Zu den bildungspolitischen Dimensionen des Unistreiks

Der dümmste Bauer erntet die dicksten Kartoffeln. Was hier als Bauernweisheit daherkommt, findet seinen konkreten Ausdruck in den gegenwärtigen bildungspolitischen Versuchen, die Rolle und Aufgabe der Universität neu zu bedeuten. Während sich in den 60er Jahren emanzipatorische Ansprüche noch erfolgreich gegen "Standort"- Argumente durchsetzen konnten, geht die Forderung nach "Bildung für alle" in der aktuellen bildungspolitischen Debatte im allgemeinen "Verwertbarkeitskonsens" unter. Neoliberale Strategen versuchen, die universitären Strukturen in ihrem Sinne zu verändern und stoßen bislang nicht gerade auf viel Widerstand.
Nach Hirsch entpuppt sich die Universität als unfähig für eine Reform, die sich Vorstellungen einer demokratischen und egalitären Gesellschaft verschrieben hätte. Vielmehr übernimmt sie die Rolle der Zuarbeiterin für die Aufrechterhaltung kapitalistischer Reproduktion. Studierende werden produziert unter Gesichtspunkten von Effizienz und Anpassungsfähigkeit. Joachim Hirsch arbeitet im folgenden Artikel eine kritische Perpektive auf die Funktion universitärer Ausbildung im Kontext gesellschaftlicher Machtstrukturen heraus. Deutlich wird hierbei, daß Universität ein wesentlicher Akteur im Kampf um die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Joachim Hirsch ist Professor am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und war Mitherausgeber der Zeitschrift links.

(Red.)

