Die studentischen Proteste entzünden sich primär an den
unmittelbaren universitären Bedingungen. Inwieweit die konkrete
Studiensituation im Zusammenhang mit gesellschaftlichen
Veränderungen steht, wird selten thematisiert und wenn doch, oft
nur schlagwortartig. Derzeit geistert der Begriff
"Neoliberalismus" durch die Diskurse. Aber was ist
"neoliberale Politik" und welchen Stellenwert hat sie -
Strategie, Projekt, Ideologie, Hegemonie, Farce ...?
Im nachfolgenden Beitrag wird die These aufgestellt, Neoliberalismus
sei zwar dominante Ideologie, gegenwärtig aber als hegemoniales
Projekt gescheitert. Darüberhinaus wird thematisiert, inwieweit
linke Kritik Gefahr läuft, gerade angesichts der Widersprüche
in neoliberale Modernisierung aufgesogen zu werden.
Also, Butter bei die Fische!
(Red.)
Den frustrierten Linken in den Metropolen verleiht
Subcommandante Marcos neuen Schwung und verkündet seit den
Aufständen in Chiapas, es gehe um "eine menschliche
Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus". Diese Polarität
übernimmt z.B. Herbert Schui und stellt letzteren als
Gegenaufklärung dar: "Der Neoliberalismus richtet sich
entschieden gegen das wohlfahrtsstaatliche Projekt des Keynesianismus
als Fortsetzung der Aufklärung, gegen rationale und kollektive
Gestaltung der sozialen Umwelt." Der Liberale Keynes wird so ganz
nebenbei zum Aufklärer, in dessen Tradition sich der Marxist Schui
stellt. Anders Anthony Giddens, der intime Berater des Wahlsiegers der
britischen "New Labour" Tony Blair: "Beim
Neoliberalismus ... kommt es zu inneren Widersprüchen ... [es
gibt]keine zureichende eigene theoretische Begründung ... [er
verfolgt eine] pauschale Ausdehnung der Marktgesellschaft". Er
bekommt dabei Unterstützung von Ulrich Beck, der zum liberalen
Flügel der Grünen gehört: "Mit Globalismus
bezeichne ich die Auffassung, daß der Weltmarkt politisches
Handeln verdrängt und ersetzt, d.h. die Ideologie der
Weltmarktherrschaft, die Ideologie des Neoliberalismus." Der an
britischen Debatten geschulte Soziologe ist der Meinung, es breite sich
ein "desorganisierter Kapitalismus" aus. Helmut Dubiel, der
sich mit der Liberalen Marion Gräfin Dönhoff in der
Zielbestimmung einer "Zivilisierung des Kapitalismus" einig
ist, spricht von der "schizoide[n] Politik der Neoliberalen, die
zum einen die Gesellschaft atomisieren und sie zum anderen durch die
autoritäre Verpflichtung auf traditionelle Werte wieder
zusammenfügen wollen". Die dem "pluralen Marxismus"
verpflichtete Zeitschrift Das Argument mobilisiert gegen eine
"Globalisierung als Neoliberalismus", was gewisse
Assoziationen zu einem verschwörerischen Großangriff
nahelegt, gegen den aufrechte Menschen angehen müßten.
Helmut Schauer, den man nicht ohne weiteres einer humanistischen
Tradition zuordnet, sieht im "Shareholder-Kapitalismus" ein
"Kernstück des neoliberalen Umbaus", gegen den er einen
"zivilen Ungehorsam" fordert.
Bürgerliche Selbstkritik und linke Kapitalismuskritik
Der kurze und sicherlich selektive Überblick
über den linken Diskurs gegen den Neoliberalismus befördert
viele richtige Elemente, er enthält aber auch irreführende
Tendenzen, die sich analytisch unterscheiden lassen: Einerseits wird
das Siegesgewißheit ausstrahlende neoliberale Projekt zunehmend
brüchig, was mit der Mobilisierung von humanistischen und
aufgeklärten Intellektuellen und liberalen
"Aktivbürgern" verbunden ist. Andererseits werden
marxistische Elemente der Kritik des Kapitalismus einverleibt zur
Generierung eines innerbürgerlichen Gegenprogramms zur
"Zivilisierung" und Konsolidierung kapitalistischer
Herrschaft.
