idiotische souveränität

über lars von triers "idioten"

die szenerie: die ‚idioten' sind rebellisch - sie brechen die regeln, sie reißen tabus ein, sie rütteln an der herrschenden moral. die mittel ihrer subversion sind sabbern, lallen, rollstuhlfahren. das sind die rebellischen idioten in lars von triers film, eine gruppe von menschen, die gemeinsam auf gaga machen. ‚normale', die ‚behindert' spielen. sie leben in einer villa, mitten im großbürgelichen örtchen söleröd, einer gemeinde, die sich alle behinderten, irren, alten vom leib halten will. denn die würden nur einen herd der unruhe und unordnung darstellen. genau dafür aber sorgen die ‚idioten': sie essen in edlen restaurants und bekommen dabei spastische anfälle, sie gehen sabbernd und mit schwimmreifchen im hallenbad schwimmen, sie drehen den verstörten bürgern quasi-weihnachtsgestecke an. doch die normativität bürgerlicher gesellschaft zeigt sich nicht unbedingt in den braven bürgern söleröds. es sind die idioten, die in sichtbarer weise exekutieren, was bei den normalen unter der oberfläche ‚normaler' normativität arbeitet. freilich, die normalen stigmatisieren, diskriminieren, sanktionieren und disziplinieren, und zwar nach den kategorien, die die normalen eben so kennen (ausländerin, idiot, arbeitslose etc.). doch vielleicht speist sich die vehemenz und radikalität ihrer normierungen von einer normativität, die subtiler funktioniert und sich nur in momenten der aufhebung ‚normaler' normativität zeigt. im folgenden soll es also darum gehen, an dem metaphorischen gehalt des versuchs der idioten die logik der normativität kapitalistischer gesellschaft abzulesen. es ist dabei nicht meine absicht, das subversive moment, das die idiotie auch mit beinhaltet, zu kritisieren. zwei idioten spielen eine zentrale rolle: stofer ist der unumstrittene kopf der gruppe. launisch, aufbrausend und dennoch cool, weiß er sich als spitze der idioten-hierarchie zu inszenieren. karen ist die andere; sie ist gerade erst zu den idioten gestoßen. die nehmen sie zu sich auf, ohne von ihr zu verlangen, dass sie ebenso auf gaga macht wie sie. doch zum ende des films wird sie sich ihrer idiotie bewähren wollen. sie will wissen, ob auch sie eine ‚richtige' idiotin ist. doch vor der genaueren analyse des verhaltens der beiden müssen zuvor noch einige umwege gemacht werden.

norm, anti-norm, normativität: die idioten kehren die bestehenden norm-verhältnisse um. das normale wird pathologisch, und das pathologische normal. sie ergreifen die gängigen codes der abnormalität und re-definieren sie. sie sabbern offensiv, ihre spastischen anfälle sind angriffe auf die sanktionierende hilfsbereitschaft der normalen. in dieser offensivität liegt mehr als nur ein harmloses auf-gaga-machen. das pathologische, das von den idioten zur darstellung gebracht wird, hat sich durch deren redefinierung transformiert: es ist neu etablierte normalität. sie setzen das andere als das normale, sie bringen eine neue norm zur geltung. das ist ein luxus, den sich die normalen stigmatisierten zumeist nicht leisten können: den arbeitslosen, stotternden, farbigen bleibt nicht mehr, als ihr stigma in kleinen und größeren öffentlichkeiten möglichst effektiv zu managen, also möglichst unsichtbar zu machen. [vgl. e. goffman, stigma. über techniken der bewältigung beschädigter identität, frankfurt am main 1975] die idioten hingegen waren normal, bevor sie einen auf gaga gemacht haben; sie sind aber als idioten immer noch normal. denn durch ihr bewusstes, gezieltes setzen einer transformierten idiotie haben sie den bisherigen horizont gültiger normen überschritten. sie sind nirgends herausgefallen, oder haben bestimmte standards nicht erreicht, sondern haben umgekehrt den festgeschriebenen umkreis an normalität gebrochen und erweitert. hätte der film einen zweiten teil, dann müsste er davon handeln, dass es in söleröd inzwischen cool geworden ist, einen auf gaga zu machen.

