II Diffuse Netze*

Von der politischen Illusion zu neuen Formen der Gegenmacht


*Der Text ist eine wesentlich gekürzte Fassung des im Buch Que se vayan todos! erschienenen Kapitels »Diffuse Netze« der argentinischen Gruppe Colectivo Situaciones.

(Colectivo Situationes : Que se vayan todos! Krise und Widerstand in Argentinien. Assoziation A. Berlin 2003, S. 180-201)


In diesem Text sollen einige theoretische Überlegungen weiterentwickelt werden, die von uns bisher nur am Rande oder noch gar nicht angesprochen wurden. Es handelt sich um eine Kritik der Repräsentation sowie um Fragen der Vernetzung.

Repräsentation funktioniert ausgehend von konstruierten Subjektivitäten. Repräsentiert wird angeblich etwas bereits Vorhandenes. Eine Anwältin, ein Politiker oder eine Delegierte handeln demnach ausgehend von der Konstruktion einer Gruppe, die dann von ihnen vertreten werden soll: KundInnen, die Wahlbevölkerung, die BürgerInnen eines Landes, die Gesamtheit der Lohnarbeitenden oder Studierenden usw. Diese Präexistenz ist ins Innere der Repräsentationsbeziehung eingelassen und liegt nicht zeitlich davor. Der vertretene Teil der Gesellschaft konstituiert sich nicht unabhängig von der Beziehung der Repräsentation. Ernesto Laclau betont, dass der Repräsentant – in der Konstitution dieser Beziehung – die repräsentierte Gruppe durch das Repräsentationsverhältnis »schließt«. Auf diese Weise ist die Repräsentation nicht von dem Repräsentierten getrennt. Sie ist die spezifische Form der Verknüpfung zwischen den Menschen und daher keinesfalls harmlos oder neutral.

Die Marktgesellschaften, so die zentrale These von Guy Debord, sind Gesellschaften der Repräsentation. Das Repräsentationsverhältnis dringt überall ein und trennt die Repräsentanten von den Repräsentierten. Die grundsätzlichen Kategorien in Gesellschaften der Repräsentation sind »Konsens«, »Meinung«, »Artikulation«, »explizite Netze«, »Kommunikation« und »Vereinbarung« Es sind Kategorien der Trennung, des Kapitalismus. Es handelt sich um Gesellschaften, in denen das Bild, das Fragmentierte, der Konsum und das Individuum dominieren. In ihnen erklärt sich das Verhältnis der Menschen zueinander durch die Erzeugung eines Bildes, welches als »vereint« darstellt bzw. erscheinen lässt, was »getrennt« fortexistiert.

Die Repräsentation als solche ist ein Verhältnis von Verhältnissen. Die Besonderheit der »Gesellschaft des Spektakels« (Debord) liegt darin, dass die Repräsentation allgegenwärtig wird und andere Ausdrucksverhältnisse »vergessen« gemacht werden. Dies beinhaltet, dass die Herausforderungen, denen sich die Menschen jeder Epoche gegenübergestellt sehen, negiert und – in derselben Bewegung – virtualisiert werden. Stattdessen werden Bilder verbreitet, die jeden möglichen Lebenssinn durch eine Illusion ersetzen. Diese täuscht Selbstverwirklichung und Ganzheit vor, was die für den Kapitalismus konstitutive Trennung sicherstellt. Tief eingelassen in die Kategorie des Individuums ist die vom postmodernen Kapitalismus perfektionierte Virtualisierung, die alle Notwendigkeiten des Lebens umfasst und sich auf alle Elemente der Wirklichkeit bezieht.

Eine Vielzahl von Erfahrungen erzeugen demgegenüber unbewusst und enträumlicht – Werte einer neuen Vergesellschaftung. Diese Erfahrungen beteiligen sich an der Herstellung von Sinnpotenzialen, die in keinster Weise bewusst oder freiwillig koordiniert werden.

In der Tat besitzt jede Erfahrung, jede Situation eine radikale Einzigartigkeit. Gemeinsame Probleme existieren nur in der konkreten Situation. Und sie existieren ausgehend von hegemonialen Elementen – der Kapitalismus gehört dazu –, an denen sich sehr verschiedene Situationen abzuarbeiten haben.

Aber im Unterschied zur Logik der Repräsentation bilden die eine Epoche begründenden Probleme und die eine jeweilige Konjunktur bedingenden dominanten Elemente keine repräsentative Einheit, welche die radikale Einzigartigkeit jeder Situation auslöscht. Das Globale erlangt, selbst wenn es den Anschein haben mag, keine eigenständige Konsistenz.

