Über und unter Macht

Zu Rassismus und Antisemitismus



Nach dem 11.9.2001 wurden in der Linken zahlreiche Analysen des gegenwärtigen Zustandes entwickelt, deren Gehalt oftmals weniger der tatsächlichen Verfasstheit der Welt, mehr der seitens der Autorinnen vorgenommenen Wahl der Lieblingsopfergruppe zu entspringen scheint. Während einige Wenige ex- oder implizit der These von einem Ende des Rassismus anhängen, konstatieren andere eine gegenteilige Tendenz: Mark Terkessidis schreibt von einer Übertragung „antisemitischer Stereotype auch auf die Muslime“, Etienne Balibar sucht „Judenhass und Araberhass im selben antisemitischen Komplex zu umfassen“ und der linke Ethnologe Werner Schiffauer gibt ausgerechnet in den Tagen der „Hohmann-Affäre“ Ende 2003 der Taz die Existenz „eines ganz massiven Antiislamismus, der den Antisemitismus abgelöst hat“ zu Protokoll. Derlei interessierte Lesarten, empirisch allein durch die Ergebnisse der aktuellen Heitmeyer-Studie widerlegt, verschleiern die gesellschaftlichen Ursachen der gewalttätigen Ideologien, reduzieren sie auf scheinbar zufällige Phänomene, die keine spezifischen Formen annehmen und je eigene Inhalte transportieren, vielmehr erst durch massenmediale Manipulation hervorgerufen und transformiert würden, darum durch Aufklärung oder Diskursverschiebung aufzulösen wären.


Basisbanalitäten

Gegen ein solches Verständnis von Antisemitismus und Rassismus als akzidentiell, von außen herantretenden Erscheinungen gilt es, sie als Basisideologien und -praxen der bürgerlichen Gesellschaft zu begreifen. Ideologie verstanden nicht als intentionale, von oben installierte Gehirnwäsche, sondern als gesellschaftlich notwendig falsches Bewusstsein auf der Grundlage der Totalität der warenproduzierenden Gesellschaft, als Bewusstsein welches dem Sein nicht übergestülpt wird, ihm vielmehr inhärent ist. Die Gesellschaft des sich selbst verwertenden Wertes legt den Zwang zum Tausch, der von allen individuellen Besonderheiten abstrahiert und darin hin zu allgemeiner Anpassung, universaler Gleichmacherei tendiert. Gerade jenes Projekt der bürgerlichen Aufklärung, welches sich die Ideale von Freiheit und Gleichheit auf die Fahnen geschrieben hat, die Emanzipation der Menschen vom blinden Walten der Natur, erweist sich somit in seinem innersten Wesen als herrschaftsförmig und gewalttätig. Die allseits wütende Gewalt, die sich wiederum als Selbstverständlichkeit, als Natur deklariert, trifft alle Subjekte, bringt überhaupt erst die zwanghafte Form des Subjekts hervor. Und doch ist sie bei weitem nicht stets die gleiche; sie formt bestimmte Herrschaftsverhältnisse, aus denen die einen Vorzüge, die anderen, gelinde gesagt, Nachteile zu erwarten haben, von denen jedenfalls das Funktionieren des Ganzen abhängt.

