diskus 3/00

Sehen und gesehen werden
diffus und kampagnistisch: die Rede von der Überwachungsgesellschaft

[Herbst 1999. Kamera ab.] Auf dem Bildschirm erscheint der Connewitzer Platz, das »Herz« des linken Leipziger Viertels. Das frisch installierte elektronische Auge scannt Bewegungen, Interaktionen, Gesichter; Bekanntschaften werden registriert, geordnet, ausgewertet.

[»Press forward«.] Bilder von über 20 Demos gegen die Kamera »im eigenen Haus«. Zwischenzeitlich - in den Tagen, an denen die Kamera militant »ausgeschaltet« wurde - immer wieder ein schwarzer Screen.

[Spulen wir noch weiter.] Am 14. Oktober 2000 finden sich in Leipzig über 3 000 Leute zu einer Demonstration unter dem Motto »Save the Resistance« ein, zusammengetrommelt u. a. von einer Info- und Mobilisierungstour des Bündnisses gegen Rechts Leipzig (BGR) und dem Antifaschistischen Frauenblock Leipzig (AFBL) durch annähernd 30 Städte; Widerstand gegen die kommende »Überwachungsgesellschaft«. Dass diese Kategorie mehr verwirrt als hilft - darum soll es im Folgenden gehen.

Der Begriff Überwachungsgesellschaft, so wie er im Leipziger Reader ausbuchstabiert wird, soll in Abgrenzung zum Begriff des Überwachungsstaates funktionieren. Das Szenario erscheint überholt, in dem eine Zentralinstanz ihre Fühler ausstreckt, die Bevölkerung überwacht und reguliert. Die »BigBrother is watching you«-Vision ist in tausend little brothers and sisters explodiert, 1984 ist nie gewesen. Hinter den einzelnen Überwachungsphänomenen steht nicht der Staat, sondern ein verworrenes Geflecht aus staatlichen Verfolgungsbehörden, Geschäftsleuten, Grenzschützern, Wohnungsbaugesellschaften, Ordnungsämtern, Universitätsleitungen, Privatleuten, Versicherungen und wie sie alle heissen. Unzählige Daten- und Bildbanken werden verstreut erstellt, teils vernetzt, teils datenschutzrechtlich blockiert, jedenfalls aber nicht zentralisiert.(1)

Die Bezeichnung Überwachungsgesellschaft soll aufmerksam machen auf die enorme Ausweitung der Erfassungskapazitäten und -tätigkeiten. Chip-Karten für Studierende, das Schengener-Informationssystem (SIS)(2), pränataler Gencheck, ein aufmerksames Denunziantentum in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien, elektronisch gesicherte Innenstädte, verdachtsunabhängige Personenkontrollen, Schleierfahndung, der große Lauschangriff, riesige Datenbanken mit KonsumentInnenprofilen sind im Leipziger Reader genannte Symptome und Elemente großer Netze, die auf umfassende Erfassbarkeit zielen, den gesellschaftlichen Raum mit ihren Rastern durchziehen und Handlungen in eine nachvollziehbare Datenspur codieren.

Wo ist die Kamera?
Die High-Tech-Videokamera stellt so etwas wie die sinnfällige Ikone der observierten Wirklichkeit dar. Tatsächlich lässt sich als Hersteller elektronischer Sicherungs- und Überwachungssysteme derzeit gut leben, nach Schätzungen filmen in Deutschland zur Zeit ca. 500 000 Kameras, Tendenz steigend. Beschränkte sich die Präsenz von Kameras bis vor einigen Jahren vorwiegend auf Bankschalter und feinere Kaufhäuser, so verbreitern sich die Anwendungskontexte, wobei die Grenzen zwischen öffentlichen, semiöffentlichen bzw. privaten Räumen längst unscharf geworden sind. Videoüberwachung findet sich mittlerweile auch in U-Bahnhöfen, Bahnhöfen, in Betrieben, Shopping-Malls, in Parks, auf Universitätsgeländen und öffentlichen Plätzen. Erst Mitte November hat die SPD-Fraktion in Frankfurt ihr Okay für die Videoüberwachung der Konstablerwache gegeben.