Soziale Veränderungen können über die Repräsentation hinaus als eine Dynamik begriffen werden, die sich nicht mehr in den dominanten Koordinaten der Modernität vollzieht. Die Produktion von Welt ist nicht mehr das Werk eines in sich konsistenten und wirksamen Subjekts, das in der Lage wäre, aus eigenem Willen und aus der wissenschaftlichen Erkenntnis historischer Gesetze heraus die Geschichte zu lenken. Nur wenn im Gegenteil die Idee eines geschichtsübergreifenden Subjekts und alle Fortschrittsmythen überwunden werden, wird der Weg offen zu einer Konzeption, von der aus sich Werte entwickeln lassen, welche die Existenz neu deuten.


Westliche Frauenbewegung und Madres

Die Frauenbewegung im Westen und die Menschenrechtsgruppen in Argentinien, um nur einige bekannte Beispiele zu nennen, zeigen, wie der Kampf für Werte der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit über die Konzeption eines einheitlichen Geschichtssubjekts hinausweist. In der konkreten Situation werden hier neue Diskurse geschaffen Indem diese Bewegungen von sich selbst sprechen und so den dominanten Diskurs in Frage stellen, mit dem im Rahmen der geltenden Normen über sie gesprochen wird, teilen sie sich der ganzen Welt mit.

Auf diese Weise hat sich der von den Frauen eingenommene Ort im Laufe einer Generation radikal verändert. Aber auch – und aufgrund dessen – der Ort der Männer. Diese Transformation hatte jedoch ihren Ursprung und ihre Wirkungsmacht nicht in den Staatsapparaten. Dies will nicht heißen, dass all diese Kämpfe sich nicht in eine spezifische Gesetzgebung eingeschrieben hätten. Aber diese Gesetze hätten von sich allein aus nicht die Wandlungsprozesse auslösen können, welche die Kämpfe der Frauen bewirkt haben.

Das Gleiche lässt sich vom Engagement für die Menschenrechte in Südamerika, und hier vor allem in Argentinien, sagen. Zuerst waren es die Mütter der Plaza de Mayo, dann die Organisation H.I.J.O.S., welche das Wort ergriffen haben, um in eigener Person klarzumachen, was für sie Gerechtigkeit bedeutet. Die Madres forderten das Wiedererscheinen ihrer verschwundenen Angehörigen als Lebendige (»aparicidan con vida«) und verhinderten dadurch, dass diese zu Toten erklärt und mit einem Schlag alle Konsequenzen ausgelöscht wurden, die sich aus dem »Verschwindenlassen« (desaparición) ergaben.

Wenn die Verschwundenen verschwunden bleiben, dann – so die Forderung der Mütter und Großmütter – »wollen wir wissen, warum dies geschah«. Und diese Erklärung führte dazu, die Gesamtheit der vom Terrorstaat angewandten Methoden, die Mitwirkung der mächtigsten Staaten des Westens und eine lange Kette ziviler Mittäterschaft bloßzulegen – sprich die gesamte Logik des Genozids, der Zermalmung der Revolution, der Folter – und Vernichtungszentren als extremster Ausdruck der mörderischen Logik des Kapitals.

Wenn dieses erste Moment des Einsatzes für die Menschenrechte dazu diente, die innerste Funktionsweise unserer Gesellschaften zu entschlüsseln, so sind die Escraches der Organisation H.I.J.O.S. ein konkreter Ansatz, um Gerechtigkeit von unten herzustellen. Diese Praxis nimmt vom repräsentativen Justizapparat Abschied und greift auf die Nachbarn, das Gedächtnis der Überlebenden und auf die Jugendlichen zurück, welche die Komplizenschaft mit den Völkermördern anklagen.

Diese Formen des Protagonismus haben es nicht nötig, sich aus der konkreten Situation »zu entfernen«, um sich gemeinsam mit den übrigen Teilen der Gesellschaft »zu artikulieren«. Jedes dieser Experimente wirkt auf einer Ebene, die als das »konkrete Universelle« bezeichnet werden kann. Es handelt sich um eine Arbeit an universellen Problemen im Inneren der eigenen Situation.

Dabei scheint eines deutlich zu werden: Wo die dominante politische Subjektivität nicht mehr sieht als Zerstreutheit, produziert der neue Protagonismus ausgehend von vielfältigen Formen Sinn. Es geht nicht mehr um den Menschen im Angesicht der Geschichte, der in ihr seinen Sinn zu bestimmen trachtet, sondern um die Einbeziehung des konkreten Menschen in seine konkrete Situation, um eine von der Situation ausgehende Weise, die Welt zu bewohnen und nach den sich öffnenden Möglichkeiten zu fragen.

