Heft 4/98

Arbeit -- welche Arbeit?
Lohnarbeit und Existenzgeld

Noch bis in die 70er Jahre hinein galten Studierende als kaum ernstzunehmende Zeitgenossen, die »erst mal arbeiten gehen« sollten. Das Studium war noch mehr als eigenständige Phase der Vorbereitung auf das Arbeitsleben konzipiert, das sich idealerweise unmittelbar an den Universitätsabschluß anschloß. Die klassische Struktur einer durchschnittlichen (männlichen) Biographie sah nach der Schule irgendeine Ausbildung vor, nach der das echte, das Arbeitsleben beginnen sollte. Frühestens dann war die Jugend zu Ende und man konnte, nunmehr erwachsen, z.B. eine Familie gründen.

Inzwischen jobben etwa siebzig Prozent der Studierenden, und das nicht nur wegen der miserablen BAFöG-Leistungen, sondern auch weil sich ihre Lebensgewohnheiten verändert haben. Die hängen u.a. mit den veränderten Motiven zusammen, mit denen ein Hochschulstudium heutzutage begonnen wird. Die Hoffnung auf einen weniger stupiden Job mit mehr »Kreativitätsanteil« (»was Sinnvolles machen«) und der Horror vor der 40-Stunden-Woche spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Erwachsensein, das »echte Leben« beginnt für die meisten heute nicht mehr mit einem Schnitt - nach der Uni in den Beruf -, sondern viel früher, nämlich ab dem Zeitpunkt, wo der Lebensunterhalt ohne die Eltern bestritten werden kann/muß und weil man auch sonst unabhängig sein will.

Dabei muß die eine arbeiten gehen, weil die Bemessungsgrundlagen fürs Bafög zu hoch sind, der andere, weil er seinen Eltern nicht jedes Semester die Scheine vorzeigen will. Jenseits der jeweiligen Gründe, kann von einem neuen Typus des Studierenden gesprochen werden, der sich hochflexibel in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Hochschule und Arbeitswelt, etc. bewegt.

Studieren und nebenbei arbeiten, sich auf ständig veränderte Situationen einstellen und dies als »Herausforderung« wahrnehmen, gilt einerseits als attraktive Lebensweise - jedoch nur, weil die anderen Zwänge als noch lästiger empfunden werden. Andererseits ist es eine Voraussetzung, um in den neuen Arbeits- und Produktionsverhältnissen zurechtzukommen. Denn diese enorme Flexibilität erweist sich als eine zentrale Qualität bei der gegenwärtigen Umwälzung der Arbeitsverhältnisse, in der Eigenschaften wie eigenständiges Arbeiten, die Fähigkeit zur Kooperation und Kommunikation - Qualifikationen, die vor allem in den Geisteswissenschaften informell erworben werden (vgl. Dittmar 1998) - eine zentrale Bedeutung haben.1

Onkel Ford ist tot!
Die Umwälzung der Arbeitsverhältnisse ist Teil der umfassenden und weltweiten Krise der fordistischen Gesellschaftsformation, die spätestens Anfang der siebziger Jahre beginnt und bis heute andauert. Der Fordismus war ein historisch-spezifischer sozialer Kompromiß zwischen Lohnarbeit und Kapital, der unter anderem gekennzeichnet war durch tayloristische Arbeitsorganisation in den Fabriken, die Herstellung von Massenkonsumgütern (Auto, Kühlschrank, Softdrink) sowie einem interventionistischen Wohlfahrtsstaat, der die Nachfrage nach solchen Waren sicherte und das Modell männliche Erwerbsarbeit plus Kleinfamilie organisierte. Es handelt sich um einen historisch-spezifischen Versuch, die fundamentalen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise derart zu regulieren, daß eine bestandsfähige Reproduktion der Gesellschaft samt ihrer Widersprüche möglich wird. Das Ganze ist jedoch nicht als ein »großer Wurf« eines planenden Subjekts zu denken, sondern hat sich als mehr oder weniger zufälliges Produkt gesellschaftlicher Handlungen ergeben und ist abhängig von sozialen Kämpfen.

