»Eine Welt, in der Antigone am Leben geblieben wäre«

 

Interview mit Judith Butler, geführt am 13. Mai 2001 in Berlin*

 

 

»Was glauben und was hoffen Sie, wie die Zukunft der Geschlechter und die Zukunft der Homosexualität aussehen wird? Wird es sie überhaupt geben, wenn wir mit verschiedenen Geschlechtern spielen?« wurde Judith Butler von einer Redakteurin der Wochenzeitung Freitag gefragt. Ihre barsche Antwort lautete: »Über ein ›Spiel der Geschlechter‹ ist mir nichts bekannt. ›Queer‹ ist gewiss keine Identität, sondern beschreibt die Mobilität von Begehren und Geschlecht. Diese Mobilität kann aber nicht auf ein postmodernes ›Spiel‹ reduziert werden. Viele Männer fühlen sich als Frauen, viele Frauen als Männer, und diese Trans-Identität ist sehr oft tief verwurzelt und erzeugt Leid, wenn sie nicht anerkannt wird – wir haben es also mit ernsthaften psychischen, sexuellen und politischen Themen zu tun. [Deshalb] kann ich der Vorannahme Ihrer Frage nicht zustimmen.«A

Solche Klarstellungen sind offensichtlich immer wieder mal notwendig – so hartnäckig hält sich (hierzulande) eine Lesart, die die Thematisierung der Gewalt der Verhältnisse durch Judith Butler übersieht und sie zur Theoretikerin des »anything goes« erklärt. Darauf beziehen sich Butler-bashers und Butler-hypers gleichermaßen. Während erstere das angebliche Fehlen der Berücksichtigung materieller gesellschaftlicher Strukturen monieren und das Ende der Möglichkeit linker Herrschaftskritik heraufziehen se-hen, freuen sich letztere über ihre unglaubliche Freiheit und sehen sich in ihrem hippen Lebensgefühl bestätigt. So z. B. zu lesen in der November-Ausgabe der Musikzeitschrift Intro: »Angesichts popkultureller Phänomene wie Glamrock oder Disco, die offensiv die Formbarkeit geschlechtlicher Identitäten vorgeführt haben, könnte man sogar fast auf die Idee kommen, Butler habe das diesen Feldern inhärente Wissen einfach mal theoretisch ausformuliert.«B

Das Problem an solch feuilletonistischer Verflachung ist sicherlich nicht das feuilletonistische, sondern die Verflachung, das Abschneiden produktiver politischer Implikationen. Im Gegenteil – dass Butler breiter rezipiert wird, als es manchen VertreterInnen reiner akademischer Lehren lieb ist, ist natürlich gut und zeigte sich auch anlässlich des Foucault-Kongresses in Frankfurt im letzten Jahr, wo der Hörsaal VI die Ströme derer nicht mehr fassen konnte, die gekommen waren, um Butler zu hören und zu sehen. Einige maulten dann, dass es vielen Leuten sowieso nur um das Event ginge und nicht um eine ernsthafte theoretische Auseinandersetzung. Mal abgesehen davon, dass sich bei derartigen Kongressen immer beides (bestenfalls?) vermischt, kann man Butlers Auftauchen im Rahmen der Konferenz aber vielleicht wirklich als Event / Ereignis bezeichnen: Anstatt, wie sonst üblich, als Alibi-Panel irgendwo am Rande versteckt zu sein, wurden hier femi-queere Inhalte mitten im Zentrum der Konferenz (und zur besten und arbeitnehmerinnenfreundlichen Samstagnachmittagszeit) verhandelt. Dass es Butler (nicht nur auf dieser Konferenz) gelungen ist, ein »ja, aber«-Thema mitten in als zentral betrachtete theoretische Auseinandersetzungen zu katapultieren; dass sie z. B. nicht nur an Foucault anschließt, um ihn für queere Anliegen produktiv zu machen, sondern dass sie damit eine bestimmte Lesart von Foucault selbst durchsetzen konnte – dieser (theorie-)politische Erfolg kann eine schon begeistern, auch ohne alle ihre Bücher exzerpiert zu haben. (Denn darin – und darüber hinaus – geht es um was, um politische Auseinandersetzungen, um Denk- und Lebbarkeiten, um Ermutigungen ...)

