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#29 .. 31-08-06 The Sound Of New Orleans ein Jahr nach der Flut
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Las Vegas am Lake George
Melting Pot, Ghetto, Themenpark - The Sound Of New Orleans ein Jahr nach der Flut, Part II
Sound Of New Orleans als Standortfaktor
"River In Reverse". Geschichte fressen Gegenwart auf
"Ohne die Ignoranz des Rassismus". Die ethnische und soziale Säuberung New Orleans'
"Eine der am wenigsten natürlichen Naturkatastrophen, die es je gab", sah der weiße Stadtforscher Mike Davis
und fragte: Wer hat wo und wann welche Dämme geöffnet? In welchem Zustand waren die Dämme? Warum kam die Hilfe
der Politik so spät? Warum war plötzlich Dritte Welt mitten in den USA? Die Antwort gab der Rapper Kanye West:
"George Bush interessiert sich nicht für Schwarze. Die Regierung versucht den Schwarzen so langsam wie möglich
zu helfen, je ärmer sie sind, desto langsamer." Die Bilder gingen um die Welt und viele träumten schon von einer
neuen Bürgerrechtsbewegung mit Kanye West als Martin Luther King. West hat sich inzwischen auf sein
musikalisches Kerngeschäft zurückgezogen, die einzige Bewegung ist heute die Armutsmigration.
Sound Of New Orleans als Standortfaktor
Mit einer Glücksspiel-Lizenz soll die dank Katrina saubergeschrumpfte Stadt wiederauferstehen als Dixieland-Las
Vegas. Alte Geschäftsviertel im Zentrum werden dem "Hyatt Jazz District" weichen. Hier entsteht ein geräumiges
Jazz-Center nebst Hotel, Nachwuchsakademie und Themenpark. Das bringt Arbeitsplätze und Touristen. Schließlich gilt
Lake George als die Wiege des Jazz. Lake George? So tauften die Bewohner ihre Stadt nach der unterbliebenen
Hilfeleistung durch die Regierung George W. Bush. Der Flughafen von Lake George trägt Louis Armstrongs Namen.
Nirgendwo, außer vielleicht in Jamaika, definiert sich das Image einer Region so stark über die Musik. Nirgendwo
spielt die Musik im Alltag eine so bedeutende Rolle. Nicht nur der umstrittene (hell-)schwarze Bürgermeister Ray
Nagin setzt auf den Sound Of New Orleans als Standortfaktor. Dass im Zuge einer groß angelegten Aufhübschung der
Stadt im Namen der Musik Tausende von Musikern vertrieben, zahllose Musikkneipen von der Landkarte gespült wurden -
das folgt der Logik der kulturalistisch aufgeladenen Gentrifizierung, hier allerdings beschleunigt durch Katrina.
Wie immer fällt das Totschlagwort von der Disneyfizierung. Wie immer greift es zu kurz? Disneyfiziert werden kann
nur, was sich dafür anbietet. Und ist der musikalische Themenpark im Sound Of New Orleans nicht bereits angelegt?
Wird der Mythos vom Melting Pot nicht schon länger strapaziert, um Touristen anzulocken? Mardi Gras & Voodoo,
Marching Bands & Beerdigungstänze, Tipitina & Bourbon Street, Cajun & Zydeco, Wild Magnolias & Tchoupitoulas,
Dr.John & Professor Longhair, Gumbo & all that Jazz? Die verführerische Lüge vom multilingualen Big Easy mit
samt ihrer pittoresken Folklore schreit nach kulturindustrieller Verwertung. Alles so schön authentisch hier!
Ist die Begeisterung weißer Musik-Gourmets für den bunten Patchwork-Sound von N´awlins nicht eine besonders
abgeschmeckte und abgeschmackte Sorte Multikultikitsch? Und was machen wir hier eigentlich?