Die Rede über die Kameras
In der (linken) Kritik an derartigen Entwicklungen lassen sich verschiedene Positionen / Strategien finden. Die kulturkritische Variante liefert beispielsweise GRAFT llc in dérive, nov. 2000 in dem Artikel »Der überwachte Raum«, in dem der sich anbahnende oder schon zu verzeichnende Verlust der Privatsphäre bzw. von Anonymität als Gefahr für die Ausbildung au-thentischer Subjektivitäten thematisiert wird. Rolf Gössner hingegen argumentiert in dem jüngst erschienen Buch »Big Brother & Co« hinsichtlich der drastischen Intensivierung der Kontrolldichte im öffentlichen und privaten Raum vehement mit datenschutz- und bürgerrechtlichen Bedenken. Ist die Kontrolle noch kontrollierbar? Dem Leipziger Reader von BGR und AFBL zufolge soll ein »Hauptaugenmerk« des linksradikalen Widerstands auf die Überwachungsgesellschaft gelegt werden.

Das Auffällige an den Beiträgen ist die Gemeinsamkeit, die verschiedenen Phänomene um den Masterbegriff »Überwachungsgesellschaft« herumzugruppieren, dem Begriffe wie Kontrolle, Disziplinierung oder Repression als »Spielarten« untergeordnet werden. Stets schlägt einem in den Texten eine Flut immer drastischerer Phänomene entgegen, an denen nicht die Unterschiede, sondern der Fakt interessiert, dass sie alle irgendwie auch Überwachung sind. Überwachung als dominanter Modus dieser Gesellschaft? Doch schon beim Paradeexemplar der Registrierungsmaschinerie, der elektronischen Kamera, erweist sich der Begriff Überwachung als ungenau und unzulänglich. Was außer dem »Ding« Kamera hat es gemeinsam, wenn sich im einen Fall wohlhabende Bürger mittels elektronischer Sicherung abgeschottete Wohnviertel schaffen und wenn in einem anderen eine Wohnungsbaugesellschaft in der deklassierten Hochhaussiedlung die Treppenflure elektronisch überwachen lässt? Statt alles in einen Topf zu werfen und flugs den Deckel drauf zu stülpen, wäre zu fragen, wer wo zu welchem Zweck und mit welchen Wirkungen auf wen Kameras richtet.

Kameraszenarien
Recht grundsätzlich mischt sich bei fast allen Kamerainstallationen die Dimension des »Sehens durch die Kamera« mit der des »Sehens der Kamera«. Die »geheime Kamera«, die nur sieht und nicht sichtbar ist, ist eher selten. - Auch wenn ich (sind das Pestogläschen und die Rasierklingen erst mal in die Jackentasche gesteckt) im Supermarkt noch hinter jedem Gitter an der Decke das elektronische Auge vermute. Auch die Potentialität einer Kamera löst u. U. Adrenalinschübe aus. - Bleiben wir im Kaufhaus. Fährt man im Saturn-Hansa die Rolltreppen nach oben, hat man eines unvermeidlich im Blick: Monitore übertragen an alle KundInnen die Bilder der Videokameras. Die Botschaft lautet: »Wagen Sie es nicht, Sie werden überwacht!« In dieser relativ klassischen Variante stellt die Überwachung prinzipiell alle KundInnen unter den Generalverdacht, ihre Konsumwünsche nicht über den Umweg Geld befriedigen zu wollen. Indem die Grenze hier eindeutig zwischen dem Interesse der Geschäftsleitung und den KundInnen verläuft (bzw. auch »intern« zwischen Geschäftsleitung und Angestellten, deren Verhaltenskonformität ebenfalls sichergestellt werden soll), ist die Funktionsweise hier weitgehend sozial indifferent.

