am anfang bin ich nur am ende bin ich nur ich selbst

für mama und veli


Nachdem sich die Hamburger Band durch das Neuwerk "Tocotronic", bestehend aus lyrisch-verquasten Assoziationsketten, in Richtung Beliebigkeit und bürgerliches Feuilleton verabschiedet hat, sieht sich die geneigte Hörerin zunächst bedröppelt im Regen stehen. Konnte man die Grundtendenz der positiv-zynischen Resignation in KOOK, der wir uns ja alle zeitweilig hingeben, noch als überbetonte, aber durchaus existente Facette des beschädigten Lebens akzeptieren, so offenbart sich nach "Tocotronic", dass die Überbetonung leider Setzung einer neuen Maxime war. Aus der Resignation folgt das Sich-Einrichten im Zustand. Kurz: Die Tocos sind erwachsen geworden. Wer in der Band immer nur den post-pubertierenden Quengelgymnasiasten sah, wird befriedigt sein: Den an sich notabelen Verskonstrukten wichen die als plakativ halluzinierten Empörungsschreie. Entgegen aller Kritik waren diese aber immer mehr als bloße hingerotzte Phrase. In einer Kulturwelt, in der das Werk durch jede Pirouette, jede Arabeske einen schwindeligen Schritt weiter vom Innersten entfernt wird, bewahrte sie zu aller erst eines: Essenz. Während die Welt der Erwachsenen die Affekte organisiert, funktionalisiert und abstumpft, so ist doch die Pubertät, abseits allen Biologischen, der letztendendes sicher zu verlierende Kampf gegen die Zwangsjacke der Norm. Das unbedingte Bestehen auf das Begehren und der Lust ist das Kennzeichen der Jugend. Und eben dieses wurde in den Liedern von Tocotronic so treffend ausgedrückt. Die ständige Entrüstung über eine Welt, die dem verlorenen Individuum immer wieder das eigene Elend vorlacht und zum Einstimmen ins Getöse auffordert, transportierte so viel Wahres, wie es nur wenigen Rockgruppen gelang. Vielleicht ist es zu viel verlangt, wahrscheinlich ist es gar nicht machbar, dass eine solche Stellung bei den hiesigen Integrationsmechanismen bewahrt wird.

Nichtsdestotrotz empfiehlt es sich, die ersten 4 Alben nochmals Revue passieren zu lassen, um die wichtigsten Elemente für die Zukunft zu bergen und vielleicht den ein oder anderen Eindruck neu zu gewinnen. Zu Beginn des Werkes steht die mit etwas Garagen-, oder sagen wir Übungsraumcharme behafteten Scheibe "Digital ist besser", welcher dann wenig später die Lang-EP "Nach der verlorenen Zeit" nachgeschoben wurde. Es folgt die durch lange Gitarrensoli beschwerte "Wir kommen, um uns zu beschweren", um dann in der durch Streichersätze gelichteten "Es ist egal, aber" zu enden. Zufall oder nicht, ist das erste Stück ("Freiburg") der ersten, so wie das letzte Stück ("Nach Bahrenfeld im Bus") der letzten LP besonders interessant. Beide stehen paradigmatisch für die gesamten 4 Alben, die gesamte Substanz von Tocotronic überhaupt. Denn von ihnen entspinnt sich von hinten wie von vorne ein Deutungsmuster, durch welches in der klobigen Phrase ein höchst fragiler Wesenskern hervorschimmert. Zwischen Freiburg und Bahrenfeld existieren viele sichtbare und versteckte Verbindungen, sie laufen parallel und bilden einen Rahmen. Um diesen zu erfassen und dann später zu einer Gesamtdeutung zu kommen, empfiehlt es sich, die beiden Stücke erst einmal einzeln herauszuarbeiten.