   Die bildungspolitische Misere ist, was die Universitäten angeht, auf den ersten Blick schnell beschrieben: anhaltend hohe und zum Teil noch steigende Studierendenzahlen, fortlaufend gekürzte Personal- und Sachmittel sowie eine zielstrebige Reduktion der staatlichen Studienförderung. Die Folgen sind unzumutbare Studienbedingungen, verrottete Bibliotheken, ungenügende Räumlichkeiten, überfüllte Lehrveranstaltungen.
   Die Studierenden reagieren darauf mit periodischen Streik- und Protestaktionen, die sich auf die Forderung nach mehr Personal und Geld konzentrieren und regelmäßig vergeblich sind. Relativ wenig thematisiert werden dabei die herrschenden bildungspolitischen Konzepte und Strategien. Die Annahme, die gegenwärtige Bildungspolitik sei vorrangig durch monetäre Sparmaßnahmen und weniger durch inhaltliche Ziele bestimmt, könnte sich allerdings als Irrtum herausstellen, bei dem die Selbstlegitimation der Politik - es ist halt kein Geld da, und gekürzt werden muß überall - für bare Münze genommen wird.
   Ein Grund, aber nicht die Ursache der Misere liegt darin, daß inzwischen ca. 40% eines Altersjahrgangs die Hochschulen besuchen. Dies ist zu-nächst einmal ein Erfolg. Durchgesetzt wurde er in der Reformphase Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Schon damals spielten "Standort"-Argumente ("Bildungskatastrophe", "Sputnik-Schock", "Amerikanische Herausforderung") eine wichtige Rolle, konnten aber in Zeiten ökonomischer Prosperität mit emanzipatorischen Zielen ("Bildung für alle") relativ problemlos verbunden werden. Nach der Krise der siebziger Jahre und angesichts der darauf folgenden ökonomischen Umstrukturierungsprozesse wurde jedoch immer deutlicher, daß beides doch nicht so gut zusammenpaßt. Nach den Maßstäben neoliberaler Sparpolitik wurde "Bildung" zu teuer und überdies auch ökonomisch fragwürdiger: immer mehr HochschulabsolventInnen wurden in die Arbeitslosigkeit oder auf prekäre Arbeitsmärkte entlassen. Gleichwohl war es politisch nicht möglich, das Reform- Rad nun einfach wieder zurückzudrehen. Stattdessen setzte eine inhaltlich völlig konzeptionslos erscheinende Sparpolitik ein, die aber an den bestehenden Strukturen des Bildungssystems wenig änderte.
   Die soziale Öffnung der Hochschulen und die ansatzweise Abkehr von einer klassenbestimmten "Eliten"- Ausbildung ist eine Errungenschaft, an der unbedingt festgehalten werden muß. Aber gleichzeitig gilt es festzustellen, daß das bestehende Universitätssystem den damit verbundenen Anforderungen, was die Formen von Lehre und Lernen, das Verhältnis von Forschung und Lehre, die Qualifikationen des wissenschaftlichen Personals sowie die veränderten Orientierungen und Interessenlagen der Studierenden angeht, in keiner Weise gerecht wird. Die verbreiteten professoralen Klagen über leseunfähige Diplom- oder unmotivierte Lehramtsstudierende sind ein Symptom für die völlige Unfähigkeit der Universität und ihrer BetreiberInnen, mit einer veränderten gesellschaftlichen Situation fertig zu werden. Ansätze, die gesellschaftliche Funktion der Hochschulen neu zu definieren und dies in praktische Veränderungsschritte umzusetzen, hat es kaum gegeben. Tatsächlich haben sich die Hochschulen als weitgehend reformunfähig gezeigt. Dies wurde noch verstärkt durch den hochschulpolitischen backlash der siebziger Jahre, gekennzeichnet durch die Einschränkung studentischer Mitbestimmungsrechte und das Auswuchern staatsbürokratischer Kontrollen. Es ist den Universitäten in keiner Weise gelungen, ein tragfähiges Konzept für eine universitäre "Masssenausbildung" zu schaffen, das qualitativen und emanzipativen Ansprüchen einer demokratischen und egalitären Gesellschaft genügt.
der wirbel    Ein grundlegender Fehler in der aktuellen Streik- und Protestbewegung besteht darin, daß dieser Zusammenhang, d.h. die Frage nach einer dieser gesellschaftlichen Situation angemessenen organisatorischen und inhaltlichen Gestaltung der Hochschulen weitgehend ausgeblendet wird. Zwar wird hin und wieder und eher vereinzelt von der Notwendigkeit anderer "Inhalte" geredet, doch bleibt diese Formel weitgehend leer. Zwar ist es grundsätzlich richtig, die sich auf den Bildungs- und Sozialsektor konzentrierende staatliche Sparpolitik anzugreifen, aber es läßt sich gleichzeitig fragen, wieviel Sinn es eigentlich macht, mehr Geld in eine kaputte und den gesellschaftlichen Notwendigkeiten nicht mehr gerecht werdende Institution zu stecken.
   Es wäre an der Zeit, daß die Studierenden begreifen, daß sie mit ihren Forderungen im Gegensatz zum gesamten Staats- und Hochschulsystem stehen, zumindest dann, wenn sie für ein demokratisches und egalitäres Bildungssystem eintreten. Und es gilt zu realisieren, daß Parlamente, Regierungen und Universitäten bei der Durchsetzung der herrschenden Politik bislang recht gut kooperiert haben. Die Vermeidung des tatsächlich bestehenden Konflikts mit Universitätsleitungen und ProfessorInnen schafft indessen nicht nur schiefe Fronten, sondern beinträchtigt auch die Argumentations- und Politikfähigkeit der Studierenden. Bekanntermaßen sind universitäre Reformen immer schon eher von Studierenden als von der an Pfründen, Routinen und hergebrachten Bequemlichkeiten interessierten ProfessorInnenschaft ausgegangen. Die Verschiebung des Problems auf Regierungen und Finanzen hindert daran, zumindest Elemente einer Reformstrategie in die Diskussion zu bringen, die politische Debatte auf eine andere Ebene zu bringen und damit den Protest argumentativ wirksamer zu machen.
   Auf den ersten Blick sieht es so aus, als bestünde die staatliche Hochschulpolitik derzeit aus einem konzeptionslosen, durch selbstproduzierte Spar"zwänge" bestimmten Durchwursteln. Das mag für das, was in den Köpfen der beteiligten PolitikerInnen vorgeht, vielleicht sogar zutreffen. Man sollte sich aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich dahinter durchaus eine zielgerichtete bildungspolitische Strategie durchsetzt. Die aktuellen sozialstaatlichen Verschlankungsstrategien haben schließlich auch nicht nur schlichte Spareffekte zum Ziel, sondern vor allem einen Umbau der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Es ist zu vermuten, daß dieser Zusammenhang auch für die Bildungspolitik gilt. Das laufende Kaputtsparen der universitären Ausbildung könnte nämlich darauf zielen, die in der Reformphase erkämpften und institutionell verfestigten Errungenschaften durch Austrocknen zu beseitigen und das veränderungsunfähige System Hochschule insgesamt sturmreif zu machen für eine grundsätzliche Umgestaltung im Interesse der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte. Einschlägige Überlegungen in diese Richtung lassen sich zuhauf finden.
