Die Jakobiner, der Mai und die Demokratie*

Anmerkungen zum Phantasma und imaginären Horizont von Emanzipation


* Die hier abgedruckte Version ist eine stark gekürte Fassung des Originaltextes. Der volltändige Text ist hier verfügbar


In Zeiten allgegenwärtiger neoliberaler Reformhuberei scheint es etwas verschroben, sich die alten Begriffe von Revolution und Kommunismus nochmals vorzunehmen. Die Auseinandersetzungen, in die sie eingespannt waren, scheinen vergangen, ja vergessen zu sein. Dennoch sind diese Kategorien Teil der Ideologie wie auch des imaginären Horizonts moderner Emanzipationsbewegungen. Als solche müssen sie befragt werden, und zwar hinsichtlich ihrer historischen Rolle wie auch hinsichtlich ihres heutigen politischen Gebrauchswerts. Inwieweit funktionieren sie und haben sie funktioniert als Signifikanten in emanzipatorischen und demokratischen Kämpfen? Inwieweit haben sie das Potential dieser Kämpfe aber auch zugleich untergraben? Ich werde im folgenden zu zeigen versuchen, dass im klassischen Emanzipationsdiskurs des Jakobinismus ein apolitisches Phantasma der ideologischen Schließung zu finden ist, das schulbildend für spätere Emanzipationsdiskurse werden sollte. Zugleich ist im Jakobinismus aber auch erstmals eine Form des Populismus und der Hegemonie zu finden, die eine neue politische Logik installierte. Und schließlich finden sich im Diskurs des Jakobinismus Elemente radikaler Demokratie, die für den demokratischen Horizont, in dem jede emanzipatorische Praxis verortet ist, entscheidend wurden.


Revolution als Phantasma und Ideologie

Ernesto Laclau hat sechs wesentliche Topoi oder Dimensionen der klassischen Emanzipationsdiskurse, worunter auch der Revolutionsdiskurs fällt, ausgemacht (Laclau 2002, 23ff). Natürlich können diese Dimensionen hier nicht im einzelnen und anhand von Beispielen besprochen werden, ich werde mich also auf die zwei Dimensionen, beschränken, die im jakobinischen Diskurs die größte Bedeutung haben: die dichotomische und die des Grundes. Die dichotomische Figur begegnet uns dort in Form des Phantasmas des radikalen Bruchs.

Nehmen wir den Anarchisten Sergej Netschajew als Beispiel für den phantasmatischen Charakter dieser Dimension. Saint-Justs Gedanke, dass eine Revolution nicht halb gemacht werden dürfe, da sich der Revolutionär sonst sein eigenes Grab schaufle, wurde im 19. Jahrhundert von Netschajew in aller Konsequenz zu Ende gedacht und affirmativ gewendet. Dass die Revolution ihre Kinder frisst, ist für Netschajew nicht nur kein Problem, es ist eine Notwendigkeit: Die Revolution soll und muss ihre Kinder fressen, da die neue Ordnung keine wie auch immer geartete Verbindung zur alten aufweisen darf, sind doch die Revolutionäre selbst vom Bestehenden kontaminiert. Damit ist die dichotomische Dimension konsequent zu Ende gedacht. Die Zukunft ist aus Perspektive des Bestehenden nicht einsichtig und nur ex negativo beschreibbar als »das dem bestehenden ekelhaften Zeug Entgegengesetzte«. Darüber hinausführende Gedanken zur Organisation der neuen Ordnung sind »verbrecherisch, da sie nur der Sache der Zerstörung hinderlich sind« (Netschajew 1984, 22). Über die Revolution als neue Ordnung kann nichts gesagt werden, sie ist in jedem Sinne des Wortes ein radikal leerer Signifikant und als solch radikal leerer nicht von dieser Welt. Der phantasmatische Charakter dieses Diskurses besteht in der Annahme, dass es möglich sei, einen radikalen Bruch zwischen dem Alten und dem Neuen zu installieren: »Wir müssen uns also aufgrund des Gesetzes der Notwendigkeit und strengen Gerechtigkeit ganz der beständigen, unaufhaltsamen, unablässigen Zerstörung weihen, die so lange crescendo wachsen muss, bis nichts von den bestehenden sozialen Formen zu zerstören bleibt.« (ibid., 22f)