Diese gegenläufige Doppelbewegung wird in der
Erfurter Erklärung deutlich, wo engagierte Intellektuelle gegen
die "Zerstörung des sozialen Konsenses der
Bundesrepublik" für "Verantwortung für die soziale
Demokratie" werben und gerade deshalb von der PDS eine
"demokratische Zuverlässigkeit" verlangen. Am
plastischsten wird diese Vorstellung jedoch in der Forderung der Gruppe
von Lissabon (1997) nach einer neuen Elite, die "Konzepte des
globalen Wettbewerbs, globale Führung, globale Effizienz und
globales Denken verinnerlicht und in ihr Wertesystem integriert
hat", sich aber gleichzeitig "menschlichen Faktoren,
kultureller Verschiedenheit und Besonderheit widmen ... Es handelt sich
um die neoliberalen Sozialdemokraten" (42). Meine These ist nun,
daß gerade die Gegnerschaft gegen den Neoliberalismus eine solche
Amalgamierung von bürgerlicher Selbstkritik und linker
Kapitalismuskritik befördert. Der Neoliberalismus wäre
gewissermaßen die produktive Basis zur Herausbildung eines neuen
hegemonialen Projektes des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Deshalb
muß zunächst der übergroß geredete
Neoliberalismus dekonstruiert und auf seine wirkliche Größe
gestutzt werden. Dazu ist der "Werkzeugkasten des Marxismus"
bestens geeignet.
Konjunkturen neoliberaler Politikmuster
Einer Unterscheidung zwischen Veränderungen der
ökonomischen Grundlagen und den ideologischen Formen einer
Gesellschaft folgend (vgl. Marx 1978, 9), ist der Neoliberalismus eine
latente, aber in einer Situation des Umbruchs gewissermaßen
spontan mobilisierbare Ideologie kapitalistischer Restrukturierung. Es
muß also zwischen der neoliberalen Doktrin und der Praxis oder
Politik des Neoliberalismus unterschieden werden. Im ersten Fall wird
der Neoliberalismus - nach den Worten eines seiner Popularisierer - in
Gestalt der politischen Philosophie des politischen Liberalismus zum
"wissenschaftlichen Unterbau der kapitalistischen
Gesellschaft" (Lepage 1979, 11; Herv.i.O.). In diesem Sinne ist
der Neoliberalismus eine Theorie, die "eindeutig und
kompromißlos den Primat der Ökonomie vor alle anderen
Entscheidungskriterien, Wünsche und Hoffnungen stellt."
(Altvater 1981, 22)
Davon ist die Form zu unterscheiden, in der diese
Lehrmeinung zur Politik von herrschenden Eliten
wird.1
So gesehen setzt neoliberale Politik bereits in der "spät-
keynesianischen" Phase unter Helmut Schmidt ein (die dieser
staatsmännisch und in Kantischer Verantwortungsethik von Thatcher
und Reagan übernimmt) und ist seither in verschiedener Gestalt
fester Bestandteil der neokonservativen Regierungsallianz von
neoliberal gewendeten Freidemokraten und einer modernisierten CDU/CSU.
Dieses Muster des Übergangs vom keynesianisch unterfütterten,
sozialdemokratischen Krisenmanagement hin zu einer mehr oder weniger
offenen Politik der Austerität und Depression bei gleichzeitiger
Mobilisierung von Exportaktivitäten gilt tendenziell für alle
entwickelten Kapitalismen des Westens. Dennoch sind auch neoliberale
Politikmuster nicht konstant und haben ihre Konjunkturen: Nach den
anfänglichen Bemühungen, durch Kostensenkungen
wettbewerbsfähiger zu werden, werden nun im Laufe der 80er und
90er Jahre mehr und mehr Anstrengungen unternommen, die auf Produkt-
und Prozeßinnovationen zielen, um so in bestimmten
Weltmarktsegmenten durch Marktbeherrschung Konkurrenten auszustechen.
Je nach Mischungsverhältnis verändern sich auch die
Sozialstrukturen in den Blöcken und Ländern der Triade, was
unterschiedliche Ausrichtungen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zur
Folge hat. Die damit einhergehende Globalisierung ist somit gerade
keine Homogenisierung des Globus (wie das eine eher als lineare
Kontinuität gedachte Internationalisierung des Kapitals
impliziert), sondern die Generierung einer neuen internationalen
Hierarchie (vgl. Lipietz 1998). Man kann sogar sagen, daß die
Tendenz einer Dualisierung der sozialstrukturellen und
ökonomischen Verhältnisse in den jeweiligen Ländern und
Blöcken die Folge ist - allerdings auch das in unterschiedlichem
Ausmaß und auf differentielle Weise.
Scheitern des Neoliberalismus als hegemoniales Projekt
Trotz dieser verheerenden Eingriffe
in die
kapitalistischen Vergesellschaftungsgewohnheiten, die mit einer
dramatischen Vervielfachung gesellschaftlicher Spaltungslinien
verbunden sind, und trotz eines gnadenlosen Produktivismus und einer
Kräfteverschiebung hin zu Besitzern von Geldvermögen, vom
Produktivkapital zum Finanzkapital, ist es nicht gelungen, ein
kohärentes Akkumulationsregime mit einer entsprechenden sozialen
und politischen Regulationsweise zu etablieren.