Rassismus und Antisemitismus als gegenwärtig objektiven Erfordernissen kommt dabei auf verschiedenen Ebenen Funktionalität zu: Neben der vor allem für ersteren kennzeichnenden Legitimation von Ausbeutung und Unterdrückung dienen sie der Konstruktion individueller wie kollektiver Identitäten. Jenen Vorgang kennzeichnet eine verdinglichende Identitätslogik, die Einzelne ihrer je eigenen Sinnlichkeit und Empirie durch Ausschluss der Widersprüche beraubt, ihr Nicht-Identisches unsichtbar macht und sie somit problemlos dem zuvor gebildeten Begriff unterordnen kann. Ohne die Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine und die strikte Entgegensetzung zweier sich ausschließender Prinzipien - eine wesentliche Denkform der Moderne, wie sie etwa auch in der Separierung von Homo- und Heterosexualität zum Tragen kommt – könnte die Sortierung der Menschen in die Schubladen Schwarze, Jüdin etc. nicht vonstatten gehen. Der Nation ermöglicht sie die Konstitution von Gemeinschaft durch die Bestimmung von Subjekten als Fremde, welche das Gegenteil des Eigenen repräsentieren und darum, gerade in Zeiten der Krise, eine interne wie externe Bedrohung darstellen. Eine innere Gefährdung geht von der Andersartigkeit der im Land lebenden „Fremden“ und der daraus resultierenden Illoyalität, die sich potentiell gegen den Staat wenden kann, aus. Man denke nur an die in vieler Munde geführten Rede von den arabisch-islamischen Parallelgesellschaften oder die Befragungen, nach denen 55% der Deutschen die Ansicht teilen, die in der BRD lebenden Jüdinnen fühlten sich mehr mit Israel als mit Deutschland verbunden. Die paranoide Kreation eines Feindes im Innern korreliert mit einer von außen herandrängenden Gefahr, wie sie in der aus dem Trikont heranrollenden „Fluten“ von „Wirtschaftsflüchtlingen“ oder dem „völkerzersetzenden“ Israel imaginiert wird. Im nach innen und außen zugleich gerichteten Zweifrontenkrieg gewinnt die Nation ihre Wesensbestimmung, ihre Identität.

Analog zum großen Ganzen verfährt der kleine Teil: Unerwünschte oder unerreichbare Aspekte der materiellen Realität werden den zu bloßen Anhängseln von ethnisch definierten Gruppen Herabgestuften angelastet. Solch verdinglichte Wahrnehmung entlastet das Selbst, richtet die Aggressionen nach Außen und bietet dort eine Option zur gewalttätigen Entladung an. Zugleich mahnt sie aber auch beständig die Individuen vor der Möglichkeit, selbst auf die Stufe der „Ausländerin“ herabzusteigen bzw. zu „verjuden“ und hält sie somit zu einem dauerhaften, nach innen gerichteten Kampf an.

Die Identitätsfindung entspringt objektiven Notwendigkeiten. Wird das Wertgesetz als universal durchgesetztes, der Kapitalismus demzufolge als total gewordenes Verhältnis der autoreproduktiven Verwertung des Wertes angenommen, so existiert momentan nichts und niemand die sich dem ökonomischen Diktat entziehen könnte. Jede muss sich als nützlich, produktiv beweisen; Verweigerung ist illegitim und wird mit Abstrafung in Form des eigenen Untergangs bedacht. Die zugerichteten Arbeitskräfte erhalten die Form des Subjekts, welches, allein schon um Verträge abzuschließen, eine lebenslange Kontinuität der Ich-Identität, zeitlich und räumlich fest umrissene Grenzen von Körper und Geist (sowie deren Trennung) imaginieren muss, und somit gezwungen wird, eine sozial sanktionierte Herrschaft über sich selbst zu errichten. Um tagtäglich den Anforderungen der Gesellschaft zu genügen, durch welche es am Leben erhalten und zugleich ständiger Todesdrohung ausgesetzt wird, muss das Subjekt sich abhärten, disziplinieren, Stärke beweisen. Entspannung ohne Grenze wird nicht zugelassen, ist nur im Tod möglich . Schwäche, Unkontrolliertheit, Passivität, all die in verschiedenen Formen gesellschaftlich produzierten Sehnsüchte und Aggressionen, werden nicht unmittelbar zugelassen, sondern tendenziell ausgeschlossen und auf die Anderen projiziert . Bereits in der alltäglichen Wahrnehmung, mit Detlev Claussen Alltagsreligion genannt, findet eine verzerrte Scheidung von Fremdem und Vertrauten statt, es erwächst ein „machtfixierter Konformismus, der beim Auftreten jeder sozialen Abweichung Beängstigung bezeugt“ . Im Rassismus und Antisemitismus wird die zur zweiten Haut gewachsene Scheinerkenntnis der Alltagsreligion nochmals verzerrt, die Objekte werden mit dem Innern der Subjekte belehnt und scheinbar widerspruchsfrei, ohne Reflektion auf Erfahrung, ihrem Begriff untergeordnet. Gegen diejenigen, die auffallen ohne Schutz oder als Lebendige, wird das Einschreiten des väterlich vertrauten Staates angemahnt, oder gar selbst exerziert, in scheinbarer Opposition zur Autorität, die als konformistische Revolte gegen die Schwächsten doch nur das innigstes Einverständnis mit der herrschenden Ordnung ausdrückt.