Obgleich nicht das erste Stück der Tocos, hebt das erste Album mit dem Stück "Freiburg" an: Der bloße Name der Stadt als Songtitel erinnert beim Lesen des Covers vor allem an lokalpatriotische hymnische Blödsinnigkeiten, wie man sie vom Punk ("St. Pauli Boys" von den Goldenen Zitronen), vom HipHop ("Westcoast - Eastcoast") und aus der Volksmusik ("Schönes Tirol") kennt. Es fällt allerdings, schon ohne die CD-Hülle öffnen zu müssen, ins Auge (mal abgesehen von dem schweinchen-rosa), dass der Name Freiburg allein steht, kein Attribut, keine Beschreibung, keine Eingrenzung: Hier geht es um Grundsätzlichkeiten. Und mehr muss zu dieser Stadt tatsächlich nicht gesagt werden. Mit einer fast überverzerrten Gitarre beginnt das Stück, die einzelnen gespielten Saiten verschmelzen zu einem dröhnenden Klanggemenge, bis dann schleppend das Schlagzeug einsetzt. Was für die Instrumente gilt, gilt auch für den Gesang; jeder Ton, jeder Vers verlangt eine neue Überwindung, aus den Strophen dringt eine nahezu unheimliche Müdigkeit, die dann durch den Text konterkariert wird: "Ich weiß nicht, wieso ich Euch so hasse". Der Hass, eigentlich eine emotionsgeladene Anklage, wird sofort mit einer eigentümlichen Note versehen: “Ich weiß nicht wieso“. Hier wird und wurde reflektiert, hier wurde versucht und abgewogen, aber man kam einfach zu keiner Lösung: Es ist wahrhaftig so. Nur mischt sich zum Hass nicht der revolutionäre Gestus des Umsturzes, sondern eine bittere Müdigkeit, die durch die Intonierung vermittelt wird: Der Sänger liefert kein monolithisches Bild mit klarer Forderung, er ächzt, wirkt verschnupft und gebrochen.

Was dann so merkwürdig verabscheut wird, ist noch erstaunlicher: Es handelt sich nicht um Kapitalisten (Punk), Konkurrenzrapper (HipHop) oder Juden (Volksmusik), sondern lediglich um die „Fahrradfahrer dieser Stadt“. Dies scheint eine relativ willkürliche, wenn nicht unpassende Abstraktionsgruppe zu sein, war doch das Fahrradfahren meistens die Fortbewegungsmöglichkeit derer, die sich kein Auto leisten konnten oder wollten.

Klarer wird das Ganze, wenn man ein wenig über das Freiburger Gemein(de)wesen Bescheid weiß: Nicht nur, dass Freiburg für die meisten der Bewohner die schönste und netteste Stadt überhaupt ist, bei aller Kleinbürgerlichkeit herrscht auch das Regiment des Alternativen bis zum Tode: Es existieren zig Waldorfschulen, ein Maklerbüro, welches Häuser je nach Lage und Position zu „kosmischen Strömen“ anbietet, Regale voller probiotischer Kost vom persönlich bekannten Schwarzwaldbauern und alternde BarfußtänzerInnen im Rockkeller.

Prinzipiell schein die Schuld an diesem Sumpf der Toleranz an den gründlichen Zivilisierern dieser Republik, sprich den 68-ern, zu liegen. Einige Stadtteile sind bevölkert von ehemaligen Hausbesetzern, die ihre Stories nun als LehrerInnen unters Volk bringen. Dort dringt auch aus jedem der Fenster nachmittags der bildungsbürgerliche Terror, ausgeübt von Mutter und Sohn durch Duette an Klavier und Geige/Flöte; zu den sphärischen Klängen gesellt sich seinerseits der Qualm von Räucherstäbchen, der aus den Esoterikläden und Wollkleidermärkten durch die Straßen zieht und verdickt sich in der Atmosphäre der Stadt zum grünen Mief. In Mitte 50er-WGs fühlt sich das gesamte Haus für die Beziehungsprobleme einzelner verantwortlich, kurz: Akzeptanz schlägt um in Penetranz.

Die Verbindung zu dem Tocotronic-Lied stellt sich nun wie folgt dar: In dieser Stadt trägt jeder seine selbstvergötternde Einstellung vor sich her. Fahrradfahren oder Backgammonspielen sind hier nicht einfach eine Beförderungsart oder eine nette Beschäftigung, sondern immer „Lebensart“ oder „Lebenseinstellung“. All das ist nicht nur extrem nervig, sondern auf seine Art repressiv. Es wundert also nicht, wenn sich der Sänger angesichts dieser Community von kultig-bewussten Menschen, die jedem ihren Todeskuss der allumfassenden-besserwisserischen Seichtheit aufdrücken will, “alleine“ weiß und es bei diesen Dummklumpen letzten Endes auch sein will und es cool findet.

Trotzdem stellt sich die grüne Gruselfront so unbedingt demonstrativ „verbrüdert“ dar, dass der pathetische Aufschrei der matten Müdigkeit weichen muss. Zwar scheint der Protagonist im Instrumentalzwischenteil endlich Atem zu holen, um dann während der dritten Strophe nochmals kurz für seine wahrhaftige Empörung Kraft zu sammeln, doch versiegt auch dieser Versuch in dem elendstraurigen, verletzten, letzten „Verbrüderung“. Hier ist keine Mobilisierung mehr möglich, es bleibt nur noch die innere Immigration, die Stadt ist ein Ort der Flucht vor der Realität, Freiburg ist eine Fluchtburg.