2
Es ist daher
korrekter, von einer Dominanz neoliberaler Politik zu sprechen. Die
ideologische Form des Neoliberalismus hat politisch zwar eine soziale
Revolution eingeleitet und dominiert, die den Kapitalismus
modernisieren sollte, sie ist aber gleichzeitig als hegemoniales
Projekt gescheitert.
Dafür
sprechen etliche Phänomene aus der
aktuellen Politik: vom Knistern in der Europäischen
Währungsunion (unter deutscher Vorherrschaft) über die
monetaristischen Flickschustereien in der Haushaltspolitik bis hin zur
personellen Janusköpfigkeit in Parteieliten und
Gewerkschaftsführung.3
Auch auf internationaler Ebene
läßt sich eher eine Hinwendung zu moderateren neoliberalen
Politiken erkennen (Großbritannien, Frankreich, USA). Diese
Widersprüche sollten aber nicht als Irrationalität der
Mächtigen denunziert werden, wie das gerne in linken
tageszeitungen gemacht wird, vielmehr sind sie Ausdruck realer
Schwierigkeiten, ein kohärentes Entwicklungsmodell zu finden. Der
in letzer Zeit oft bemühte Diskurs um gesellschaftliche Blockaden
und Verweigerungen einschließlich des herzöglich-
präsidialen Rucks durch Land und Gesellschaft wäre dann eher
ein verborgener Hilferuf der Herrschenden nach sozialen Innovationen
für einen neuen gesellschaftlichen Konsens zur ungehinderten
Fortschreibung kapitalistischer Verhältnisse. Wie wir gesehen
haben, fühlen sich etliche Linke in ihrer "sozialen
Verantwortung" auch angesprochen.
Neoliberale Krisenpolitik
Nicht nur auf der Oberfläche zeigen sich Risse im
Gebälk der Kapital- und Politikfraktionen, die Inkohärenz des
neoliberalen Projektes läßt sich auch fundierter
begründen. So sieht Alain Lipietz, Wirtschaftswissenschaftler und
Vorstandsmitglied der französischen Grünen, vier Probleme des
- wie er es nennt - liberalproduktivistischen Modells (vgl. Lipietz
1995, 91f): eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft
(Brasilianisierung), keine Überwindung der Probleme des
Taylorismus (relative Überakkumulation), die Rückkehr von
Konjunkturzyklen auf makroökonomischer Ebene (crashs) und
internationale Instabilität aufgrund der Freihandelsideologie
(beggar-thy-neighbour).
Diese Argumente aufgreifend verkehrt sich die
Problematik auf bedeutsame Weise. Der Neoliberalismus ist nicht Teil
der Lösung der Krise, sondern die politische Essenz des Problems
selbst. Die Politik des Neoliberalismus ist eine Krisenpolitik, die
aufkommt, wenn das Wachstum sich verlangsamt, die
Kapitalrentabilität sich verschlechtert und soziale Kompromisse
zusammenbrechen. Zwar konnte die "neoliberale
Konterrevolution" die Akkumulation selektiv wieder in Gang setzen,
sie konnte jedoch kein kohärentes Akkumulationsregime ausbilden,
weil eine dazu passende und konsistente neoliberale Regulationsweise
(Gewohnheiten, Normen und Institutionen) fehlt und absehbar auch
weiterhin fehlen wird. In dieser Perspektive reflektiert der
Neoliberalismus selbst tiefliegende Widersprüche der
kapitalistischen Produktionsweise auf der "Höhe seiner
Zeit". Es sind genau diese Widersprüche, die den Zweifel
nähren, daß der Neoliberalismus ein nachhaltiges
Wirtschaftswachstum garantiert, die skizzierten Brüchigkeiten
verweisen daher eher auf eine systemische Instabilität des
Kapitalismus sowohl auf der Zeit- als auch auf der geographischen
Ebene.
Entmischung von Identitäten
Es bleibt die Frage, ob Neoliberalismus mehr als eine
Ideologie ist. Wäre er "bloße" Ideologie, so
läge die Überlegung nahe, seine Selbstverschleierung durch
Ideologiekritik beseitigen und seinen wahren Gehalt offenlegen zu
können. Das aber wäre ein rationalistischer Kurzschluß.