Rassismus: Ausbeutung und Abwehr der Natur

Wie der Antisemitismus vom religiösen Judenhass, so ist der moderne Rassismus von seinen Vorgängern zu unterscheiden. Beide bewahren Elemente der je historisch vorangegangenen Stufe in sich auf, jene wesen in ihnen fort und prägen sie bis zu einem gewissen Grade, als Praxen und Denkformen sind die modernen Ausformungen jedoch nur in ihrem Zusammenhang mit der kapitalistischen Totalität zu verstehen.

Die Idee der Rasse entstand im 17. Jahrhundert, die zu jener Zeit praktizierte Sklaverei wurde jedoch noch nicht durchgängig ethnisch definiert. So war Sklaven die Möglichkeit, sich freizukaufen, gegeben, während andere in diesen Status der völligen Verfügbarkeit absinken konnten. Erst im 19. Jahrhundert bildete sich der Rassismus als eine geschlossene Ideologie heraus, nicht zufällig zur selben Zeit als die Proklamation der universellen Menschenrechte eine Ungleichbehandlung, wie sie den Kolonialismus kennzeichnete, eigentlich ausschloss. Die der Sphäre der Zirkulation, des Äquivalententausches korrespondierenden Ideale von Freiheit (des Vertragsabschlusses) und Gleichheit (der getauschten Waren) versperrten die Erkenntnis für die Ursachen der differenten Produktionsverhältnisse, die ökonomische Ungleichzeitigkeit wurde als natürliches Verhältnis von weißer Über- und schwarzer Unterlegenheit zurückgespiegelt. Für den produktiven Rückstand in der Peripherie wurden angeblich biologische Merkmale einer Rasse verantwortlich gemacht. Rassen wurden so nicht nur als exakt von einander abgrenzbare Einheiten bestimmt, sondern analog zur neu aufgekommenen, wissenschaftlichen Erforschung der Natur klassifiziert, bewertet und in eine Hierarchie von Dominanz und Unterordnung gepresst. Die Kolonisierten galten als minderwertige menschliche Wesen, die – geist- und willenlos wie sie waren – bis an bzw. über die Grenzen normaler Belastbarkeit hinaus als lebendige Arbeitsinstrumente ausgebeutet werden konnten. Da ihnen durch die seitens der Kolonialherren ins Werk gesetzte Zerstörung ihrer althergebrachten Subsistenzwirtschaft scheinbar jede Kultur abging und sie sich zudem logischerweise nicht freiwillig zum Markt begaben, wurden sie nicht als (Tausch-)Subjekte anerkannt, sondern auf den Status von Objekten, Dingen ohne Willen fixiert. Im Falle mangelnder Rentabilität, nachdem sie restlos ausgepresst worden waren, konnten sie als Einzelne oder Gruppe fallengelassen werden, also entweder ihrem kapitalistisch geschaffenen Elend oder den massakrierenden Bajonetten der Söldner übergeben werden.