Nun wird – und nicht nur mit Butler – queere Thematik hierzulande vielfach in foucaultianischen Wendungen gedacht. Auf genannter Konferenz und auch in ihren neueren gerade auf deutsch erschienenen Büchern bringt Butler insbesondere durch ihren expliziten Bezug auf Hegel eine weitere Dimension ins Spiel: Vielleicht klarer als der bislang vorherrschende Begriff der »Intelligibilität« eröffnet das nun aufgegriffene und reformulierte Konzept der »Anerkennung« Anschlüsse an explizit gesellschaftspolitische Debatten, insbesondere weil Butler damit demokratie-

theoretische Überlegungen verbindet. Solche Überlegungen einerseits und die Diskussionen rund um Körper und Geschlecht andererseits sind aber bisher in linken (und) fe-ministischen (und) queeren Zusammenhängen meist voneinander getrennte Felder, deren Verbindungen intensiver zu diskutieren wären.

Das nun folgende Interview, das wir in einer stark gekürzten Version nachdrucken, könnte dazu beitragen, den genannten Verkürzungen in der Rezeption zu begegnen, ohne den alten Schlagabtausch zum hundertsten Mal wieder ausfechten zu müssen.

alexuliuta

 

 

 

   [...]

 

Carolin Emcke / Martin Saar: Offensichtlich laufen in Ihrem neuen Buch zu Antigone, das gerade auf Deutsch erschienen ist, einige der Kernprobleme Ihres gesamten Werkes zusammen: Begierde, Subjektivierung und Subjektwerdung, Macht und Widerstand.1 Wann haben Sie die Figur der Antigone für sich entdeckt? Wofür steht Antigone?

 

Judith Butler: Ich kam auf die Figur in einem Seminar über zeitgenössische Hegel-Interpretationen. Und ich hatte das Gefühl, ich müsste mich mit Antigone beschäftigen, nicht zuletzt weil sich die feministische Theorie an ihr abarbeitete. Und ich war auch beschämt, weil ich als Hegelianerin bei mir eine Bildungslücke spürte. Es begann also als eine Art Pflichtübung. Aber dann, als ich das Theaterstück und die Interpretationen wirklich zu lesen begann, war ich fasziniert. Als Erstes erstaunte mich, dass Hegel und die meisten anderen Interpreten Antigone immer als Repräsentantin des Prinzips der Familie, der Verwandtschaft [kinship] gelesen hatten. Das schien mir unwarscheinlich zu sein. Schließlich heiratet sie nicht, hat keine Kinder, und sie verkündet, dass sie kein anderes Familienmitglied außer ihrem Bruder Polyneikes bestatten würde. Das scheint mir nicht gerade ein Beleg für Antigone als Personifizierung des Prinzips der Verwandtschaft zu sein.

 

Emcke / Saar: Antigones nicht ganz normale Familiengeschichte wirft ja auch noch einige Fragen hinsichtlich des Prinzps der Verwandtschaft auf...

 

Butler: ... der Inzest spielt in dieser Familie ja eine große Rolle. Wenn man so will, haben Antigone und ihre Verwandten noch keine eigentliche Verwandtschaft erreicht. [...] Es ist eine wirklich ernsthafte Frage, wie man ihr Schicksal verstehen muss. Nun haben Lacan und Levi-Strauss behauptet, dass sie das symbolische Gesetz übertritt. Und dies führt notwendigerweise zum Tod. Aber ich denke, es geht hier nicht um das Symbolische, sondern um sehr spezifische Gesetze, die sie übertritt. Stattdessen sollte man sich fragen, wie die Welt der Gesetze aussehen müsste, in der Antigone am Leben geblieben wäre, hätte leben können, in der das Leben für sie lebenswert gewesen wäre.

 

Emcke / Saar: Also ist Antigone weder eine Versagerin noch eine Heldin? Was wird genau an ihr deutlich? Wie die Kriterien für soziales Leben aussehen müssten, damit Antigone nicht ausgeschlossen worden wäre, damit sie nicht hätte sterben müssen?