Denn man sollte zwischen "historisch organischen Ideologien"
und "willkürlichen, rationalistischen, 'gewollten'
Ideologien" unterscheiden, wobei nur die ersten
"Menschenmassen organisieren, das Terrain bilden, auf dem sich
Menschen bewegen..." (Gramsci GH 4, 876) Nun ist der
Neoliberalismus ganz gewiß eine Ideologie, die "in der
Materialität der sozialen Verhältnisse erfaßt und
einverleibt" ist, die es nicht zuläßt, "in einer
rationalistischen Tradition eine gebogene durch eine gerade Idee zu
berichtigen" (Althusser 1977, 56). Es ist gerade die
Materialität dieser sozialen Verhältnisse, in denen der
Neoliberalismus seine Hauptwirkungen erzielt. Seine Massenwirksamkeit
besteht darin, daß er über vielfältige Medien in den
Alltagsverstand der Menschen eindringt, sich dort einschreibt und sie
zugleich transformiert, blockiert oder in eine bestimmte Richtung
mobilisiert. Er generiert so Differenzen bei den Akteuren und
reorganisiert unterschiedliche Geschwindigkeiten bei deren
Reorientierung. Gerade in der Dezentralität und
Differentialität neoliberaler Wirkungen liegt seine Stärke -
wenn man so will in seinen ungleichen Effekten. Der Versuch, ihn
lediglich an irgendwelchen "think-tanks" festmachen zu
wollen, ist daher unzureichend. Die sozialstrukturellen
Veränderungen und die Erosion sozialer Milieus sind in dieser
Perspektive durchaus ernstzunehmen und verweisen auf eine
Neuzusammensetzung der sozialen Basis eines postfordistischen
Kapitalismus, der aller Voraussicht nach andere Identitätstypen
hervorbringen wird. Loyalität zum Unternehmen und gesteigerte
Flexibilität im Kampf um Wettbewerbsvorteile, Integration durch
konkrete Arbeit, Abschied von einer sozialstaatlichen
"Anspruchshaltung" und Hinwendung zu "mehr
Selbständigkeit" und Eigenverantwortung, Weltoffenheit
verkörpernd, weniger Sicherheitsdenken und Mut zum Risiko,
alltagspraktische Stigmatisierung der Marginalisierten und
Ausgeschlossenen, die wiederum eine "Kultur der Armut"
ausbilden müssen - das alles sind Hinweise darauf, daß sich
der soziale Raum des Fordismus entmischt und sich neue Muster sozialer
Selektivität ausbilden. Dieser Umbau von Identitätsmustern
und Lebensbiographien hat sich aber keineswegs zu aggregierten
Verhaltensmustern sozialer Klassen verdichtet, vielmehr erodiert dieser
Prozeß selbst das politische System und dessen
repräsentative Formen, führt dort zu noch mehr Klientelismus,
Lobbyismus, Personalismus und Populismus, denen auch die
"Aufrechtesten" sich nicht entziehen können:
Alltagsrassismen bei der grünen Klientel kombiniert mit
opportunistischer Machtgeilheit an der Parteispitze,
sozialdemokratische Liebschaften für die Rüstungsindustrie,
Verteidigung des Sozialstaats durch CDU-Flügel. Diese verrohende
Durchmischung der politischen Kultur stärkt wiederum Tendenzen,
sich von "der" Politik zu verabschieden und - je nach
materiellen Ressourcen - in den individuellen Konsumismus zu
flüchten. Auch der politische Raum der Gesellschaft imaginiert
sich so zunehmend als ein reproduktives Auf-der-Stelle-Treten - mit
drastischen sozialen Folgen, deren Ende nicht in Sicht ist.
Neoliberale Politik dominiert seit den
70er Jahren, zeigt
aber mittlerweile deutliche Risse auf sozialem, politischen,
ökonomischen und kulturellem Gebiet und hat insgesamt keine
Überwindung der fordistischen Krise bewirkt und keine
tragfähige Hegemonie
hervorgebracht.4
Daraus darf aber nicht
geschlossen werden, daß man es mit einem Papiertiger zu tun hat.
Vielmehr sprechen viele Phänomene dafür, daß der
Neoliberalismus als Ideologie sich in die Materialität der
sozialen Verhältnisse eingeschrieben hat und zu einem mehr oder
weniger festen Kern der alltäglichen Reproduktion des
postfordistischen Individuums geworden ist. Dies wirkt sich auch auf
die Formierung linker Politik aus. Für eine Einschätzung von
deren Chancen und Risiken sollen nun einige hegemonietheoretische
Aspekte untersucht werden.
Herrschender Machtblock und organische Krise ...