Kultur – Alles bleibt anders

Der biologische Rassismus wurde durch den auch in den Augen der Liberalen barbarischen Nationalsozialismus diskreditiert, die nationalen Befreiungsbewegungen besiegelten in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Ende des Kolonialismus. Die rassistische Arbeitsteilung wurde zwar in Frage gestellt, jedoch nicht grundsätzlich gebrochen, die Ausbeutung der Peripherie durch die Metropolen als auch die „ethnische“ Segregation des Arbeitsmarktes innerhalb der metropolitanen Staaten (Stichwort: „Gast“arbeiterinnen) besteht fort. Der Rekurs auf Schädelgröße und angeborene Eigenschaften wurde weitgehend ersetzt durch kulturalistische Zuschreibungen, die ebenso starre, unveränderliche sind; eine Transformation, die ihren Ausdruck in den feindlichen Zwillingen des (rechten) Ethnopluralismus und (linken) Multikulturalismus findet, welche jeweils Individuen als Trägerinnen von vorgeblich autochthonen Kulturen ausmachen, darin allerdings im jeweiligen Grad der den Zwangskollektiven entgegengebrachten Sym- respektive Antipathie stark differieren.


Subjekt: schreibt zu

Im Rassismus wird wesentlich ein tierähnlicher Unmensch respektive Untermensch konstruiert, in dem die imaginierte erste Natur durchbreche. Die „Ausländerin“ sei fremd, weil sie stinke, sich selten wasche, in Vorgärten uriniere, lauthals radebreche. Sie kenne weder Etikette noch die Grenzen ihres Körpers noch könne sie ihre Körpersäfte (Speichel, Sperma, Urin) in Zaum halten. Als Folge ihrer Antriebslosigkeit, Faulheit und Dummheit müsse sie belehrt, diszipliniert und zur Arbeit getrieben werden, wo sie aufgrund ihrer physischen Vorzüge den schmutzigsten und körperintensivsten Branchen zugeteilt wird. Da archaische Traditionen pflegend und mittelalterlichen Ehrvorstellungen folgend, gilt sie als hoffnungslos unmodern und rückständig. Mit einem Wort: Die Zivilisierung ist bei (nicht-westlichen) „Ausländerinnen“ nicht gelungen, kann auch nicht gelingen, was durch die Zuschreibung einer transhistorischen Invarianz von Rasse/Kultur untermauert wird. Ihre Natur muss gezähmt werden und bleibt doch unbezähmbar, ihr Körper kann in den Dienst der Kapitalverwertung gezwungen werden, bleibt aber widerspenstig. Als „die willenlosen Objekte des Marktes, als Verkörperung des Gebrauchswertes“ erhalten sie ihre Andersartigkeit, nicht als übermächtige Agenten des Tauschwertes. Im rassistischen Bild drückt sich die Angst vor dem Durchbrechen des imaginierten Triebes, dem Kontroll- und Machtverlust, aus, Charakteristika, die der Rassifizierten zugeschrieben werden. „Da in der konstruktion des männlichen autonomen subjekts fremdbeherrschung und selbstbeherrschung ineinander verschränkt sind, geht mit der unfähigkeit (der Fremden – sdn), qua sozialer stellung macht auszuüben auch die unfähigkeit einher, sich selbst zu kontrollieren, triebverzicht zu leisten.“ . Inwieweit die verschiedenen Subjektpositionen von „männlicher“ und „weiblicher“ Rassistin auf die Zuschreibungen von Autonomie und (Ohn-)Macht rückwirken, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden .

Die ideologische Erniedrigung der Rassifizierten ist Erklärung und Bedingung ihrer realen Diskriminierung und Verfolgung zugleich, bietet zudem den Rassistinnen die Gelegenheit zur Überhöhung durch Betrachtung und Be-/Misshandlung der Stigmatisierten. Die auf der Grundlage der rassistischen Abwertung basierende, eigene Erhebung in den Rang des rationalen, fortschrittlichen, intelligenten Individuums bedeutet die Selbstzurichtung zum fleißigen, pünktlichen, kontrollierten Subjekt, welches sich bereitwillig den Imperativen der Kapitalverwertung unterwirft. Die Entwicklung der „Ausländerin“, weg vom einstigen Bild der kulturlosen Barbarin hin zur Pflegerin wertvoller kollektiver Sitten und Bräuche zeigt dabei die ambivalente Haltung der Rassistinnen gegenüber ihren Objekten an. Wie sie zwischen Verdammung und (stiller wie offener) Bewunderung schwanken, changieren sie konjunkturell bedingt zwischen Verachtung und Begeisterung für den vorgestellten Rückfall in die Natur, der Abschüttelung der Zivilisation zugunsten des unvermittelten Sozialdarwinismus. Solchermaßen ist die Möglichkeit der positiven Identifizierung gegeben, die sich im multikulturellen Einsatz für die edlen Wilden zwischen Bauchtanz und Blutrache und der daran gekoppelten Sehnsucht nach dem einfachen Leben äußert. Jene Uneindeutigkeit, die auf widersprüchliche Bedürfnisse verweist, konstatiert Lutz Hoffmann im Hinblick auf das Islambild der Deutschen: „Ihm kann man einerseits das entnehmen, woran es im deutschen Selbstverständnis mangelt, und andererseits das anlasten, was man aus der eigenen Welt entfernt sehen möchte. Ob man seinen gläubigen Eifer, sein Frauenbild, sein Unverständnis für die westliche Demokratie, die Genügsamkeit seiner Menschen insgeheim gern nachahmen möchte, oder ob man in ihm das bekämpft, womit man hierzulande selbst nicht ins Reine kommt, lässt sich oft schwer ausmachen.“ .


Antisemitismus: Uralt-moderner Rundumschlag gegen die Moderne

Wo die rassistische Stigmatisierung gelegentlich Ambivalenzen hervorbringt, setzt der Antisemitismus eine strikte Dichotomie von Gut und Böse. Nicht einen Teil der Realität, die ganze Welt beansprucht er mittels eines simplen Dualismus, als Kampf zweier Prinzipien, zu erklären. Als strukturelle Paranoia belehnt der Antisemitismus das Objekt, degeneriert zur Requisite, mit der Innenwelt des Subjekts, woraus sich eine Beziehung ähnlich der Katze, die ihren eigenen Schwanz jagt und sich dabei immer wilder im Kreise dreht, ergibt: überall dort, wo die Antisemitinnen die Jüdinnen ausfindig machen, sind sie schon selbst, ohne es zu bemerken, und steigern sich ob dessen scheinbarer Omnipräsenz immer mehr in ihrem Furor. Durch die 360°-Projektion kann „der Jude“ als Drahtzieher hinter beinahe jedem Übel ausgemacht werden: Kapitalismus und Kommunismus, Wallstreet und Moskau, Reform und Revolution, Gottlosigkeit und frommstem Glauben, archaischer Vergangenheit und entferntester Zukunft. All jene Aspekte der Moderne, die als negativ, bedrohlich empfunden werden, werden abgespalten und dem bösen Willen des Anti-Volkes zugewiesen. Der Antisemitin verlangt es nach dem Paradoxon einer bürgerlichen Gesellschaft in Harmonie, ohne Konkurrenz und Krise, die nicht realisierbar ist, was aber unverstanden bleibt, weswegen in den Jüdinnen – traditionell in der Zirkulationssphäre verortet – die unvorstellbar machtvolle, weltweite Regentschaft des Kapitals personifiziert wird. Ideologisch nimmt die Antisemitin „die Position des konkreten Gebrauchswerts ein und personifiziert den Tauschwert, der ihn (sie) als stummer Zwang überwältigt, in Gestalt des Juden“ . Der Tauschwert mit seinem unerbittlichen Gleich um Gleich befördert realiter die Auflösung der traditionalen Kollektive und Institutionen, was das fetischisierte Bewusstsein in nochmaliger fetischisierter Verzerrung den Jüdinnen als Verschwörung mit dem Ziel der Profitmacherei mittels der Volkszersetzung zuschreibt. Als Raffgierige strebten sie nach einer materialistischen Orientierung, die jegliche höhere Werte außer Kraft setze; als Entwurzelte beförderten sie einen universalen Kosmopolitismus und als Individualisten trieben sie die egoistische Orientierung voran. Sie stehen für Besitz ohne Arbeit, perverse Sexualität und destruktive Intellektualität. Nicht zu viel Natur, nein, zu ein Übermaß an Zivilisation wird ihnen zum Vorwurf und zur Legitimation für den Massenmord gemacht.