Die Radikalität Netschajews hat den Vorteil der Deutlichkeit, aber wir sollten uns nicht von ihr täuschen lassen: die dichotomische Dimension findet sich genauso in wesentlich weniger pompös auftretenden Emanzipationsdiskursen. Es gibt nur ein Problem am Phantasma des radikalen Bruchs: Jeder Revolutionär zieht, in den Worten von Quentin Skinner, mit dem Rücken voran in die Schlacht. Das heißt, noch der radikalste Revolutionsdiskurs muss sich auf einem vorstrukturierten Terrain bewegen, das ihm selbst nicht verfügbar ist. Revolution und Ancien Regime, die neue und die alte Ordnung werden immer – selbst dort, wo sie in einem noch so radikalen Antagonismus verfangen sind – eine gemeinsame Schnittmenge bilden, da es sich um die Auseinandersetzung zweier Projekte mit Hegemonieanspruch vor dem Horizont ein und derselben Gesellschaft handelt. Mit anderen Worten: Revolutionäre sind nicht vom Mars und Reaktionäre von der Venus, sondern beide sind von der Erde. In der Verleugnung genau dieser Tatsache, im Auslöschen der gemeinsamen Schnittmenge, besteht das ideologische Phantasma.

Doch der Jakobinismus hing noch einem weiteren Phantasma an, das man als »fundationalistisch« (foundationalist) bezeichnen kann: Er ging von der Existenz eines festen Grundes, eines archimedischen Punktes, eines Zentrums der Gesellschaft aus. Dieses Zentrum war es, das es zu besetzen galt, von dem aus sämtliche Verhältnisse einer dichotomisch vorgestellten Gesellschaft sich invertieren oder umstürzen ließen.1 In der späteren realsozialistischen Artikulation von Revolution und Kommunismus wurde davon ausgegangen, dass der Grund (die »Basis«) der Gesellschaft in der Ökonomie zu suchen sei und folglich die Sozialisierung der Produktionsmittel als dieser archimedische Punkt dienen könne: gleichsam die Nordwest-Passage zum Kommunismus. Damit wird Politik zur bloßen Frage des Überbaus, eine endlich errichtete kommunistische Gesellschaft zu einer politiklosen Gesellschaft. Solange wir unter Kommunismus die Idee einer endgültig befriedeten Gesellschaft verstehen, in welcher der Staat überwunden, Entfremdung aufgehoben und die Identität des Menschen mit seinem Wesen hergestellt ist, handelt es sich um einen Topos des Apolitischen.

Man sieht, wie der radikale Bruch einem einzigen Fernziel dient, nämlich der radikalen Bruchlosigkeit: Die Radikalisierung des Antagonismus zu einer restlosen Dichotomie zwischen dem Alten und dem Neuen dient der endgültigen Verwerfung aller Antagonismen im Neuen. Dadurch verlässt Emanzipation das Terrain des Politischen und wird zu Ideologie (zum Phantasma) in einem ganz präzisen Sinn: Was einen Diskurs ideologisch macht, ist nicht sein »Inhalt«, noch ist es die »Verzerrung« irgendeiner tieferen Realität, sondern es ist seine Funktion der Schließung des gesellschaftlichen Raums um einen phantasmatischen Kern, die Besetzung des (leeren) Grundes mit einer Substanz (Volk, Nation, Rasse, Klasse, etc.), also letztlich Leugnung der Grundlosigkeit und antagonistischen Verfasstheit von Gesellschaft. An dieser Stelle ist die Bemerkung angebracht, dass die Rhetorik des Grundes von der Logik der Kontingenz zu unterschieden ist, auch wenn beide historisch ineinander verschlungen sind. Der reine Ereignischarakter einer Revolution deutet – unbeschadet ihrer phantasmatischen Formulierung – auf die prinzipielle Kontingenz des Sozialen und der vorangegangenen, naturalisierten Ordnung: Sei es die Ordnung des Ancien Regime, sei es die Ordnung einer korrupten Clique von Herrschenden oder die Ordnung der Kolonialherren im Fall antikolonialer Revolutionen. Allein schon indem sie stattfindet, beweist eine Revolution die Kontingenz dieser und implizit jeder Ordnung. Sie ist das quod erat demonstrandum der Kontingenz. Wie jedes Ereignis im strikten Sinn hat sie revelatorischen Charakter: sie enthüllt die Grundlosigkeit von Gesellschaft und ruft dennoch zugleich alle möglichen Gründungsversuche ins Leben.