Hintergrund der folgenden Überlegungen ist die
theoriegeschichtlich und praktisch-politisch eminent folgenreiche
Tatsache des Scheiterns der Revolution im Westen nach der
Oktoberrevolution in Rußland. Hatte Lenin die revolutionäre
Situation durch das "Grundgesetz der Revolution" für
Rußland zutreffend beschrieben, nachdem die oben nicht mehr in
der alten Weise können und die unten das Alte nicht mehr wollen,
stellte sich Gramsci zufolge die Lage im Westen anders dar. Dort bildet
sich zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Regierten und
Regierenden ein komplexes Beziehungsgefüge aus, das analytisch als
eine Erweiterung des Staates begriffen werden muß. Staat kann
nicht auf Zwang reduziert werden (Gewaltmonopol des Staates), sondern
der Staatsbegriff muß erweitert werden.
"In diesem Sinne
könnte man sagen, daß Staat = politische Gesellschaft +
Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang"
(Gramsci GH 4, 783). Dem "eigentlichen" Staat als politischer
Gesellschaft ist eine società
civile5
vorgelagert, die sowohl zum
Schutz als auch als Regenerationsressource dient. Tritt nun ein
"Zwiespalt zwischen Repräsentanten und
Repräsentierten" auf, kommt es zur "Hegemoniekrise"
oder zur "organischen Krise... mit gefährlichen unmittelbaren
Situationen, weil die verschiedenen Bevölkerungsschichten nicht
dieselbe Fähigkeit besitzen, sich rasch zu orientieren und sich
mit derselben Schnelligkeit zu reorganisieren.
Die traditionelle
führende Klasse... wechselt Menschen und Programme aus und gewinnt
die Kontrolle wieder..." (Gramsci GH 7, 1578), um sich so zu
konsolidieren und einen neuen historischen Block zu bilden. Die
Gefährlichkeit eines solchen "Transformismus" oder einer
solchen "passiven
Revolution"6
liegt darin, daß in
einer Phase des Umbruchs "das Alte stirbt und das Neue [...] noch
nicht zur Welt kommen" (Gramsci GH 2, 354) kann.
... in der gegenwärtigen Phase
Diese skizzenartige Rekonstruktion der
Hegemonieproblematik bildet den theoretischen Hintergrund für die
Annahme, daß wir uns in einer solchen Phase befinden. Die
Dominanz neoliberaler Politik hat im Laufe der 70er Jahre den
fordistischen Klassenkompromiß aufgekündigt und damit der
sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung, die sich über
Gewerkschaften und SPD mit dem Fordismus arrangiert hatte, einen mehr
oder minder schweren Schlag versetzt. Diese Desartikulation
sozialdemokratischer Politik führte dort zu einer Fragmentierung,
die zwischen Lähmung, Nostalgie, Machtgier, Anpassung und
populistischer Verantwortungsbereitschaft mit neoliberalen
Einsprengseln changiert. Auf der anderen Seite konnte der herrschende
Block an der Macht systematisch einen konservativen Reformismus in Gang
setzen, dem sich kaum noch jemand mangels ausgearbeiteter Alternative
ernsthaft entgegenzustellen vermag. Dennoch, so die These, ist es nicht
gelungen, eine tragfähige Hegemonie zu installieren, die sich auf
ein kohärentes Akkumulationsregime mit einer praktikablen sozialen
und politischen Regulationsweise stützt. Im Gegenteil scheinen die
ideologisch- politischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte die
politischen Eliten eher demoralisiert und ihre Potentiale verbraucht zu
haben. Es liegt daher nahe, daß ein "Wechsel von Programm
und Menschen" notwendig wird, der die Kräfteverhältnisse
im Machtblock neu ordnet und über dieses ausgewechselte
Führungspersonal eine neuerliche Organizität zur
Zivilgesellschaft herstellt. Neue Führungsschichten sollen durch
Kooptationen und Rekrutierungen dem herrschenden Block an der Macht
einverleibt werden und so zur Konsolidierung des brüchig
gewordenen Hegemonieprojekts des Neoliberalismus beitragen. Auf der
Zeitachse betrachtet folgt einer Phase der selektiven Desartikulation
von Staatspraktiken nun der Versuch einer Reartikulation von
Staatshandeln. In räumlicher Hinsicht wird eine scheinbar
anarchische territoriale Desintegration und Diffusion zu geographischen
Netzwerken mit minutiös abgestuften, gleichwohl umkämpften
Hierarchien kristallisiert. In qualitativer Hinsicht wird der
entscheidungskompetente antizipative Fürsorgestaat in prozedurale
Verhandlungssysteme der governance vervielfältigt,
dezentralisiert, fragmentiert - bei gleichzeitiger Kontraktion auf die
sogenannten Kernbereiche des Staates (Innen- und Sicherheitspolitik,
Geldpolitik). Angeregt von Überlegungen von Bob Jessop (1997,
insbes. 67 ff) würde ich von einer Phase der Re-Etatisierung oder
der Reartikulation von Staatlichkeit sprechen, die der staatlich
induzierten Krisenpolitik des Neoliberalismus folgt.