Der neue Protagonismus kann alle ansprechen, ohne dabei die Grenzen der eigenen Situation überschreiten zu müssen. Politische Radikalität beinhaltet also eine Wiederbegegnung mit »dem, was passiert« Ihre Kraft besteht nicht zuletzt darin, sich nicht von den Anforderungen, die eine Zeit der eigenen Existenz auferlegt, trennen zu lassen. Es handelt sich um eine erneute Suche danach, wie die Probleme der Existenz zu lösen sind, nachdem sich die politische Subjektivität ein für alle Mal erschöpft hat.


Politik: Dieses obskure Objekt der Begierde

Die politische Illusion besteht in der sich wiederholenden Behauptung, dass die Politik nicht von anderen Faktoren bestimmt wird, sondern dass sie selbst bestimmendes Moment ist. Demnach wäre das Politische – der Staat – das, was der Kopf – das Bewusstsein für den Körper darstellt: ein Denken, das der Gesamtheit der Körperteile Leben einhaucht und ihnen Sinn, Aufgaben und Funktionen zuteilt. Das Politische erscheint so als Instanz, in der die ansonsten zerstreuten Fragmente des Sozialen koordiniert und verknüpft werden. Auf die eine oder andere Weise ist so das Politische der Ort der Befehlsgewalt, die Schaltzentrale sowie das Zentrum der Philosophie. Politik zu machen heißt nicht, sich zu fragen, wie mit dem, was passiert, umzugehen sei, sondern wie zu bewirken ist, dass das passiert, was wir wünschen.

Die politische Illusion konstituiert sich an der Nahtstelle zwischen der Politik – als Kampf um Gerechtigkeit – und dem Politischen – als Arena staatlichen Handelns. Sie will aber nicht nur diesen Unterschied verwischen, sondern auch die Begriffe vertauschen und so die politischen Kämpfe als vom Politischen durchdrungen und verstanden darstellen. Diese Nahtstelle als Schlüsselelement jeder politischen Subjektivität gab den Rahmen für die politischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre ab. In jenem Kontext existierte jedoch zumindest noch ein Raster, in dem sowohl der Staat als auch der soziale Widerstand von unten praktisch diese Subjektivität unterstützten. Dies hat sich heute radikal verändert; der Versuch einer revolutionären Umgestaltung über den Staat ist zur Karikatur geworden.

Nach einem Jahrzehnt unangefochtener neoliberaler Herrschaft sprießen heute überall neue Kämpfe hervor. Die politische Subjektivität lässt uns diese Auseinandersetzungen aber nicht angemessen begreifen. Sie führt uns in Dilemmata, die nur sehr schwer aufzulösen sind. Sich zu fragen, ob das Politische – der Staatsfetischismus – noch in der Lage ist, das alles zu begleiten, was auf der Ebene des neuen sozialen Protagonismus vor sich geht, macht eine tief greifende Reflexion über all unsere bisherigen politischen Argumentations- und Verhaltensweisen nötig.


Abkürzungen

Die Aufforderung, »sich des Staatsapparats zu bemächtigen«, belegt, wie der umfassende Charakter des Politischen in Vergessenheit geraten ist. Was dabei vergessen wird, ist nicht weniger bedeutsam und trifft das Herz der politischen Illusion. Der demokratische Staat ist niemals etwas anderes als ein mehr oder weniger gelungener Reflex – eine Resultante von Tendenzen und keine autonome Tendenz. Und dies hat den Preis, dass jedweder Verzicht des Staates, in dieser Form zu agieren, diesen selbst in seinen Funktionen als Souverän in Frage stellt.

John Holloway hat jüngst daran erinnert, dass die Repräsentation nicht neutral ist, sondern sich im Gegenteil unter der kapitalistischen Hegemonie konstituiert. Dass der Staat verschiedene Tendenzen ausdrückt, repräsentiert oder reflektiert, lässt ihn nicht über die vorherrschende Hegemonie hinauswachsen. Diese Beobachtung hilft unser zentrales Argument noch genauer zu fassen. Es ist demnach illusorisch zu glauben, dass die Staaten, welche diese Hegemonie repräsentieren, sich in Instrumente verwandeln könnten, um auf der Grundlage einer konsistenten Entscheidung gerade die Hegemonie umzustoßen, die ihnen erst ihren spezifischen Charakter verleiht.