Als Platzhaltern kann in meist kurzatmigen Kampagnen - die in der Regel aufgrund der aus historischen Gründen weniger geeigneten Vorstellung einer solcherlei gearteten allumfassenden Subversion nicht tödlich enden - auch Drogenhändlerinnen, Schleuserinnen, Sozialhilfeempfängerinnen das zuallerst den Jüdinnen attribuierte Element der Negation, die Zerstörung gesunder Kollektive attestiert werden.

Die rigide Abwehr der Antisemitinnen bleibt immer zugleich von einer untergründigen Faszination geprägt, die aber selten offen gelegt wird. Der Philosemitismus, in seiner übereifrigen Bewunderung für das Andere dem multikulturellen Diskurs strukturell vergleichbar, ist selten anzutreffen und zudem meist taktisch, im Sinne von Schuldabwehr, motiviert. Die Nähe zum Feind als Folge des Zusammenschießens widersprüchlichster Bestrebungen bleibt in der Regel uneingestanden, wird nicht zugelassen und darum umso intensiver bekämpft. Otto Fenichel formuliert: „Im Unbewussten der Antisemiten verkörpern die Juden gleichzeitig das, wogegen sie gern rebellieren möchten, und die rebellische Tendenz in ihnen selbst.“. Die Jüdinnen stehen in einem für die von der Macht versprochenen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Mobilität und Glück und die von der Macht abgeforderte Unterdrückung und Disziplinierung. An ihnen wird „projektiv totgeschlagen, was der Antisemit insgeheim an sich selbst verachtet und wonach er sich unbewusst sehnt“ .

Der Doppelcharakter des Antisemitismus offenbart sich etwa in der Beziehung zur Herrschaft: einerseits besteht die Furcht vor der Übermacht des kalt berechnenden Strippenziehers, der das Schicksal der Welt in seinen Händen hält, andererseits wird die Omipotenz begehrt, die fröhlich-gruselnd der „jüdischen Weltverschwörung“ angelastet wird. Aus den widersprüchlichen Regungen heraus begründet sich die Möglichkeit und Notwendigkeit der konformistischen Revolte, der Aufstand gegen die Autorität im Namen der Autorität, die den Kreislauf der Gewalt und Unterdrückung auf ewig stellt.


Spotlight: Sexualität und Geschlecht

Um das Auseinanderklaffen von Rassismus und Antisemitismus zu beleuchten hilft ein Blick auf die Art, wie vermeintlich jüdische und ausländische Sexualitäten und Geschlechterverhältnisse rezipiert werden. Beide werden auf verschiedene Weise als abweichend vom bürgerlichen Ideal der monogamen Zweierbeziehung empfunden.

Das angeblich typische Modell afrikanischer und arabischer Gesellschaften – die patriarchal strukturierte Großfamilie – werde von Migrantinnen nach Europa importiert, ihre Rückständigkeit wird in Bildern von verschleierten Frauen und schnurrbarttragenden Männern veranschaulicht, die tyrannengleich ihre Angetrauten unterjochten und in der häuslichen Sphäre einsperrten . Neben dem in einsamen Gassen und dunklen Parks lauernden fremdländischen Vergewaltiger existiert das Imago des potenten, muskulösen Schwarzen, dessen überlegene Position sich jedoch nicht aus seinen raffinierten Verführungskünsten, sondern einzig aus seinem Körper, mithin der Natur, speise. Dieser „Hengst“ wird wegen seiner Ausdauer und Hemmungslosigkeit von weißen Männern zugleich beneidet wie gehasst, da seine unterstellte Anziehung auf einheimische Frauen potentiell die Reproduktion der Nation gefährdet. Eine ähnliche Doppelstellung kommt der verführerischen Orientalin zu, die ob ihrer geheimnisvollen, naturverwandten Fremdheit interessant-anziehend und unheimlich-bedrohlich erscheint. Gern wird die exotische Erotik in räumlich und zeitlich klar definierten Portionen – Thailandurlaub, Bordell, Karneval in Rio – konsumiert, trifft hier doch das Ausleben geheimer Fantasien mit der unbeschränkten Macht über die Anderen zusammen; je nach Konjunktur kann der Genuss der Differenz in diffuse Bedrohungsgefühle bis hin zum Pogrom umschlagen.

