leiden am selbst

versagt zu haben, nichts zu taugen, ‚überhaupt nichts auf die reihe zu bekommen', unnütz zu sein, ‚alles zu verpeilen', schuldkomplexe - gefühle wie sie uns als einzelne immer wieder einholen. wir fühlen uns in irgendeiner form schuldig. schuldig weil wir ‚schlecht' sind, unsere existenz, unsere handlungen und zuletzt auch unsere gefühle. warum fühle ich mich schlecht? ich vermag meinem ideal von mir selbst nicht gerecht zu werden, ich habe nicht mithalten können mit meinen mir selbst auferlegten normen - wieder bin ich erst um 12.oo uhr aus dem bett gekommen, dabei wollte ich doch um 10.oo uhr in die vorlesung, aber als um 8.oo uhr der wecker geläutet hat, da habe ich mich noch so wohl gefühlt im bett... und doch will ich eine fleißige und erfolgreiche studentin sein - aber wieder einmal habe ich versagt, bin ich meinen selbstgesetzten zielen nicht gerecht geworden. mein schlechtes gewissen quält mich, wieder habe ich die seite an mir ‚rausgelassen' die ich unter kontrolle halten wollte, die auf keinen fall hätte die überhand gewinnen dürfen. damit bin ich vor mir schuldig geworden, ich habe meine regeln gebrochen, meine gesetze verletzt - ich leide, leide an meiner ‚unfähigkeit', an mir selbst.

warum leiden wir an uns selbst? die antwort scheint zunächst auf der hand zu liegen: ich bin schlecht, weil ich es nicht vermag, eine norm einzuhalten, die für meine existenz essentiell zu sein scheint, weil ich nicht vermag, die mir selbst gesetzten ziele zufriedenstellend zu verwirklichen. aber was bedeutet ‚zufriedenstellend zu verwirklichen'? wann bin ich mit dem zufrieden was ich leiste? wer gibt den maßstab, der mir anzeigt ‚jetzt ist gut'? wer definiert meine handlungen als ‚gut', ‚erfolgreich', ‚mißlungen' oder ‚unnütz'? um antworten auf diese fragen zu erhalten, bedarf es umwegen die zunächst nichts mit diesen fragen gemeinsam zu haben scheinen, aber vielleicht werden wir gerade auf um- und nebenwegen einer antwort näher kommen.

die weise in der wir die welt erfahren und uns auf sie beziehen, findet durch sprache und zeichen statt. als faktisch in einer gemeinschaft gegeben, ist für die einzelnen die erfahrung der welt, erfahrung ihrer in einer gegebenen sprach- und zeichenmatrix. beschreibungen über die welt erfahre ich nur in eben jener spezifischen matrix der gemeinschaft. allein durch deren annahme vermag ich meine erfahrungen begrifflich auszudrücken, meine gefühle zu vermitteln und meine wünsche zu explizieren. überhaupt erst dadurch, dass ich mich dieser sprach- und zeichenmatrix bediene, vermag ich mich den anderen zu vermitteln, allein in dieser weise können sie mich erfahren und meine ausdrücke begreifen. wenn meine existenz erst in diesem moment gewiss wird, in welchem mich die anderen erfahren, dann gewinne ich erst existenz in einer sprach- und zeichenmatrix. existieren bedeutet, die praktiken dieser matrix zu beherrschen. um meiner existenz willen bedarf es der unterwerfung unter diese praktiken, und dass ist die beherrschung von sprache und zeichen. dieser beherrschung kann ich mich nicht entziehen, jeder versuch mich außerhalb dieser sprach- und zeichenmatrix zu bewegen, würde meine existenz vernichten, sie wäre mein tod.

