diskus 3/98

Von Mauern mit Löchern
Grenzpolitik, Migration und Arbeitskraftregulierung

Im EU-Europa der 90er Jahre sind Migrationspolitik und Diskussionen über sie einerseits geprägt von einer sehr restriktiven Zuwanderungsregulierung, andererseits von der Kreierung eines neuen Feindbildes, dem des sogenannten »illegalen Ausländers«. Tatsächlich hängen beide Entwicklungen zusammen, allerdings in einer der öffentlichen Darstellung genau entgegengesetzten Weise. Nicht der Versuch von immer mehr Menschen, ohne die gesetzlich vorgeschriebenen Papiere in Länder wie die BRD oder Österreich zu immigrieren, macht immer strengere Grenzkontrollen und Verfolgungsjagden auf Flüchtlinge erforderlich, sondern die schrittweise Errichtung einer »Festung Europa« drängte und drängt immer mehr ImmigrantInnen in die Illegalität.

Diese These verweist auf die Grenze, genaugenommen auf die Außengrenze von Schengen-Europa. Was passiert dort? Den Erklärungen der Innen-, Außen-, Verteidigungs- und sonstiger Minister von Schengenland zufolge wird mittels restriktiver Regulierung, d.h. mittels der Verschärfung der Einwanderungs- und der Asylgesetze, die Neuzuwanderung gebremst. Meine Gegenthese dazu lautet, daß an der Grenze viel weniger über die Quantität der Zuwanderung entschieden wird als über die qualitative Stellung der Zuwanderer.

In anderen Worten: Nicht primär der Umfang der Immigration ist durch die restriktive Gesetzgebung und die militärische Flüchtlingsjagd betroffen, sondern in erster Linie die rechtliche Stellung der ImmigrantInnen.

Die Politik der EU, die Einreise sowie den Zugang zu Arbeitsmarkt und Asyl zu erschweren, ließe sich neben menschenrechtlichen und demographischen Einwänden auch damit konfrontieren, inwieweit sie real möglich ist. Ist es realistisch, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Integration (oder sollte man sagen: Penetration?) der Länder zu forcieren und gleichzeitig die Mobilität von Menschen nur äußerst selektiv zulassen zu wollen, indem die Grenzen dicht gemacht werden? Diese eher rhetorische Frage, die nicht darauf abzielt, sich auf die Suche nach besseren, weil effizienteren Mechanismen der Begrenzung der Zuwanderung zu machen, soll hier helfen zu klären, was die aktuelle Grenzpolitik eigentlich bewirkt. Wenn, wie im weiteren gezeigt werden soll, die immer restriktiveren Zuwanderungsbestimmungen ihr vorgebliches Ziel, Immigration zu unterbinden, nämlich nicht oder nur teilweise erreichen, dann müssen die Funktionen und Effekte von Grenzpolitik anders thematisiert werden.

Die Verkehrung von Effekten in Ursachen
An Erfahrungen, die in den USA gemacht wurden, läßt sich zeigen, daß es auch einer äußerst restriktiven Grenzregulierung nicht ge-lingt, die Zuwanderung ungewünschter Immigrantinnen zu unterbinden. Der »Immigration Reform and Control Act« (IRCA) von 1986 zielte darauf ab, die rasch anwachsende ›un-documented immigration‹ vor allem aus Mexiko und der Karibik abzublocken und das damit verbundene Problem, einer in die Illegalität gedrängten Bevölkerungsschicht zu regeln. Nicht-autorisierte Zuwanderung sollte durch Sanktionen gegen Unternehmer, die wissentlich undokumentierte Einwanderer beschäftigten, durch eine 50%ige Erhöhung des Budgets für Grenzkontrollen sowie durch eine Verschärfung der Abschiebepraxis unterbunden werden. Umgekehrt bekamen Einwanderer, die seit 1982 in den USA lebten oder unmittelbar vor Gesetzesabschluß dort in der Landwirtschaft arbeiteten, die Möglichkeit, ihre Aufenthaltsverhältnisse zu legalisieren.