In öffentlichen Räumen hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt, bestimmte so definierte Problem-zonen einer elektronischen Sondermaßnahme zu unterziehen. So wird seit diesem Sommer der Vorplatz vor dem Frankfurter Studierendenhaus auf dem Unicampus gefilmt, jenem Areal, auf dem die üblichen Verdächtigen des law&order-Diskurses ihren Platz gefunden haben. Im Gegensatz zum Kaufhaus wird hier von vornherein nur jene Zone ins Visier genommen, die als Kriminalitätschwerpunkt definiert ist. Sozial adressiert werden dabei ausschließlich die »gefährlichen Klassen«, wer ansonsten »durchs Bild« tapst, interessiert nur marginal. Auch ist der elektronische Blick hier nicht an den zu schützenden Objekten ausgerichtet (dem Studierendenhaus), sondern folgt einem spezifischen Vertreibungsinteresse, indem die Anonymität des Raumes aufgehoben wird und damit beispielsweise Geschäftsgrund-lagen entzogen werden. Wer erwirbt schon gern illegalisierte Drogen, wenn das örtliche Polizeirevier elektronisch gafft?

Den 120 Kameras am Frankfurter Hauptbahnhof kommt hingegen eine zusätzliche Funktion zu. Soll die Kamera im Kaufhaus ungebührlichen Warenklau verhindern, so geht es im Bahnhof um die »Sicherung eines Kundenraums«, d. h. sie zielt auf eine umfassendere Kontrolle von Verhaltensweisen. Der springende Punkt ist, dass die Kameras hier nicht nur ein Instrument zur Vertreibung und Ausgrenzung sind, sondern Teil der Serviceleistung für die redlichen KundInnen. Im Kaufhaus sind alle verdächtig, in der Observierung von Problemzonen werden nur die als verdächtig Ausgemachte adressiert. Im Bahnhof hingegen stellt der Einsatz der Kameras eine Spaltung in erwünschte und unerwünschte KundInnen mit her. Offensiv präsentiert die Bahn mittels Plakaten, Videoclips und Durchsagen den Kontrollapparat als akzeptierten und gewünschten Kundenservice. Den anständigen KundInnen wird mitgeteilt, was im Kaufhaus ziemlich grotesk wäre: »Schätzen Sie sich glücklich, Sie werden überwacht!« - Kameras als Warnung für die einen, als Versprechen für die anderen. Entsprechend gibt es Lautsprecherdurchsagen, dass gerade wieder »Bettelbanden in der B-Ebene unterwegs sind« (O-Ton) und man ihnen bitte kein Geld geben möge. Überwachung ist hier Teil einer integrierenden corporate identity-Strategie, die über gemeinsame Abwehrmaßnahmen gegen »die anderen« funktioniert.

Analyse _ Kampagne _ Praxis
Kameras wirken also, je nach Setting, sehr unterschiedlich. Mal sollen sie zur Arbeit anhalten, mal vom Diebstahl abhalten. Hier werden Informationen gesammelt, dort vertrieben. Feindbilder werden konstruiert, Normalitäten etabliert, Devianzen erzeugt, soziale Gruppen positioniert, d. h. eingemeindet oder ausgegrenzt. Angesichts solcher Differenzen erweist sich die abstrakte Rede von der Überwachungsgesellschaft als diffus. In ihrer Allgemeinheit hat sie ihr Pendant in der Opferfigur des »gläsernen Subjekts«, das im Überwachungsnetz gefangen ist. Welches »wir« aber wird durch dieses Subjekt repräsentiert? Sicher, in den diversen Publikationen der letzten Zeit unter dem Label »Kameras und Überwachung« finden sich stets Hinweise darauf, dass vor allen Dingen die ohnehin Stigmatisierten betroffen sind. Dieses »vor allen Dingen« scheint mir aber zu wenig, verfehlt es doch einen zentralen Modus gegenwärtiger Kontrollszenarien, in denen elektronische Überwachung nicht primär der Kontrolle oder der Registrierung dient, sondern als Instrument rigoroser Vertreibung und sozialen Ausschlusses. Kamerasettings wie am Bahnhof bewirken die Formierung einer (materiellen und symbolischen) Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Dazugehören und Ausgrenzung.

