kritik. was es ist.

kritische theorie strebt danach, durch die verwirklichung ihres begriffs überflüssig zu werden. darin schon ist ihr geschichtlicher index enthalten. ihren gegenstand bilden nicht die ewig gleichen ideen, die vorgeben das ganze zu fassen um des heils der generationen willen. ihr interesse entspringt aus dem ungenügen der tatsächlich vorgegebenen verhältnisse. in sich trägt sie einen splitter des leides, welches sie nicht zu ertragen gewillt ist; geschuldet der hoffnung auf ein besseres. kritische theorie ist durch die verhältnisse geschaffen, welche es abzutragen gilt. sie trachtet nicht danach normen und handlungsmuster aufzustellen, an welchen sich das individuum zu bewähren hat. mittel zum handeln will sie sein, erklären statt rechtfertigen. ihr handeln zielt auf das ganze, wohl wissend, dass das einzelne leid nur durch jenes hindurch begriffen, erschöpfend gedacht werden kann. der vom praxisbegriff beschnittene gedanke treibt so zu neuer blüte. kritik, die sich nicht selbst preisgeben will, kann keine partikulare sein. die versuchung der begriffe, die vorgeben, das ganze einfach zu fassen, ist enorm. doch der falsche rundumschlag macht die marionetten der geschichte zu lebendigen, bewußten handlungsträgern. in jenen bündelt der haltlose gedanke die ursprünge des gesellschaftlichen leides. das erfahrene, zu ohnmächtiger wut akkumulierte leid ist dankbar, endlich zupacken zu können - selbstgerecht und blasiert. die traditionelle zuschreibung von herrschaft an personengruppen scheint zunächst die sache zu fassen, wird dem materialismus aber nicht gerecht. das einzelne schiebt sich vor den gedanken, der doch einmal das ganze greifen wollte. an der ideologie, nicht am handelnden subjekt muss kritik ansetzen. sowenig die schuld der einzelnen dadurch getilgt ist, soviel ist dabei gewonnen. aufsässig ist kritische theorie, nicht zufrieden mit dem probaten knochen, den man ihr hinschmeißt. den anspruch die welt begriffen zu haben, mit dem finger zu zeigen, kennt sie nicht. statt dessen sucht sie den eigenen gedanken mit dem besseren wissen um die eigene vermitteltheit zu fassen: reflexivität auf das eigene unvermögen. die zwanghafte suche nach dem prinzip, welches das komplexe ins einfache auflöste, ist nicht die ihre, ihr gedanke folgt einer strukturellen dynamik, an der sie nicht aktiv teil hat. müht sich der kritische gedanke dem falschen bewußtsein ein zukünftiges, besseres als maßstab gegenüberzustellen, so hat er das falsche pferd gesattelt. natürlicher, allemal menschlicher sollen die entwürfe sein, welche die schuld des ganzen in die sphäre der individuen verlagern. was der verzweifelte gedanke nicht vom ganzen mehr erwartet, dass soll der einzelne besorgen, möglichst noch rechenschaft dafür ablegen. nicht zum sekundären, abgeleiteten sollen die einzelnen degradiert werden, entzogen jeglicher handlungsmächtigkeit, noch weniger jedoch zum quell und ursprung der schlechten welt. dem zwang, ein positives zu entwerfen, verwehrt sich kritische theorie. negation beansprucht allein die idee eines anderen, ohne ihren eigenen begriff dagegenzusetzen. das sich ständig umstrukturierende ganze lässt keinen vorgriff auf die gesamtgeschichte zu. dieser wäre schon immer teil des ganzen, das von außen zu greifen er beansprucht; teil der wabernden masse, deren metamorphose unterworfen. der rekurs auf ein zukünftiges ist seiner zeitlichkeit ausgeliefert. vermessen ist der versuch, der die transzendenz übers bestehende hinaus beansprucht. dialektik weiß um die vermitteltheit, den anspruch ausserhalb zu stehen kennt sie nicht. sie erkennt die spiegelung der gesamtgeschichte im gelebten moment, daraus zieht sie ihre kraft. gesellschaftliche verhältnisse versuchen sich allemal als natürliche auszugeben. der jeweilige status quo erhält seine kraft daraus, dass er sich als verwirklichung der geschichte selbst zu geben weiß, ob die verwirklichung des göttlichen gesetzes, des weltgeistes oder der innersten menschlichen natur. "die erfindung solcher ursprünge neigt dazu, einen stand der dinge vor dem gesetz zu beschreiben, der einer notwendigen, eindimensionalen, linearen erzählung folgt, die ihren höhepunkt in der stiftung des gesetzes findet und dieses damit rechtfertigt." (judith butler, das unbehagen der geschlechter). eine jede epoche hat ihren eigenen autoritativen zugriff auf geschichte; heute wird technischer fortschritt mit zivilisatorischem fortschritt gleichgesetzt. die menschliche bedürfnisnatur komme erst mit dem erreichten grad an naturbeherrschung, welche den konsum endlich den massen zugänglich gemacht hat, zu ihrer befriedigung. ohne die faktisch gegebenen und allein dadurch schon legitimierten bedürfnisse herabzusetzen, darf deren gültigkeit dennoch nicht uneingeschränkt gesetzt werden. kritik kämpft für das bedürfnis mit dem wissen ums ganze, mit unerbittlicher skepsis reagiert sie auf die innere natur. nicht als ontologische substanz lässt sie gelten, was in sich die ganze geschichte reflektiert: "die erzählung beansprucht nicht nur, zugang zu einem "vorher" zu besitzen, von dem sie definitionsgemäß (aufgrund ihrer sprachlichkeit) ausgeschlossen ist, sondern zudem findet die beschreibung dieses ‚vorher' stets in der sprache eines ‚nachher' statt und bewirkt so das einsickern des gesetzes in den schauplatz seiner abwesenheit." (j. butler). die unwiederbringliche vergangenheit vermag nur ausdruck zu finden in einer gegenwart, welche bereits durch jene hindurchgegangen ist. sie malt das bild ihres siegreichen auszuges aus jener. der einmal entstandene begriff trachtet danach, zu fassen was sich seinem zugriff sperrt, kategorisiert mit seinem maßstab, was in seinem begriff nicht aufgehen kann. die unvermeidlichkeit dieses scheiterns muss bewußtsein in sich aufnehmen. kritische theorie kennt nichts, auf das unmittelbar zugegriffen werden kann, das ist ihr stachel. sie ist sich der vermitteltheit in ihrem doppelten sinn bewusst: die gelebte wirklichkeit ist keine natürliche, die außerhalb der geschichte entstanden ist. sie trägt das mal vergangener zeiten in sich. ebenso ihr zugriff, welcher aus dieser gegenwart sich verhält. während theorie sich über erstes moment erheben kann, vermag sie die beschränktheit des zweiten nicht aufzuheben; lediglich vermag sie zu hoffen, mit dem wissen um diese ein stück weit über sie hinauszugelangen. im hinblick auf die verfasstheit von herrschaftsverhältnissen hat kritische theorie damit einen entlarvenden, antiverdinglichenden charakter. ihr erkenntnistheoretischer gehalt zeigt objektivierungsfehler sozialer phänomene an. die uniformierte erzählung der historie wird aufgesprengt. die genealogie der verhältnisse zielt auf eine veränderung im individuum, taucht dessen handlungs- und wertezusammenhänge in ein neues licht. in diesem sinne können die bedingungen der lebenszusammenhänge nicht mehr wie bisher anerkannt werden.

s. herrmann, sinistra