Die Verfasstheit der sich herausbildenden und im Staatsapparat organisierten Repräsentationen besitzt einen Status von Realität, der für diejenigen, die sie zu modellieren beabsichtigen, strukturell unbeweglich erscheint. Wer Repräsentationen durch andere zu ersetzen sucht, um auf dem Weg zur Machtergreifung eine Abkürzung einzuschlagen, gibt schon einen Kandidaten für das Zepter der Tyrannei ab. Keine Pädagogik der Macht ist so wirkungsvoll, als dass sie solche Repräsentationen kontrollieren, verändern und manipulieren könnte.

Wenn die Politik glaubt, administrative Akte zur Gänze ersetzen zu können, wird sie einem elementaren Idealismus verfallen. Wenn umgekehrt staatliches Verwaltungshandeln an die Stelle der Politik tritt, wird daraus ein Vulgärmaterialismus folgen, der die revolutionäre Theorie und Praxis unter sich begräbt. Es gibt keine revolutionäre Verwaltung an sich. Die staatliche Verwaltung als eine Gesamtheit von Beziehungen, Gesetzen und verschiedenen Elementen zur Organisation einer Gesellschaft kann – zu einem bestimmten Zeitpunkt – die Losung, das historische und konjunkturelle Ziel der Politik darstellen. Gleichzeitig sollte die Verwaltung aber auf keinen Fall anstreben, die Politik als solche zu eliminieren. Dies gilt vice versa auch für jede Versuchung, die soziale Wirklichkeit mit Politik zu übersättigen, weil eine Gesellschaft ohne jede »Verwaltung« zu verschwinden droht.

Diese Reflexion ist insofern von entscheidender Bedeutung, als sie angesichts der Erfahrung des Scheiterns des Realsozialismus versucht Bilanz zu ziehen und aus diesem Scheitern zu lernen. Auch wenn der Staat nicht den privilegierten Ort sozialer Transformation darstellt, so ist er doch als Ort in der Gesellschaft nicht einfach zu unterdrücken oder als Realität zu verleugnen. Es handelt sich in der Tat um einen Ort, der in jeder komplexen Gesellschaft bestehen bleiben wird, und gleichzeitig um einen möglichen Bezugspunkt, der zu einem Element sehr verschiedenartiger konkreter Situationen werden kann.

Es gibt daher »situationistische« Eckpunkte, um das Verhältnis zur »Politik des Staates« zu denken. Einerseits die Selbstvergewisserung einer Autonomie der konkreten Situationen, die nicht darin besteht, sich abzukoppeln, sondern darin, ausgehend von eigenen Dimensionen der Zeit und des Raums sowie selbstdefinierten Kriterien diese Beziehung anzunehmen. Andererseits gilt es, die verschiedenen Möglichkeiten des Verhältnisses zum Staat – Vereinnahmung, Repression und die Fähigkeit, in punktuellen Aspekten mit seinen Institutionen zusammenzuarbeiten – richtig zu deuten und in der Lage zu sein, diese angemessen zu gestalten.


Globale, explizite und diffuse Netze

Wenn die Kritik an der Illusion der Repräsentation zutrifft, dann folgern daraus weit reichende Fragen für die Alternativbewegung Argentiniens: Stellt ihre Vielfalt ein Problem dar, welches durch Formen strengerer Organisation überwunden werden muss, um den sozialen Kämpfen Wirksamkeit zu verleihen? Oder können sich die Erfahrungen des neuen Protagonismus auf andere Weise miteinander vernetzen?

Ein Netz, das diese Erfahrungen verknüpft, kann nur ein diffuses Netz sein. Deren Einzigartigkeit besteht gerade darin, dass die eigene Praxis impliziert, das globale Netzwerk – die Norm, das Panoptikum – zu verlassen und in diesem Überschreiten Wissen über sich selbst und über die eigene Situation zu erlangen.

Das diffuse Netz agiert ausgehend von Resonanzen. Die Probleme einer Epoche, d.h. bestimmte für alle existierende Hindernisse, werden mit anderen geteilt und so wird – in der Situation – die Vermittlung von Wissen, Sinn und Aussagen ermöglicht. Dabei gibt es keine Imitation oder direkte Übersetzung, welche die Wirksamkeit dieses Wissens verallgemeinern und ihm sofortige allumfassende Geltung verleihen könnte.