Ursachen der Krise sind die global verschärfte Konkurrenzsituation durch das Auftreten neuer, bisher kaum industrialisierter Länder auf dem Weltmarkt, die tendenzielle Erosion bzw. Verschiebung der Regulationskapazitäten von Nationalstaaten, der Bedeutungsgewinn von internationalen Finanzmärkten, aber auch die sinkenden Produktivitätszuwächse in der (für den Fordismus typischen) tayloristischen Arbeitsorganisation. Auch geraten die Lebensweisen und Alltagspraktiken, auf denen diese Gesellschaftsformation beruhte, nicht zuletzt durch die Kämpfe der Neuen Sozialen Bewegungen und ihrer Kritik an Produktivismus, Großtechnologie, Bürokratie, Kleinfamilie etc., in die Krise. Wie sehr aber beides miteinander verwoben ist, läßt sich beispielhaft am sogenannten Normalarbeitsverhältnis zeigen. Das Normalarbeitsverhältnis war nicht nur Kern und Gravitationspunkt der Flächentarifverträge, mit denen eine relative Einheitlichkeit der Lohnarbeiterklasse hergestellt wurde, auch alle Sozialversicherungssysteme gehen von einer entsprechenden Normalarbeitsbiographie aus. Zugleich impliziert(e) es eine bestimmte Art zu leben, für Männer also etwa nach der Schule eine Ausbildung abzuschließen, um danach bis ins Rentenalter in (meistens) einem oder zwei Jobs zu arbeiten, eine (Klein)Familie zu gründen. Für Frauen hieß das aber auch, nach einer Heirat, spätestens nach dem ersten Kind, den Beruf aufgeben und Hausarbeit leisten. Nun wird das Normalarbeitsverhältnis einerseits von den Unternehmen angegriffen, die eine weitgehende Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Auflösung der Flächentarifverträge fordern (und teilweise auch schon erreicht haben), um die Arbeitskraft billiger und verfügbarer zu machen. Andererseits erodieren seit den Siebzigern auch die entsprechenden Lebensweisen. So wird die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die für Frauen vor allem unbezahlte Hausarbeit und die Abhängigkeit vom Ehemann vorsah, durch die zweite Frauenbewegung massiv kritisiert. Die Abhängigkeit aller Familienmitglieder vom Erwerbseinkommen des Mannes und die Macht, die diesem dadurch zukam, war quasi funktionaler Bestandteil der Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Lohnarbeit: Die Macht in der Familie kompensierte die Ohnmacht in der Fabrik - beides bedingte einander. Die familiäre Reproduktionsarbeit schließlich sicherte erst die Verfüg- und Verwertbarkeit der männlichen Arbeitskraft - Henry Ford, Namensgeber des Modells, zahlte denjenigen Arbeiterfamilien einen Extra-Lohn, die einen effizienten und geordneten Haushalt führten. Wichtig für das fordistische Modell war die patriarchale Arbeitsteilung auch durch ihren arbeitsmarktpolitischen Effekt: Ein großer Teil der Bevölkerung tritt nicht auf den Arbeitsmarkt und gewährleistet der organisierten (männlichen) Arbeiterschaft günstige Ausgangsbedingungen für Lohnkämpfe.2