glückstechnik: aber warum spielen die idioten idioten? stofer, der oberidiot, die zentrale figur des films, erklärt karen: sie wollen ihren inneren idioten entdecken. was heißt das? die idioten gehen davon aus, dass in jedem einzelnen eine innerlichkeit der entdeckung, der hervorkehrung harrt. sie wollen ihr wahres selbst finden, eines, das bisher verschüttet war, und nun durch eine praxis der um-formung verwirklicht werden soll. dieses seelen-management, das sie im zeichen einer inneren re-formierung praktizieren, zielt auf eine höhere verwirklichung des selbst. der versuch der selbst-findung und selbst-verwirklichung ist allerdings nicht neu: als nachfolgerin der esoterik-welle der achtziger jahre gelangte dieses vorhaben in den neunzigern als seelen-fitness zu seiner nacktesten gestalt; doch schon zuvor bahnten die post-'68er den weg für einen umfassenden aufbruch zu einer neuen innerlichkeit. die historischen linien reichen aber noch weiter zurück: bereits ende des neunzehnten jahrunderts unternahm die lebensreform den versuch einer umfassenden vergeistigung im dienste des individuellen strebens nach glück. sein leben zu führen - das heißt, im namen individuellen wohlergehens ein set an techniken der formung, veränderung, verwirklichung der eigenen existenzweise zu organisieren - ist ein durch und durch kapitalistisches produkt: es ist eine gestalt der autonomie. autonomie als bestimmung des selbst durch sich selbst, ist der eigentliche wirkungsbereich von normativität. autonomie sollte nicht als gegenpol verstanden werden zu dem berg an erwartungen, anforderungen, regeln, etiketten, von denen das bürgerliche individuum sich umstellt sieht. autonomie stellt nicht die kleine, private insel der freiheit dar, auf der die vereinzelte einzelne sich unberührt weiß von den vielen normen der kapitalistischen gesellschaft - von der anforderung der höflichkeit am arbeitsplatz, der freundlichkeit im kaufhaus, der cleverness beim autokauf, und so weiter. nein, autonomie sollte in dreierlei hinsicht als der tatsächliche geltungsbereich von normativität verstanden werden. erstens ist ein autonomes handeln normativ in dem sinn, dass die weise der verfolgung eines bestimmten ziels der norm der effektivität unterliegt. das individuum muss als einzelner fähig sein, in systematischer weise seine selbstgesetzten ziele erreichen zu können. autonomie unterstellt das vermögen des individuums, durch seine handlungsmächtigkeit oder unter planvoller zurhilfenahme anderer, seine selbstgewählten zwecke in konsistenter weise erreichen zu können. normativ ist dieses handeln aber nicht nur im hinblick auf die spezifische art und weise der durchführung, sondern zweitens auch mit blick auf die besondere art der norm, mit der es in beziehung steht. eine norm, verstanden als ideal, als ziel, als selbstgewählter zweck oder auch als individuell geschätzter wert, steht einem feld von normen gegenüber, die sich durch verbot, beschränkung oder verhinderung kennzeichnen. sind diese nur durch konformität und anpassung einzuhalten, so stellt jene eine möglichkeit und einen anreiz dar. im gegensatz zur negativität des verbots eröffnet die norm, verstanden als ziel, einen raum aktiven handelns. und drittens schließlich beinhaltet die idee der autonomie auch eine normativität im sinne der fähigkeit werte definieren zu können, normen zu setzen, selbst gegen die gegebene ordnung etablierter normen.

draußen-sein: die idioten entsprechen genau diesem konzept von autonomie. sie setzen sich ein ideal - nämlich das der entdeckung ihres ‚inneren idioten'. sie versuchen diese norm in einer systematischen praxis umzusetzen. und in der setzung dieses ideals müssen sie es gegen die bestehende norm-ordnung durchsetzen. alle drei merkmale der autonomie - das setzen, das umsetzen und das durchsetzen eines ideals - sind bei idioten in beispielhafter weise vereint. doch das autonome individuum scheitert. es scheitert immer, und es muss notwendigerweise scheitern. es ist immer draußen, ausgeschlossen, irgendwie ‚out'. das hat seinen grund in der konstitutiven beschaffenheit der autonomie: in dem setzen eines ideals gegen andere setzt mensch sich immer nach draußen, überschreitet die legitime grenze gegebener norm-vorstellungen und begibt sich in die gefahr des sozialen todes. umso autonomer ein individuum handelt (oder sich zumindest für ein solches hält), umso mehr es sich also nach draußen setzt, desto nachdrücklicher muss es die neu gesetzte norm versuchen zu etablieren. aber das autonome individuum ist noch in einer weiteren hinsicht ‚draußen': in der orientierung auf ein gesetztes ideal leistet die vereinzelte einzelne immer zuwenig. es hätte immer noch mehr sein können, und es muss immer noch mehr werden. das ist ja gerade das kennzeichnende der ideal-norm im gegensatz zur verbots-norm. das ideal existiert ausschließlich virtuell, es kann nie wirklich werden, lediglich in schmählich-annähernder form; so etwa beim ideal physischer schönheit. im selben maß wie das autonome individuum scheitert, erscheinen die anderen als souverän. das heißt aber, dass souveränität nur in erscheinung treten kann; sie kann sich zwar ausschließlich personifiziert zeigen, dennoch ist souveränität keine wesensmäßige eigenschaft einer person. niemand ist souverän. souveränität hat eine durch und durch über-individuelle existenz. sie existiert lediglich als unterstellung des selbst an die andere, genauso wie diese die umgekehrte annahme trifft. a hält b für souverän, während in b's augen a souverän ist. gehen wir von diesen voraussetzungen aus, dann ergeben sich zwei möglichkeiten, wie sich das scheiternde individuum zur souveränität verhalten kann. die eine antwort ist in stofer personifiziert, die andere in karen.