Fragmentierung der Linken
Weit davon entfernt, eine einigermaßen konsistente
Alternative vorweisen zu können, ist die Linke selbst angesichts
der neoliberalen Durchdringung der Gesellschaft demoralisiert, konnte
die alten Flügelkämpfe der 70er Jahre nicht überwinden,
vollzieht in weiten Teilen eine Annäherung an einen
"guten" oder "wahren" Liberalismus und/oder hat
sich in den gesellschaftlichen Nischen eingerichtet.
Angesichts breiter
neoliberaler Erfolge nostalgisch von einem "gezähmten
Kapitalismus" zu reden, vergißt die Tatsache, daß der
Fordismus eher die Ausnahme einer vorübergehenden Lösung
kapitalistischer Widersprüche
ist.7
Weder der Kapitalismus vor dem
ersten Weltkrieg noch der der Zwischenkriegszeit hatten so viel
"Erfolg" wie der Fordismus, der selbst Resultat
außerökonomischer Bedingungen war (Bretton Woods, Weltgeld
US-Dollar, bedingte Souveränität und Teilung Deutschlands,
Systemwettbewerb). Eine antikapitalistische Linke war gezähmt,
zeigt sich nach Jahren der neoliberalen Dominanz geschockt und erinnert
sich einigermaßen romantisch verklärt an die
Nachkriegsverhältnisse zurück, die so romantisch keineswegs
waren. Ein Gutteil der politischen Dominanz des Neoliberalismus
verdankt sich in dieser Perspektive gerade der Tatsache, daß es
nicht gelungen ist, in den letzten Jahrzehnten eine originäre und
eigenständige Alternative zur "sozialen Marktwirtschaft"
zu entwickeln. Diese theoretische und praktische Fragmentierung der
Linken könnte aber gerade deshalb eine Basis bieten,
"Menschen und Programme" in den herrschenden Block
einzuverleiben - jedenfalls moderate Elemente davon.
"Linke Diskurse" und das Projekt der Re-Etatisierung
Es ließe sich ein zu rekrutierendes Potential
ausmachen, das aus reflektierten liberalen Intellektuellen und
bestimmten Praktiken besteht, die mit einer Rhetorik der
Verantwortungsethik eine neue produktivistische soziale Basis in einen
neuen, reduzierten Korporatismus einbindet, wobei sich die
Bewegungslinke weitgehend in Selbstgenügsamkeit übt und die
Grünen (die sich nur noch minimal an ihre einstige
Radikalität erinnern) sich parallel für einen
ökologisch- modernistischen Umbau der Gesellschaft anbieten. Es
könnte so gelingen, um den neoliberalen Kern der Modernisierung
eine Sozialität zu konstruieren, deren Trägerschaft bis tief
in bestimmte Segmente der Gesellschaft hineinreicht und diese so
staatsförmig- selektiv zu reorganisieren. "Wenn das
Verhältnis zwischen Intellektuellen und Volk-Nation, zwischen
Führenden und Geführten, zwischen Regierenden und Regierten
durch einen organischen Zusammenhalt gegeben ist, in dem das
Gefühl- Leidenschaft zum Verstehen und folglich zum Wissen wird
(nicht mechanisch, sondern auf lebendige Weise), nur dann ist die
Beziehung eine der Repräsentanz und kommt es zum Austausch
individueller Elemente zwischen Regierten und Regierenden, zwischen
Geführten und Führenden, das heißt, es verwirklicht
sich das gemeinsame Leben, das allein die soziale Kraft ist, es bildet
sich der 'geschichtliche Block'." (Gramsci GH 6, 1490) Der Aspekt
des Selektiven muß dabei betont werden, weil es sich um ein
Herrschaftsprojekt handelt, in das konstitutiv Hierarchien
eingeschrieben sind - und diese dürften im postfordistischen
Kapitalismus eher zu- als abnehmen.
Wenn meine These richtig ist, geht es also um die
Kompatibilität bestimmter "linker Diskurse" mit dem
Projekt der Re-Etatisierung. Diese Überlegung muß nicht
ausschließlich als "Andienung" der Linken verstanden
werden, sie kann durchaus auch in einer konservativen Umarbeitung
neoliberaler Orthodoxie bestehen.
