Heft 2/99

Warum Bielefeld nicht zwischen Bagdad und Belgrad liegt
Grüne Kriegsgewinnler und die Neue Linke

Wo bleibt der Widerstand gegen den Krieg, gegen den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit 1945? An spektakulären Anlässen, mehr oder weniger spontan den Protest auf die Straße zu tragen, hat es in den letzten zehn Wochen nicht gefehlt: Fast im Wochentakt lieferten die NATO-Bomber entsprechende Steilvorlagen, mit ihren unzähligen irrtümlichen und absichtlichen Treffern auf Züge, Busse, Flüchtlingstrecks, Brücken, Botschaften und Bulgarien, Tabakfabriken, Krankenhäuser, Fernsehsender. Die möglichen Kritiken gegen die Luftangriffe decken ein breites Spektrum ab, reichen von moralischen über juristische, antiimperialistische und demokratische bis zu ängstlich-wohlstandschauvinistischen und strategischen Argumenten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Ein vermintes, zerbombtes und durch angereichertes Uran verseuchtes Kosovo wird nur für solche Flüchtlinge verlockend sein, denen einzig die Perspektive geboten wird, in albanischen und makedonischen Lagern die Tage zu zählen; die Tickets in den Westen bleiben strikt kontingentiert. Daß ohne den Schutzschild aus NATO-Bomben die jugoslawischen Milizen und Freischärler im Kosovo im gleichen Maße geraubt, verjagt und getötet hätten, ist notgedrungen Spekulation; positive Sanktionen, etwa die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft, standen zu keiner Zeit auf dem Programm, und die im letzten September vereinbarte internationale Beobachtergruppe erreichte niemals ihre Sollstärke, aus Geldmangel. Wie sich eine Opposition in Jugoslawien ohne Massenmedien formieren soll, bleibt das Geheimnis der NATO. Die ethnische Differenz ist den Menschen faktisch in den Leib gebombt, und den inzwischen fallengelassenen Au-schwitzvergleich bejohlen die Vertriebenenverbände. Mit der praktischen Durchsetzung der neuen NATO-Aufgaben haben sich die Spielregeln im internationalen System drastisch erweitert. Japan änderte seine Verfassung zugunsten internationaler Militäreinsätze, die EU bastelt an einer eigenen Eingreiftruppe, und Indien weist jede Kritik an seiner Atombewaffnung mit dem Hinweis zurück, daß ein entsprechend gerüstetes Jugoslawien wohl kaum zum Spielball internationalen Kräftemessens geworden wäre.

Plausible Gründe, gegen den Krieg zu kämpfen, gibt es für jeden Geschmack. Bekannt sind sie auch. Trotz NATO-Nachrichtenhoheit ist die Fülle der Informationen über das Kriegsgeschehen verblüffend hoch, zu finden in jeder besseren Tageszeitung, freilich bunt gemischt, plural und demokratisch eingebettet in kritische Erörterungen der Luftkriegsstrategie, herzzerreißende Flüchtlingsdramen und Bewerbungsschreiben fürs Hauptquartier. Spätestens seit die taz mit der »Rambouillet-Lüge« titelte und der Appendix B des Ultimatums bekannt wurde, ist der Kosovokrieg kein MTV-Krieg mehr. Ein Aufschrei der Empörung blieb trotzdem aus. Mit dem grünen Sonderparteitag scheint selbst die Energie der wenigen Anti-Kriegs-AktivistInnen erschöpft. Obwohl alles andere als Kriegseuphorie herrscht, die Skepsis in der Bevölkerung zunimmt, die meisten auf ein baldiges Ende der Kampfhandlungen hoffen und die Grenze des deutschen Engagements sich immer deutlicher abzeichnet.

Manch eine mag zu Beginn des NATO-Bombardements ein Remake des zweiten Golfkrieg erwartet haben, Marathondemos, Bahnhofsbesetzungen und die Bednarz'schen Bettlaken. »Kein Blut für Öl« brachte damals die Stimmung auf den Punkt, auch wenn die meisten Kriegsgegner sich kaum mit dem simplen Strickmuster begnügten. »Kein Blut für's Kaukasus-Öl« klingt dagegen wenig plausibel, und »Kein Blut für die Ethnifizierung des Sozialen« fällt nicht nur aus syntaktischen Gründen aus. Daß heute niemand in der Lage ist, ein vergleichbares Pendant für den Kosovo-Krieg zu formulieren, verdeutlicht tatsächlich das gesamte Problem des Anti-Kriegs-Widerstands. Niemand? Das ist übertrieben. Doch die entsprechende Parole liegt eher Edmund Stoiber auf den Lippen: »Kein deutsches Blut für Hütchenspieler«.