Ganz anders und doch gleich steht es mit Bahrenfeld.

Anstatt des düsteren verzerrten Em-Akkordes von „Freiburg“ beginnt das andere Ende der Spange mit einer offen und klar wirkenden D/Am-Folge. Sanft und einfühlsam baut sich eine beruhigende Melodie auf, welche den Verlauf des Liedes durch Laut-Leise-Variationen ankündigt. Während man bei „Freiburg“ abrupt ins feindliche Terrain geworfen wurde, findet hier eine freundschaftliche Hinführung statt.

Und Freundschaft ist es auch, von der das Szenario ausgeht. Gänzlich verschieden vom ersten Stück, handelt es sich um die sicherste aller Situationen: Ein Gespräch in einer Freundschaft oder Liebe. Hier kann sich der Sänger völlige Offenheit und Verletzlichkeit leisten, wovon er auch Gebrauch macht.

Die Seele wurde gequält, jetzt die Bitte an einen Herzensmenschen: „Halt mich fest, ich glaub, ich brauch das jetzt“; dann ein weiteres Verlangen, das beim ersten Hören (zumindest in dieser Situation) doch recht komisch wirkt: “Kauf mir ein Bier“. Erklärbar wird diese Forderung, weiß man über „Bier“ als Symbol im Tocotronic-Werk Bescheid: So ist der Hopfen-Saft immer Metapher für ein ehrliches Zusammensein in Freundschaft. Nicht nur die Coverbilder von Tocotronic übermitteln diese Botschaft. Auch in dem Lied „Hamburger Schule“, in der es Bier als Pausenbrot gibt und die Mitschüler ganz freundlich sind, wird sie transportiert. Als mit der Punk- wie mit der Arbeiterwelt verbundenes Getränk steht es für Klarheit, die keine Anstrengung und Aufgesetztheit verlangt. Es wird also diese Freundschaftsleistung in Anspruch genommen, was durch die Aufforderung nach einem Geschenk („Kauf mir“) unterlegt wird. Wie in Freiburg kommt es aber auch hier zum Bruch. Das Bier (ergo freundschaftliches Zusammensein) soll bei sich daheim getrunken werden, eigentlich ein Widerspruch. Der Sänger will sich der unbedingten Freundschaft, die er in dieser Situation braucht, versichern, trotzdem kann er die Probleme und den Schmerz in letzter Instanz nur mit sich selbst vermitteln.

Interessanterweise geht der Bus nach Bahrenfeld, laut Aussage von Tocotronic in einem Interview „a boring part of Hamburg“. Dieser Stadtteil ist das perfekte Vorzeigebeispiel eines deutschen Normaloquartiers. Während Freiburg die nördlichste Stadt Italiens, Öko-, Fahrrad-, was weiß ich noch-Hauptstadt sein will und sich somit bei aller realen Spießigkeit in jeglicher zwangsalternativen Besonderheit suhlt, repräsentiert Bahrenfeld eine zwar ebenso wenig erstrebenswerte kleinbürgerliche Einfachheit, die den real-existierenden öden deutschen Zuständen allerdings keinen Zuckerguss verpassen will.

Nach Bahrenfeld im Bus (nicht „Nachbarin fällt im Bus“) verabschiedet sich der Sänger in der Sicherheit der Freundschaft, vermutend, dass ihre wohlige Geborgenheit in der widerwärtigen Entourage bestenfalls eine Auszeit sein kann. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Die Falschheit und Rohheit des Zustandes wird dann durch das mit der freundlichen Melodie des Anfangs kontrastierende Klangwirrwarr des Endes untermalt. Bahrenfeld ist Flucht in die Realität.

Die Flucht also bildet das verbindende Moment beider Lieder. Zu ihr ist das Subjekt gezwungen. Im Gegensatz zum Herausproleten von Aktivismusbeschwörungen versenkt sich die Musik von Tocotronic im Bewusstsein der eigenen Angst und Schwäche. Dass dabei keinerlei organisierte, mit Stoßrichtung behaftete, gar dezidiert politische Aussage fabriziert wird, mag manchen enttäuschen. So entweicht Tocotronic doch jeglicher auf konkreter Veränderung bedachter Anstrengung. Sei es innerhalb der Freundschaft, sei es in feindlichem Umfeld, das Lyrische Ich erblickt einfach keine Anschlussmöglichkeit, da sich jede Hingabe an eines der beiden Felder (auch im Hinblick auf deren Aufhebung) nur der Verwischung der Wahrheit und der Überspielung der Verletzlichkeit schuldig machen würde.