Die Krise der patriarchalen Gemeinschaft »Ehe« ist somit auch eine Krise der fordistischen Arbeitsmarktregulierung, denn eine Folge dieser Entwicklung ist unter anderem die Vergrößerung der LohnarbeiterInnenklasse: Frauen treten verstärkt auf den Arbeitsmarkt3 - nicht mehr nur als Teilzeitjobberinnen. Das bedeutet freilich nicht das Ende geschlechtsspezifischer Herrschaftsverhältnisse, aber die Rückkehr zur Vollbeschäftigung bzw. die Forderung danach, wie sie von der traditionellen Linken vertreten wird, wird vor diesem Hintergrund mindestens kontraproduktiv, weil Vollbeschäftigung im Fordismus eben auf einer grundlegenden patriarchalen Arbeitsteilung, also dem Ausschluß von Frauen (und anderen) vom Arbeitsmarkt beruhte. Dies und weitere Faktoren wie z.B. anhaltend hohe Produktivität der tayloristischen Arbeitsteilung sowie die Identität von Wachstum und Beschäftigung bilden eine besondere politisch-ökonomische Konstellation, die sich nicht wiederherstellen läßt. Im Fordismus war die Abkopplung der Menschen von alternativen Einkommensquellen (bspw. Naturalwirtschaft) zum ersten Mal vollständig durchgesetzt und wurde gleichzeitig durch Lohnarbeit kompensiert (Vollbeschäftigung). Das Phänomen Vollbeschäftigung war so gesehen historisch einmalig. Es gibt heute keine Rückzugsmöglichkeiten in nicht-warenförmige Ökonomien, und zugleich sind alle Menschen in den westlichen Industrieländern auf Geldeinkommen angewiesen, ohne daß diesem Bedürfnis entsprechend ausreichend Lohnarbeitsverhältnisse existieren. »Arbeitslosigkeit« ist kein konjunkturelles Phänomen mehr.

Die doppelte Krise der Lohnarbeit
Schon ab Ende der 70er Jahre entwickelte sich eine breite Diskussion über das Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft, in der sich die damals weitreichende Kritik am Fordismus widerspiegelte. (Vgl. Vobruba 1998) Einerseits stand die qualitative Seite der Produktion im Mittelpunkt der Kritik. Dabei wurden die Arbeitsbedingungen (Arbeit macht krank), die Produktionsinhalte (z.B. Kritik der Rüstungsproduktion) und die Nebenfolgen (Kritik ökologischer Schäden) der Produktion, sowie das Wohlstandsmodell insgesamt kritisiert. Auf der anderen Seite ging man davon aus, daß die ansteigende Arbeitslosigkeit aus dem quantitativen Rückgang der Nachfrage nach Arbeitskraft resultierte. Diese Analyse der doppelten Krise der Lohnarbeit, also quantitativ unzureichende und qualitativ unzulängliche Arbeitsplätze, führte dazu, daß eine eindeutige politische Positionierung schwierig wurde, da diejenigen, die für die Schaffung von Arbeitsplätzen plädierten, die qualitative Seite ignorierten. Denjenigen jedoch, die z.B. die Umweltverträglichkeit von Arbeitsplätzen in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellten, konnte vorgeworfen werden, sie ignorierten die Situation der Arbeitslosen. Die in dieser Situation unter dem Slogan »Übergang von der Arbeits- zur Tätigkeitsgesellschaft« entwickelte Vorstellung, das quantitative Versagen und die qualitative Kritik ließen sich für eine emanzipatorische Perspektive nutzen, indem man den Ausstieg aus der Lohnarbeit in ganz andere und bessere Formen von Arbeit und Leben propagierte, griff jedoch zu kurz. Übersehen wurde dabei, daß die wenigsten Menschen die materiellen Möglichkeiten haben, unabhängig vom Arbeitsmarkt zu leben und daß sich alternative Wirtschafts- und Lebensmodelle, die hier einen Ausgleich hätten schaffen können, auch nicht ohne weiteres individuell oder im kleinen kollektiven Rahmen entwickeln lassen. Die immateriellen Wohlstandsgewinne, unter anderem durch mehr freie Zeit, können den Verlust von materiellem Einkommen nicht ausgleichen. Eine Antwort auf diese Schwierigkeit war das Anfang der achtziger Jahre von den gewerkschaftsunabhängigen Arbeitslosenbewegungen entwickelte »Existenzgeld«-Konzept, mit dem sie sich bewußt von der Gewerkschaftsforderung nach einem »Recht auf Arbeit« abgrenzten. Dieses wurde vor allem abgelehnt, weil es nur eine Antwort auf die quantitativen Probleme ist. Ausweitung von Lohnarbeit funktioniert nur im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum, d.h. vermehrter Verbrauch von Gütern und damit von Energie. Die Parole »Arbeit, Arbeit, Arbeit« hat auch nicht die konkreten Arbeitsbedingungen oder den Sinn und Unsinn der jeweiligen Tätigkeit zum Gegenstand, sondern nimmt billigend in Kauf, daß Arbeit ruhig beschissen sein kann, solange sie nur profitabel ist. In der Existenzgelddebatte sollen dagegen mehrere Topoi miteinander verknüpft werden: Selbstbestimmte Arbeit und Verfügung über Ziele und Inhalte der Produktion, die Überwindung des Produktivismus moderner Industriegesellschaften und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Bedingung dafür ist, daß »Existenzgeld« unabhängig von Erwerbsarbeit allen Menschen ein ausreichendes Einkommen sichert. Eine relativ hohe Summe muß gewährleisten, daß niemand schlecht bezahlte oder stupide Jobs annehmen muß, die bedingungslose Auszahlung wiederum die Abschaffung der Schikane durch Sozialbehörden. Es geht also um die Wiederaneigung der eigenen Zeit und einen anderen Arbeitsbegriff.

