Vom Antiimperialismus zu einem neuen Internationalismus?

 

Eine Spurensuche

 

 

Die 90er Jahre waren für die Internationalismusbewegung harte Zeiten. Zumindest was die Mobilisierung auf der Straße angeht. Die Demonstrationen 1992 in München aus Anlass des G 7 Gipfels, des 500. Jahrestages der Conquista und der EU-Maastricht-Verträge sind von ihrem Politikverständnis als Ausläufer des Internationalismus der 80er Jahre zu bewerten. Mit der Demo in Köln 1999 anlässlich des Weltwirtschaftsgipfels erreichte die Internationalismusbewegung ihren Tiefpunkt hinsichtlich ihrer Mobilisierungsfähigkeit. Ansonsten dominierten in den 90er Jahren die Nichtregierungsorganisationen mit ihrem auf Konsens und Dialog orientierten Politikverständnis die Szene. Die Konferenzsäle hatten vor allem während der Zeit der großen UN-Kongresse die Straße als bevorzugten Ort des Protestes abgelöst. Seit Seattle und Genua scheint sich die Lage wieder zu ändern. Allmählich entstehen auch in Deutschland wieder mobilisierungsfähige Strukturen. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die jetzige Konstellation von der Situation der 70er und 80er Jahre unterscheidet. Gibt es Erfahrungen aus dieser Zeit, an die man positiv anknüpfen kann? Oder sind die Rahmenbedingungen so unterschiedlich, dass ein Rückblick nur noch einen nostalgischen Wert hat?

 

 

Antiimperialismus und

Antiamerikanismus

 

Die Suche nach einem neuen Internationalismus führt zu seinen Vorgängern. Die vereinfachenden Analysen, die Aufteilung der Welt in gut und böse und die krassen Fehleinschätzungen von Revolten und Revolutionen haben eine marginalisierte Bewegung hinterlassen, die sich erst allmählich von den zuweilen religiös anmutenden Lehren der Vergangenheit löst.

In den 60er Jahren speisten sich internationalistische Impulse vor allem aus dem Protest gegen die Vietnam-Politik der USA. Das Massaker von My Lai, bei dem US-Soldaten die Zivilbevölkerung des Dorfes ein-schließlich Kinder grausam ermordeten, wurde zum Symbol für die Verbrechen der USA. Ab diesem Zeitpunkt galt sie als das absolut Böse, der säkulare Antichrist. Mit Containment, Counterinsurgency und Low-Intensity-Warfare-Programmen versuchten sie emanzipatorische Bewegungen oder Regierungen zu unterdrücken. Guatemala, Kuba, Chile, Grenada, Nicaragua, El Salvador seien nur als Beispiele für die »Befriedung« des »natürlichen Hinterhofs« der USA genannt. Die Liste ließe sich für andere Kontinente fortsetzen.

Der Protest und die Rebellion gegen diese Politik war und ist mehr als berechtigt. Dennoch ist es eine unerträgliche Verharmlosung des deutschen Nationalsozialismus, die Politik der USA-Regierungen mit der SA oder gar der SS zu vergleichen, wie dies mit der Parole »USA – SA – SS« geschah, einem Evergreen auf Demos gegen die US-Politik. Durch die Gleichsetzung der US-Politik mit der der SS wurde der deutsche Faschismus damit bereits zu einer Zeit von Linken normalisiert, zu der ein Nolte oder ein Walser noch nicht im Traum daran gedacht haben. Aus dem »Zivilisationsbruch Auschwitz« (D. Diner) als Metapher für die Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus wurde eine Alltagsfloskel. »Kapitalismus führt zum Faschismus« war die Parole, die die Gleichsetzung von SS-Politik und US-Politik legitimieren sollte. Diese Parole stand in der Tradition einer ökonomistisch verkürzten Faschismus-Analyse der Kommunistischen Internationale (G. Dimitroff) und der KPD der Weimarer Republik, derzufolge »Faschismus an der Macht (...) die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« ist. Faschismus als ganz gewöhnlicher Endpunkt des Kapitalismus. Warum er gerade in Deutschland einen solchen Erfolg hatte, warum es gerade hier bis zum bitteren Ende eine Massenunterstützung gegeben hat, warum gerade hier der Massenmord an Juden, Sinti und Roma und anderen »Außenseitergruppen« in seiner technokratisch industriellen Effizienz durchgeführt werden konnte, solche Fragen drangen mit diesen Parolen nicht mehr in das Blickfeld, geschweige denn, dass sie beantwortet werden konnten.