Genau dieses ist natürlich auch in dem oftmals missverstandenen Song „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ Thema. Einerseits wünscht sich der Sänger nichts sehnlicher, andererseits erfolgt durch Parodie und Überdrehung zugleich die Bewusstwerdung der Unmöglichkeit und Unwahrhaftigkeit eines solchen Unterfangens.

Dadurch, dass dem „Halt mich fest“ nach nur kurzer Zeit das „Ich bin dann gern allein“ folgt, entpuppt sich eine tiefe Gebrochenheit, die das Hauptmotiv aller (frühen) Tocotronic-Liedern darstellt. Obwohl dezidiert gegen die politische Aktion, bietet dieses mehr revolutionäre Klarheit, als so manches kommunistische Programm. So wird die Eingliederung in ein Kollektiv, welches in unseren Zeiten ja bisweilen autoritäre bis wahnhafte Züge annimmt, von vornherein kategorisch ausgeschlossen. In einer Zeit, in der sich der wildeste Haufen nur allzu schnell zur stampfenden Parade transformiert, ist die Aussage von Tocotronic besonders wichtig. Folgt man doch dem Reflex eines jeden politischen Menschen, jegliches Stück Kunst nutzbar machen zu wollen, stürzt man sich in ein verwirrendes Geflecht: Es ist, wie schon vermutet, deprimierend, da die Aussagen der Band eine Sache tatsächlich nicht tun: analysieren. Eine kausale Herleitung der Entrüstung, die theoretische Tiefe aufweisen könnte, ist den Liedern an sich schwerlich abzugewinnen. So bleibt doch beispielsweise die Beschaffenheit des verletzenden Kollektivs im Dunkeln. Ohne alles gleichmachen zu wollen, hat die in den Songs formulierte Anklage überall Geltung, sei es in Sossenheim, Berlin, Nashville, Los Angeles oder Kronstadt.

Dem schließt sich dann auch die zweite Lieblingsbeschäftigung „der Politiker“ an, die mit Tocotronic nicht zu machen ist: das Taktieren. Durch die überbordende Subjektivität ist ein Bezug auf eine Zwischenetappe, ein Durchlaufprojekt oder ein irgendwie geartetes „kleineres Übel“ nicht vorstellbar. Restlos alle Zustände, in denen ein Zwang vorherrscht, sind zu stürzen; die kleinste Existenz von Zwang denunziert schon ihr Bestehen. Interessanterweise kommt hier unvermutet ein wohlbekanntes, durchaus politisches Bild wieder zur Hintertür herein, nämlich der bis zur Entleerung zitierte, aber selten ernstgenommene kategorische Imperativ von Marx: “alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, oder, ausgedrückt im kategorischen Imperativ von Tocotronic: „Es gibt nur cool oder uncool und wie man sich fühlt“ (aus Ich mag Dich einfach nicht mehr so).

„Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihr wesentliche Arbeit ist Denunziation“: auch diese Marxschen Bestimmungen von Kritik, gerade was die Indignation angeht, werden von Tocotronic heute gewissenhafter vertreten als von vielen KommunistInnen, die sich in kalter Abgeklärtheit über den Gang der Verhältnisse üben. So entfaltet die Musik von Tocotronic, die der Welt ihre eigene Melodie vorsingt, durch das aus der kalkulierenden Politik vertriebene Bedürfnis nach unmittelbarer, persönlicher Glückseligkeit selbst noch in ihrem resignierten Schwermut eine revolutionäre Frische. Dass dem so ist, spricht nur für die Jämmerlichkeit unserer Zeit und mit ihr des Projekts der Befreiung. Man könnte sich fragen, ob eine solche Position, die sich gegen die Einebnung des Lebens und seiner Widersprüche stellt, die momentan revolutionärste ist. Wenn man so will, ist das Frühwerk von Tocotronic die empörte Begutachtung des Verhängnisses, welches unser Leben und seine Möglichkeiten umgibt.

„Ich bin alleine, und ich find es sogar cool“. Selbstverständlich ist dies provozierend und unausstehlich. Selbstverständlich klingt hier schon eine Resignation an, die sich in den späteren Alben fortpflanzt und umschlägt. Selbstverständlich ersäuft sich das Subjekt so gewissermaßen in sich selbst. Selbstverständlich wird hier auch ein Stück weit Stilisierung betrieben.

Aber vergessen wir doch nicht:
„…und Ihr demonstriert Verbrüderung.“


Tilman Vogt