Von hier aus ergeben sich zwei Fragen. Die erste ist, wie Politik abseits des Ideologischen beschaffen sein muss, nach welcher Logik also – wenn Ideologie nach der Logik der phantasmatischen Schließung funktioniert – Politik funktioniert. Die zweite lautet, wie im besonderen jene Emanzipationsdiskurse beschaffen sein müssen, die der phantasmatischen oder ideologischen Dimension der Schließung entkommen, wie also das Projekt – oder besser: die Projekte der Emanzipation heute vorgestellt werden sollen. Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber die Antworten auf diese beiden Fragen gehen ebenfalls auf die jakobinische Tradition der Revolution zurück, nur dass »Revolution« nun anders gelesen wird als in der klassischen Lesart: Zum einen ist der Jakobinismus – abseits von seiner phantasmatischen Dimension – auch jener historische Moment, in dem die politische Logik von Hegemonie auftritt und wirkmächtig wird. Zum zweiten ist die Französische Revolution nicht nur der Moment der phantasmatischen Gründung und Schließung des Sozialen, sondern sie ist genauso der Moment der Ent-Gründung und Öffnung. Es geht um ihr Verständnis als demokratische Revolution, die einen imaginären Horizont der Logik von Freiheit, Gleichheit und Solidarität aufspannt, der keinen neuen Grund darstellt und doch für heutige emanzipatorische Projekte unüberschreitbar bleibt. Von hier aus ergibt sich die emanzipatorische Aufgabe eben nicht der Überschreitung, sondern der Radikalisierung dieses Horizonts, etwa in Form eines Projekts radikaler Demokratie.


Revolution als leerer Signifikant und imaginärer Horizont

Was macht die Französische Revolution zur Revolution par excellence? Warum hat sich gerade die Französische Revolution als Paraderevolution in unser Bewusstsein gefressen? Einer der Gründe ist genau in der dichotomischen Dimension zu suchen, die im jakobinischen Diskurs als populistischer Bruch zwischen der Republik und ihren (inneren und äußeren) Feinden als moderne politische Logik die historische Bühne betritt. Betrachten wir also die dichotomische Logik nicht in ihrer Dimension als Phantasma, sondern in ihrer Dimension als politische Logik des Antagonismus und letztlich der Hegemonie und des leeren Signifikanten. Schon in seinem ersten Buch »Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus« leitet Laclau die Funktionsweise moderner Politik – die hegemoniale Logik des Politischen – vor allem vom jakobinischen Diskurs ab und unterstreicht, »dass der politisch-ideologische Horizont des 19. Jahrhunderts in Europa von zwei Polen dominiert war: dem jakobinistischen popularen Bruch und der transformistischen Reabsorption der popularen Positionen« (Laclau 1981, 182). Im Fall eines populistischen Bruchs spaltet sich das Feld diskursiver Differenzen in zwei antagonistische Diskurse, es homogenisiert sich um zwei sich gegenüberstehende Äquivalenzketten: »Wenn der Aufbau einer Hegemonie durch Transformismus darin besteht, die Widersprüche in Differenzen zu transformieren, besteht der Aufbau einer Hegemonie durch populistischen Bruch darin, verschiedene Systeme von Differenzen, die im traditionellen Herrschaftsdiskurs artikuliert sind, auf das Feld der popularen Äquivalenzen zu verschieben.« (ibid., 184)

Mit anderen Worten, und diese These sollte später in »Hegemonie und radikale Demokratie« von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zur diskursanalytisch gewendeten Hegemonietheorie ausgebaut werden, homogenisiert sich im Antagonismus das Feld gesellschaftlicher Differenzen gegenüber einem rein negativ definierten Außen: Differentielle Positionen im Feld des Sozialen verdichten sich zu Äquivalenzketten. Der Transformismus wiederum versucht einzelne Differenzen aus diesen Ketten herauszulösen und den Antagonismus zu desartikulieren.

Nun ist, während in revolutionären Diskursen das Äquivalenzmoment des popularen Bruchs überwiegt, die Strategie des Transformismus von, sagen wir, Disraeli bis Blair und von Bismarck bis Schröder historisch hegemonial. Der jakobinisch-populistische Diskurs ist dennoch nicht verschwunden, sondern bleibt als sedimentiertes Reservoir populistischer Anrufungen erhalten, das jederzeit aktualisierbar ist: »Die popular-demokratischen Anrufungen sind zwar überwiegend in den bürgerlichen Diskurs integriert, gehen aber nie ganz in ihm auf und bleiben stets in der Tiefe des politischen Bewusstseins als möglicher Ursprung für eine Radikalisierung.« (ibid., 101) Allerdings garantieren die Wurzeln dieser Anrufungen im Revolutionsdiskurs noch nicht dessen emanzipatorische Reartikulation. So besteht heute das ganze Problem der europäischen Linken nicht darin, dass ein anti-systemischer Diskurs nicht mehr artikulierbar wäre, sondern darin, dass er tatsächlich artikuliert wird, allerdings von der rassistischen und populistischen Rechten (links-populistische Gegenbeispiele finden sich heute eher wieder in Lateinamerika). Die neo-gramscianische Ausweitung der jakobinischen Tradition in eine allgemeine hegemonietheoretische Diskursanalyse (die trotz ihrer emanzipatorischen Ursprünge sowohl rechte wie linke Diskurse beschreibt) lässt die Kategorie der Revolution als analytische Kategorie nicht unberührt. Lässt man die phantasmatische Dimension des Begriffs hinter sich, ergibt sich die Notwendigkeit eines Umdenkens und Neudenkens dessen, was Revolution als analytischer Terminus wie auch als politischer Begriff bedeuten kann. So kommen Laclau und Mouffe zu dem Schluss:

»Natürlich gäbe es nichts am Begriff der ›Revolution‹ auszusetzen, wenn wir darunter die Überdetermination einer Reihe von Kämpfen in einem politischen Bruchpunkt verstehen würden, aus dem eine Vielfalt von politischen Effekten folgt, die sich über die ganze Struktur der Gesellschaft ausbreiten.« (Laclau/Mouffe 1991,242)

Genau diese Revolutionsdefinition aber basiert auf der Definition des Antagonismus als politischer Logik der Äquivalenzierung von Differenzen. Damit wäre eine analytische Kategorie von Revolution gewonnen. Wie steht es aber um Revolution als Diskurs, bzw. als Signifikant innerhalb heutiger emanzipatorischer Diskurse? Um diese Frage zu beantworten und den Einsatz des politischen Slogans »Revolution« zu untersuchen, müssen wir zwei weitere diskursanalytische Kategorien einführen: die des leeren Signifikanten und die des Imaginären.

Definieren wir behelfsmäßig einen leeren Signifikanten als jene Differenz aus dem Inneren einer Äquivalenzkette, der die Aufgabe zufällt, die Kette als solche zu repräsentieren. Ein hegemoniales Verhältnis besteht in diesem Repräsentationsverhältnis, in dem ein partikulares Element universale Funktion annimmt. Nehmen wir das Beispiel eines Bündnisses einer Reihe von politischen Akteuren: Ein solches Bündnis wird sich um Signifikanten formieren (z.B. »Freiheit« oder »Gerechtigkeit«), auf die sich alle Elemente der Allianz einigen können. Damit sie als umbrella term für die Bewegung als solche dienen können, müssen die Signifikanten ausreichend »leer« sein: je weniger sie konkret bezeichnen, desto mehr können sie umfassen. Daraus folgt als allgemeine Regel, dass die »Länge« der Äquivalenzkette (und damit das Ausmaß der Antagonisierung einer Situation) proportional zur Leere des Signifikanten ist, der die Kette als solche bezeichnet. Die Leere eines Signifikanten ist Index seines hegemonialen Erfolgs. In welchem Ausmaß funktioniert »Revolution« nun als leerer Signifikant? Diese Frage ist offensichtlich immer nur in Bezug auf einen spezifischen historischen Kontext zu beantworten. Denn die Mobilisierungskraft eines Signifikanten hängt zusammen mit seiner Position innerhalb eines gegebenen Imaginären. Laclau unterscheidet in der Bewegung der hegemonialen Ausweitung eines bestimmten Diskurses zwei Phasen: Jene des Mythos und jene des Imaginären. Unter Mythos versteht Laclau ein Prinzip, das eine dislozierte, also krisenhafte gesellschaftliche Struktur neu zu ordnen verspricht. Der Begriff ist von Sorels Mythos des Generalstreiks abgeleitet, Laclau bringt aber eine Reihe weiterer, historisch erfolgreicherer Beispiele wie jenes des »Wohlfahrtsstaats« als eines Mythos, der die Operationen der kapitalistischen Gesellschaften rekonstruierten sollte. Ein Mythos bietet auf einem dislozierten Terrain ein neues Prinzip der Repräsentation dieses Terrains, dessen Inhalt selbst nicht aus dem Faktum der Dislokation und Krise ableitbar ist. Erweitert sich diese Repräsentationsfunktion des Mythos so stark, dass er zur Einschreibungsfläche jeder auftretenden Dislokation und jeder sozialen Forderung wird, kann vom Horizont des Imaginären gesprochen werden (vgl. Laclau 1990, 64).