Den verflossenen Zeiten nachzutrauern, hilft nicht. Vor allem sollte nicht vergessen werden, daß der Golfkrieg II für die Linke im Fiasko endete. Der schmissige Slogan ermöglichte zwar die Massenmobilisierung, ganz in den Koordinaten des Antiimperialismus der achtziger Jahre, und es schien, als rettete sich die US-Hegemonie in die neue Vorkriegszeit hinüber. Die Formel hielt aber kaum drei Wochen, nämlich just bis zu dem Zeitpunkt, als die ersten Scud-Raketen auf Israel abgefeuert wurden. Der folgende Streit zwischen Bellizisten und Pazifisten, zwischen dem gerechten Krieg und der Ungerechtigkeit jedes Krieges, hatte mit einer politischen Einschätzung der Situation nicht mehr viel zu tun, sondern entwickelte sich zum linken Religionskrieg.

Die Bellizistenfraktion rekrutierte sich fast durchwegs aus dem Reservoir der Achtundsechziger-ff., kamen aus dem Umfeld der grünen Partei und der Linksradikalen: Cora Stephan, Dan Diner, Wolf Biermann, Hendryk M. Broder, Detlev Claussen, Wolfgang Porth, Micha Brumlik.1 Als standhafte Linke hielten wir sie damals schlicht für durchgeknallt, für verwirrte Einzeltäter oder Opportunisten und waren uns unserer moralischen Integrität sicher. Daß die Verwirrung schon damals viel tiefer und wohl auch durch jeden einzelnen ging, hätte ein anderes Ereignis zeigen können. Mitte Februar 1991 mußte Christian Ströbele nach heftigen inner- und außerparteilichen Protesten vom Posten des Bundesvorstandssprechers der Grünen zurücktreten, als er am Tag vor seiner Israel-Reise per Zeitungsinterview formulierte, »die irakischen Raketenangriffe sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels«.

In den folgenden Jahren verlor die politische Linke vollends die Initiative. Der schrittweisen Militarisierung der deutschen Außenpolitik standen die Linksradikalen ähnlich hilflos gegenüber wie die SPD, die in Sachen Militäroption mal für mal in die Fußstapfen der Union trat und sich wunderte, daß die Union schon wieder einen Schritt weiter war, die grüne Basis im Schlepptau. Wortkarg zeigte sich die antimilitaristische Linke auch während des gesamten jugoslawischen Bürgerkriegs, in dem wiederum die erweiterte Partei der Grünen zu den treibenden Kräften der militärischen Intervention gehörte. In Frankfurt forderte sogar eine Abspaltung der Linken Liste, die noch Ende der achtziger Jahre heftig über die grünen Verräter schimpfte, bereits im Sommer 1992 die Bombardierung Belgrads. Hans Eichel, zu einer Feierstunde in die Frankfurter Uni geladen, konnte dem nur entgegnen, daß deutsche Soldaten nicht noch einmal in Jugoslawien einmarschieren sollten. Was die einen schon 1992 wußten, war den anderen Srebrenica. Die gewissenhafte Analyse einer systematischen Politik der Ethnifizierung Jugoslawiens konnte dem nichts entgegensetzen. Verschanzt hinter den Broschüren der Ex-Anti-Nato-Gruppe und den Materialien für einen neuen Antiimperialismus hofften wohl viele Linke, daß der Bürgerkrieg möglichst bald von selbst ein Ende finde. Der kroatische Nationalismus entschuldigte genauso wenig den serbischen Nationalismus, wie der Nachweis, daß manch eine Meldung aus dem Kriegsgebiet Ungereimtheiten aufwies, darüber hinweg täuschen konnte, daß Jugoslawien sich in ein grausiges Schlachtfeld verwandelte.