Auf der Seite der weiblichen Jüdin finden sich zwei divergierende Figuren: die schöne Jüdin, intellektuell und verführerisch, sowie die dominante Emanze, breitbuckelig und hässlich, die ein rigides Regiment über ihren Mann etabliert hat. Vor allem jedoch sprechen die Antisemitinnen von den von ihnen gemachten jüdischen Männern, denen sie eine immerwährende Geilheit unterstellen. Der überbordende Lusttrieb, der keine moralischen Grenzen kenne, gehe einher mit „schwächlicher Impotenz“ : immer wollen, nie können. Befriedigung könne der rastlose Jude weder finden noch geben, ein Umstand, der seiner schlechten körperlichen Verfasstheit, die an die weibliche Statur gemahnt, und vor allem seinem beschnittenen, quasi künstlich verstümmelten Penis angelastet wird. Sein Charakter und seine Physis verweichlicht, verweiblicht, eindeutige Zuordnungen verwischend, seine Sexualität entfremdet, abnormal – seine Gesamterscheinung wird als die eines vom Ursprung abgeschnittenen, dekadenten Androgynen gezeichnet, dessen Perversion die organische Zusammensetzung des Volkskörpers zu zersetzen drohe.

Während der kraftvolle Exot unbedarft rammelnd ein Kind nach dem anderen in die Welt setzt, bleibt die Sexualität des Juden folgenlos, unproduktiv. Aus Natur entsteht neue Natur, aus Nichts eben – Nichts. Kann der Trieb des „Ausländers“ bei aller Gefahr von Überfremdung und Verunreinigung, die von der ständig wachsenden Nachwuchsmasse ausgeht, noch unter Umständen, sorgsam eingehegt, in Form von billigen (Sex-)Arbeitskräften nutzbar gemacht werden, ist an dem Juden nichts, was gerettet werden könnte. Seine Missachtung von althergebrachten Grenzen, seine Verwischung der Dichotomie von männlich und weiblich, seine Lust an Verkleidung und Travestie befördert Falschheit und Unsicherheit und muss als Gefahr für den Bestand des Volkes erkannt und gebannt werden.


Nicht alles anders, aber manches schlimmer ...