Leere Signifikanten sind auf der Ebene des Mythos angesiedelt und konstituieren ein gegebenes Imaginäres. Besitzt ein bestimmter Signifikant im Rahmen eines gegebenen Imaginären eine Kernfunktion, ist also das Imaginären in starkem Ausmaß um ihn herum strukturiert, wird seine Mobilisierungswirkung entsprechend hoch sein. Genau das war in Frankreich der Fall: »Revolution« war im Mai 68 in Frankreich nicht nur Mythos (leerer Signifikant), sondern auch Bestandteil des Imaginären. Der Signifikant war lesbar im Rahmen des französischen Imaginären, er war Teil des französischen Intelligibilitätshorizontes. So müssten wir in einer empirischen Diskursanalyse des französischen Mai 68 nicht nur den Signifikant »Revolution« als Wort untersuchen, sondern die Ankoppelung des gesamtem Diskurses (der sprachliche wie pragmatische Elemente umfasst) an das französische revolutionäre Imaginäre. Dabei würde sich herausstellen, dass z.B. die Errichtung der Barrikaden in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai den Revolutionsdiskurs in die Tradition des 19. Jahrhunderts (die Barrikaden der Kommune) stellte und in ihren Begriffen lesbar machte. Entscheidend aber ist, dass im Nachkriegsfrankreich »Revolution« – worunter natürlich sehr Unterschiedliches (z.B. die unterschiedlichen Phasen der Französischen Revolution) verstanden wurde – sowohl für die Linke als auch für die Rechte als imaginärer Horizont funktionierte.

Natürlich besteht ein wesentliches Merkmal eines leeren Signifikanten gerade darin, dass verschiedenste Interpretationen sich seiner bemächtigen können. Im Rahmen ein und desselben Imaginären können sich sogar antagonistische Positionen im Rückgriff auf die gleichen Signifikanten formulieren. Wenn sich auch im Mai 68 die politische Debatte bald um die Alternative Revolution vs. Reform gliedern sollte, blieb der Signifikant Revolution für alle Beteiligten lesbar, d.h. im Bereich des Vorstellbaren – und dies, weil der leere Signifikant »Revolution« eine Kernfunktion für das französische Imaginäre erfüllte. Darin unterscheidet sich das französische Nachkriegsimaginäre von dem allen anderen westeuropäischen Länder. In Italien, dem Land, das Frankreich an politische Radikalität wohl am nächsten kam, hatte sich Togliatti bereits nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme, der so genannten »Wende von Salerno«, reformistisch und mehr oder minder wohlwollend gegenüber der Regierung Badoglio präsentiert. Diese »Wende« hatte nicht nur realpolitische Gründe. Der Revolutionsdiskurs selbst war im italienischen Imaginären bei weitem nicht so verankert wie im französischen (es sei denn im Sinne der nationalen »Revolution« des 19. Jahrhunderts, auf die sich noch die Faschisten bezogen hatten) – eine Situation, die sich in der Togliatti zugeschriebenen Formel niederschlug: Alla rivoluzione bisogna pensarci sempre, ma non bisogna nominarla mai.

Damit ist nicht gesagt, dass die »objektive Situation« in Italien in irgendeiner Weise unrevolutionärer gewesen wäre als die in Frankreich, man denke nur an die fortgesetzte politische Krise, an Geheimgesellschaften, Terrorismus, vereitelte Coups etc., die die italienischen Nachkriegsgeschichte stärker kennzeichnen als die französische. Vom Gesichtspunkt der Analyse jakobinischer Diskurse ist entscheidend, dass der Signifikant »Revolution« im Imaginären kein Prinzip der Lesbarkeit finden konnte, keine Attraktivität als Mythos besaß, mithilfe dessen ein disloziertes Soziales hätte restrukturiert werden können. Dasselbe muss natürlich über die BRD gesagt werden: Im Unterschied zum französischen Imaginären war im bundesdeutschen die schiere Möglichkeit einer Revolution undenkbar. Während die »Studentenrevolte« und selbst der Kampf der RAF zwar als chaotische andere Seite der Ordnung konstruiert wurde, lag die Möglichkeit einer tatsächlichen Revolution nie im Bereich des Vorstellbaren. Ein wesentlicher Grund dafür war natürlich, dass – im Unterschied zum französischen Generalstreik des Mai 68 – schlicht die Massenbasis fehlte, was auch den Vertretern des Staates nicht verborgen geblieben sein kann. Nicht unwesentlich dürfte aber auch gewesen sein, dass »Revolution« dem imaginären Horizont der BRD nicht eingeschrieben war, also nicht im Reich des Vorstellbaren und politisch Artikulierbaren lag. Das Gerede der 68er und ihrer 70er-Nachfolger von Revolution blieb, was es war: leeres Gerede – leer aber nicht im Sinn des leeren Signifikanten. Wollte man die Struktur des Imaginären Deutschlands untersuchen, würde man auf andere hegemoniale Signifikanten stoßen, etwa auf jenen der »sozialen Marktwirtschaft« (vgl. Nonhoff 2001). Auch wenn er nicht mehr explizit unter diesem Terminus figuriert, muss sich selbst die a-soziale Reformpolitik der Regierung Schröder noch auf diesen sozialen Diskurshorizont beziehen. Wenn es heute in Deutschland einen Kandidaten für die Rolle des leeren Signifikanten gibt, für einen Mythos, der einen dislozierten Raum mit einem Repräsentationsprinzip versehen und damit lesbar machen soll, dann ist es wohl der gute alte Feind der Revolution: die »Reform«2. »Revolution« und »Kommunismus« sind heute leer in einem anderen Sinn: sie sind »leer«, weil ihnen nicht der geringste Vorstellungsinhalt mehr zu entsprechen scheint. Sie sind jenseits unseres Imaginären.