Der Krieg der Achtundsechziger

Es würde den Einfluß der Achtundsechziger, der Neuen Linken und der Grünen überschätzen, in ihnen die Urheber des NATO-Bombardements zu sehen. Allerdings liefern sie am glaubwürdigsten das diskursive Raster, mit dem allein der Krieg so geführt werden kann, wie er funktioniert: als Krieg für Menschenrechte. Um so mehr habe ich mich gewundert, daß es gerade den intimsten Kritikern der Grünen plausibel war, ausgerechnet sie oder zumindest ihre Basis für das schwächste Glied der parteienübergreifenden Kriegskoalition zu halten. Dagegen sprach schon die linke Standardargumentation, mit der sich seit Mitte der achtziger Jahre die linken Kritiker vom Parteiprojekt distanzierten: daß die Grünen für die Regierungsbeteiligung noch jede Pille schlucken würden, oder zugespitzt, daß die Grünen die gemeinsamen Ideale verraten hätten.

Was auf dem grünen Parteitag zur Debatte stand, war die Existenz der Partei, die unweigerlich mit der Koalitionsfrage verbunden ist, seit sie infolge der Zuspitzung des innerparteilichen Konflikts zwischen 1986 und 1990 ihr gesamtes strategisches Potential auf eine künftige Regierungsbeteiligung im Bund aus-gerichtet hat. Hätte die grüne Basis, dieses »Sicherheitsrisiko« (so der Chefideologe Joachim Raschke), tatsächlich den Außenminister in die sozialdemokratische Wüste geschickt, wären die Tage der Partei wohl gezählt gewesen. Ströbeles Argumentation, eine deutliche Distanzierung von der Regierungspolitik müsse nicht das Ende der Koalition bedeuten, scheiterte an der plaziert-dementierten Warnung des Außenministers und verkannte zugleich, daß auch ohne Kriegseintritt das rot-grüne Reformprojekt längst seine Geschäftsgrundlage verloren hatte. Vor Beginn des NATO-Bombardements hat niemand, weder aus der Partei, noch aus dem Sympathisantenkreis, die Koalitionsfrage in den Raum geworfen. Geschweige denn diejenigen, die schon immer wußten, wie es mit den Grünen mal enden würde. Statt dessen galt die Bevölkerung für die grünen, linken Vorhaben als zu unreif, zu konservativ, was das Zurückstecken noch im Koalitionsvertrag formulierter Gesetzesvorhaben plausibilisierte. Für eine Perspektive jenseits der Regierungsbeteiligung fehlt den Grünen nach zehn Jahren Juso-Ähnlichkeitswettbewerb, bezogen auf den Nachwuchs, sowohl das Personal als auch die Vorstellungskraft, daß Politik keine technische, sondern vor allem eine Frage praktischer Organisierung ist. Um diese strukturelle Sackgasse der Parteireformen von 1990ff zu erkennen, waren nicht einmal die handverlesenen Delegierten vonnöten.

Ich halte dieses gängige linke Kritikmuster an den Grünen allerdings für nicht hinreichend, sogar für kontraproduktiv, weil es moralisiert statt zu politisieren, den Wandel der Grünen nur als Verrat oder, weniger persönlich, als Vereinnahmung begreift – und überdies die Regierungsbeteiligung jederzeit legitimieren kann. Der Kosovo-Krieg war das beste, was der Fischer-Gang passieren konnte, denn mit ihm rastete das Realo-Fundi-Dispositiv wieder ein, das den Grünen ihr Image als Partei der Achtundsechziger, der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen garantiert: weil die grüne Präsenz im Auswärtigen Amt zwar kaum eine, aber doch eine minimale Chance eröffnet, eines der Issues der Neuen Linken zu retten – wenigstens ein bißchen.

Pazifismus ist alles andere als eine linke Errungenschaft in der grünen Programmatik. Vielmehr diente der Begriff dazu, sich von Bauzaunmilitanz und Stadtguerilla zu distanzieren. Die Wortschöpfung Gewaltfreiheit erinnert noch daran, daß in der frühen grünen Programmatik »das fundamentale Recht auf Notwehr« außer Frage stand und daß gegen Gewalt zu sein, den Kampf gegen soziale, ökonomische und kulturelle Gewalt nicht ausschloß (vgl. Bundesprogramm 1980). Die Grundüberzeugung der Neuen Linken innerhalb und außerhalb der Grünen war wohl eher die prinzipielle Skepsis gegenüber der Legitimität und Legalität staatlicher Herrschaft und die Berechtigung, sich gegen mannigfaltige gesellschaftliche und staatliche Unterdrückung zu wehren. Dieser Grundwert aber, der die Gegenüberstellung von Pazifismus und Menschenrechten ad absurdum führt, bildet heute im Gewand der Menschenrechte und der Scheißegalität internationalen Rechts zugleich die originäre Grundlage der grünen Kriegstreiber wie Bauchschmerzenkrieger.