Daß mehr als drei Millionen Menschen von diesem Angebot Gebrauch machten, sollte der einzige Erfolg des IRCA bleiben. Das Unterfangen, weitere nicht-autorisierte Zuwanderung zu verhindern, schlug fehl. Nach einem vorübergehenden Rückgang erreichte die Zahl der neuen ›undocumented immigrants‹ bereits zu Beginn der neunziger Jahre wieder das alte Niveau von rund 200.000 jährlich, um gegenwärtig bei etwa 300.000 zu liegen. Studien in Mexiko ergaben, daß weder die Militärisierung der Grenze noch die Unternehmersanktionen als Abschreckung wirkten.

Angesichts dieser gescheiterten Abschottungsbemühungen wurde seitdem in den USA über Einwanderungspolitik jenseits von Zwangsmaßnahmen und Grenzzäunen nachgedacht. Migration wurde fortan nicht mehr (ausschließlich) als Folge von Armut und Arbeitslosigkeit gesehen, sondern (auch) als Ergebnis von Aktivitäten der USA in den Senderländern. »Die meisten außenpolitischen Entscheidungen, ob politischer oder ökonomischer Natur, haben direkte und indirekte Auswirkungen auf die Migration«, heißt es vorsichtig in einem 1990 publizierten Bericht an den Präsidenten, an dem Dutzende renommierter WissenschaftlerInnen mitgearbeitet haben. Noch deutlicher wird eine 1997 publizierte Studie einer bilateralen Expertenkommission, für die das mexikanische Außenministerium und die US-amerikanische »Commission on Immigration Reform« verantwortlich zeichnen: »Der Katalysator für einen Großteil der gegenwärtigen nicht-autorisierten mexikanischen Migration in die USA liegt in den USA selbst.« Gemeint ist die Nachfrage der kalifornischen Farmer oder der texanischen Fleischindustrie nach nicht-dokumentierten ImmigrantInnen, die den dokumentierten vorgezogen werden, weil sie billiger und erpreßbarer sind.

Warum der Exkurs nach Zentralamerika? An diesem Beispiel läßt sich belegen, daß auch die strengste Grenzregulierung ihr (vorgebliches) Ziel, die Zuwanderung zu reduzieren, nicht erreicht; zu-mindest gilt dies für Länder, deren Ökonomien eng miteinander verflochten sind und die eine gemeinsame Migrationstradition aufweisen.

Gleichzeitig kann anhand dieses Beispiels die Frage nach den Ursachen von Migrationen aufgegriffen werden. So banal die Frage »Was macht ein Land zum Abwanderungsland?« auch klingen mag, so entscheidend ist sie für Migrationsforschung und -politik. Die landläufige, von Politikerinnen, Journalisten und WissenschaftlerInnen ge-gebene Antwort – die Menschen kommen, weil sie zu Hause arm oder arbeitslos waren und weil sie hier mehr verdienen – ist schlichtweg falsch. Sowenig Migration wie Wasser ist, das bei verschiedenen Niveaus zu fließen beginnt, sowenig wandern Menschen automatisch an Orte mit besseren Arbeits- und/oder Verdienstmöglichkeiten. Die Geschichte ist voll der Beispiele, in denen solche Ungleichheiten bedeutungslos waren. Es gibt folglich keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Emigration und Armut.

Migrationen geschehen nicht »naturwüchsig«, sie werden erzeugt und geformt. Eine der wichtigsten strukturellen Voraussetzungen für das Entstehen von substantiellen und dauerhaften Wanderungen ist die untergeordnete Integration von Regionen oder Ländern und ihren Bevölkerungen in ein überregionales oder internationales System der Arbeitsteilung. Im Zuge dieser Einbindung wird das wirtschaftliche und soziokulturelle Funktionieren des abhängigen Gebietes ge- und zerstört, was auf der Ebene der Region oder des Landes zu Unterentwicklung und Peripherisierung führt, auf der Ebene des Individuums zu Entwurzelung. Damit ist gemeint, daß die Reproduktion an einem bestimmten Ort nicht mehr möglich ist, weil die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen, in die das Leben eingebettet ist, deformiert werden. Meist sind es Subsistenz- und Kleinbauern, Handwerkerinnen, kleine Gewerbetreibende und HändlerInnen, die davon betroffen sind.