Insofern wäre die Formulierung
"neoliberale Sozialdemokraten" der Gruppe von Lissabon durch
die von "sozialdemokratischen Neoliberalen" zu
komplettieren.8
Wenn für Politik Kompromisse konstitutiv sind, so
sind weniger die (horizontal gedachten) Extreme des politischen
Spektrums von Bedeutung (etwa die hardliner der FDP oder die
"kommunistische Plattform" der PDS) als die für
Realpolitik viel relevantere "innere" Kompatibilität
dieses Spektrums. Insofern wären eher Verträglichkeiten
zwischen moderat- neoliberalen und linksliberalen Komponenten
bestehender Diskurse genauer zu lokalisieren.
Hans-Peter Krebs
*
Stark gekürzte Fassung eines Beitrags zur
Tagung "Ungleichheit als Projekt: Globalisierung - Standort -
Neoliberalismus" in Marburg am 28./29.11.1997.
<zurück zum Text>
1 Es
wäre sträflich zu meinen, der das Primat der
Ökonomie postulierende Neoliberalismus würde auf Politik und
Staat verzichten. Neoliberale Politik ist vielmehr in hohem Maße
etatistisch.
<zurück zum Text>
2
"Das Akkumulationsregime ist ein Modus systematischer Verteilung
und Reallokation des gesellschaftlichen Produkts, der über einen
längeren Zeitraum hinweg eine bestimmte Entsprechung zwischen zwei
Transformationen herstellt: einerseits der Transformation der
Produktionsverhältnisse (Volumen des eingesetzten Kapitals,
Aufteilung unter den Branchen und Produktionsnormen) und andererseits
der Transformation der Verhältnisse der tatsächlichen
Konsumtion (Konsumtionsnormen der Lohnabhängigen und anderer
sozialer Klassen, Kollektivausgaben, etc.)." (Lipietz 1985, 120 -
korr. Übersetzung)
"Wir nennen [...] Regulationsweise die Gesamtheit der
institutionellen Formen, Netze, expliziten und impliziten Normen, die
die Kompatibilität der Verhaltensweisen im Rahmen eines
Akkmulationsregimes in Übereinstimmung mit den jeweiligen sozialen
Verhältnissen und jenseits ihrer konfliktuellen Eigenschaften
sichern." (ebd., 121) (Vgl. Krebs 1996, 12 ff.; Röttger 1997,
90 ff.
<zurück zum Text>
3 Die
jüngste "Wende" des Fraktionsvorsitzenden der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion Wolfgang Schäuble hin zu einem
Kompromiß in der Steuerreform mit den Sozialdemokraten zeigt nur
die machiavellistische Weitsichtigkeit des bis vor kurzem noch
nationalistisch daherkommenden Konservativen - was nur bedeutet,
daß Schäuble seine national-konservativen Vorstellungen aus
machttaktischen Gründen hintanstellt. Die entsprechende
Bereitschaft hat mittlerweile Gerhard Schröder bekundet. Für
die Gewerkschaften ließen sich ähnliche Beispiele finden.
<zurück zum Text>
4
Theoretisches Kriterium dafür ist ein Reproduktionsschema, das
einen Kapitalkreislauf gewährleistet. Ein solches ist
gegenwärtig nicht zu erkennen, da das Kapital territorial
diffundiert und die für seine Existenz notwendigen Metamorphosen
nicht stabil halten kann. Es wäre allerdings zu einfach, diese
Probleme auf eine "Nachfragelücke" reduzieren zu wollen.
Denn über diese hinaus gibt es Probleme der
Produktivitätsentwicklung, der Veränderung von
Wettbewerbsmustern und der Generierung von Wissensformen, vor allem
aber fehlt ein sozial stabiler und ausreichend differenzierter
Gesamtarbeiter, der sich zu sozialen Klassen mit routinisierten
Verhaltensmustern aggregieren kann.
<zurück zum Text>
5 Diese
Konzeption von "Zivilgesellschaft" unterscheidet sich
fundamental von der, die ein aufgeklärter Liberalismus seit den
späten 80er Jahren befördert. Will der erste auf deren
eminente Wirkmächtigkeit hinweisen und die Notwendigkeit einer
diese veränderten Bedingungen berücksichtigenden Politik der
Linken betonen, ist letzterer normativ davon überzeugt, daß
der Kapitalismus dem Druck wachsender "Zivilisierung" weicht
und durch einen von der Konservativen Hannah Arendt entliehenen
Politikbegriff mit einem neuen Demokratietyp überwunden wird (vgl.
Rödel u.a. 1989).