 

Butler: Ja. Hegel und Lacan glauben, dass Antigone an der Schwelle von dem steht, was überhaupt als erkennbar und verstehbar gilt. Ich setze mich davon ab, indem ich mich frage: Welche spezifischen Formen von Intelligibilität beschränken und verurteilen Antigone? Was mich noch mehr umtreibt, ist die Frage, wie die Figur der Antigone, wie die Geschichte ihres Scheiterns im heutigen Diskurs immer noch verwendet wird, um eine bestimmte Form der Intelligibilität zu etablieren und zu stabilisieren. [...]

 

Emcke / Saar: Ihr bald auf Deutsch erscheinendes Buch The Psychic Life of Power vereinigt Diskussionen verschiedener Theorien.2 Was ist das Leitmotiv für die Essays? Ist es die schon oben erwähnte und auch im Titel anklingende doppelte Bedeutung von Subjektivierung als einerseits Unterwerfung, andererseits Subjektwerdung?

 

Butler: Die Texte in dieser Sammlung sind Antworten auf die alte Frage, warum es so schwer ist, sich aus früheren Unterwerfungen zu lösen. Manchmal hat man Angst, diese Frage auch nur zu stellen, weil sie in der Logik zu stehen scheint, die das Opfer für seine Leiden und sein Schicksal verantwortlich machen will. Oder anders gefragt: Wieso sind es ge-nau die Begriffe, die uns beleidigen, verletzen, kontrollieren, regulieren, ohne die wir nicht zu leben wissen, die wir brauchen, um eine öffentliche oder soziale Position einzunehmen? Die Psychoanalyse wirft die Frage auf, wieso wir uns ausgerechnet an die Begriffe binden, die uns abwerten und herabsetzen. Die übliche Antwort ist, dass wir nicht ohne sie sein können, sie ermöglichen uns, am Leben zu bleiben. Das ist paradox.

 

Emcke / Saar: Ist das ihr Verständnis von dem, was bei Wendy Brown »wounded attachment« heißt? 3

 

Butler: Ja, vermutlich. Ich will ja nicht sagen, dass es immer genau die Sprache ist, von der wir am meisten abhängig sind, die uns am meisten demütigt, aber das kommt oft vor. Foucault warnt uns: Die Identitätskategorien sind außer Kontrolle, sie regulieren und kontrollieren uns. Manchmal übernehmen wir aber auch absichtlich eine Kategorialisierung oder bewegen uns im Rahmen etablierter Kategorien, weil wir sie uns auch aneignen und durch sie öffentlichen Einfluss ausüben können. So könnte ich zum Beispiel sagen: »Ich als Frau glaube Folgendes«. Das wäre nicht leicht für mich, aber auch nicht unmöglich, so zu reden. Wenn ich so rede, setze ich mich einer gewissen Verletzlichkeit aus – und ich verstehe es als eine wichtige politische Geste, um eine gewisse Anerkennung sicherzustellen; man operiert also immer mit einer bestimmten Ambivalenz. Stuart Hall hat das am Beispiel der Bezeichnung »schwarz« gezeigt, andere mit »queer«, im Rap in den USA werden rassistische Bezeichnungen so umfunktioniert: Man besetzt einen verletzenden Begriff, genau um die Verletzung auszustellen und den Begriff eine andere Bedeutung annehmen zu lassen.

Was die Frage nach dem »wounded attachment« angeht, will ich nur noch kurz sagen, dass Foucault eine Sache theoretisch nicht denken konnte: die Begierde, in seinem Sein zu bestehen in Spinozas Sinne, und die Tatsache, dass die Begierde zu sein nur durch Anerkennung erfüllt werden kann, ganz hegelianisch verstanden. Wenn ich mich hier also von Wendy Brown unterscheide, dann darin, dass ich die Frage nach Verletzung und Identität wahrscheinlich mithilfe der spinozistischen und hegelianischen Vorläufer der Psychoanalyse und natürlich auch mit Freud stellen würde. Die Begierde zu sein, erkannt, gesehen, anerkannt zu werden, halte ich für fundamental, und manchmal nehmen wir in Kauf, aufgrund von Begriffen erkannt, wahrgenommen, platziert, aufgenommen und aner-

kannt zu werden, die uns einer enormen Ambivalenz aussetzen, aber wir tun es dennoch, weil wir nur so sein, das heißt anerkannt werden können.4

Manchmal sind die verfügbaren Anerkennungsbegriffe hochambivalent, und eine soziale Existenz wird nur um einen hohen Preis versprochen, und eine Art Opfer wird gefordert. Ich würde sogar sagen, ein bestimmter Entfremdungseffekt ist der Preis dafür, einen solchen Ort überhaupt einnehmen zu können. Nur so können wir im Raum des Lesbaren, Intelligiblen, Anerkennbaren handeln.