die kommunikationsbeziehungen in dieser sprach- und zeichenmatrix zentrieren sich um einen hegemonialen pol. er vermag es, die sprach- und zeichenlandschaft nach seinen normen zu gliedern und damit die handlungen der einzelnen zu strukturieren. dieser hegemoniale pol erschließt sich, wenn wir die tatsächlichen vergesellschaftungszusammenhänge betrachten. im kapitalismus sind die einzelnen gesellschaftsmitglieder aufs engste miteinander verknüpft durch ein system abstrakter arbeit, diesen punkt hat marx in seiner analyse deutlich gemacht. der kapitalistische arbeitsbegriff ist kein leerer, in seiner bestimmung enthält er immer schon bestimmte normvorstellungen, sie entspringen dem produktionsprozess. dessen dynamik wird vom arbeitsbegriff einverleibt, den einzelnen als dessen natürliche substanz vermittelt. produktivität, effektivität und nützlichkeit - die imperative der rationalität sind unauflöslich mit ihm verbunden, verschmolzen zu einer starren einheit. als grundlage menschlicher lebensvollzüge gestaltet der entfaltete arbeitsbegriff die natur gesellschaftlichen seins. als scheinbar naturgegebenes moment menschlichen lebens strukturiert er alle lebensvollzüge, die biographie der einzelnen fließt auf das arbeitsleben hin und von diesem ab. kindergarten, schule, studium sind elemente der zurichtung, noch als rentner bestimmt sich menschliches sein aus dem längst hinter sich geglaubten arbeitsleben. arbeit bildet den zentralen punkt in der Biographie menschlichen lebens, ihr begriff ist ein normativer: die unerbittliche forderung nach rationalität. diese norm bildet den hegemonialen pol um welchen herum sich unsere sprach- und zeichenmatrix zentriert. die gängigen ausdrucksfiguren von sprache und zeichen sind so bestimmt, dass sie sich in abstand zu diesem pol bestimmen. beschreibungen wie ‚gut' und ‚erfolgreich' zeigen die erfüllung dieser norm an, ‚schlecht' und ‚unnütz' zeugen von der abständigkeit zur norm. beherrschung der sprach- und zeichenpraktiken bedeutet die fähigkeit zu qualifizieren, zu qualifizieren nach einer hegemonialen norm die als solche nicht offen in erscheinung tritt. denn sie ist keine prahlerische, öffentliche, sich zur schau stellende, sie ist schleichend und heimtückisch. sie tritt nicht einmal als norm in erscheinung, denn gleichsam als natürlich ist sie in sprache und zeichen eingelassen. norm, sprache und zeichen verschmelzen zu einer einheit, daraus resultiert ihre tücke. denn auf diese weise wird die norm total, kennt sie kein außen mehr, keinen schlupfwinkel in den ich mich noch vor ihr verkriechen könnte; sprache- und zeichen vermag ich nicht abzuhängen, ich nehme sie mit an all die orte, die mir sonst zuflucht gewährt haben, es gibt kein räumliches entrinnen. ebenso gibt es kein abstoßen der norm um mich derart in ein außen zu flüchten, denn wie wir gesehen haben, bedarf ich der sprach- und zeichenmatrix um meiner existenz willen, auch dann wenn sie hegemonial strukturiert ist.

damit ist ein erstes entscheidendes merkmal hinsichtlich unserer schuldgefühle benannt, die weise in der ich mich auf mich selbst beziehe. die sprach- und zeichenmatrix in welcher ich zugang zu meinen gedanken, gefühlen und handlungen besitze, definiert wertungsbezüge hegemonial. ‚gut', ‚böse', ‚erfolgreich' usw. bestimmen sich aus ihrem abstand zur norm, einer norm die keine natürliche ist, sondern aus einer historischen form des vergesellschaftungszusammenhangs hervorgeht. doch begehen wir einen weiteren nebenweg um uns einen weiteren wichtigen aspekt des leiden am selbst zu erschließen.

mit der entstehung ‚moderner' gesellschaftsordnungen kommen die einzelnen zu einem neuen selbstverhältnis. der status und die identität einer person waren einst durch die äußere hierarchische ordnung vorgegeben und legitimiert, die dinge selbst schienen gleichsam diese ordnung auszusprechen als von einer obersten und göttlichen macht bestimmt. die einzelnen hatten sich in dieses schicksal zu fügen und sich in ihm wiederzufinden. verantwortlichkeit für den eigenen status und für die eigene identität, solch eine beziehung zum selbst konnte sich unter diesen umständen nicht entfalten. frevelhaftigkeit im glauben, zweifel an der göttlichen macht welche die einzelnen in ihr sein einsetzt, wäre dem versuch angehaftet, welcher das je eigene sein als selbstgeschaffenes betrachtet hätte.

durch die reformation hat sich dieses verhältnis zum selbst gewandelt, status und identität sind individualisiert worden. die einzelnen als regenten ihres selbst, sind fähig geworden durch handlungen, die erwähltheit zu außerweltlichem glück auszudrücken. heil im jenseits ist keine beliebigkeit gottes mehr, sondern vielmehr die anerkennung einer leistung, welche die einzelnen im irdischen leben vollzogen haben. in diesem sinn sind die einzelnen verantwortlich geworden für ihr, hier noch außerweltliches, glück. mit zunehmender säkularisierung und der errichtung der modernen staatsapparate verändert sich dieser sachverhalt weiter. zunehmend radikaler wird die vorstellung von verantwortlichkeit für den eigenen status, die eigene lebensgeschichte, die eigene identität. die staatsapparate, welche vorgeblich die formalen möglichkeiten ‚vom tellerwäscher zum millionär' zu gelangen garantieren, nehmen den einzelnen damit das versprechen ab, dass ihr leben, ihr status, ihre identität das werk ihrer taten ist. die einzelnen geben nicht mehr einer göttlichen macht das versprechen ihr leben zu tragen, sie geben das versprechen ihr leben zu entwerfen, zu bestimmen, zu regieren. nietzsche schreibt in der ‚genealogie der moral', dass diese möglichkeit des versprechens, die brücke zwischen einem ‚jetzt' und ‚später' zu schlagen, ein souveränes individuum erfordert, welches in langen kämpfen erst ‚herangezüchtet' werden musste. für die vorhersage im versprechen, von dem ‚jetzt' zu dem was ich tun werde, brauchen die einzelnen zum einen umstände welche ‚berechenbar' sind, zum anderen müssen sie in der lage sein, zu ‚berechnen'. mit dem modernen rechtsstaat sowie dem modernen bildungssystem sind den einzelnen vorgeblich diese voraussetzungen gegeben, welche sie in eine verantwortlichkeit für ihr leben stürzen. das versprechen zum je eigenen leben, wie es dem modernen subjekt gegeben ist, macht es verantwortlich für seine identität, für status und glück. dieses gefühl, das zu sein, was es aus sich gemacht hat, das zu sein, was es ist, prägt das moderne individuum. schuld und selbstverachtung für die eigene existenz, das leiden am selbst erhält eine neue qualität.