Das explizite Netz kann über die Voraussetzungen, auf denen es beruht, nicht wirklich hinausgehen. Diese bestätigen die eigenen Formen des Austauschs. Sie isolieren sich nicht, sondern ziehen neue Grenzen gegenüber dem, was außerhalb liegt. Oder sie eignen sich dieses »Außen« an, indem sie in der Beziehung zu ihm souverän werden. Ein explizites Netz kann die verschiedenen Situationen nur verknüpfen, wenn sie diese als Knotenpunkte des Netzes begreift. Dies gelingt nur, wenn ein virtueller Raum der Kommunikation zwischen homogenisierten Erfahrungen auf der Basis gemeinsamer Eigenschaften vorausgesetzt wird. Die Einzigartigkeit der Situation wird so beeinträchtigt.

Diffuses Netz und explizites Netz sind also zwei Begriffe, mit denen aus der Perspektive des neuen Protagonismus heraus die möglichen Verbindungen zwischen den Erfahrungen von Gegenmacht unterschieden werden können. Das explizite Netz wird hier definiert durch die aktiven Verknüpfungen zwischen Knotenpunkten, die durch einen gegenwärtigen Sinn organisiert werden. Das diffuse Netz besteht demgegenüber aus dem Umfeld einer Situation bzw. den sie umgebenden Situationen, mit denen sich diese Situation durch Resonanzen austauscht.

Das globale Netz kann als eine der biopolitischen Herrschaft eigene Strategie der Zerstreuung angesehen werden, während das diffuse Netz die Fähigkeit darstellt, sich dieser Strategie zu entziehen bzw. eine reale Autonomie gegenüber dem globalen Netz zu erreichen. Während das globale Netz dadurch funktioniert, dass es die gesamte Spannbreite möglicher Knotenpunkte unter dem virtualisierenden Band der Kommunikation zusammenfügt, operiert das diffuse Netz als Gesamtheit des Widerstands gegen den abstrakten Standpunkt des globalen Netzes. Das diffuse Netz ist die Wahrnehmung des globalen Netzes aus der Sicht der Situation.

Das diffuse Netz ist die Sichtweise, die uns erlaubt, von einem gemeinsamen Fundament aus die Verbindung zweier Situationen zu denken. Das diffuse Netz bestätigt die Unmöglichkeit, das globale Netz im expliziten Sinne zu organisieren. Ein Zusammenhang zwischen zwei Situationen ergibt sich nur ausgehend von einer Reflexion in der Situation, die in der Lage ist, in sich selbst die jeweils andere Situation als ein Element zu entdecken, welches an der eigenen Konstitution teilhat.

Diese verschiedenen Erfahrungen sind keiner dominanten gemeinsamen Eigenschaft untergeordnet, die sie eingruppiert und ihre Praxis normiert, aber sie befinden sich auch nicht in einem Zustand völliger Unverbundenheit. Die Situationen existieren als konkrete Totalitäten. Es gibt nichts, was sie außerhalb von ihnen selbst suchen müssten. Es gibt keine globale »Umwelt«, aus der Informationen zu beziehen wären. Und weniger noch handelt es sich um eine die Situationen regierende »globale Logik«. Vielmehr ist jede einzelne der vielfältigen Situationen in ihrer Konkretheit universal und in sich konsistent. Sie reproduziert die Welt in ihrem Inneren. Alle anderen Situationen sind in ihr als Element enthalten und können sich aktivieren, können ihr etwas mitteilen oder auch nicht. Es handelt sich um Resonanzen, das heißt um die Effekte der Praxis im Innern einer Situation. Indem sie sich der Probleme einer Epoche annimmt, inspiriert sie aktive Prozesse der Wiederaneignung in anderen Situationen.

Jede Situation arbeitet gleichzeitig als explizites Netz und als diffuses Netz, als Ausschnitt gegenüber einem globalen Netz und als diffuses Netz in Bezug auf die übrigen Situationen. Diese Resonanzen eröffnen Möglichkeiten des Verständnisses, was als »Wechsel von Hegemonien« bezeichnet werden kann: das Entstehen neuer Elemente einer Epoche, die sich in jeder Situation vergegenwärtigen. Die Resonanzen sind die Formen, in denen die Neuheiten, die Entdeckungen und das neue Wissen Widerhall finden.