selbst-souveränisierung: stofer verwendet strategien der selbst-souveränisierung. er greift zu bereits existierenden codes von souveränität, um diese ‚gezielt' einzusetzen. stofer, der oberidiot, macht die idioten zu idioten. jemanden zum idioten machen ist eine weise des degradierens. [vgl. h. garfinkel, "bedingungen für den erfolg von degradierungszeremonien", in: gruppendyamik 5/1974] das ist die eine strategie; die andere ist stofers versuch, sich nicht selbst zum idioten zu machen, sich also nicht lächerlich zu machen, bzw. sein gesicht nicht zu verlieren. welche mittel wendet stofer an, um nicht zum idioten gemacht zu werden? er weiß sich gelassen zu zeigen, er bleibt immer cool. [vgl. s.m. lyman/m.b. scott, "coolness in everyday life", in: m. truzzi (hrsg.), sociology and everyday life, new jersey 1968, und auch e. goffman, "techniken der imagepflege", in: ders, interaktionsrituale. über verhalten in direkter kommunikation, frankfurt am main 1986] er versteht es, in situationen, die außer kontrolle zu geraten drohen oder die einen höchst ungewissen ausgang nehmen könnten, sich unberührt zu geben. als der vater von josephine, einer idiotin, die gruppe besucht, um seine tochter zurück in die welt der normalen zu holen, bleibt stofer cool. sollte der vater erfolg damit haben, der gruppe ein mitglied zu entreißen, dann wäre das eine infragestellung der gruppe insgesamt, vor allem aber ein angriff auf stofer. doch stofer beherrscht es im augenblick des größtmöglichen gesichtsverlusts, seine souveränität zu wahren. er stellt sich josephines vater cool, unberührt und mit haltung entgegen - und kennt doch den richtigen zeitpunkt, um den rückzug anzutreten. doch stofer ist auch ein meister verschiedenster degradierungs-techniken: spott etwa ist bei ihm ein beliebtes mittel. denn der spott ist überaus wirksam. er hat die lacher immer auf seiner seite. und wenn es dem spott zu brenzlig wird, dann kann er sich immer auf die position des bloßen witzes zurückziehen. die degradierung zielt, mehr oder weniger offensichtlich, auf das absprechen eines konstitutiven bestandteils von identität. das tritt am klarsten zutage, als stofer mit seinem degradierungsprogramm soweit geht, den idioten ganz offen ihre ‚wahre' idiotie abzusprechen. er verlangt von ihnen einen beweis ihrer befähigung. es gelingt ihm, eine bewährungsprobe ins leben zu rufen, die von den idioten schließlich akzeptiert wird. die idioten sollen an ihrem arbeitsplatz oder bei ihrer familie einen auf gaga machen - um damit zu zeigen, dass sie nicht nur im schutz der gruppe, sondern auch ganz auf sich gestellt, allein unter normalen, eine idiotin sein können. doch an dieser bewährungsprobe wird die gruppe schließlich zerbrechen. einer nach der anderen gelingt es nicht, eine vereinzelte idiotin unter normalen zu spielen.

sich-bewähren: doch der film nimmt zum ende eine rätselhafte wendung. gerade als die gruppe sich aufzulösen beginnt, möchte karen sich ihrer idiotie bewähren - aus eigenem antrieb, ohne äußeren druck. während stofers selbst-souveränisierung ein weg ist mit dem scheitern umzugehen, wählt karen den anderen. im angesicht des scheiterns will sie für sich wissen, ob sie imstande ist eine vollkommene idiotin zu sein, ob sie genau so souverän idiotisch sein kann, wie ihr die anderen erscheinen. sie braucht eine probe, die ihr aussage darüber gibt, ob sie legitimerweise dazugehören darf. sie nimmt den idioten-test bereitwillig als zeichen, das ihr über den stand ihrer berufenheit zur idiotin eine aussagekräftige botschaft gibt. und so besucht karen ihre eltern. kaffee und kuchen, opa, eltern, geschwister, eine aufdringlich tickende wohnzimmeruhr - das ganze mobiliar bürgerlicher muffigkeit ist versammelt. doch die desaströse radikalität ihrer bewährungsprobe wird klar, als karens ehemann sich zum samstäglichen beisammensein gesellt: karen hat ihr baby verloren, und anstatt zur beerdigung zu gehen, hat sie bei den idioten zuflucht gesucht. und dennoch, die sahnetorte quillt ihr aus dem mund, der blick verklärt jenseits des wohnzimmers. sie ist erfolgreich; sie hat sich bewiesen, eine wahre idiotin zu sein.

hannes kuch