 

Emcke / Saar: Wie lässt sich mit dieser ungewöhnlichen Bezugnahme auf Spinoza das Verhältnis von Begierde und Anerkennung anders verstehen?

 

Butler: Spinozas Formulierung einer Begierde, nicht nur zu sein, sondern in seinem Sein zu bestehen, ist nicht nur theoretisch folgenreich gewesen, sondern war auch für mich der Ausgangspunkt für zwei Reformulierungen, eine psychoanalytische und eine machttheoretische. In seinem eigenen Sein bestehen zu wollen, heißt für Spinoza, nicht dasselbe zu bleiben, sondern bedeutet eine Veränderung und Erweiterung des Vorgefundenen. Die Begierde zu bestehen kann nicht auf eine rein bewahrende oder erhaltende Funktion der Begierde reduziert werden; sie wäre sonst nichts anderes als das, was bei Freud später Selbsterhaltungstrieb heißt. Aber weil sich die Begierde selbst wandelt, um zu bestehen, stellt sie Bestehen oder Persistenz über Identität. Damit stellt sich die Aufgabe, wie man die Bedingungen, unter denen »Überleben« möglich ist, auffinden und unterscheiden kann.

In der Tat kann uns unser hartnäckiges Festhalten am Leben dazu bringen, Existenzbedingungen zu akzeptieren, die unser Leben negieren und entwerten; und man kann sich darüber täuschen, welcher Weg zu einem mehr oder weniger besseren »Leben« führt. Das sieht wie ein enormes Entscheidungsproblem für das Subjekt aus, aber andererseits können die sozialen Kategorien, die Leben und Anerkennung versprechen und garantieren, selbst problematisch und wenig lebensfördernd sein. Aber ich denke, es ist wichtig und erhellend zu fragen: Unter welchen Bedingungen wird Identität lesbar und erkennbar, und wie binden uns diese

Bedingungen – im Namen des

Lebens – an Selbstidentifizierungen, die uns begrenzen und verletzen können? Die Begierde, in seinem Sein zu bestehen, setzt uns auch der sozialen Verletzung aus. Die Begierde nach Anerkennung muss durch eine kritische Analyse der Bedingungen der Anerkennung ergänzt werden.

 

Emcke / Saar: Das klingt wirklich sehr nach Hegel ...

 

Butler: Ja, das ist ein ganz hegelianischer Gedanke, und er macht auch klar, wieso es nicht reicht, zum Psychoanalytiker zu gehen, wenn man sich aus früheren Verletzungen befreien will. Wir müssen auch fragen: Welche Kategorien sind denn überhaupt verfügbar, um existieren zu können und (an)erkennbar zu sein? [...]

Wenn man sich die Frage schwul-lesbischer Ehen als Beispiel für das Einfordern von Anerkennung anschaut, habe ich einige kritische Fragen. Selbst wenn man Anerkennung erreicht, wie wird man dann konstituiert und was im Leben der Gemeinschaft wird gleichzeitig von der neuen Norm dekonstituiert? Plötzlich sind stark konservative Vorstellungen von sexueller Praxis, monogamer Beziehung und Familienstrukturen im Spiel und diskreditieren andere Lebensweisen, die für unsere gesamte soziale Bewegung bisher absolut entscheidend waren.

 

Emcke / Saar: Woher kommt die »Begierde zu sein«? Ist es lebensphilosophisch oder anthropologisch begründet, eine condition humaine?