<zurück zum Text>
6 Unter
"trasformismo" versteht Gramsci u.a. die
Einverleibung von Personen und Gruppierungen in den herrschenden Block
(vgl. etwa Gramsci GH 5, 966). Mit "rivoluzione passiva"
bezieht sich Gramsci ausdrücklich auf die von Marx im Vorwort zur
Zur Kritik der politischen Ökoknomie (MEW 13, 7ff) aufgestellten
Grundsätze, wonach erstens eine Gesellschaftsformation erst dann
verschwindet, wenn die Produktivkräfte keine Vorwärtsbewegung
mehr finden und zweitens daß eine Gesellschaft sich keine
Aufgaben stellt, für deren Lösung nicht bereits die
notwendigen Bedingungen vorhanden sind (vgl. Gramsci GH 7, 1734). Eine
Perspektive, die unmittelbar in die hegemonietheoretische Problematik
führt. Wie Przeworski (1986) in spieltheoretischer Methodik
plausibel machen kann, kann die Geschichte der Sozialdemokratie selbst
als erfolgreiche sukzessive Einarbeitung in den Staat verstanden
werden, gewissermaßen von der Gegnerschaft zur Lohnarbeit zum
Wahlkampfslogan "Arbeit, Arbeit, Arbeit".
<zurück zum Text>
7 Wie der
französische Regulationsansatz zeigen kann, wurden im
Fordismus keineswegs die kapitalistischen Widersprüche
"gelöst", vielmehr wurden ihnen mithilfe eines
historisch noch nie dagewesenen Produktivismus (dank des Taylorismus)
eine vorübergehend stabile Bewegungsform verliehen. Relativ
stabile Phasen der kapitalistischen Produktionsweise können also
als bestimmte vorübergehende Bewegungsförmigkeit von
Widersprüchen bestimmt werden.
<zurück zum Text>
8 In diesem
Sinne lassen sich zukunftsorientierte
"Kommissionen" wie die von Kurt Biedenkopf und Gerhard
Schröder beobachten, die im wesentlichen auf ernstzunehmenden,
weil querliegenden Ideen und Vorschlägen von Meinhard Miegel und
seinem "Institut für Wirtschaft und Gesellschaft" in
Bonn beruhen (vgl. Miegel 1997). Es dürfte - in der
Verlängerung meiner bisherigen Argumentation - klar geworden sein,
daß die weitgehende Ignoranz der Linken in der BRD gegenüber
einer solchen "zivilgesellschaftlichen Avantgarde"
verheerende Folgen hat.
<zurück zum Text>
Literatur:
Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate.
Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Westberlin.
Altvater, Elmar (1981): Der gar nicht diskrete Charme der
neoliberalen Konterrevolution. In: PROKLA. Nr. 44.
Gramsci, Antonio (1991ff): Gefängnishefte [zit. als GH].
Hamburg.
Gruppe von Lissabon (1997): Grenzen des Wettbewerbs. Die
Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit.
München.
Jessop, Bob (1997): Die Zukunft des Nationalstaates - Erosion oder
Reorganisation? Grundsätzliche Überlegungen über
Westeuropa. In: Sablowski, Thomas u.a. (Hg.): Jenseits der
Nationalökonomie? Weltwirtschaft und Nationalstaat zwischen
Globalisierung und Regionalisierung. Hamburg.
Krebs, Hans-Peter (1996): Fordismus: Entwicklung und Krise. In:
Bruch, Michael/Krebs, Hans-Peter (Hg.): Unternehmen Globus.
Münster.
Lepage, Henri (1979): Der Kapitalismus von Morgen. Frankfurt / New
York
Lipietz, Alain (1985) Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise.
In: PROKLA. Nr. 58
Lipietz, Alain (1995): Der Regulationsansatz, die Krise des
Kapitalismus und ein alternativer Kompromiß für die 90er
Jahre. In: Hitz, Hansruedi u.a. (Hg.): Capitales Fatales. Zürich.
Lipietz, Alain (1998; i.Ersch.): Nach dem Ende des "Goldenen
Zeitalters". Regulation und Transformation kapitalistischer
Gesellschaften. Hg. Hans-Peter Krebs. Hamburg.
Marx, Karl (1978): Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort. In:
MEW 13.
Miegel, Meinhard (1997): Arbeit in der globalen Gesellschaft.
Gespräch mit Florian Rötzer.
www.ix.de/tp/deutsch/inhalt/co/2012/2.html.
Przeworski, Adam (1986): Capitalism and Social Democracy. Cambridge
Rödel, Ulrich u.a. (1989): Die demokratische Frage. Frankfurt am
Main.
Röttger, Bernd (1997): Neoliberale Globalisierung und
eurokapitalistische Regulation. Die politische Konstitution des
Marktes. Münster.
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