Zwischen alternativer Sozialhilfe und Lohnsubvention
Während die Neuen Sozialen Bewegungen die Normalität der Lebensbedingungen im Fordismus kritisieren, will die neoliberale Kritik des Fordismus die Reproduktionsbedingungen kapitalistischer Verwertung optimieren. Monetaristen und Angebotspolitiker machten vor allem Interventionismus und Sozialstaat für den wirtschaftlichen Niedergang verantwortlich und fanden zunehmend Gehör in (nahezu) allen politischen Lagern. Eine der dabei durchzusetzenden Veränderungen war/ist die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse.4

Der Umbruch der Arbeitsverhältnisse beginnt gerade erst. Ein Chiffre dafür ist die vielbeklagte, stetig steigende »Arbeitslosigkeit«. Beschreibungen derselben gehen häufig von einer Abnahme der Arbeitsplätze durch eine immer umfangreichere Rationalisierung von Arbeit aus. Dabei ist die Situation so eindeutig nicht, vielmehr ist sie Ausdruck zweier gleichzeitiger Entwicklungen: Einerseits nehmen Beschäftigungsverhältnisse zu - noch nie waren so viele Menschen wie heute in Lohnarbeitsverhältnissen beschäftigt, sowohl in der Bundesrepublik als auch europaweit. Andererseits handelt es sich bei diesen Jobs nicht um relativ gesicherte Normalarbeitsverhältnisse, sondern die räumlich, zeitlich und vertraglich flexible Arbeit nimmt zu. Das heißt nicht unbedingt, daß durchgängig in völlig prekarisierten Jobs gearbeitet wird. Flexible Arbeit ist nicht gleich flexible Arbeit. Gutbezahlte, aber flexibel arbeitende SpezialistInnen können sich durchaus selbst versichern, die badjobber nicht. Die »neoliberale Offensive« hat u.a. zur Folge, daß die Gewerkschaften, um die Normalarbeitsverhältnisse für einen Teil ihrer Klientel zu sichern, darauf mit einer stärkeren »Lohndifferenzierung« reagieren. Dies führt zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes in einen Kern gutbezahlter VollzeitarbeiterInnnen (Überstunden incl.) und eine immer größer werdende Gruppe von Prekarisierten, die badjobs verrichten müssen, und davon mehr schlecht als recht leben können.

Was für die Verwertungsbedingungen gut ist, muß für die Reproduktionsbedingungen nicht ebensogut sein. Ein Problem dieser Politik ist nämlich, daß sie zu einer Dysfunktionalität der an der Normalbiographie orientierten Sozialversicherungssysteme führt. Zur Normalität wird die Bastelbiographie: ein Jahr in der ABM, dann Arbeitslosigkeit, danach einen Halbtagsjob und nebenbei Schwarzarbeit, Jobs auf Honorarbasis, etc.5 Immer weniger Menschen (i.d.R. Männer) erreichen die für die Normalrente notwendigen 40 Jahre Vollbeschäftigung, undes ist fraglich, ob es noch so viele sind, die das auch wollen.

