Fortsetzung: Godards La chinoise (1967)

"Die Universitätsstadt", so der französische Philosoph Henri Lefebvre, zu dieser Zeit selbst als Lehrender in Nanterre tätig, "in der die Funktion des Wohnens auf ein unbedingt notwendiges Minimum spezialisiert und reduziert wird – nicht ohne die traditionelle Trennungen zwischen Jungen und Mädchen aufrechtzuerhalten, zwischen Arbeit, Freizeit und Privatleben, wird zum Ort sexueller Hoffnungen und Rebellionen. Das geringste Verbot, die geringste Kontrolle werden dort für unerträglich gehalten. Nicht so sehr wegen ihrer – meist lächerlichen – Auswirkungen, sondern weil sie die Repression symbolisieren."

Bereits seit Mitte der 1960er Jahren hatte die französische Studentengewerkschaft UNEF die Strukturschwächen der Universität und staatliche Reformversuche kritisiert, ohne damit große Mobilisierungserfolge unter den Betroffenen zu erzielen. Der von ihr mitgetragene Studentenstreik in Nanterre zu Beginn des Studienjahres 1967/68 verebbte nach wenigen Wochen. Erst die im Frühjahr 1968 einsetzenden Aktionen kleiner studentischer Gruppen, die durch begrenzte Regelverletzungen, Provokationen und Tabubrüche den Unibetrieb empfindlich störten, lösten eine breitere Bewegung aus. Hauptinitiator war vor allem die Gruppe der "Enragés" (die "Wütenden", eine Anspielung auf eine radikale Strömung, die sich unter diesem Namen während der französischen Revolution formiert hatte), deren Programmatik sich an den Ideen der "Situationistischen Internationale" (SI) orientierte.

Die SI, eine avantgardistische orientierte Gruppe von Künstlern und Intellektuellen, hatte energisch den Aufstand der FLN (Nationale Befreiungsfront) für ein unabhängiges Algerien unterstützt. 1960 unterschrieben Vertreter der SI mit anderen "Kultur-Linken" eine "Erklärung über das Recht zum Ungehorsam im Algerienkrieg", in der französische Soldaten zur Befehlsverweigerungen aufgerufen wurden. Auch die Erhebungen der schwarzen Bevölkerung im Viertel von Watts in Los Angeles (August 1965) galten der SI als ein beispielhaftes Fanal. Das Geschehen veranlasste sie im Dezember 1965 mit "Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie" ein Pamphlet zu veröffentlichen, worin sie zu einer Unterstützung der Aufständischen aufriefen: Bei der Rebellion in Los Angeles handle es sich nicht um "Rassenunruhen", sondern um einen "Klassenaufruhr". Die SI insistierte darauf, dass die Aufrührer von Watts in ihrem Kampf nicht isoliert waren und verwies dabei vorausschauend auf den Protest der Studenten von Berkeley und der Universität von Edinburgh.

Nicht nur die Aktionsstrategie der Enragés (direkt, provokativ, situativ), sondern auch ihr Selbstverständnis (antidogmatisch, antibürokratisch, antiorganisatorisch, antiautoritär) standen für die ideologische Ausrichtung der sog. Neuen Linken. Die von den "Wütenden" auf dem Uni-Campus von Nanterre verteilte Broschüre "Über das Elend im Studentenmilieu betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, psychologischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel, diesem abzuhelfen", operierte mit der Strategie der Publikumsbeschimpfung. Das Pamphlet, geschrieben von dem SI-Mitglied Mustapha Khayati, wurde erstmals am 22. November 1966 von linksradikalen Studierenden an der Straßburger Uni verteilt und sorgte für erheblichen Wirbel in der Presse. Der öffentliche Aufruhr führte dazu, dass schließlich ein Gericht am 13. Dezember die Studentenvertretung, von der die Broschüre gedruckt worden war, schloss und die fünf verantwortlichen Studenten exmatrikulierte.

In dem Text werden die Studierenden exemplarisch als Produkte des modernen Kapitalismus angesehen, der, indem er alle Sektoren der Gesellschaft kolonisiert, sie zu "kleinen Kadern" der Großindustrie degradiert habe. "Der Student ist ein Produkt der modernen Gesellschaft, genau wie Godard und Coca-Cola." Die "äußerst erbärmliche ökonomische Lage", die den Studentenalltag kennzeichne, sowie den "elenden Charakter", den ihr zukünftiger Berufsalltag haben werde, kompensierten sie durch eine "unwirklich gelebte Gegenwart". Ohne Vorbehalte und Distanz gäben sie sich dem "kulturellen Spektakel" hin, das einige Stars der Kulturindustrie wie etwa Godard inszenierten. (Man kann davon ausgehen, dass der Regisseur bei seinen Dreharbeiten zu La Chinoise das Pamphlet kannte).