Das Problem des Anti-Kriegs-Widerstands ist daher nicht, daß ach so viele einstige Linke ihre Vergangenheit entrümpelt haben, sondern daß dieser Krieg ganz praktisch mit einem Issue funktioniert, das die Neue Linke prägte. Insofern ist der Kosovo-Krieg tatsächlich der Krieg der Achtundsechziger. Der Widerstand gegen staatliche Gewalt, Unterdrükkung und Ausbeutung war der Linken allemal wichtiger als ein abstrakter Pazifismus. Daß der Krieg ganz offensichtlich kaum wegen der Menschenrechte geführt wird, ändert nichts an der Tatsache, daß wir alle die Massaker an Kosovo-Albanern für illegitime staatliche Gewalt, für einen Verstoß gegen ihre legitimen Rechte halten und wir alle auch wissen, daß ein Ende des NATO-Bombardements aller Wahrscheinlichkeit nach nicht den Bürgerkrieg beenden würde, bei dem die eine Seite die besseren Karten hat.

Exemplarisch läßt sich dieses Dilemma an der Position der autonomen l.u.p.u.s.-Gruppe ablesen (vgl. diskus 1/99, S.9). Auf vollen fünf Seiten fährt sie die gesamte Palette der spätautonomen, anti-nationalistischen und anti-rassistischen Gründe auf, den Stop der NATO-Bomben zu fordern, und schildert anschaulich die Verantwortung deutscher und westlicher Politik für die Zerschlagung Jugoslawiens. Wer mag da widersprechen? Als besonderes Problem hebt sie zwischenzeitlich hervor, daß es nicht reiche, »NATO raus aus Kosovo« zu fordern, da der Krieg im inneren Jugoslawiens damit keineswegs beendet wäre, und mehr noch, daß es im Konflikt kein erkennbares Gegenüber (zumindest kein politisches, möchte ich ergänzen) gäbe, mit dem man sich solidarisieren könne. (Applaus von der Regierungslinken)

Statt aber diesen Gedanken weiter zu verfolgen, der haarscharf das gesamte Problem des Anti-Kriegs-Widerstandes zusammenfaßt, kippt die Argumentation schließlich in den Vorwurf der Heuchelei und des Verrats um und tut so, als gäbe es gar kein Problem, außer daß die Grünen ihre Ideale verraten hätten. Getreu dem bewährten Realo-Fundi-Schema ist es von der Position der autonomen l.u.p.u.s-Gruppe zur linken Befürwortung der NATO-Luftangriffe nur ein moralisch-strategischer Katzensprung: Die Ethnifizierung Jugoslawiens und Renationalisierung Deutschlands bedauern auch die linken Kriegsbefürworter; gerne würden sie mehr Flüchtlinge aufnehmen, können dies aber leider nicht durchsetzen; gewiß steht es mit den Menschenrechten in vielen Gegenden nicht zum besten; sicher hat die deutsche Politik viel zum aktuellen Desaster beigetragen; ohne Zweifel verfolgen die meisten Akteure im Rahmen der NATO-Luftangriffe alles andere als humanitäre oder gar emanzipatorische Ziele; selbstverständlich hätte es noch vor ein paar Jahren, Monaten, Wochen ganz andere Mittel gegeben, die Situation im Kosovo zu deeskalieren; aber mindert nur eines dieser Argumente den moralischen Druck, den hier und jetzt bedrohten Kosovo-Albanern mit Waffen zur Seite zu stehen (Beer); oder die einmalige Chance, in einem militärisch-performativen Akt die Menschenrechte auf die Agenda der neuen Weltordnung zu setzen (Volmer)? Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Die Grünen als Verräter einzuschätzen und um diese Stelle den Anti-Kriegs-Widerstand zentrieren zu wollen, verkennt, daß die Grünen nicht das schwächste Glied in der Kette der Kriegsbefürworter sind, sondern das stärkste. Mit der von der Parteispitze ausgegebenen Parole »Ach, zwei Herzen schlagen in unserer Brust, Pazifismus und Menschenrechte«, zwischenzeitlich als »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz« apostrophiert, gelang es ihnen, die gesamte Kriegskritik auf eben jene Frage der Moral zu reduzieren, die schon den ganzen Krieg ummäntelte. Welcher Seite in dieser moralischen Zentrifuge die Linken traditionell näher stehen, muß nicht nochmals wiederholt werden. Der Witz ist aber, daß Fischer desto nachhaltiger zum Garanten des kontinentaleuropäischen Hegemoniestrebens gerät, je mehr ihn die Gewissensbisse plagen, und sei's in Gestalt der zerrissenen Partei. Jede Mahnung, die Targets sorgfältiger auszuwählen, jede leise Forderung, Rußland und die UN einzubinden, um die Polizeiaktion nicht zum Weltkrieg eskalieren zu lassen, jedes feuilletonistische Leiderleider, sich mal wieder nicht durchgesetzt zu haben, untermauert die Eigenständigkeit der EU. Nicht weil Fischer die Menschenrechte instrumentalisiert, sondern nur indem er für sie kämpft.