Die Absicht, ein explizites Netz zu organisieren, läuft paradoxerweise ständig Gefahr, sich erneut zu zentralisieren. Was ist das Kriterium für die Zugehörigkeit zum Netz? Wie kann kontrolliert werden, ob dieses Kriterium erfüllt wird? Wie kann vermieden werden, dass es im Innern des Netzes erneut Ausgeschlossene und Eingeschlossene gibt? Es gibt genügend Erfahrungen, wie alternative Gruppierungen, wenn sie sich als solche herauskristallisieren, dazu übergehen, ihre eigenen Kriterien der Zugehörigkeit und Identität festzulegen, was paradoxerweise auf ein anderes Ziel als das gewünschte hinausläuft.

Es könnte aber auch sein, dass ein Netz in keinem Augenblick zur Totalität wird. Das Konzept des diffusen Netzes will diese Möglichkeit in dem Sinn ausloten, dass dieses Netz nie wirklich als solches existiert. Wir sähen uns insofern nicht Teilen oder Fragmenten, die es zu verknüpfen gilt, sondern im radikalen Sinne Singularitäten gegenüber, die dazu fähig sind, Resonanzen anderer Universalitäten zu empfangen.

Die Zerstreuung erlangt so einen anderen Status. Sie steht nicht mehr für den Mangel einer »Politik«, die sich willentlich am Staat ausrichtet, und ihr Ziel ist nicht mehr die Zentralität. Die Zerstreuung ist die spontane Ausdrucksform der heutigen vom kapitalistischen Markt dominierten Gesellschaft. Sie wird nur aktiv und produktiv, wenn sie Mannigfaltigkeit (multiplicidad) wird.

Vom Standpunkt des äußeren Beobachters wird das Handeln in der Mannigfaltigkeit als Fehlen eines Zentrums und einer Koordination zwischen den einzelnen Teilen wahrgenommen, wobei die Mannigfaltigkeit häufig mit Zerstreuung verwechselt wird. Die Zerstreuung ist das Multiple, das jede Konsistenz, also jeden Sinn, verloren hat. Der neue Protagonismus ist demgegenüber das Multiple, das sich selbst als solches entdeckt. Von außen her betrachtet kann er nur als reine Zerstreuung erscheinen, wobei von einer fehlenden Ausgestaltung im Inneren des Multiplen selbst ausgegangen wird. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen kann die Situation – als ein Multiples unter Multiplen – zur Welt sprechen, ohne dabei von »der« äußeren Welt zu sprechen. Dies bezeichnen wir als konkrete Universalität.

Im Unterschied zur Zerstreuung befindet sich hier das Ganze in jedem seiner Teile. Jedes Element des Multiplen, als extreme Singularität, bestätigt eine Universalität, die es erlaubt, dass wir uns als Teil eines Gleichen denken können, gewissermaßen als »SchöpferInnen von Welten«. In paradoxer Weise existiert dieses Netz nicht außerhalb jedes einzelnen Knotens, sondern in jedem Knoten selbst.

Es ist nicht erforderlich, dieses Netz zu ordnen. Es gilt, sich nicht in ihm zu verfangen. Darum dient es nur als diffuses Netz. Das Konzept des expliziten oder politischen Netzes bezeichnet den Übergang von der Zerstreuung und Fragmentierung zur – staatlichen – Totalität. Das diffuse Netz impliziert hingegen nicht den Wechsel von einem Zustand zum anderen, sondern vielmehr die Umwandlung der Zerstreuung in Mannigfaltigkeit.

Das diffuse Netz ist das Bild von einzigartigen Situationen sowie schöpferischen und konkreten Formen, sich die Welt anzueignen, sie zu erschaffen – im Wissen, dass jede gelebte Erfahrung in einer konkreten Situation ihre je eigenen Praxisformen, Existenzweisen und Standpunkte hervorbringt. Das diffuse Netz besteht aus der Gesamtheit möglicher Resonanzen zwischen diesen Situationen.


Globalisierungskritik

In den letzten Jahren haben sich die Kämpfe der sozialen Emanzipationsbewegungen weltweit verstärkt. Aber diese Gegenmacht wird nicht immer als ein diffuses Netz des neuen Protagonismus verstanden. Viele derjenigen, die an dieser neuen Radikalität teilhaben, begreifen sich selbst als Teil eines globalen Kampfes. Ihre Absicht ist, den Widerstand in expliziten Netzen zu organisieren.

Denn aus all diesen Erfahrungen ergibt sich meistens die Frage, wie die ungerechten und selbstzerstörerischen Tendenzen der menschlichen Gesellschaft umzukehren sind, wenn das Denken in einem globalen Rahmen abgelehnt wird.