Die Kritiklosigkeit gegenüber den "Göttern" des kulturellen Lebens spiegle sich in der Kritiklosigkeit wider, die den Uni-Alltag präge. Der mechanisierte und spezialisierte Unterricht, den der Student dort erhalte, mache ihn unempfänglich für "jeden kritischen Geist" und lasse ihn ignorieren, "dass die Universität zu einer Institution des Unwissens" geworden sei. So blieben die Studenten unkritisch gegenüber der allgemeinen Kultur und unkritisch gegenüber ihrer unmittelbaren, abgeschlossenen Welt: der Universität. Die Entfremdung, die sich darin spiegle, setze sich in ihrem Lebensstil fort, in der "Kommunikationslosigkeit" innerhalb studentischer Zirkel sowie in den sexuellen Beziehungen, die den traditionellen Erotik- und Liebesverhaltensweisen glichen und mit denen die Studenten, wenngleich sie glaubten, den Stil der Boheme zu kultivieren, lediglich die allgemeinen Beziehungen der Klassengesellschaft perpetuierten.

Um die Passivität und Konformität der Studierenden aufzubrechen, forderten die Enragés zur radikalen Kritik der modernen kapitalistischen Welt auf, zur Dekonstruktion der Warengesellschaft und Neukonstruktion des Lebens durch das Spiel. Mit antiautoritärem Gestus zeigten sie in ihren Aktionen, wie man die Macht der Professoren zur Ohnmacht werden lassen und die alltägliche Situation an der Universität verändern konnte. Sie setzten "Zeichen" in einem Universitätssystem, dessen hierarchisch-autoritäre Struktur damals Raymond Aron, ein eher konservativer Soziologe, so beschrieb: "Zwischen einem französischen Professor und Gott gibt es nichts". Zumindest vorübergehend brachten die Enragés diese Struktur ins Wanken und trugen mit ihren Protesten dazu bei, dass die Revolte in Nanterre zum Auftakt der Mai-Bewegung werden konnte.

Am 22. März 1968 besetzte ein Konglomerat diverser linker Gruppen das Verwaltungsgebäude von Nanterre. Unter den Sprechern der "Bewegung des 22. März" war auch Daniel Cohn-Bendit, dem später von der SI das Etikett " ein ehrlicher Revolutionär, wenn auch ohne Genie" verliehen wurde. Die Universität, welche die Enragés generell abschaffen und die "Bewegung des "22. März" in eine "Kritische Universität" umwandeln wollten, galt lediglich als Aktionsforum und Ausgangspunkt für eine umfassende Revolutionierung der Gesellschaft.

Ihr Mobilisierungserfolg blieb aber zunächst nur auf den Campus der Fakultät Nanterre beschränkt. Doch die Übertragung des studentischen Protestes an die Pariser Sorbonne, die für anhängige Disziplinarverfahren gegen acht Studierenden aus Nanterre (darunter Daniel Cohn-Bendit) verfahrenstechnisch zuständig war, und repressive Maßnahmen gegen den "harten Kern" studentischer Aktivisten dort, lösten einen Solidarisierungsprozess der bislang inaktiven Mehrheit der Studenten aus. Was als Revolte einer kleinen studentischen Minderheit in einer Vorstadt von Paris begann, mündete schließlich in einen das ganze Land erfassenden Generalstreik und in eine politische Krise des herrschenden Systems.

Literatur
>> Simon Ford: Die Situationistische Internationale. Eine Gebrauchsanleitung, Hamburg 2007
>> Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt am Main 2008
>> Mustapha Khayati: Über das Elend im Studentenmilieu, Hamburg 1977 (franz. Originalausgabe Straßburg 1966)
>> Emanuel Kapfinger: Die "Situationistische Internationale" und ihr Einfluss auf die Studentenbewegung. In: Widerspruch , Heft 48/2008, S. 63-68
>> Henri Lefebvre: Aufstand in Frankreich. Zur Theorie der Revolution in den hochindustrialisierten Ländern, Edition Voltaire, Frankfurt am Main 1969 (franz. Originalausgabe Paris 1968)
>> Claude Leford: Die Bresche. Essays zum Mai 68, Wien 2008 (franz. Originalausgabe 1988)

<< de retour