Eine Antwort darauf sind die verschiedenen Kombi-Lohn-Modelle, mit denen versucht wird, Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen »abzusichern« bzw. Jobs im Niedriglohnbereich erst zu schaffen. In der neoliberalen Variante geht es um eine Senkung sozialstaatlicher Leistungen: »Wir können nicht auf einen Schlag das gesamte Sozialniveau absenken, ohne daß die Sozialpolitiker aller Cou-leur aufschreien. Deshalb halte ich den Weg für sinnvoll, über den Kombi-Lohn diesen tabuisierten Bereich aufzubrechen.« (H.P. Stihl, Wirtschafts-Woche 20.10.97)6

Während in diesen Entwürfen die Koppelung von Lohnarbeit mit Sozialleistungen bzw. Einkommen eher noch verstärkt wird, führt die Problembeschreibung, daß die Massenarbeitslosigkeit auf absehbare Zeit nicht zu beseitigen ist und der Sozialstaat in seiner alten Form nicht mehr funktioniert, mittlerweile zunehmend dazu, daß die Koppelung von Sozialleistungen an freie Lohnarbeit infragegestellt wird.

So im Modell des Club of Rome (Giarini/Liedke 1998): Der grundlegende Imperativ der beiden Autoren lautet, daß »Arbeit, genaugenommen jede produktive Tätigkeit, (...) der augenfälligste und grundlegenste Ausdruck unserer Persönlichkeit und Freiheit ist«. (Dieter Rulff, taz vom 5.5.98, 17) Damit diese Freiheit auch gelebt werden kann, bietet der Staat allen eine Grundbeschäftigung von 20 Stunden/Wo-che, bezahlt nach einem garantierten Mindestsatz. Wer allerdings so frei ist, diese Arbeit nicht anzunehmen, hat keinen Anspruch mehr auf staatliche Leistungen. Im Unterschied zu solchen Zwangsprogrammen geht es etwa bei den grünen Vorstellungen (ähnlich wie auch bei der PDS) zur Grundsicherung eher um eine Reform der Sozialhilfe (Die Grünen 1998, 69ff). Hier ist zunächst die Pauschalierung der Beträge hervorzuheben. Damit sollen einerseits Gängelungen durch die Sozialbürokratie wegfallen und alle die ihnen gesetzlich zustehenden Leistungen erhalten, die bei der Sozialhilfe z. T. einzeln beantragt werden müssen. Andererseits ist diese Vereinfachung darauf angelegt, die immer fragmentierteren Biographien und heterogener werdenden Lebensverhältnisse sozialtechnokratisch »einzufangen«. Das geschieht jedoch vor dem Hintergrund der Spaltung des Arbeitsmarkts (s.o.); neben einem wie umfangreich auch immer ausgestalteten Kern von Beschäftigten entsteht ein Heer von zu alimentierenden. Damit unterscheidet sich die grüne Grundsicherung in ihrer Logik nicht von der Sozialhilfe, auch wenn sie in einigen Bereichen Verbesserung bringen würde.7

Nach der Vollbeschäftigung
Die gegenwärtigen Versuche, das an seinen Rändern kriselnde System von Arbeitsbeziehungen und Sozialstaat neu zu regulieren, deuten eine umfangreiche Umstrukturierung an, in die es zu intervenieren gilt. Die »Familienähnlichkeit«, die die verschiedenen Grundsicherungsmodelle mit einem linken Existenzgeldmodell haben, macht es umso notwendiger, in der Auseinandersetzung um neue Regulationsformen die eigenen Positionen zu klären und die Probleme zu benennen, die die Existenzgeldforderung mit sich bringt.