Wenn es zutrifft, daß die zerstörerischen Effekte auf ländliche Gesellschaften von einer exogen induzierten Modernisierung ausgehen, dann ist Migration im Rahmen von Dynamiken der Integration und der Desintegration zu betrachten. Migrationen entstehen meist dort, wo Gebiete und Gesellschaften von den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnissen stärkerer, zunächst äußerer Machtzentren durchdrungen werden. Dies führt in der Folge tendenziell zu wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Desintegrationen in der betroffenen Region und zu Ausgrenzungen eines Teils der Bevölkerung in dem – nun deformierten – lokalen Milieu.

Mit der Peripherisierung einer Region und Gesellschaft werden aber auch Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie geschaffen, die Migrationen auslösen können oder sie zumindest er-leichtern. Diese Verbindungen stellen die zweite strukturelle Voraussetzung für das Entstehen von Migrationen dar. Im gleichen Prozeß, der zu Unterentwicklung und Entwurzelung führt, werden ›Brücken‹ – zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern – gebaut, über die MigrantInnen gehen können. Solche »Brücken« entstehen durch die immer dichtere Verflechtung zwischen Zentrum und Peripherie, bzw. zwischen Sender- und Empfängerregionen. »Brücken« können primär ökonomischer Natur sein und durch Handelsbeziehungen oder Direktinvestitionen errichtet werden, sie können aus militärischer und/oder politischer Präsenz in einer Region herrühren, sie können historische Wurzeln haben (etwa zwischen Teilen ehemaliger Kolonialreiche), sie können durch direkte Rekrutierung von MigrantInnen oder durch kulturelle und ideologische »Verwestlichung« begründet werden; schließlich können sich im Laufe der Zeit »Migrationsketten« bilden.

Eine dritte wesentliche Bedingung für das Aufkommen von substantiellen und dauerhaften Migrationen ist die Arbeitskräftenachfrage in den wirtschaftlichen Zentren. Historisch gesehen ist die Entwicklung des Kapitalismus eine Geschichte der Expansion, in der immer mehr Menschen als Arbeitskräfte in den Prozeß der Kapitalakkumulation integriert wurden. Seit dem 16. Jahrhundert ist die Ausbreitung dieses Weltsystems mit Migrationen verbunden, was Beispiele zeigen wie die Verschleppung der einheimischen Bevölkerung während der spanischen ›conquista‹ Zentral- und Südamerikas, der Handel mit afrikanischen SklavInnen, die halbfreie Kuliarbeit asiatischer Arbeitskräfte in Amerika, die Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft, die sogenannte »Gastarbeiterwanderung« der 60er und 70er in Westeuropa oder die ›neue‹ Immigration der 80er und 90er Jahre in die USA, nach EU-Europa oder nach Japan.

Die Sache mit den Grenzen
Hier schließt sich der Kreis zur eingangs angestellten Überlegung, was denn an der Grenze eigentlich passiert. Wenn empirisch unbestreitbar ist, daß Nachfrage nach gewanderter Arbeitskraft besteht, dann drängt sich die Frage auf, ob sich die verschärfte Grenzpolitik nicht im Gegensatz dazu befindet. Dem wäre allerdings nur dann so, wenn an der Grenze tatsächlich über das Ausmaß der Wanderung entschieden werden würde. Wenn dem, wie gezeigt wurde, nicht so ist, und wenn primär über den rechtlichen Status – legal oder illegal – entschieden wird, dann macht die Grenze durchaus Sinn, und zwar für jene, die aus der Illegalisierung der ImmigrantInnen Profit ziehen können.

Historisch ist im kapitalistischen Weltsystem die Existenz eines globalen Marktes mit dem Bestehen einer Vielzahl verschiedener ökonomischer, politischer und rechtlicher Ebenen in Form von Staaten kombiniert. Die Internationalisierung der Wirtschaft ging einher mit einer Nationalisierung ökonomischer, sozialer und rechtlicher Privilegien. Bezogen auf die Arbeitskraft heißt das, daß deren Mobilität selbst im Zeitalter der Globalisierung nur eine bedingte ist – jedes Einwanderungsland hat, so der herrschende Rechtsstandpunkt, das unbestrittene Privileg zu entscheiden, wen es einwandern läßt und wen nicht. Der Weltmarkt für Arbeitskraft ist damit ein höchst ungleicher Markt. Arbeitskraft muß immerzu in ausreichender Zahl verfügbar sein, sie darf aber nicht die Hoheit über ihre eigene Mobilität besitzen. Der dauernden Mobilisierung von MigrantInnen durch die oben skizzierten Prozesse der Entwurzelung steht also eine strikte Regulierung gegenüber. Grenzen sind das wichtigste Instrument dazu. Um die Arten zu rekonstruieren, in der Zentren das Entstehen und die Gestalt von Migrationen formen, müssen die Grenzen ebenso beachtet werden wie die Schlupflöcher in ihnen.