Butler: Ich würde die »Begierde, in seinem Sein zu bestehen«, wie es in Spinozas Ethik entworfen wird, als eine Art Ausgangspunkt oder Voraussetzung verstehen. Ich denke, man weiß erst, was es ist, wenn es sich realisiert, und das geht nur durch Anerkennung. Das Komplizierte ist, dass man nicht außerhalb von Kategorien der Anerkennung sein kann, auch wenn es sein kann, dass man nicht innerhalb sein kann. An diesem Punkt scheint es mir wichtig, darauf hinzuarbeiten, dass man sich den bestehenden Anerkennungskategorien nicht einfach anpasst, um Zugang zur Anerkennung zu erreichen, sondern eine kritische Perspektive auf sie gewinnt. Was macht die verfügbaren Anerkennungskategorien aus, wie könnte man sie ändern? Man muss immer in einem gewissen Sinn »draußen« bleiben, um eine kritische Perspektive einnehmen zu können.

 

Emcke / Saar: Das bedeutet, dass es in den Kämpfen um Anerkennung nicht nur um die Anerkennung als etwas Bestimmtes, eine Identität, z. B. eine Minderheit mit

bestimmten Eigenschaften und Rechten geht, sondern auch um ein neues Aushandeln der Kriterien von Anerkennung, um die Normen selbst?

 

Butler: Es könnte um eine Umgestaltung der vermeintlichen Norm oder um ein Umgestalten des gesamten Feldes der Normen gehen, die bestimmen, was ei-nen Menschen (an)erkennbar macht und was nicht. Ich glaube, darum ging es mir bei dem Antigone-Projekt: herauszufinden, was das Menschliche in einigen Fällen lesbar und (an)erkennbar macht und was nicht. Anders gefragt: Wie stellt sich durch die Macht der Anerkennung eine ontologische Verteilung, eine ontologische Ordnung her? Was ist der »ontologische Effekt« der Anerkennung?

 

Emcke / Saar: Ist der Kampf um Anerkennung prinzipiell unendlich?

 

Butler: Eine Erfüllung von Anerkennung wäre der Tod. Manche machen sich Sorgen, wenn sie hören, Anerkennung sei nie ganz realisierbar, als ob man dann nicht dafür kämpfen müsste. Aber ich denke, dem Kampf selber kommt ein Wert zu. Wir sind in der paradoxen Lage, Anerkennung zu benötigen, aber wir sind auch darauf angewiesen, dass wir an der Umgestaltung der Anerkennungsbegriffe mitwirken können. Es gibt hier eine Produktivität des Begehrens, das nie mit einer bestimmten Anerkennung zu erfüllen ist. Keine Anerkennung kann das Begehren ganz erfüllen, das ist ein guter hegelianischer Punkt und gar nichts Postmodernes..., aber auf der anderen Seite gibt es auch keine Möglichkeit, das vollständige Begehren nicht zu begehren... (lacht). [...]

 

Emcke / Saar: Um die Frage politischer Ansprüche geht es in Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left, einem faszinierenden Austausch zwischen Ernesto Laclau, Slavoj Zizek und Ihnen.5 Was ist ein politischer Universalitätsanspruch? In welchem Sinn nehmen politische Forderungen eine allgemei-ne Form an?

 

Butler: Ich formuliere in diesem Buch das Konzept der »kulturellen Übersetzung« zwischen verschiedenen Ansprüchen an Universalität. [...] Ich denke auch dass es konkurrierende Logiken von Universalität geben kann, aber dann bleibt die Frage, wie man Pluralität denken kann. Ich denke, es gibt keine Universalität ohne ein Denken der Pluralität. Es gibt zwei Möglichkeiten, über die Universalität von Ansprüchen nachzudenken. Es gibt einmal Forderungen oder Ansprüche, die Personen oder Gruppen darauf erheben dazuzugehören, Teil des Allgemeinen zu sein, Rechte zu haben und von Rechten geschützt zu werden, die als allgemeine Rechte oder Rechte für alle Menschen verstanden werden. Es geht also darum, ein Recht oder die Möglichkeit auf öffentliche Partizipation, auf Inklusion, auf Einschluss in die Norm einzufordern.