Existenzgeld steht zwar einerseits für eine relative Unabhängigkeit vom Zwang zur Lohnarbeit und von staatlicher Bürokratie, andererseits aber, etwa wenn die Beträge zu niedrig sind, kann es im Gegenteil die Abhängigkeit vergrößern. Die Frage, ob und wie die EmpfängerInnen staatlicher Kontrolle ausgesetzt sind, hängt auch davon ab, ob die Beträge an jede Person ausgezahlt werden oder z.B. nur an Haushalte, also an Familien und damit an den in der Regel männlichen Familienvorstand. Eine linke Existenzgeldforderung müßte also Kriterien entwickeln, die den vielfältigen Widersprüchen und Kritiken an staatlicher Armutsverwaltung, patriarchaler Arbeitsteilung und rassistischer Diskriminierung (um nur einige zu nennen) Rechnung tragen. Die Höhe der Summe, die Auszahlung an jede Person und die nicht-bürokratische Vergabe können daher zunächst als solche Kriterien dienen. Will die Forderung jedoch mehr als eine gute Provokation sein, müssen zahlreiche Schwierigkeiten berücksichtigt werden. Durch die Entkoppelung von Einkommen und Lohnarbeit entstünde ein neuer Verteilungsmodus, der bei vielen zwar den Lebensstandard erhöhen, bei anderen allerdings - wegen des Wegfalls des Versicherungsprinzips - zu Verschlechterungen führen würde. Damit das Existenzgeld nicht zu einer alternativen Sozialhilfe wird, muß die Forderung gekoppelt werden an einen Kampf um die Umverteilung von Reichtum und Arbeit. Ebenso wird es eine Diskussion um »Gerechtigkeit« geben, in der die Frage aufgeworfen werden wird, ob die »Alimentierung« von Menschen, die »nicht arbeiten gehen«, gerechtfertigt sei. Hier wird es um die Durchsetzung eines neuen Arbeitsbegriffs gehen, um neue Kriterien für den Zusammenhang von Tätigkeit und der Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum. (Vgl. Negri: Der garantierte Lohn) Ein erweiterter Arbeitsbegriff würde, weil produktive und kreative Tätigkeiten nicht bloß in Büro und Fabrik verortet werden, auch eine Veränderung der Lebensweise bedeuten. Dabei kann es nicht um utopische Entwürfe am Reißbrett gehen, sondern um die Anknüpfung an reale Tendenzen in der Gesellschaft. Einstellungen und Lebensweisen, für die nicht Vollbeschäftigung und 40-Stunden-Woche die Quintessenz des Lebens sind, gibt es zahlreich - nicht zuletzt bei Studierenden.

Die Existenzgeldforderung transportiert und repräsentiert eine Vielfalt linker Kritiken an bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft und gibt dabei wenig Anlaß, angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Krise in den Irrglauben zu verfallen, es sei jetzt an der Zeit, wieder zu einem Arbeiterbewegungs-Marxismus zurückzukehren. So kann das Konzept ein Vehikel darstellen, mit dem die Linke in die aktuellen Umstrukturierungs- und Umbruchsprozessen politisch intervenieren kann, ohne sich defensiv (bzw. verbalradikal) zum ungeliebten und zurecht kritisierten Sozialstaat verhalten zu müssen. Nicht zuletzt könnte die Forderung nach Existenzgeld der Ausgangsunkt einer europaweiten linken Bewegung sein; anknüpfen könnte man an Gruppen bzw. Bewegungen in Frankreich und Italien, die schon seit einiger Zeit mit dieser Forderung arbeiten.

Stephan Adolphs/Serhat Karakayali

Arbeitskonferenz zum Thema Existenzgeld vom 18. - 21. 3.1999 in Berlin. Mehr Informationen in den letzten beiden Nummern der Arranca oder auf der Homepage der fels-Sozial-AG: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/fels/konferen/

Literatur:
Die Grünen 1998: Grün ist der Wechsel. Programm zur Bundestagswahl 1998
Dittmar, Frieder 1998: Studium des Neoliberalismus. In: Görg/Roth (Hg): Kein Staat zu machen, 185-196
Giarini, Orio/Liedke, Patrick M. 1998: Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome.
Gorz, André 1998: Zwischen bezahlter Arbeit und Selbsttätigkeit. Über Enteignung und Wiederaneignung der Arbeit. In: FR vom 8. Juni 98
Lazzarato, Maurizio 1998: Verwertung und Kommunikation. Der Zyklus immaterieller Produktion. In: Negri/Lazzarato/Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, 53-66
Vobruba, Georg 1998: Ende der Vollbeschäftigungsgesellschaft. In: Eicker-Wolf u.a. (Hg.): Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat, 21-51
Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung 1998: Abschlußbericht. Für ein neues ›Modell Deutschland‹. In Blätter f. deutsche u. internationale Politik 5/98, 621-628