Sind nicht genau diese Gourmets - ich, du, wir? - die nützlichen Idioten für das, was Politik und Wirtschaft
hier anvisieren: eine Sezession der Wohlhabenden, Flut sei Dank? Es ist ein bisschen wie in dem Witz, den Richard
Pryor gern erzählt hat: "Warum haltet Ihr Schwarzen eigentlich immer Euren Schwanz fest? - Weil Ihr Weißen uns
alles andere genommen habt." Hier halten sie sich an der Musik fest.
Der Sound Of New Orleans begleitet den Umbau der Stadt und lindert den Schmerz - symbolisch und real. Gleich nach
der Flut springt die Benefizmaschinerie an, über Konzerte und Plattenverkäufe wird Geld gesammelt, das den
Notleidenden zu Gute kommt - oder auch nicht. Derweil versickern staatliche Gelder im Nirvana oder bleiben
ganz aus. Im materiellen Elend wird die große Musiktradition der Stadt beschworen und viele Protagonisten
dieser Tradition beteiligen sich wohl oder übel an solchen Good Will-Programmen. Dabei nehmen sie ihre
Selbstfolklorisierung in Kauf. Noch einmal werden alle Trademarks des Sound Of New Orleans durchs zerstörte
Dorf gejagt. Für Benefizplatten wie "Higher Ground" treten die alten Helden zusammen und künden von versunkenen
Welten. "Go to the Mardi Gras" fordern zwangsoptimistisch die Neville-Brüder, Wynton Marsalis bläst ein
bisschen Dixieland und - hallo jüngere Zielgruppe! - Norah Jones haucht Randy Newmans todtrauriges
"I think it´s gonna rain today". Hier klingt New Orleans wie ein Museum seiner selbst, Trost bringt
nur der Blick zurück. Beste Voraussetzungen für die Verwandlung einer Stadt zum Themenpark.
"River In Reverse". Geschichte fressen Gegenwart auf
Wie aber umgehen mit der Gegenwart? Nehmen wir exemplarisch für die Aporien einer übermächtigen Tradition und
des um sich greifenden, selbstredend supergutgemeinten N´awlinsismus das neue Album von Elvis Costello & Allen
Toussaint (so und nicht umgekehrt steht es auf dem Cover: Elvis Costello & Allen Toussaint). Es heißt "The River
In Reverse" und wird von den Lordsiegelbewahrern des Rock als Meisterwerk gefeiert - von Mojo bis Rolling Stone.
Wichtiger als die Platte selbst ist einmal mehr das Making Of. Keine vier Monate nach Katrina gehen der weiße
Costello und der schwarze Toussaint gemeinsam ins Piety Street Recording Studio in New Orleans. Nebenan fließt
der Mississippi. Toussaints Haus im nahe gelegenen Gentilly wurde überflutet, sein Musikarchiv zerstört. Dem
großen Rockpublikum ist der Name Costello vertrauter, dabei hat der fast 70-jährigen Allen Toussaint dem Soul
und Funk aus New Orleans in den vergangenen 50 Jahren so viel gegeben. Auch wer seinen Namen nicht kennt, kann
seine Songs mitpfeifen: Lee Dorsey machte "Working in coalmine" zum Hit, mit "We can can" waren die Pointer
Sisters erfolgreich und Toussaints hinreissendes "Hercules" wurde in der Version der Neville Brothers zu einem
der meistgesampleten Songs im HipHop.
Für "River In Reverse" nahm Toussaint mit Costello einige seiner Klassiker auf, dazu ein paar neue Songs. Bis ins
Detail rekonstruieren sie den historischen Sound of New Orleans, unter der Wucht der Geschichte verschwindet die
Gegenwart. Eine Art Entlastung durch Regression, kein Einzelfall, wie die hysterische Rezeption der jüngsten Alben
von Johnny Cash und Bob Dylan durch Midlifecrisis-getriebene Männer belegt. Garant für den abgehangenen Vintage-Sound
ist der weiße Produzent Joe Henry, der sich offenbar auf geschmackvoll neoklassizistische Comebacks von schwarzen
Soul-VeteranInnen spezialisiert hat - auch Ann Peebles, Bettye Lavette und Solomon Burke zählen zu seiner Kundschaft.