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Revolution, Kommunismus und der demokratische Horizont

Wenn der Signifikant Kommunismus (wie auch andere emanzipatorische Signifikanten) heute leer ist, dann nicht im Sinne des »leeren Signifikanten« Laclaus, der leer ist aufgrund seines Mobilisierungserfolges. Nennenswerte Mobilisierungswirkung entfaltet der Signifikant Kommunismus nicht mehr. Er ist für uns leer in einem anderen Sinn: ihm scheint kein Vorstellungsinhalt mehr zu entsprechen. Das wiederum ist Effekt seiner Niederlage, Effekt des hegemonialen Siegs der Gegenseite im Sinne der »Undenkbarmachung« der radikalen Alternativen zum Status quo des liberal-demokratischen Kapitalismus. Was ist historisch geschehen? Ich würde sagen, der Prozess ist am besten beschreibbar als Prozess 1) der Ausweitung von »Demokratie« zum unüberschreitbaren Horizont politischer Artikulation; und 2) der Hegemonisierung dieses Horizonts durch ein partikulares »Projekt«, nämlich das des westlichen liberal-demokratischen Kapitalismus. Die Ausweitung von Demokratie zu einem imaginären Horizont bedeutet schlechthin, dass nach dem Wegfall historischer Alternativen (die sich, z.B. als »Volksdemokratien«, selbst übrigens schon in der Sprache der Demokratie formulierten) politische Projekte nur dann Intelligibilität erringen und Repräsentationsanspruch einfordern können, wenn sie sich in irgendeiner Weise an den Diskurs der Demokratie ankoppeln. Dieser Horizont überlappt keineswegs mit der »freiheitlich demokratischen Grundordnung« der real existierenden Demokratie Deutschlands. Letztere ist selbst nur ein hegemonialer Versuch, den Horizont auszufüllen. Letztlich ein staatlich geprägter Versuch, dem sein Partikularismus ins Gesicht geschrieben steht. Der demokratische Horizont ist viel umfassender und bietet nicht-staatlichen oppositionellen Diskursen gleichfalls eine Einschreibungsfläche. Allerdings ist unbestreitbar, dass das partikulare Projekt des westlichen liberal-demokratischen Kapitalismus auf globaler Ebene weitgehend abgesichert, wenn auch nicht unangefochten ist. Diese Lage hat Folgen für emanzipatorische Projekte, die sich vor allem im Ausschluss und der Undenkbarmachung bestimmter Signifikanten zeigen. So wäre der Prozess der politischen Disqualifizierung des Signifikanten »Kommunismus« nicht anders rückgängig zu machen als durch die Gegenhegemonie eines erfolgreichen kommunistischen Projekts – und es gehört nicht viel prophetisches Talent zur Vorhersage, dass dieses kaum noch auftreten wird. So gesehen entspricht dem Diskurs des Kommunismus – wie auch dem der Revolution – kein politisches »Realsubstrat«: ihre Verwendung ist durch die gegenwärtige Kräftekonstellation nicht gedeckt. Es lässt sich ganz unnostalgisch konstatieren, dass der Diskurs des Kommunismus innerhalb der gegenwärtigen hegemonialen Formation nicht universalisierungsfähig ist, es sei denn im Zuge einer radikaldemokratischen Reformulierung. Doch genauso wenig wie die Hegemonie des liberal-demokratischen Kapitalismus das Ende oppositioneller Politik bedeutet, bedeutet das Ende des Kommunismus das Ende von Emanzipation.