[1] Es handelt sich um Eigenschaften, die früher einmal als solche der Selbstverwirklichung galten und nur als außerhalb der (»entfremdeten«) Arbeit lebbar gedacht wurden. Heute werden sie zunehmend Bestandteil der Warenproduktion selbst. Für die postfordistische Ökonomie wird der Umgang mit Informationen und Wissen immer wichtiger, weil die dem eigentlichen Produktionsprozeß vorgelagerten Prozesse, wie Vermarktung, Werbung, Investment immer größeren Anteil am Produkt haben. (Vgl. Lazzarato 1998, 55f)
[2] Ein Umstand mit Tradition: Zu Beginn der Industrialisierung gab es zunächst auch Lohnarbeiterinnen; phasenhaft sinkende Löhne zwingen ganze Familien zur Lohnarbeit. Die Lohnarbeit weiterer Familienmitglieder führt aber tendenziell nicht zur Erhöhung des Reproduktionsniveaus, sondern das Einkommen wird auf mehrere Köpfe verteilt. Die (männliche) Arbeiterbewegung erkämpft dagegen den Familienlohn und verdrängt die Frauen (und Kinder) aus dem Produktionsprozeß. Die Entstehung der proletarischen Familie kann so als Resultat eines klassenkämpferischen Akts betrachtet werden, bei dem die Arbeiterbewegung dem Kapital - entlang sexistischer Kriterien - Arbeitskräfte »entzog«.
[3] Frauenerwerbsquote in Westdeutschland 1970: 46,2%, 1996: 59,7. Institut der dt. Wirtschaft 1998: Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, 16
[4] Der Neoliberalismus schafft die Bedingungen, unter denen eine solche Reform gesellschaftlich durchsetzbar wird, indem er sich zum Nexus all der Alltagspraktiken, Vorstellungen und Lebensgewohnheiten macht, die dem »sozialdemokratischen Staat« entgegenstehen. Es ist unter anderem dieses »Einbeziehen« neuer gesellschaftlicher Praktiken, die es möglich macht, das Projekt »neoliberale Flexibilisierung« im Alltagsbewußtsein tief zu verankern.
[5] In Zahlen ausgedrückt: Zur Zeit arbeiten 45% der Beschäftigten in Westdeutschland in Nicht-Normalarbeitsverhältnissen (1980: 20%) in GB und den USA sind es noch weitaus mehr (Gorz 1998, 9).
[6] Der Vorschlag der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) (1998) sieht die Subventionierung von gering entlohnten Beschäftigungsverhältnissen vor, die Förderung ist nicht an sozialrechtliche »Bedürftigkeit« gebunden. Stundenlöhne unter 18 DM werden durch einen degressiven Zuschuß aus Steuermitteln auf diese Summe aufgestockt. Geht es bei diesem Modell darum, ein bestimmtes Lohnniveau zu garantieren und das alte Sozialversicherungssystem aufrechtzuerhalten, sollten beim Vorschlag der ehemaligen Bundesregierung die Freibeträge für die Sozialhilfe erhöht, also (Neben-) Einkommen bis zu einem bestimmten Betrag nicht auf die Sozialhilfe angerechnet werden. In Kombination mit dem im Juli 1999 in Kraft tretenden Lohnabstandsgebot hätte dies zu einer Absenkung des Sozialhilfeniveaus geführt.
[7] Die grüne Grundsicherung soll unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus gewährt werden, die Schlechterstellung von Flüchtlingen im Asylbewerberleistungsgesetz würde damit zurückgenommen. Zwar gibt es auch Verbesserungen in der Regelung der Unterhaltsverpflichtung, im wesentlichen werden jedoch familiäre Abhängigkeitsverhältnisse damit nicht aufgebrochen. So soll die Unterhaltspflicht gegenüber Minderjährigen und in Ausbildung befindlichen Kindern, Ehepartnern und eheähnlichen Gemeinschaften erhalten bleiben und die Bezüge von Einzelpersonen gekürzt werden, wenn sie in einem gemeinsamen Haushalt leben.