   Darauf bezogen, erweist sich auch die Kurzschlüssigkeit der Forderung, "Bildung" müsse als ökonomischer Standortfaktor erhalten oder gestärkt werden. Wer sich auf eine solche Argumentation einläßt, opfert von vornherein emanzipative Ansprüche auf dem Altar ökonomischer Kalküle, die weder von den Universitäten, noch von den PolitikerInnen, sondern vom internationalen Kapital formuliert und durchgesetzt werden. Genauer: auf der Tagesordnung der herrschenden Standortsicherungspolitik steht gar nicht so ohne weiteres die Abschaffung der Massenuniversität, weil eine breitere Schicht mit einer qualifizierten Grundausbildung Versehener als Reservoir für daraus zu rekrutierende Leitungs- und Leistungskader durchaus nützlich ist, ganz abgesehen von der Funktion der Hochschulen als Zwischenlagerstätten und Recyklingagenturen für strukturell Arbeitslose. Es geht vielmehr um eine den herrschenden Interessen konforme Umstrukturierung und Ausdifferenzierung der Hochschulausbildung, genauer, um eine kosteneffiziente Verschlankung der in die Jahre gekommenen Ausbildungsfabrik. Das heißt z.B. rationalisierte, von "überflüssigem Ballast" befreite Kurzstudiengänge, eine weitere Verschulung des Studiums und die Schaffung von institutiuonellen Selektionsmechanismen, die besondere Ausbildungsgänge für eine herauszufilternde neue Leistungselite ermöglichen. Das Mittel dafür ist die Mobilisierung der Konkurrenz zwischen Universitäten und Fachbereichen um finanzielle Mittel und zwischen den Studierenden um privilegierte Ausbildungsplätze. Kurzum: das Ziel ist eine inhaltlich noch weiter reduzierte und auf ökonomische Effizienz zurückgeschraubte Massenausbildung auf der einenund die Wiederherstellung einer Elitenausbildung auf der anderen Seite. Dabei stehen auf beiden Ebenen Qualifikationsziele wie Flexibilität (z.B. Baukasten- und Modulsysteme), variable Einsatzmöglichkeit und die Vermittlung von "Sekundärtugenden" ("Verläßlichkeit, Pünktlichkeit, Disziplin", so die jüngste und allgemein zustimmend aufgenommene Rede von Bundespräsident Herzog) im Vordergund. Ziel ist die Produktion von selektiv qualifizierten LeistungsfunktionärInnen, die multipel einsatz- und anpassungsfähig sind und auf jeden Fall jenseits der ihnen zugeschriebenen Rollen nicht darüber nachdenken, was sie tun. Die angezielte "Qualitätsverbesserung" der universitären Azusbildung erweist sich unter diesem Blickwinkel als Verdummungsprogramm. Die gerade zur Novellierung anstehenden Bundes- und Länder-Hochschulgesetze zielen genau dies an, und es wäre durchaus angebracht, sich nicht nur mit Büchern und Stühlen, sondern auch mit den gerade in einem grundsätzlichen Umbau befindenden rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen zu befassen.
uni-buch    Realistischerweise muß man davon ausgehen, daß solche Konzepte sowohl bei großen Teilen der ProfessorInnen als auch bei vielen Studierenden durchaus auf Gegenliebe stoßen. Ständisches Privilegiendenken auf Seiten der HochschullehrerInnen und neoliberales Ellbogenkonkurrenzbewußtsein auf Seiten der Studierenden verbinden sich dabei nicht schlecht. Das heißt: wer sich unter einem Hochschulstudium etwas anderes vorstellt als die Produktion von Funktionsmarionetten muß davon ausgehen, daß der politische Konflikt auch durch diese Gruppierungen, vor allem auch die Studierenden selbst, hindurchgeht. Eine genauere Wahrnehmung der unterschiedlichen Interessen ist schon deshalb dringend notwendig, weil die undifferenzierten Forderungen nach mehr Büchern, Stühlen und SeminarleiterInnen durchaus geeignet sind, die herrschende bildungspolitische Strategie zu unterstützen: Da das Geld ja bekanntermaßen knapp (gemacht worden) ist, muß es eben sinnvoller eingesetzt werden. Das heißt, die laufenden Proteste könnten darauf hinauslaufen, ohnehin anstehende Verschlankungs- und Rationalisierungsprozesse im Hochschulbereich zu legitimieren und mit voranzutreiben: Straffung, Kürzung, Reglementierung, optimale Kapazitätsauslastung, Beschränkung der Forschung auf ausgewählte Personen und Bereiche - mit allen Folgen für die Ausbildungsinhalte.
   Natürlich sollte mehr Geld für die Hochschulen gefordert werden. Aber nicht für die Hochschulen, wie sie heute sind und für die Machtklüngel, die sie beherrschen und die nur an der Sicherung ihres Status Quo interessiert sind. Die Forderung nach Geld muß sich mit Reformkonzepten verbinden, die darauf abzielen, auch unter den Bedingungen der "Massenuniversität" eine qualitativ akzeptable, inhaltlich offene, in hohem Grade selbstbestimmte, zu kritischer Reflexion und Autonomie befähigende Ausbildung zu gewährleisten. Diese Diskussion wird - schon wegen der höchst divergierenden Interessen auch unter den Studierenden nicht leicht sein. Brauchbare Modelle und Rezepte sind kaum vorhanden. Ohne diese Anstrengung ist der Kampf allerdings von vorneherein verloren und nützt gegebenenfalls gerade denen, die man zu bekämpfen glaubt: den staatlichen Standortstrategen ebenso wie den ihre kleinen Privatgärtchen pflegenden ProfessorInnen. Eine solche Arbeit ist natürlich nicht an einigen wenigen Streiktagen zu leisten, sondern benötigt Zeit, das heißt: vor allem Arbeits- und Diskussionsstrukturen, die von der bestehenden Institution und ihren Mechanismen systematisch verhindert werden.
   Daß der universitäre Normalbetrieb durch Streiks unterbrochen werden muß, um überhaupt erst mal wieder das Nachdenken über ihn, seine Zwecke und seine gesellschaftliche Bedeutung zu ermöglichen, sagt mehr über dessen Zustand als katastrophale materielle Lehr- und Lernbedingungen.

Joachim Hirsch
November 1997



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