Aber was tun wir, wenn die sogenannten universellen Rechte oft nicht universell gelten oder so formuliert sind, dass sie für bestimmte Menschen innerhalb ihrer politischen Sprache nicht lesbar sind? Viele Philosophen finden das nicht problematisch; in ihren Augen beziehen sich die universellen Rechte qua Menschlichkeit auch auf Individuen, die die Sprache der Universalität oder die universellen Rechte ablehnen. Ich halte das für epistemologischen Imperialismus. Man tut so, als ob diejenigen, die eine andere politische Sprache haben und anders über politische Rechte denken, irgendwie weniger entwickelt wären oder dringend der Aufklärung durch den wahrhaft universalistischen Standpunkt bedürften. Man stellt sich gar nicht erst die Frage, ob und wie man die repräsentiert, die nicht repräsentiert werden wollen, dabei beschäftigt diese Frage die Ethnologen und Anthropologen schon seit Jahrzehnten.

Ich will nicht sagen, man könne nicht universalisieren! Und ich sage auch nicht, man müsse sich immer auf lokale Ansprüche beschränken. Ich möchte den Anspruch auf Universalität erheben können, das ist politisch extrem wichtig. Meine Beschäftigung mit internationalen Fragen allgemeiner sexueller Menschenrechte hat mir sehr deutlich gemacht, dass man diesen Anspruch erheben muss.6

 

Emcke  / Saar: Aber geht es dann um mehr als einen strategischen Universalismus?

 

Butler: Ich weiß nicht, ob er nur strategisch ist. Wenn die feministische Aktivistin Charlotte Bunch über »weibliche Menschenrechte« – eine seltsame Formulierung! – redet, will sie eine universelle Anerkennung der Menschenrechte von Frauen einfordern. Sie will aber auch behaupten, dass wir nicht immer im Voraus wissen können, welche Form diese Forderung annehmen wird und welche Bedeutung sie in einem bestimmten Kontext haben wird. Und vielleicht wird sogar der Rechtsdiskurs nicht die zentrale Form sein, in der sich dieser Anspruch artikulieren wird, und wird zu Gunsten einer anderen Sprache der Partizipation, der Repräsentation, der Umverteilung etc. suspendiert.

Für mich stellt sich die Frage so: Wenn Universalität ohne Selbstwiderspruch wirksam sein soll, kann sie nicht willkürlich auf eine bestimmte kulturelle Sphäre oder eine bestimmte Sprache eingeschränkt werden; sie muss einen Prozess kultureller Übersetzung durchlaufen, um sich selbst als substanzielle Universalität zu realisieren [...].

 

Emcke / Saar: Der Kampf um Universalität ist also ein offener Prozess? Was halten Sie von prozeduralistischen Formulierungen dieses politischen Projekts? Kann es institutionalisiert werden?

 

Butler: Das schließe ich nicht aus. Aber auch das Einrichten von Prozeduren, die Universalität umsetzen sollen, ist nicht immun gegenüber genau diesen Prozessen kultureller Übersetzung. Auf eine gewisse Weise ist das eine rhetorische Frage: Wo und wie, durch welches Medium, vor welchem Publikum und mit welchen Folgen erheben Menschen ihre Ansprüche? Das ist die grundlegende Frage der Rhetorik, und wenn die Philosophie auf die kulturelle Dimension und überhaupt auf ihre eigenen Ansprüche auf Universalität antworten will, muss sie sich der verschiedenen und sehr spezifischen rhetorischen Formen bewusst werden, in denen politische An- und Einsprüche formuliert werden.

Universalität ist für mich nicht nur ein strategisches Werkzeug. Ich glaube, wenn man Universalität als nicht-imperialistischen Anspruch ernst nimmt und sie nicht paternalistisch oder unter Berufung auf »Vernunft« Orten und Sprachen aufzwingt, die sich ihr widersetzen, muss man diese Kategorie einigen kulturellen Herausforderungen aussetzen. Das ist die einzige Möglichkeit, Universalität konkreter und inklusiver zu reartikulieren.

Das wird manche nervös machen, sie scheuen das Aufeinandertreffen, den Kampf, das Risiko; sie gehen davon aus, dass man Universalität in der Vernunft oder in einer bestimmten Form von angeblich universaler Vernunft begründen kann, unabhängig davon, ob sie als solche anerkannt ist.

 

Emcke / Saar: Wäre das der Anspruch von dem, was Sie »radical democracy« nennen?