Die AnhängerInnen der Konstruktion expliziter Netze behaupten, dass die Globalität der Herrschaft auch einen globalen Widerstand nötig mache. Horizontalität, Pluralismus, globale Koordination, Verbreitung von Information und direkte Aktion sind Prinzipien, welche die Versuche leiten, unter der Losung »Lokal handeln und global denken!« antikapitalistische Bewegungen zu stärken.

Das Auftreten der EZLN in Chiapas stellt ein lehrreiches Beispiel dar, das für die Selbstwahrnehmung des neuen Protagonismus wichtig ist. Der Zapatismus gibt in der Praxis konkrete Impulse, um zu vermeiden, dass die Netze sich zu Zentren kristallisieren. Indem sie Konzepte in der Tradition von Foucault und Deleuze wieder beleben und verbreiten, schlagen die Zapatistas das Netz als eine Welt vor, »in die viele Welten passen« Diese Welten sind keine zerstreuten Fragmente, keine organisierten Knoten eines Netzes, sondern bilden eine Vielfalt ohne Führung.

Der Verzicht auf die Eroberung der Macht seitens der ELZN führte zu einer Neuverortung des Staates ? und zwar im Inneren der Vielfältigkeit. Der Staat wäre demnach nicht mehr das Dispositiv, welches den Teilen Einheit und Sinn verleiht, sondern die Institution, welche die Ressourcen der mexikanischen Nation reguliert und verwaltet. Gebildet würde diese im Idealfall aus Gemeinschaften verschiedener Berufszweige, der Universitäten, der BäuerInnen, der ArbeiterInnen, der Frauen usw., ohne dass sich die einen den anderen unterzuordnen haben. Die Bewegung für eine umfassende Demokratisierung wird verstanden als die Aufforderung, in jeder Situation auf ethische Weise vorzugehen. Auf keinen Fall geht es um einen mechanischen Beitritt zum Zapatismus. Die zapatistische Konzeption ist die eines diffusen Netzes, als eine Praxis, die Koordination, Solidarität und weltweite Treffen zulässt, ohne dabei ihre eigene konkrete Universalität zu vergessen. Es ist interessant zu beobachten, wie gerade dieses Denken aus dem Inneren der Situation die Zapatistas befähigt, gegen die globalen Kräfte des Kapitalismus zu kämpfen. Weit entfernt davon, sich zu isolieren, gelingt es der EZLN und den indigenen Gemeinschaften im Süden von Chiapas, sich all das anzueignen, was ihnen nützlich erscheint, um ihre eigene Erfahrung zu entfalten indem sie sich mit anderen Indigenen, Intellektuellen, NGOs und politisch Engagierten aus allen Teilen der Welt koordinieren. Gleichzeitig impliziert diese Praxis jedoch kein »globales Bewusstsein der Welt«. Die Indigenen haben es nicht nötig, moralische Urteile mit universellem Geltungsanspruch auszusprechen, um daraus den Sinn ihrer Aktionen abzuleiten. Nur der Kapitalismus beabsichtigt, wirklich über die ganze Welt Bescheid zu wissen. Für diejenigen Kulturen, die es erreichen, sich auf anderen Grundlagen zu behaupten, gibt es nur Situationen.


Gegenmacht und neue Räume

Auf die Frage, warum es gerade an den Tagen des 19. und 20. Dezember und nicht früher zum Aufstand kam, lassen sich vor allem zwei Antworten finden. Zum einen die Intensität der Ereignisse. Die enorme Konzentration von Forderungen sowie die Entscheidungen, die massenhaft von den EinwohnerInnen getroffen wurden, welche bisher mehr oder weniger unverbunden nebeneinanderher lebten. Diese Intensität war bedingt durch die angehäuften Niederlagen, die niemals ganz akzeptiert worden waren. Walter Benjamin würde sagen: Diese Niederlagen schienen eine Zeit lang keinen zu belästigen, bis diese Zeit selbst plötzlich abrupt unterbrochen wurde. Dieses Einbrechen wird nicht enthistorisiert; es handelt sich vielmehr um die einzig wirksame Historisierung.

Die andere Erklärung ist die Sichtbarkeit. Die Tage des 19. und 20. Dezember erregten wirkungsvoll die Aufmerksamkeit. Es war, als ob jemand an jenem Morgengrauen des 20. Dezember ein Licht angezündet hätte. Der Hinweis war klar: »Hier passiert etwas; hier kann man nicht mehr weiterschlafen, als ob nichts geschehen wäre!« Die allgemeine Sicht auf die Dinge, mit anderen Worten die Selbstwahrnehmung des Landes, veränderte sich, und damit strukturierte sich das Diskursfeld des Öffentlichen neu. Es war, als ob sich ein Patient der Realität seines Leidens vergegenwärtigte. Das Ende einer trügerischen Illusion.