Während die Rassistin fremde Völker, die sich offensichtlich als Masse zusammenrotten und zum Sturm auf das Abendland blasen, zu sehen glaubt, erzählt die Antisemitin von den geheimen Weltenlenkern, die sich in anonymen Logen, auf transnationalen Meetings absprechen, aber kein Volk bilden, nur von egoistischer Raffgier und abstraktem Recht zusammengehalten werden. Können und müssen die Rassifizierten zur Arbeit erzogen, gezwungen werden, zu der sie von Natur aus in der Lage aber nicht willens sei, so seien die Jüdinnen aufgrund ihrer schwächlichen Konstitution und ihrer Verachtung des Gebrauchswertes weder bereit noch fähig zur körperlichen Betätigung. Zwar lieferte und liefert der Antisemitismus neben seinen „Verdiensten“ um die Konstitution von Subjekt und Nation als homogen und dauermobilisierbar die Basis für Arisierungen und die Verdrängung unliebsamer Konkurrentinnen aus dem Wirtschaftsleben, doch bilden die aus ihm gezogenen ökonomischen Vorteile nur eine Randerscheinung. Der Drang zur Elimination, der in Rassismus für gewöhnlich (nicht: stets ) von dem Verlangen nach Erniedrigung, Abschiebung oder Ausbeutung überlagert wird, ist Wesensmerkmal des modernen Antisemitismus, der dem Wahn aufsitzt, sich gegen eine jüdische Weltherrschaft erwehren zu müssen. Migrantinnen werden in der Regel ob ihrer angeblich zu stark präsenten Natur zur Zielscheibe, womit aber auch die Möglichkeit zur Niederhaltung oder korrekten Einbettung der „Natur“ z. B. durch Abschiebung in das „Heimatland“ oder zumindest ein „monokulturelles“ Ghetto besteht. Dagegen genügt es nicht, das perfide Überzivilisierte der Jüdinnen in seine Schranken zu weisen, die gekoppelten Perversionen der Macht („globale Konspiration“), des Wertgesetzes („Geld zu Geld“), der Sexualität („impotenter Vergewaltiger“), des Denkens („zersetzen“) können nicht für das „gesunde Volk“ eingespannt werden, sie müssen ausradiert werden. Die angenommene Gefährlichkeit der Jüdinnen, die sich aus den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften in Verbindung mit ihrer halluzinierten Weltverschwörung ergibt, gibt die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Raserei der Antisemitinnen an die Hand, die die Exzesse des Rassismus (Krieg, Pogrom, begrenzter Genozid...) übersteigt, Amok läuft bis hin zur projektierten globalen Judenvernichtung unter völliger Absicht des Selbsterhaltungsinteresses und kapitalistischer Rationalität.

Den Rassifizierten wird nach dem Motto „Eure Ohnmacht kotzt uns an“ ihre Unterlegenheit angekreidet, um sich selbst als autonom und handlungsfähig zu inszenieren, eine angesichts des stummen Zwangs der Verhältnisse, dem das bürgerliche Subjekt selbst ausgeliefert ist, brüchige Illusion, da die projizierte Ohnmacht im Grunde die eigene ist und die beschränkte eigene Macht auf der Ohnmacht (Ausbeutung) der Anderen beruht. Deswegen bedarf das Subjekt der Jüdinnen als einer Projektionsfläche absoluter Macht, in der sich das nur notdürftig unterdrückte Bewusstsein der vollkommenen Nichtigkeit mit den daraus resultierenden Omnipotenzfantasien mischt. Der gegenseitigen Bedingtheit kommt neben ihrer objektiven, auf den Erhalt des Ganzen zielenden auch subjektive Notwendigkeit zu, indem dem Subjekt ermöglicht wird, sich „als Durchschnittsmenschen, als einen Menschen des unteren Durchschnitts, im Grunde als Mittelmaß“ wahrzunehmen und so einen funktionalen Extremismus der Mitte zu pflegen, der die der bürgerlichen Gesellschaft wesenhaft eigene Gewalt legitimiert und verschleiert. „In der Nation findet das Subjekt zu sich selbst: es kann sich darin rassistisch abgrenzen von denen, die ihm minderwertig und naturhaft erscheinen, um sich einzubilden, auf der Höhe des Werts zu sein, und sich antisemitisch befreien, sobald es angesichts des real sich behauptenden Werts doch auch die Zeichen von Minderwertigkeit und Naturhaftigkeit an sich selbst wahrnehmen muss.“ .


Disclaimer

Mit dem vorliegenden Modell können weder Mischformen wie der Antiziganismus, tendenziell auf Vernichtung zielende rassistische Praxen wie der Genozid an den Armeniern noch die deutschen Eigenheiten umfassend erklärt werden, es kann lediglich als grobes Raster Geltung beanspruchen, welches der individuellen Situierung bedarf. Ohne eine Reflektion auf die basalen Prinzipien moderner kapitalistischer Vergesellschaftung bleibt die Analyse und Kritik historischer Spezifika jedoch ohne Bezugsrahmen, der Einzelfall - ob aufgebläht oder verharmlost - schiebt sich vor die Erkenntnis der Dimensionen der Gewalt und reproduziert darin unbeabsichtigt, was gerade Objekt der Kritik sein sollte: herrschaftsförmige Ideologie.

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