Diese Form der Normalisierung konnte nur eine doppelt unschuldige Generation leisten: unschuldig, weil links; und unschuldig, weil nachgeboren. Auf der anderen Seite blieb der Faschismusvorwurf nicht auf die USA beschränkt, sondern wurde zum Schlagwort schlechthin. Jedem reaktionären Diktator wurde plötzlich das Adjektiv faschistisch angehängt. Jede Gesetzesverschärfung war ein Beitrag im Prozess der Faschisierung von Staat und Gesellschaft. Solch ein Katastrophen-Superlativismus macht blind für die sensible Wahrnehmung geschichtlicher Veränderungen. Wenn das Schlimmste immer schon eingetreten ist, stumpft man ab, man ist nicht mehr offen für politische Veränderungen.

 

 

Antizionismus und Antisemitismus

 

Diese doppelte Unschuld begegnet uns auch im Antizionismus, der manchmal nur schwer seinen antise-mitischen Hintergrund verdecken konnte. Seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn kam es zu einer antizionistischen Wende relevanter Teile in der deutschen Linken. Heftige Debatten um die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht Israels wurden geführt. Die Diskussionen darüber, ob die Israelis überhaupt ein Volk seien, denen man das Selbstbestimmungsrecht zugestehen dürfe, muten heute grotesk an. 1982, als es zu den Massakern an der palästinensischen Bevölkerung in den Beiruter Stadtteilen Saba und Schatila mit Unterstützung der israelischen Armee kam, gab es in linken Zeitschriften Überschriften wie »Die Endlösung der Palästina-Frage«. In manchen Städten wurden sogar Einrichtungen jüdischer Kultusgemeinden besetzt. Der damalige Regierungschef Israels, Mena-chem Begin, wurde in einer der meistgelesensten Internationalismus-Zeitschriften, der iz3w, mit einer Hakennase dargestellt. (Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich die iz3w in der Folgezeit immer wieder kritisch mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzte). Ulrike Meinhof und Horst Mahler feierten den Anschlag des Kommandos »Schwarzer September« auf die israelische Olympia-Mannschaft als »mutiges Kommando (...) gegen zionistische Soldaten, die in München als Sportler auftraten.« Und bei einer Flugzeugentführung organisierte ein Mitglied der RZ die räumliche Trennung nach jüdischen (!) und nichtjüdischen Passagieren. Auch hier fehlte es nicht an der Gleichsetzung von faschistischer und zionistischer Politik. Sicherlich waren die meisten Linken keine Antisemiten. Aber die angeführten Beispiele waren auch keine Einzelfälle.

 

 

Sieg im Volkskrieg

 

Die Internationalismusbewegung hatte lange Zeit ein nachgerade mythisches Verhältnis zu den Völkern in der sog. Dritten Welt. Das Volk wurde als vorgegebene Einheit gesehen, die immer das Gute will: Befreiung. Das Volk, das war die festgeschlossene Einheit von Unterdrückten, denen eine kleine Clique von Ausbeutern (sprich Regierung und Kompradorenbourgeoisie) gegenüberstand, die nur mit Bestechung oder mit militärischer Unterstützung des Imperialismus überleben konnte. Diese Metaphysik des An-sich-revolutionären-Volkes korrespondiert in der Geschichte der Linken etwa mit der Metaphysik des Proletariats. Auch machistische Politikstile, die etwa in der ungemein wichtigen Rolle der »líderes« zum Ausdruck kommt, wurde lange Zeit nicht wahrgenommen oder verdrängt. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, war allzu lange das Motto.