damit haben wir den zweiten wichtigen aspekt gewonnen, um uns dem leiden am selbst zu nähern. verantwortlichkeit für die eigene existenz und hervorbringung der eigenen existenz in einer hegemonial strukturierten matrix, dass ist der hintergrund auf dem sich unsere ausgangsfragen erneut stellen lassen. aus welchem maßstab speist sich das gefühl der schuld, nichts zu taugen, unnütz zu sein, eine schlechte existenz zu führen? wie wir gesehen haben beschreibe ich meine existenz in einer hegemonial strukturierten sprach- und zeichenmatrix. ‚gut' ist, was effektiv ist, ‚erfolgreich' was, produktiv ist - so die verfestigten figuren des ausdrucks. in dem maße, wie die modernen individuen nun für ihre existenz verantwortlich sind, läßt sich sagen: ‚erfolgreich' bin ich, wenn ich effektiv meine ziele verfolge; ‚gut' bin ich, wenn ich produktive leistungen zur erlangung meiner ziele bringe; das eigene glücksversprechen, das es zu verfolgen gilt, findet so zu seiner norm. verantwortlich sind die einzelnen in doppelter hinsicht: für ihr selbstgestecktes ziel, als auch für die art und weise, wie sie zu diesem gelangen. in dem maße, wie die norm zur wahl von ersterem freizügiger wird, wird sie in letzterer hinsicht strenger, kleinlicher, allgegenwärtiger. das versprechen, das eigene glück selbst wählen zu können bindet die einzelnen um so fester an die form der durchführung. die moderne identität ist eine rationale, kalkulierende, berechnende. hier finden wir den maßstab uns als ‚gut' oder ‚schlecht', ‚erfolgreich' oder ‚unnütz' zu beschreiben.

betrachten wir unser selbst, um zu sehen wie dieser maßstab zu seiner anwendung gelangt. mein selbst oder meine identität verstehe ich zunächst aus meinem verhalten. dieses muß in weiterem sinne denn als sprachliches verhalten verstanden werden. gesten, körpersprache oder radikaler, jede äußerung eines körpers ist teil meines verhaltens. sich diesem zu entziehen, besteht keine möglichkeit, mensch kann sich nicht nicht verhalten, denn auch ein unterlassenes verhalten ist eine art des verhaltens. darüber hinaus bedarf es nicht einmal der existenz dieser faktischen situation, vielmehr kann es sich auch um ein imaginäres durchspielen dieser situation im subjekt handeln. dann ist der blick auf mein verhalten kein externer, sondern selbstbeobachtung. was unterscheidet die wahrnehmung durch andere von meiner selbstwahrnehmung? vor allem, dass eben mein blick auf mich selbst intensiver und ausgiebiger ist, dass er bis in die kleinste zelle des selbst zu reichen vermag. aus dieser sicht werde ich selbst zu meinem strengsten überwacher und richter, ich selbst bin es, der vor allem meine identität wahr- und zur kenntnis nimmt. in diesem modus vermag die schuld und das leiden an der eigenen existenz ihre eindringlichste form zu erreichen. denn da sind die gedanken, die gefühle, die neigungen, welche der norm nicht gerecht zu werden vermögen, sich nicht einfügen in das schema einer rationalen identität. ‚keine lust zu haben' aufzustehen, doch das bonbon zu essen trotz diät, zu faulenzen statt zu arbeiten, kurz: in irgendeiner form schwäche zu zeigen, zu ‚versagen', erzeugt das schuldgefühl und den zweifel im innersten doch nicht das zu sein, was ich doch sein sollte. dieses gefühl zwingt die einzelnen in den alltäglichen kampf gegen sich selbst. es gilt das eigene selbst zu verwalten und das überflüssige, welches sich nicht in das bild der existenz einzufügen vermag, auszuschließen. sich ‚zu seinem besten' zu zwingen und sich gefühle, gedanken und handlungen nicht zu ‚erlauben', ist ein unterfangen, welches zu ständigem scheitern verurteilt ist. denn in diesem kampf vermögen wir nicht zu gewinnen, die wiederkehr des ausgeschlossenen, überflüssigen, unrationalen, das aufbrechen von begierde und leidenschaft vermögen wir nicht vollkommen zu unterdrücken und zu verwalten. unser ‚versagen', unsere ‚untauglichkeit', unser ‚schlechtes gewissen' tritt ständig aufs neue hervor und bestätigt uns die existenz unseres ‚schlechten' selbst. dieses ständig sich wiederholende scheitern stürzt uns fortwährend in selbstzweifel und schuldzuschreibung, es bildet den kern des leiden am selbst.

s. herrmann, sinistra