süffisante Aufatmen der deutschen Presse darüber ertragen, dass das alles hier ja nie passieren könnte und das dumme dabei ist, dass sie wohl recht hat: Dass Gemeinsinn nun mal vor Eigensinn geht wissen die Deutschen seit jeher besser als die Franzosen und können es ihnen deshalb aufs Baguette schmieren: Für den eigenen Lohn zu streiken ist egoistisch und verabscheuungswürdig. So sehen es auch diejenigen sogenannten Linksintellektuellen, die in Paris einen Aufruf gegen den Streik unterzeichneten. Die Streikenden seien gar nicht die wirklich Unterpriviligierten, die um ihr Brot kämpfen, sondern bloß fürs "bifteck", frei nach dem Motto: Beschwer dich nicht, andern gehts noch dreckiger!

Diese kleinen Privilegien, um deren Verteidigung es den Streikenden angeblich bloß geht, erweisen sich - sollten sie "Europa" tatsächlich verhindern - als Segen im Vergleich zu den "Privilegien", die das "Projekt Europa" der Privatwirtschaft angedeihen läßt. Deren Folgen sind allerdings in nichts mit denen eines Streiks zu vergleichen. Das "Projekt Europa" schädigt nämlich eben nicht wie üblicherweise ein Streik jene, die ihr Einkommen mit der Verwertung des Werts verdienen, sondern erweist sich als ruinös für alle, die ihre Haut zu Markte tragen müssen und bekanntlich nichts anderes zu erwarten haben als die Gerberei. Die Arbeitskraft ist eben eine Ware, die sich von Heftklammern und Käse dadurch unterscheidet, dass sie "nichts ist, wenn sie nicht verkauft wird." (Sismondi).

Was sich die europäischen Nationalökonomien zu jenem Zweck als "Sanierung" verschreiben, ist verbunden mit der allgemeinen Mobilmachung der noch "zu gebrauchenden" Teile der Bevölkerung für die Konkurrenz mit den Wirtschaftsräumen Japan und USA. Da heißt es: Ärmel hochkrempeln und Gürtel enger schnallen! Jede soziale Sicherung ist, gemessen an diesem Ziel, nichts als ein Hemmschuh oder ideologisch: ein Privileg. Wer aber für seine Arbeitskraft keinen Nachfrager findet, der bekommt es mit den heilsamen Kräften des Marktes zu tun. Der Staat muß nämlich sparen, rezitieren die Gute-Nacht-Onkel der bürgerlichen Propaganda aus dem großen Märchenbuch der Wirtschaftswissenschaften. Als ob ein Gemeinwesen wie der bürgerliche Staat, gerade die BRD oder Frankreich, mit seinen Mitteln haushalten müsste wie sonst nur Erna-Normalverbraucherin.

Noch absurder ist das Gerede von der Notwendigkeit der Teilnahme an diesem "Europa", die als so zwingend beschrieben wird, dass man glatt den Eindruck gewinnen könnte, dass es "das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst [ist], das hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt" (MEW 23, S.86). Es weiß zwar jeder Säugling, dass es sich bei "Europa" um einen Vertrag handelt, der vor zwei Jahren von den Regierungen der Europäischen Gemeinschaft unterschrieben worden ist, dennoch wird die Erfüllung der Kriterien für die Währungsunion mittlerweile wie ein unumstößliches Naturgesetz verhandelt. So wird für die europäischen Regierungen die unaufhaltsame Ankunft der Währungsunion zu einer Frage der Ehre. Und so kann auch der Hinweis auf ein vermeintliches Scheitern des ach so modernen europäischen Modells jedem Widerstand gegen Abbau des Sozialstaats ideologisch die Spitze brechen.

Dass "Europa" also kein emanzipatorisches Projekt ist, läßt sich spätestens daran erkennen, dass sozialer Protest wie in Frankreich als reaktionäre Besitzstandswahrung denunziert wird, während die realen Eigentumsverhältnisse nur noch mehr zementiert werden.

Für die ZEIT bleibt dem Präsidenten und dem Regierungschef nur noch ein Verbündeter: Die Einsicht der französischen Bevölkerung. Weil ihnen ohnehin kein andere Wahl bleibt, sollen sich die Individuen die Notwendigkeit der Unterwerfung als ihre freie Entscheidung schmackhaft machen. Dass die deutschen Gewerkschaften die Lektion "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit" besser gelernt haben als ihre Kollegen in Frankreich beweisen sie tagtäglich durch ihren kompromisslos kompromissbereiten Blick für die "Sache". Die perennierende Forderung der Sachverständigen nach "massvollen" (fragt sich nur, nach welchem Mass?) Tarifabschlüssen ist ihnen zum Sakrament geworden. Da wirkt die Solidaritätsadresse des DGB an die Streikenden geradezu grotesk, bedenkt man, wie dieser Verein es immer wieder schafft den Kapitalisten in den Arsch zu kriechen, wofür er noch nicht mal deren Anerkennung erheischt: Weil das Interesse an der Maximierung des Gewinns prinzipiell masslos ist, wird sich kein "natürliches" Ende solcher Ansprüche je finden und es wird so lange von "Privilegien" die Rede sein, bis der 24-Stunden-Arbeitstag endlich erreicht ist.

Und weil bekanntlich Tabubrecher immer diejenigen sind, die den reaktionärsten Schwachsinn verzapfen, war die wirkliche Heldin des französischen Streiks auch Nicole Notat, die "couragierte Generalsekretärin" der CFDT, die sich "standhaft weigerte, zum Ausstand aufzurufen"(FR, 21.12.95). Sollte es tatsächlich zu einer Besatzung kommen, ist heute schon klar, wer die Kollaborateure von morgen sein werden.

Jeder Stoss ein Franzos'?

Wer muß da nicht an die Berichterstattung zur Zeit der französischen Atomtests denken? Dort waren die Franzosen, weil sie partout nicht demonstrieren wollten, allesamt sture Patrioten, die nichts kommen lassen wollten auf ihr Vaterland. In Deutschland hingegen, wo der freie und kritische Geist zum angeborenen Volkskulturcharakter gehört, kauften die Menschen engagiert keine französischen Weine mehr. Es wird sogar von einer distinguierten Dame berichtet, die vor der französischen Botschaft ihrem Hund mit den Worten "Hier darfst du das!" ausnahmsweise gestattete, sich auf den Bürgersteig zu entlehren. Während in der BRD Proteste sich nur gegen fremde Regierungen - möglichst mit Billigung der eigenen - richten (siehe Shell-Kampagne, Atomtests, aber auch Friedensbewegung), sind die Franzosen offenbar so patriotisch, dass sie Dinge tun, für die man in Deutschland gern auch mal als Nestbeschmutzer beschimpft wird. Bevor wir aber in die unseligen Gefilde der vergleichenden Ethnologie geraten, soll dieser Beitrag mit einer letzten, weitgehend unkommentierten, dennoch infamen Gegenüberstellung enden. Während die Studierenden in Paris getreu ihrer Aufgabe als Avantgarde (siehe Seite 3 dieses Heftes) die Innenstädte Frankreichs umkrempelten (Entsorgung automobiler Dreckschleudern, Werfen von Molotow-Cocktails, etc.) demonstrierten in Hannover und Frankfurt ungefähr zeitgleich SchülerInnen und StudentInnen in atemberaubender Devotion gegen die Pläne zur Bildungsreform mit Spruchbändern wie "Wir wollen uns nützlich machen" und "Lieber lernen statt gammeln"!!