Dass sich in den sechziger Jahren die Hoffnungen auf die nationalen Befreiungsbewegungen richteten, war Folge der Erkenntnis, dass die Arbeiterbewegung sich im keynesianischen Wohlfahrtsstaat offensichtlich bestens eingerichtet hatte und deshalb als Hoffnungsträger für eine emanzipatorische Politik ausfiel. In ihrem Hass auf alle, die dieses Modell in Frage stellten, beteiligte sie sich vielmehr an der Hetze gegen die Studentenbewegung. Als neuer Hoffnungsträger fungierten jetzt die Völker der Dritten Welt. Sie waren die

Garanten für eine bessere Welt. In Analogie zur chinesischen Revolution, in der die Dörfer die Städte einkreisten, sollten jetzt die Völker der Welt die impe-

rialistischen Zentren einkreisen. Die Erfolge antikolonialistischer und -imperialistischer Befreiungsbewegungen, vor allem des Vietcong, hatten einen überhöhten Geschichtsoptimismus zur Folge. Dieser war in den Beiträgen auf dem Internationalen Vietnam-Kongress 1968 in Berlin offensichtlich: »Vietnam kommt näher, in Griechenland beginnen die ersten Einheiten der revolutionären Befreiungsfront zu kämpfen (...) Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte ausgeht (...) Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und (..) kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten«, führte Rudi Dutschke aus. Man müsse neben dem Viet-Cong noch einen asiatischen, amerikanischen und europäischen Cong schaffen.

Trotz der eigenen gesellschaftlichen Isolierung kon-nten sich die Studentenbewegung und die Internationalismusbewegung so in einen größeren Zusammenhang stellen. Dies führte zu einer völligen Verkennung der eigenen Handlungsmöglichkeiten: Revolution durch Suggestion. Man war Teil eines großen Ganzen, einer übergroßen Mehrheit im Kampf um Befreiung.

 

 

Vom Befreiungskampf zur Projektepolitik

 

Die Befreiungseuphorie mit ihrem Höhepunkt des Anti-Vietnam Kongresses ging bereits in den 70er Jahren verloren. Das Pathos der apokalyptischen Endzeit verschwindet. Die Militärs hatten in Chile die Unidad Popular unter Allende niedergeschlagen. Der Sieg des Vietcong 1975 wurde nur noch beiläufig zur Kenntnis genommen. Einen Bruch gab es dann, als sich die Berichte über die Massenmorde Pol Pots in Kambodscha bestätigten. Lange Zeit wurde dies als Propaganda des Imperialismus abgetan. Die eintretende Ernüchterung führte zu einem ersten Abgesang auf den zurückliegenden Internationalismus.

Mit den neuen sozialen Bewegungen Anfang der 80er Jahre entstand auch eine neue Internationalismusbewegung. Sie spürte nicht mehr den Wind der Geschichte in ihrem Rücken. Vielmehr spürte sie Gegenwind, da sich die internationalen Rahmenbedingungen trotz des Sieges der Sandinisten in Nicaragua entscheidend verändert hatten. Der Neoliberalismus war mit Reagan und Thatcher in den USA und GB an der Macht. Die Diskussionen um eine neue Weltwirtschaftsordnung in der UN-Vollversammlung und der UNCTAD waren durch die Stärkung des GATT und durch Integrationsangebote wie dem Lomé-Vertrag zu einem Ende gekommen. Vor diesem Hintergrund hatte die neue Internationalismusbewegung einen ganz anderen Ansatzpunkt. Gespeist von theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen der Alternativbewegung ging es jetzt nicht mehr um Weltrevolution, sondern um die konkrete Unterstützung der Befreiungsbewegungen in den jeweiligen Ländern. Mit dem Verlust der globalen Perspektive verengte sich so der Blick in Richtung Länder- und Projektesolidarität. Man wachte eifersüchtig über das eigene Projekt in der jeweiligen Stadt oder Region.