Das wesentliche Merkmal der Grenzen moderner Staaten ist ihre steuerbare Durchlässigkeit. Die Mauer und das Loch in ihr sind kein Gegensatz. Sie sind unter kapitalistischen Bedingungen die einander optimal ergänzenden Spielarten der einseitigen Verfügungsgewalt über die (Mobilität der) Arbeitskraft. Es ist dabei nicht so sehr wichtig, ob die Löcher klein oder groß sind, sondern daß sie vergrößert, verkleinert, geöffnet oder geschlossen werden können – je nach Arbeitsmarktlage oder politischer Opportunität. Ohne Mauer gingen institutionalisierte Unterschiede bei der direkten und indirekten Renumerierung der Ar-beit(skräfte) (zumindest tendenziell) verloren, ohne Löcher fehlte die Möglichkeit, Arbeit(skräfte) zu importieren. Erst das Zusammenspiel von Integration in den Arbeitsmarkt und teilweiser Exklusion von staatsbürgerlichen und sozialen Rechten macht internationale Migration zu einem »labor supply system« (Saskia Sassen), das sich so gut eignet, zur »Schaffung von Arbeiterschaft am rechten Ort und auf dem geringstmöglichen Lohnniveau« (Immanuel Wallerstein) beizutragen.

Die Politik mit den Grenzen ermöglicht also die dauernde potentielle Integration der weltweiten ArbeiterInnenschaft ebenso wie den sporadisch aktuellen Einschluß, den häufigen, tatsächlichen Ausschluß sowie die Mittelform: den Einschluß als Arbeitskraft, den Ausschluß als Rechtssubjekt. Schon der sogenannte »legale Ausländer«, also eine Person, die mit den erforderlichen Papieren ausgestattet in Schengen-Europa arbeitet, befindet sich in einer prekären Rechtslage. Angesichts einer – je nach Staat – mehr oder weniger eingeschränkten staatlichen Ausweisekompetenz (in Österreich etwa kann das mehrmalige Überfahren einer roten Ampel zur Ausweisung führen) stehen implizit alle Rechtspositionen (etwa die – im Gegensatz zu SklavInnen – erzielte teilweise privatrechtliche Gleichberechtigung) unter dem politischen Opportunitätsvorbehalt. Diese Rechtsunsicherheit führt dazu, daß sowohl der Aufenthalt als auch die Arbeitserlaubnis stets von unvorhergesehenen staatlichen Maßnahmen bedroht sind. MigrantInnen haben daher immer zu befürchten, durch Ausweisung ihre gesamte Lebensperspektive zu verlieren. Gerade diese existentielle Unsicherheit führt zu einer besonderen Verwundbarkeit gegenüber Unternehmen, staatlichen Behörden und inländischen Arbeitskräften. Die Existenzunsicherheit und die daraus folgende spezifische Machtlosigkeit sind aber nicht nur Kainsmal, sondern auch primäre »Qualifikation« der MigrantInnen. Gerade weil sie nicht integriert und juristisch gesehen zweitklassig sind, ist ihre Arbeitskraft so begehrt. Denn die Diskriminierung macht sie erpreßbarer, billiger, flexibler. Zudem ist die Gleichzeitigkeit von Ein- und Ausschluß eine Möglichkeit, den ökonomischen Wunsch von Unternehmern nach ausländischen Arbeitskräften mit dem politischen Desinteresse des Staates an Zuwanderung zu vereinbaren.