Der 19. und 20. Dezember waren Tage der Verschmelzung, der Neuschaffung, der Unumkehrbarkeit, der Sichtbarkeit, der Intensität, der Neuanpassung, der Rückkehr und der Erfindung. Kein Diskurs wird die gesamte Bedeutung dieser Tage ausloten können. Ein Aufstand neuen Typs, ohne Autorinnen, ohne Eigentümerinnen, welcher durch die Verschmelzung vieler Geschichten möglich wurde. Perplex blieben diejenigen zurück, die sich als seine Protagonistinnen angesehen hatten, die sich seit Jahren auf ihn vorbereitet hatten und die von sich behaupteten, sehr gut zu wissen, was in wichtigen Momenten der Entscheidung zu tun sei. Die erträumten Aufstände sind immer (im)perfekter und unmöglicher als die realen, die sich nicht an die karikaturhaften Reste einer verschlissenen Avantgarde anpassen. Ohne ein organisatorisches Zentrum erzeugte die Masse selbst die praktischen und wirkungsvollen Maßnahmen, gemeinsam alle vorhandenen Fragmente der Vergangenheit und der Gegenwart zu potenzieren und zu koordinieren. So kommt es zur Aktualisierung von Erkenntnissen, Erinnerungen und Forderungen, die länger als vorgesehen die Zeit überdauerten. Die Masse handelte als Mannigfaltigkeit ohne Zentrum.

Wer könnte die komplexe Aneinanderreihung von Cacerolas, Piquetes, Demonstrationen und Forderungen einer einzigen Logik, einer einzigen Vernunft unterordnen? Selbst das Netz der Versammlungen, das sich in der Folge des Dezemberaufstands herausbildete, kann sich wohl kaum die Urheberschaft der Ereignisse zuschreiben. Wenn es so viele mögliche Geschichten, Chroniken und Historikerinnen gibt, wird verständlich, dass die Geschichte vielfältig und perspektivisch ist und dass diese Erzählung kein einheitliches und konsistentes Subjekt besitzt.

In der derzeitigen Lage kommt es zu einer Neuanpassung der Widerstandspraxis an die Einzigartigkeit der jeweiligen lokalen Erfahrungen. Andere Kämpfe reihen sich in die Landschaft des schon bestehenden Widerstands ein. Zu nennen sind hier die Unternehmen, Fleischfabriken und andere Firmen, die bankrott gegangen und von den Arbeiterinnen übernommen worden sind. Diese halten die Aktivitäten aufrecht, verändern jedoch die Arbeitsund Produktionsformen und verbinden sie mit einer kulturellen, künstlerischen und radikalen politischen Praxis. Dies alles sind neue Formen, Gegenmacht zu praktizieren. Dieses ausgedehnte und diffuse alternative Netz ist nicht neu, aber es wird jetzt als solches sichtbar. Unleugbar ist, dass dies alles die soziale Struktur des Landes verändert und neue Möglichkeiten, Erfahrungen und Werte produziert, die über das hinausgehen, was sich jede einzelne Praxis bewusst vorgenommen haben mag. In der Tat besitzt jedes politische Engagement, für sich allein genommen, kein anderes Schicksal als das eigene Ende. Alles Lebendige muss einmal sterben. Daran ist nichts verwunderlich, und daher bedeutet das Ende einer bestimmten Praxis auch keinen Verlust im eigentlichen Sinn. Im Gegenteil kommt derjenigen Haltung Wert zu, die weiß, wie mit dem Ende bestimmter Praxen umzugehen ist. Die Unsterblichkeit ist kein Ziel an sich, sondern die Wirkung der Intensität dessen, was jede – individuelle oder kollektive – Praxiserfahrung in der ihr eigenen Zeit vollbringt. Eine erfüllte Erfahrung verändert die Lebenschancen aller, multipliziert sie und weitet sie aus. Nur in diesem Sinne überdauert jede radikale Praxis ihr eigenes Dasein. Darin besteht der unumkehrbare Charakter der Aufstände, die dem zeitgenössischen Argentinien ihren Stempel aufprägten.

Der Dezemberaufstand ist eine Öffnung hin zur Zukunft, die es zu leben und mit Bedeutung zu erfüllen gilt. Eine neue Radikalität beginnt diesen offenen Raum zu besetzen.

Colectivo Situaciones