Die Ländersolidarität spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Perspektive von (nachholender) Entwicklung und Fortschritt ist heute zunehmend illusionär geworden: die Befreiungsbewegungen an der Macht sollten durch einen nachholenden Industrialisierungsprozess den ökonomische Anschluss

an die Industrieländer herstellen. Das Scheitern des

linearen Entwicklungs- und Fortschrittsdenken des »Immer-Mehr« wurde spätestens durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1982 überdeutlich. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass sich nach 1982 der Schwerpunkt von der Ländersolidarität auf die Kritik der Weltmarktstrukturen verlagerte. Der Focus der Kritik richtete sich auf die Bretton-Woods-Institutionen IWF und Weltbank und die Rolle, die sie bei der Moderation und Verwaltung der Verschuldungskrise spielten. Den Höhepunkt dieser Kritik bildeten die Proteste gegen die IWF / Weltbank-Tagung von 1988. Sie markierten aber auch den Endpunkt eines Be-

wegungszyklus mit einem hohen Mobilisierungsgrad. Gegen dieses Treffen demonstrierten allein in Berlin 80 000 Menschen.

 

 

Der NGO-Lobbyismus

 

Nach 1989 gewann die Vorstellung des »Machbaren« an Bedeutung. Große Teile der Internationalismusbewegung setzten ihre Hoffnungen zunehmend auf die zahlreich entstehenden Lobby-NGOs: Der Lobbyismus war mit dem Anspruch angetreten, eine reali-

tätstaugliche, da pragmatisch umsetzbare Alternative zum Radikalismus der 80er Jahre anbieten zu können. Die Bedeutung und die Tragweite des Lobbyismus ist nur vor dem Hintergrund des Epocheneinschnitts von 1989 zu verstehen. Er machte sich die seit dieser Zeit gängige These zu eigen, dass eine grundsätzliche Alternative zum Kapitalismus nicht mehr möglich sei. Stattdessen gehe es »um kleine Schritte, nicht um endgültige Lösungen« (Lobbyhandbuch Germanwatch). Weiterreichenden Forderungen wurde eine Absage erteilt.

Ziel von Lobbypolitik ist nicht, die Profitlogik in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Diese wird als Hebel und als Anreiz gesehen, die Welt zu verbessern. Unterstellt wird dabei, dass es so etwas wie eine win-win-Situation geben könne, also eine Situation, in der es nur Profiteure gibt. Den Durchbruch fand der Lobbyismus bei der UNCED-Konferenz in Rio 1992. In der dort verabschiedeten Agenda 21 wurde den NGOs als Repräsentanten der sog. Zivilgesellschaft eine wichtige Funktion bei der Lösung der Welprobleme zugesprochen. Dies wurde von den VertreterInnen der NGOs und der Lobbygruppen als Ausdruck ihrer Stärke interpretiert und die damit verbundenen Integrations- uns Kooptationsbemü-hungen völlig unterschätzt. Ein konsensorientiertes, pragmatisches Politikverständnis feierte vor allem bei den großen UN-Konferenzen Mitte der 90er Jahre fröhliche Urstände. Die Konferenzsäle verdrängten die Straße als bevorzugtes Handlungsfeld von Protest.

 

 

Seattle und Genua

 

Seit Seattle ist der Lobbyismus jedoch offensichtlich in der Krise. Die »Erfolge« sind vernachlässigenswert. In vielen Bereichen wie der Nachhaltigkeits- oder Entschuldungsdebatte hat er sich schlicht blamiert. Trotzdem übt er nach wie vor auch in Bewegungen wie ATTAC einen großen Einfluss aus. Zwar ist es mit Seattle, Nizza, Prag, Göteborg und Genua gelungen, das Terrain der Auseinandersetzungen wieder von den Konferenzsälen auf die Straße zu verschieben, was als großer Erfolg gewertet werden muss. Dennoch ist die Grundkonstellation immer noch grundverschieden von der von 1988. Hatten damals die radikaleren, kapitalismuskritischeren Kräfte die Hegemonie in der Bewegung, so sind sie derzeit noch stark in

der Minderheit. Ihre Aufgabe ist es, macht- und herrschaftskritische Positionen vernehmbar zu machen und zu verankern.