 

Butler: Ja, ich fühle mich diesem Projekt namens »radical demo-cracy« verbunden. [...] Ich habe schon sehr früh darauf hingewiesen, dass das Subjekt in meiner Arbeit eine politisch privilegierte Instanz ist. In anderen Worten: Wenn wir zum Beispiel über Menschen und ihr angeblich nicht-normatives, nicht normenkonformes Geschlecht sprechen, stellt sich die Frage, ob ihre Menschlichkeit anerkannt wird. Wenn wir über Bevölkerungen sprechen, sehen wir, dass ein Teil der Be-

völkerung als Bürgerinnen und Bürger anerkannt sind und ein anderer Teil einen mehrdeutigen Status zwischen Legalität und Illegalität innehat. Innerhalb einer Bevölkerung haben einige den Bürgerschaftsstatus, andere haben ihn nicht ganz, und es gibt immer die Lebewesen, die genau an der Grenze dessen leben, was (an)erkennbar ist. [...]

Ich denke, dass sich politische Gemeinschaften in dem Maße produzieren und reproduzieren, wie sie durch Grenzziehungen das nicht-ganz-Lesbare, nicht-ganz-Lebbare als Teil ihrer eigenen Gemeinschaft produzieren, als verleugneten, aber konstitutiven Teil der Gemeinschaft. Und da setzt der richtige Kampf um demokratische Selbstdefinition ein.

 

Emcke / Saar: Weil auf demokratischem Weg für den Einschluss der Ausgeschlossenen gekämpft werden kann?

Butler: Diese Lebewesen sind gewissermaßen bei uns, mit uns, ohne ganz anerkannt zu sein, ohne am öffentlichen Leben teilzunehmen, nicht außerhalb der Gesellschaft, aber auch nicht unsichtbar. Für mich ergibt sich daraus das Ziel einer radikaler verstandenen Inklusion, einem inklusiveren Verständnis dessen, was als menschliches Leben zählt und anerkannt wird, und das Ziel, Subjekten, die sich bisher gewissermaßen am Rand des Intelligiblen und Anerkennungswürdigen befanden, einen größeren Zugang zur Anerkennbarkeit zu ermöglichen. Das macht manchmal radikale

Interventionen in die Norm, die Anerkennbarkeit reguliert, nötig, und nicht nur Anpassung. Das scheint mir ein politisches Projekt zu sein, und das ist wohl die Norm, auf die ich mich für eine radikaler inklusive Gemeinschaft berufe.

 

[...]

 

 

 

 

_*..    Das Interview erschien in der längeren Originalfassung erstmalig in: Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Jg. 49, Heft 4, September 2001. Wir danken herzlich für die Nachdruckerlaubnis.

 

 

 

_ # ..     Vorspann:

_ A ..   Andrea Roedig: »Über ein ›Spiel der Geschlechter‹ ist mir nichts bekannt. ...« Interview mit Judith Butler, in: Freitag Nr. 36, 2001.

_ B ..   Sven Opitz: »Judith Butler. Das Subjekt und die Macht.« In: Intro  Nr. 89, November 2001.

 

 

            _ # ..     Interview:

_ 1 ..    Judith Butler: »Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod«, Frankfurt / M. 2001.

_ 2 ..    Judith Butler: »The Psychic Life of Power: Theories of Subjection.«, Stanford 1997; dt.: »Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung.«, Frankfurt / M. 2001.

_ 3 ..    Vgl.: Wendy Brown: »States of Injury: Freedom and Power in Late Modernity.«, Princeton 1995.

_ 4 ..    Zum conatus in suo esse perseverare und zur spezifisch menschlichen cupiditas vgl.: Baruch de Spinoza: »Die Ethik.« (1677), III / 6, 7, IV / 18, dt. / lat., Stuttgart 1977, 273 ff. und 475 ff.

_ 5 ..    Judith Butler / Ernesto Laclau / Slavoj Zizek: »Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left.«, London 2000.

_ 6 ..    Vgl. zur deutschen Diskussion: Nico J. Berger / Sabine Hark / Antke Engel / Corinna Genschel / Eva Schäfer (Hg.): »Queering Demokratie: Sexuelle Politiken.«, Berlin 2000.