Möglicherweise sind die Varianten überspitzt. Als lediglich analytische Spitzfindigkeiten wären sie kaum der Mühe Wert. Tatsächlich geht es aber darum, ausgehend von der Wahrnehmung solcher Differenzen sich nicht in der kriterienarmen Rede von der Überwachungsgesellschaft zu ergehen oder gar zu versuchen, andere, die vermeintlich im selben Boot sitzen, über die Suggestion von gemeinsamer Bedrohung mobilisieren zu wollen. Schief wird es, wenn auf dem Topos Überwachungsgesellschaft eine politische Kampagne aufgebaut werden soll wie bei der Demo in Leipzig. So wurde es genau dann unangenehm, als man glaubte, etwas in der Hand zu haben, mit dem auch die schaulustigen BürgerInnen positiv angesprochen werden konnten: Auch sie stünden in Gefahr, zum gläsernen Menschen zu werden, Opfer der wuchernden Überwachungsmaschinerie. Komisch nur, dass Kameras mitunter gerade »ihrer wegen« eingerichtet werden. Statt in der Rede gegen Überwachung ein diffuses Opfer-Wir zu konstruieren, scheint es mir brauchbarer, die Strategien von Spaltung und Ausschluss in den Mittelpunkt zu stellen. Vor den Überwachungsaugen ist nun mal nicht jedeR gleich. Reden wir also von elektronisch gestützter und wohlstandschauvinistisch bzw. rassistisch codierter Ausgrenzung.

Nun ließe sich der Rekurs auf Schwammigkeiten aber auch als Symptom der aktuellen politischen Situation lesen. [Wieder Schwenk nach Leipzig.] Un-übersehbar lag der Nutzen der programmatischen Unschärfe der dortigen Mobilisierung darin, ein gewaltiges Themenfeld auf die Demo-Tagesordnung setzen zu können. So hatte man dort das Gefühl, als ginge es unter dem zwar diffusen, aber doch grellen Banner »gegen Überwachung und für Widerstand« um eine Zusammenführung verschiedenster politischer Szenen und Spektren. »Wir sind hier um zu zeigen, dass es den linksradikalen Widerstand noch gibt.«, wurde vom Lautsprecherwagen postuliert.

Immerhin, man demonstrierte mächtig und immerhin bekommt man in Leipzig Kameras noch zerstört, während in Frankfurt die einen noch mit der Analyse beschäftigt sind und die anderen sich in Selbstgefälligkeit ergehen, dass Kameraüberwachung ein alter Hut sei. Auf einer sehr konkreten Ebene der praktischen Gegenwehr stößt die Brauchbarkeit der ganzen Unterscheidungsanstrengung möglicherweise an Grenzen. Jede »von oben« installierte Kamera ist eine zuviel.

[Auf dem Bildschirm sieht man einen Stein, der näher und näher kommt. Kamera aus.]

c.an

Anmerkungen:
< 1 > Dass sich staatliche Institutionen nicht aus dem »Überwachungsgeschäft« zurückgezogen, sondern ihre Aktivitäten weiter intensiviert haben, zeigt Rolf Gössner in dem Buch »Big Brother & Co.«. (back)
< 2 > Das SIS ist ein supranationales Fahndungssystem, das von ca. 50 000 lokalen Terminals der Polizei und der Zollbehörden aller beteiligten Staaten abgefragt werden kann. Es enthält zu 90 % Daten von Personen, deren Einreise ins Schengenland nicht erwünscht ist. (back)

txt:
¬ Rolf Gössner: Big Brother & Co. Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft. Hamburg 2000
¬ Stephan Lanz / Walther Jahn: Elektronische Augen der Stadt, in: Jungle World, 5. April 2000. Berlin
¬ GRAFT llc: Der überwachte Raum, in: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, nov. 2000. Wien
¬ Reader zur bundesweiten Demonstration »Save the Resistance«, Leipzig unter: www.nadir.org/bgr


 
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