Vor allem aber hilft die Verratsthese nicht gerade dabei, auf die künftigen Kriege besser vorbereitet zu sein. Zweifellos ist es nicht notwendig, einen Lösungsansatz für die aktuellen Probleme im Kosovo formulieren zu können, um gegen den Krieg zu protestieren. Dazu reicht die Konzentration auf die deutsche Politik und, um den moralischen Druck zu kontern, der Hinweis, daß heutzutage jeder Lösungsvorschlag in bezug auf Jugoslawien, sei's zivil, sei's militärisch, von der Position des ideellen NATO-Gesamtoberbefehlshabers ausgeht. Der lautere Vorsatz aber, sich der moralischen Zentrifuge individuell und auf Dauer entziehen zu wollen, überschätzt die eigenen Kräfte, weil sie sich noch beschleunigt, solange wir übers Bedauern der schlechten Zustände, eine Politik der Schadensbegrenzung und die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht hinauskommen. Ohne eine politische Perspektive, die es ermöglicht, aus der eigenen Praxis eine eigene Moral zu generieren, statt aus der Moral die Politik abzuleiten, reduziert sich ein Widerstand, der sich nicht auf die Moral des Staates einlassen will, auf individuelle Durchhalteparolen.

Worauf es ankäme, wäre das Eingestehen des Scheiterns unserer Strategien seit Mitte der achtziger Jahre, parlamentarisch wie außerparlamentarisch. Und daß die Parolen von damals auf spezifische Weise selbst Teil der aktuellen Verhältnisse geworden sind; wenn auch anders als intendiert. Wechselseitige Schadenfreude und Besserwisserei – so sehr die Genugtuung schmeichelt – sind fehl am Platz und fallen auf die Spötter selbst zurück. Die Erfahrung, daß die Linke in diesem Krieg nichts zu melden hat, obwohl sie weder verraten wurde, noch ihre Argumente zensiert wurden, geschweige denn die große Masse in Kriegseuphorie verfiel, ist vielleicht das einzige, was die Linken in diesem Krieg gewinnen können. Und sie verdeutlicht die Dimension des Projekts, die Linke zu reartikulieren.

Frieder Dittmar
(71. Kriegstag)


|1| Hier mag die eine oder der andere einwenden, die genannten Herrschaften seien halt nie korrekte Linke gewesen – und womöglich gar entlarvende Zitate parat haben. Oder daß die Grünen von Anfang an mit emanzipatorischer Politik nichts im Sinn hatten. Festzuhalten bleibt freilich, daß die Themen, Ziele und Kritiken grüner Parteiarbeiterinnen, autonomer Streetfighter und kritischer Intellektueller kaum die Trennung zwischen legalistischen und sozialrevolutionären Strategien markierten. Dieses heterogene diskursive Ensemble aus Bürgerinis, autonomen Zentren, Bioläden und Zeitungsredaktionen, das sich in der grünen Partei focussierte, möchte ich als erweiterte Partei der Grünen bezeichnen.