Ein wirklich neues und positives Element ist, dass die internationale Vernetzung heute tatsächlich international ist. Natürlich gab es 1988 auch internationale Kontakte und Vernetzungen. Allerdings war dies in erster Linie eine Sache der Bewegungs- und NGO-Eliten. Heute haben sich die Kontakte vervielfacht. Eine wichtige Katalysatorfunktion hatten dabei die von den Zapatistas initiierten »Intergalaktischen Treffen«. Infolge dieser Treffen bildeten sich global agierende Netzwerkstrukturen wie etwa PGA (Peoples Global Action) heraus. Die Globalisierung des Protestes zeigt sich auch im Erfolg des »Welt Sozial Forums« von Porto Alegre oder der international agierenden Bauernvereinigung »Via Campesina«. Ohne die Möglichkeiten der neuen Kommunikationsmedien wie Internet und E-Mail wäre die Dichte dieser Beziehungen nicht vorstellbar. Der Informationsfluss konnte dadurch verbreitert, verstetigt und verdichtet werden. Eine wichtige Rolle spielt mittlerweile der linke Nachrichtendienst Indymedia. Mit Genua schaffte er seinen Durchbruch. Es war die entscheidende Bezugsquelle für Informationen.

 

 

ATTAC

 

Geändert hat sich auch das Verhältnis von Bewegung und Parteienspektrum. 1988 verstanden sich noch weite Teile der Grünen als Spielbein der Bewegung. Die Schwäche linker Politik in der BRD hat auch etwas mit dem Schock über die Entwicklung der Grünen hin zu einer stromlinienförmigen Partei des Yuppie-Bildungsbürgertums zu tun. Zahlreiche AktivistInnen, die ihre politische Biographie in den 80er Jahren wenn nicht mit der Partei so zumindest mit dem Projekt der Grünen verbunden hatten, haben sich resigniert aus der Politik zurückgezogen.

Dass sich aufgrund dieser Situation im Parteienspektrum niemand Illusionen machen sollte, über die Parlamente könnten weitreichende gesellschaftliche Veränderungen erzielt werden, ist erstmal eine gute Ausgangsposition für eine antietatistische, tendenziell institutionskritische Bewegung, die sich nicht so einfach kooptieren lässt. Dass es solche Kooptationsbemühungen in nächster Zeit geben wird, ist aber leider mehr als wahrscheinlich. Dies könnte bei einer Strömung auf offene Ohren stoßen, die man vielleicht als internationale außerparlamentarische Sozialde-mokratie bezeichnen kann. Große Teile von ATTAC gehören ihr an. Hierbei handelt es sich ebenfalls um ein neues Phänomen. Diese Strömung zeichnet sich durch eine starke etatistische Orientierung aus. Gemeint ist damit eine Politik, die an den Staat appelliert, die angeblich verselbstständigten Finanzmärkte wieder in einen internationalen Ordnungsrahmen einzubetten. Erreicht werden soll dies durch die Tobin-Tax, einer Steuer auf kurzfristige Finanzspekulationen. Damit orientiert sich diese Strömung an dem Regierungsprogramm des gescheiterten Finanzministers Oskar Lafontaine, der mittlerweile auch schon seine Sympathie für ATTAC bekundet hat.