Hier aber muss der Produzent allerlei Divergenzen unter einen Soundhut bringen: unterschiedliche Typen, Stimmen,
Hautfarben, Zielgruppen. Und die Stimme Costellos ist nun mal eine äußerst markante. Elf der zwölf Songs hat
Toussaint komponiert oder wenigstens mitkomponiert, ein einziger stammt von Costello. Aber der gibt dem Album
den Titel. So wird "River in Reverse" am Ende doch eine Costelloplatte. Toussaint übernimmt die Nebenrolle,
der jüngere, auf dem weissen Markt bekanntere Costello ist der Star. Das entspricht den Gesetzen des Marktes
und spiegelt die rassistische Struktur von Katrina. Und es zeugt von den Fallen, die lauern, wenn berühmte
weiße Musiker mit weniger bekannten schwarzen zusammenspielen. Der wohlmeinende Weiße ringt mit seinem
Helfersyndrom und dem Vorwurf der Blaxploitation.
Dass diese Konstellation im Sumpf von New Orleans nicht einfacher wird, das haben sie auch beim Mojo-Magazin
begriffen. Neben der Rezensionshymne steht der relativierende Cartoon: Costello im knatschbunten Touristen-Outfit
mit Bermudas und "Big Easy"-Strohhut, in der Hand eine Straßenkarte des French Quarter. Toussaint gibt den
Fremdenführer im blauen Anzug, legt die Hand auf Elvis´ Schulter und trägt ein Fähnchen mit der Aufschrift
"New Orleans Fonk Tour". So waten sie durch eine braune Brühe, leere Flaschen hier, ein Trompetenhals da.
"Ferien in anderer Leute Elend" hieß das vor 30 Jahren bei den Sex Pistols.
"Ohne die Ignoranz des Rassismus". Die ethnische und soziale Säuberung New Orleans'
Aber: Wer das Drama von Katrina nur an der Colour-Line festmacht vernachlässigt die Ökonomie. Auch der
afroamerikanische Mittelstand will Land gewinnen und schwarze Elendsviertel hinter sich lassen. Einer
der wichtigsten Repräsentanten dieser aufwärtsorientierten Klassen ist der Jazz-Trompeter Wynton Marsalis.
Das Time-Magazine zählt den Pulitzer-Preisträger, UNO-Botschafter und Leiter des mit viel Prestige und Macht
ausgestatteten Lincoln Jazz Center in New York zu den 25 einflussreichsten Amerikanern. Als solcher verkörpert
Marsalis, 1961 in New Orleans geboren, das Dilemma des afroamerikanischen Leaders: hin und her gerissen
zwischen Country und Community, Blackness und Patriotismus verkündet er staats- und kirchetragende
Durchhalteparolen: "Es geht ja längst nicht nur um den Wiederaufbau meiner Heimatstadt, sondern um die
Seele Amerikas", salbadert Marsalis in Christian Broeckings Interview-Band "Black Codes" (Verbrecher Verlag).
"Das ist eine Bewährungsprobe für das gute Amerika, wir brauchen Gebete und Geldbeutel der Menschen und
vor allem ihren Willen, der Welt zu zeigen, wozu der moderne Amerikaner in der Lage ist, und dann werden
wir New Orleans wieder aufbauen, und es wird sogar schöner sein als zuvor - ohne die Ignoranz des
Rassismus, die beklagenswerten Bedingungen der Armut und den Mangel an Bildung und Ausbildung, jener
Fäulnis eben, die sich seit der Sklaverei in vielen amerikanischen Großstädten ausgebreitet hat."
Dekorativ gesprochen. Mit der Abwesenheit von Rassismus könnte es sogar klappen, wenn wie geplant
die überwiegend schwarzen Träger der Fäulnis draußenbleiben. Wenn die Mauern des neuen New Orleans
stabiler sind als die Dämme des alten. Dann war das viele Wasser doch für etwas gut: für ethnische
und soziale Säuberung.
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