Illegalisierung im Zuge der Globalisierung
Der springende Punkt ist nun, daß seit den 80er Jahren in den Zentren der Weltwirtschaft, also in den USA, in der EU und in Japan, die Nachfrage nach extrem marginalisierter Arbeitskraft stark zugenommen hat. Im Zuge der Restrukturierungs- und Modernisierungsstrategien, die der Krise des Fordimus folgten, wurde seitens der Kapitaleigner und -verwalter und später seitens der Staaten der soziale Kompromiß zwischen »Kapital« und »Arbeit« aufgekündigt. Stattdessen soll (und wird) auch in den Zentren wieder verstärkt Zugriff auf periphere und informelle Arbeitsmärkte geschaffen, also auf ungeschützte, unter- und unbezahlte Arbeitskräfte.

Ein wesentliches Merkmal der aktuellen Phase globaler Ökonomie liegt darin, daß der Weltmarkt für Arbeitskraft immer kleinräumiger reproduziert wird. Von daher müssen periphere bzw. peripherisierte Arbeitsverhältnisse nicht zwangsläufig dort liegen, wo bis dato die Peripherie verortet wurde, sondern sie werden in zunehmenden Maße in den Zentren selbst nachgefragt und können dort auch durchgesetzt werden. Das sogenannte »Normalarbeitszeitverhältnis«, um welches herum die »fordistischen« Regulierungen des Sozialstaates aufgebaut wurden, wird zurückgedrängt, und stattdessen werden Teilzeit-, Gelegenheits-, Heim- und Schwarzarbeit bzw. befristete Arbeitsverhältnisse oder geringfügige Beschäftigung ausgeweitet. Frauen und Einwanderer sind die bevorzugten Gruppen, um dieses unterste Arbeitsmarktsegment zu besetzen. Innerhalb der Einwanderer wird nochmals gespalten: In Männer und Frauen, in TürkInnen und PolInnen, in solche mit Papieren und solche ohne Papiere. Solche rechtlichen Spaltungen leisten der Segmentierung der Arbeits- und Wohnungsmärkte Vorschub, bzw. ermöglicht diese erst.

Globalisierung bedeutet damit also auch, daß die Verlagerung der weltweiten Unterschiede hinsichtlich sozialer und rechtlicher Standards von Arbeitenden in die Nationalstaaten der Zentren von der Präsenz der sozial und rechtlich Deklassierten begleitet ist. Dies ist gegenüber den 60er und 70er Jahren insofern eine Neuheit, als damals die ImmigrantInnen zwar auf einem ethnisch segmentierten Arbeitsmarkt mit den schlechtesten Bedingungen vorlieb nehmen mußten und als sie von vielen Errungenschaften der Gesellschaft, in der sie lebten und arbeiten, ausgesperrt blieben. Im Vergleich zu den heutigen illegalisierten Arbeitskräften waren sie aber zweifelsohne besser gestellt, weil ihr Aufenthalt und ihr Arbeiten eben nicht per se illegal waren. Gegenwärtig findet man im Falle Westeuropas in den prekärsten Arbeitsverhältnissen nur bedingt die ImmigrantInnen, die im Zuge der sogenannten »Gastarbeiterwanderung« in den 60er und 70er Jahren in die BRD oder nach Österreich kamen. Einerseits sind sie teils zu alt, um den Leistungs- und Flexibilitätsanforderungen zu genügen, andererseits sind sie – und vor allem ihre Kinder – trotz aller Hemmnisse rechtlich und materiell schon zu sehr integriert, um auch die schlechtesten Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Die Jobs am untersten Ende der Arbeitsplatzhierarchie werden gegenwärtig eher von Illegalisierten, also Leuten, denen die erforderlichen Papiere fehlen, ausgeübt. Für sie gilt, daß ihnen auch das bißchen Rechtssicherheit, das die mit Papieren ausgestatteten ImmigrantInnen »genießen«, fehlt und ihr prekärer Status besonders ausgeprägt ist. Die von den Unternehmern und vom Staat gewünschte Freiheit, die ökonomische und politische Bewegungsmöglichkeit der ImmigrantInnen einzuschränken und zu kontrollieren, wurde durch Gesetze gesichert. Der Erpreßbarkeit der Illegalisierten und damit der unternehmerischen Freiheit sind keine Grenzen gesetzt.