Die Tobin-Tax ist ein Beispiel für die grundlegenden Unterschiede hinsichtlich der Reichweite und der Radikalität der Forderungen. In den Erklärungen von 1988 wurde betont, dass eine umfassende Schuldenstreichung nur als Ausgangspunkt für weiterreichende soziale Veränderungen zu verstehen sei. Diese Forderung war somit das Minimalprogramm der Bewegung. Gerade der Utopiegehalt dieser Forderung hat damals zur hohen Mobilisierung beigetragen. Ein utopischer Überschuss, der für die Stärke früherer

Bewegungen von großer Bedeutung war, kann man bei den realpolitischen Forderungen von ATTAC kaum noch finden. Wahrscheinlich macht heute die Begrenztheit der Forderungen von Bewegungen wie ATTAC ihre momentane Attraktivität aus. Man kann sich nur wundern, welche Hoffnungen und Illusionen mit einer so kreuzbraven Forderung wie der Tobin Tax verbunden sind. Allerdings wäre es falsch, ATTAC nur auf die Tobin Tax und die erwähnte

Strömung reduzieren zu wollen. ATTAC ist auch ein Sammlungsbecken für Menschen, die nach einem Möglichkeit suchen, überhaupt (wieder) politisch aktiv werden zu können. Wie in Frankreich, wo ATTAC tatsächlich den Charakter einer sozialen Bewegung hat, werden aber politische Klärungsprozesse nicht ausbleiben.

 

 

Theoretische Verschiebungen

 

In den Krisen- und Selbstverständnisdebatten nach ‘89 kam es aber auch zu wichtigen theoretischen Verschiebungen im radikaleren Spektrum. Viele Positionen, die vor ‘89 für die Bewegung von großer Bedeutung waren, spielen heute zu Recht eine geringere Rolle. Dies gilt vor allem für das Verständnis von Macht- und Herrschaft. Das lange dominierende Modell eines stark dichotomen Weltbildes von »Wir / Die«, »Oben /

Unten« oder »Gut / Böse« ist differenzierteren Analysen gewichen. Macht kann nicht mehr als das Gegenüber des eigenen Standortes gedacht werden. Wir sind selbst Teil von Machtstrukturen und reproduzieren diese. Unser Standort ist nicht das Jenseits der Macht. Feministische Ansätze, der (De-)Konstruktivismus und die Cultural Studies haben hier zu einer differenzierteren Analyse von Macht beigetragen und einfache, oft verschwörungstheoretische Ansätze in den Hintergrund gedrängt. Es ist nicht das Finanzkapital, das alle anderen Menschen manipuliert. Es geht vielmehr um die Frage, warum Individuen »freiwillig« eine bestimmte Subjektposition einnehmen. Oder um es mit Spinoza zu formulieren: Warum kämpfen die Menschen um ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?

Deutlich geworden sollte sein, dass es kein apriori zur Befreiung und zur Emanzipation berufenes individuelles oder kollektives Subjekt gibt auf das man sich beziehen kann. Es sind nicht die Völker und Nationen der sog. Dritten Welt, es sind nicht die ausgebeuteten Massen; es sind nicht die Frauen und auch nicht das Proletariat. Sie tun dies nur zu bestimmten Zeiten und zu bestimmten Bedingungen, die nicht verallgemeinerbar sind. Eine Bildsprache, die die Macht auf den Zigarre rauchenden fetten Kapitalisten mit Zylinder und Peitsche reduziert oder als Krake darstellt, die die ganze Welt umschlingt und erdrückt, kann heute nicht mehr verwendet werden. Eine solche Kollektivsymbolik war 1988 noch gang und gäbe, ist aber heute zu Recht fast völlig verschwunden. Auch kann es kein Basis-Überbau-Modell in dem Sinne mehr geben, dass etwa die Ökonomie andere Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus und Patriarchat determiniert. Diese treten nicht erst äußerlich der Ökonomie hinzu, sondern haben sich immer schon in die Struktur des Ökonomischen eingeschrieben. Dies gilt natürlich auch umgekehrt.

Das fehlende eindeutige Feindbild und die Differenziertheit der Machtverhältnisse macht die Sache nicht gerade leichter. Zwar ist klar, dass eine Be-

wegung Zuspitzungen braucht. Ein Demoaufruftext kann nicht in der Sprache einer Seminararbeit geschrieben werden. Aber man sollte sich immer vor Augen halten, dass gerade das Scheitern scheinbar sicherer Gewissheiten zur Verabschiedung vieler Menschen aus der Politik geführt hat.

 

Moe Hierlmeier