In diesem Zusammenhang ist es nicht übertrieben, von einer regelrechten Nachfrage nach nicht-dokumentierten, d.h. illegalisierten Arbeitskräften zu sprechen. Sie werden, gerade wegen ihrer völlig deklassierten Stellung, von der kalifornischen Landwirtschaft ebenso beschäftigt wie von der New Yorker Textilindustrie; oder dem Dienstleistungssektor in Los Angeles; oder von der Bauwirtschaft und dem Gastgewerbe in Wien; oder vom Rechtsanwalt in Berlin, der eine billige Putzfrau braucht; oder, oder, oder.

Die sozialen Abstufungen werden an Hand zahlreicher formeller und informeller Kriterien gezogen. Während etwa die sexuelle Diskriminierung und Segmentierung bei Österreicherinnen informell erfolgt, geschieht die ethnische Diskriminierung und Segmentierung meist formell und äußerst abgestuft. »Ausländer» – und zwar auch solche, die sich legal in Österreich aufhalten und Arbeitspapiere besitzen – haben per Definition weniger Rechte als »Inländer«. Diejenigen, die über eine Aufenthaltserlaubnis, aber über keine Arbeitserlaubnis verfügen, sind noch schlechter gestellt. Mindestens 60.000 solcher Menschen, vorwiegend Frauen, gibt es in Österreich, und sie sind, wollen sie überleben, zur illegalen Arbeit gezwungen. Den Bodensatz der Hierarchie bilden jene ImmigrantInnen, die weder Aufenthalts- noch Arbeitserlaubnis besitzen. Auch sie müssen illegal arbeiten, und zwar unter einem noch größeren Risiko als die »halb-legal« Tätigen. Es liegt auf der Hand, daß die ImmigrantInnen durch solche unterschiedlichen und prekären Rechslagen den Auftraggebern weitgehend ausgeliefert sind. Beispielsweise würde eine Beschwerde beim Arbeitsgericht ein Aufenthaltsverbot und eine unmittelbare Abschiebung nach sich ziehen.

Es ist also ein Irrtum zu glauben, an der Grenze würde vorrangig über den Umfang von Wanderungen entschieden. Die Politik an und mit der Grenze dient ganz wesentlich dazu, den rechtlichen Status von ImmigrantInnen zu manipulieren, und zwar nach unten. So gesehen ist der Umstand, daß immer mehr ImmigrantInnen in den USA, in Westeuropa und in Japan oder anderswo leben und arbeiten, ohne die erforderlichen Papiere zu besitzen, wenigstens teilweise auf eine gezielte Illegalisierung zurückzuführen. Immer mehr ImmigrantInnen sehen sich nicht nur der »traditionellen« Ausbeutung ihrer Arbeitskraft gegenüber, sondern einer Strategie, sie ihrer elementarsten Rechte zu berauben, um sie nahezu beliebig ausbeutbar zu machen. Anstatt Mauern zu bauen und eine angebliche »Zuwanderungflut« zu beklagen, hätte Migrationspolitik die Rolle, die Industriestaaten und Unternehmen bei der Auslösung von Migration spielen, unter die Lupe zu nehmen. Widerstand gegen die Beraubung elementarer Rechte und Ausbeutung liegt ohnehin auf der Hand – ganz im Sinne von »sans papiers«: Gegen die Ausgrenzung aller »sans« – derer ohne Arbeit, ohne Unterkunft, ohne Einkommen, ohne Rechte, ohne Papiere!

Christof Parnreiter


Literatur:
xx Knuth Dohse: Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat. Genese und Funktion staatlicher Ausländerpolitik und Ausländerrecht, Königstein 1981
xx Christof Parnreiter: Migration und Arbeitsteilung. AusländerInnenbeschäftigung in der Weltwirtschaftskrise, Wien 1994
xx Ders.: Entwurzelung, Globalisierung und Migration, in: Journal für Entwicklungspolitik 3, 1995, S. 245-260
xx Alejandro Portes/Jòzsef Böröcz : Contemporary Immigration: Theoretical Perspectives on its Determinants and Modes of Incorporation, in: International Migration Review 23/3, 1989, S. 606-630
xx Saskia Sassen: The Mobility of Labor and Capital. A study in international investment and capital flow, Cambridge 1988