Dafür gibt es einen historischen und einen strukturellen Grund. Was letzteren betrifft, ist klar, dass das Spiel zwischen Mythos und imaginärem Horizont nicht abstellbar ist. Wäre es abgestellt, dann hätte ein partikularer Mythos den universalen Horizont der Gesellschaft ein für allemal erobert, Politik wäre verschwunden, Gesellschaft hätte ihren Grund gefunden. Das hegemoniale Spiel ist also aus prinzipiellen Gründen unabschließbar, was impliziert, dass keine hegemoniale Formation ewig währt. Eine hegemoniale Formation wird immer angreifbar bleiben. Der historische Grund besteht wiederum darin, dass der demokratische Horizont – genauso wie seine Besetzung oder »Einfärbung« durch ein partikulares Projekt – selbst Produkt einer kontingenten historischen Entwicklung ist, die in sich ambivalent bleibt. Diese Ambivalenz ist bereits im Ursprung moderner Emanzipationsdiskurse, am Diskurs des Jakobinismus nachweisbar. Auf der einen Seite wirkt dort das ideologische Prinzip der Schließung, auf der anderen die egalitäre Logik – unter anderem manifestiert in der Kategorie der Menschenrechte –, die jede Schließung unterhöhlt. Die Französische Revolution hat mit den Kategorien von Freiheit, Gleichheit und Solidarität den emanzipatorischen Horizont der Moderne aufgespannt, aus dem sich kein Projekt herausstehlen kann, ohne seinen emanzipatorischen Anspruch aufzugeben. Das heißt nicht, dass diese Kategorien nicht in ein kompliziertes und nie vollständig aufgehendes Spiel eintreten würden (z.B. wird vom liberalen Demokratiediskurs eine individualistische Version der Freiheit in den Vordergrund gerückt, vom Diskurs der »Volkssouveränität« wiederum eine kollektivistische der Gleichheit, etc.). Doch mit diesen Kategorien ist der Horizont möglicher emanzipatorischer Sprachspiele etabliert. Daran ist politisch nichts »Reformistisches«. Bedenkt man seine historischen Wurzeln in der Französischen Revolution, dann ist der demokratische Horizont alles andere als unrevolutionär. Entscheidend ist, dass – im Unterschied zu einer gewissen marxistischen Hermeneutik des Verdachts – sich eine »bürgerliche« Revolution von ihrer ehemaligen »Klassenbasis« emanzipiert hat: sie wurde zur demokratischen Revolution, weil sich von ihr her der Horizont des demokratischen Imaginären aufspannte und für jede emanzipatorische Politik – bürgerliche wie nicht-bürgerliche – verbindlich wurde.3 Aus Sicht des Projekts der Radikaldemokratie geht es heute weder um scheinbar revolutionäre Überschreitung dieses Horizonts, noch um dessen transformistische »Reform« im Sinne seiner Verengung, sondern um die Ausweitung des demokratischen Imaginären und Radikalisierung der emanzipatorischen Kategorien von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. In genau diesem Sinn positioniert sich ein Radikaldemokrat wie Laclau als »Reformist«:

»Nicht etwa, weil meine sozialen Bestrebungen bescheiden wären, sondern weil ich nicht glaube, dass Gesellschaft als solche so etwas wie eine Fundierung hätte. (...) Selbst die Ereignisse, die in der Vergangenheit Revolutionen genannt wurden, waren nur die Überdetermination einer Vielzahl von Reformen, die weite Aspekte der Gesellschaft abdeckten – aber in keiner Weise ihre Totalität. Die Idee, die ganze Gesellschaft auf den Kopf zu stellen, macht keinen Sinn.« (Laclau 2002, 161)

Reform im radikaldemokratischen Sinn hat somit nichts zu tun mit Reformismus im traditionellen Sinn. Strukturell (nicht physisch) betrachtet ist Reform sogar immer gewaltförmig. Kojève, der selbst die Oktoberrevolution noch miterlebt hatte, behauptete bekanntlich, beim französische Mai 68 hätte es sich um keine Revolution gehandelt, weil kein Blut geflossen sei – was übrigens faktisch falsch ist. Damit machte er zum Kriterium und Index jeder Revolution die Gewalt. So gesehen wären Revolutionen gewaltförmig per Definition, da sich der totale Bruch mit dem Status quo gar nicht auf andere Weise bewerkstelligen ließe. Eine »friedliche Revolution« – von der Nelkenrevolution etwa bis zu den Vorgängen rund um den Fall des Sowjetimperiums – wäre eine contradictio in adiecto. Der eigentliche Punkt ist aber, dass die Gewalt der Reform zugleich mehr und weniger ist als bei Kojève. Sie ist weniger, insofern sie nicht notwendigerweise etwas mit physischer Gewalt zu tun hat, worauf Kojève ja den Gewaltbegriff verkürzt. Sie ist mehr, insofern nicht nur Revolution, sondern auch Reform strukturell gewaltförmig ist, da sie notwendigerweise den Status quo verändert, Kräfteformationen verschiebt und bestehende Interessen verletzt. Gegen Rortys Idee der Konversation und implizit auch gegen Habermas’ Idee des herrschaftsfreien Diskurses besteht Laclau darauf, dass jede Reform, so wünschenswert sie sein mag, mit einem Moment der Gewalt verbunden ist, und dass daran prinzipiell nichts zu bedauern ist:

»Aber wenn ich auf der einen Seite versuche, Revolution in Reform neu zu verorten, bin ich auf der anderen Seite sehr dafür, die Dimension von Gewalt in der Reform neu einzuführen. Eine Welt, in der Reform ohne Gewalt stattfindet, ist keine Welt, in der ich leben wollte. Sie könnte entweder eine absolut eindimensionale Gesellschaft sein, in der 100 Prozent der Bevölkerung jeder einzelnen Reform zustimmen, oder eine, in der die Entscheidungen von einer Armee von Sozialingenieuren getroffen würden, mit Rückendeckung durch den Rest der Bevölkerung. Jede Reform beinhaltet die Veränderung des status quo, und in den meisten Fällen wird das existierende Interessen verletzen. Der Prozess der Reform ist ein Prozess von Kämpfen, kein Prozess einer leisen, stückweisen, technokratischen Konstruktion. Und daran ist nichts zu bedauern.« (Laclau 2002, 162)

Dass jede Politik, die diesen Namen verdient, den Status quo verletzt, ist eine Selbstverständlichkeit und kein Vorrecht der so genannten Revolutionen. Jeder Streik etwa bedient sich nicht allein der Überzeugungskraft des besseren Arguments oder der »Vernunft«, sondern impliziert ein Moment von Gewalt, das die Antagonisten zum Nachgeben zwingen soll. Laclau kommt schließlich sogar zu dem Schluss, dass »die Existenz von Gewalt und Antagonismus die eigentliche Bedingung einer freien Gesellschaft ist.« Das Phantasma einer Gesellschaft, von der Macht, Antagonismus und Gewalt völlig eliminiert wurden, entspricht zwar bestimmten Dimensionen des klassischen Emanzipationsbegriffs, ist aber gerade darin ideologisch. Gewalt ist sowohl Bedingung der Möglichkeit als auch Bedingung der Unmöglichkeit einer freien Gesellschaft.

Im Unterschied zur jakobinischen Herrschaft des Terrors wird im radikaldemokratischen Diskurs das Moment der Gewalt allerdings ausbalanciert durch die Annahme der Abwesenheit eines Grundes und durch die Dekonstruktion der dichotomischen Dimension. Laclau unterscheidet folgerichtig zwischen popularem Bruch und demokratischem Bruch: Während im ersten Fall der gesamte soziale Raum tendenziell um einen einzigen Antagonismus versammelt wird, kommt es im zweiten Fall zu einer Ausweitung und Pluralisierung von Antagonismen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Obwohl darin immer die Gefahr des Transformismus lauert, wird ein radikaldemokratisches Projekt eher die Strategie des demokratischen Bruchs verfolgen. Die Entwicklung seit Kriegsende – und in einem starken Schub seit 68 – deutet auf exakt diese Pluralisierung von Emanzipation im Singular zu einer Vielzahl von Emanzipationen um Plural. Heute können wir beobachten, dass diese sich in der »Bewegung der Bewegungen« wiederum temporär zusammenfinden, und zwar innerhalb des demokratischen Horizonts (vgl. Marchart 2002). Von punktueller Revolutionsrhetorik einmal abgesehen, geht es dort nicht um die Forderung nach Revolution im klassischen Sinn, sondern um Prozesse der Demokratisierung, etwa die Demokratisierung der nationalen und internationalen Marktregelungsmechanismen. Damit lassen die gegenwärtigen Emanzipationsbewegungen endgültig das jakobinische Phantasma hinter sich, ohne dabei das jakobinische Imaginäre zu verlassen. Der demokratische Horizont selbst funktioniert aus Sicht des radikaldemokratischen Projekts nun als Prinzip nicht der Schließung, sondern der Öffnung: Demokratie bezeichnet nicht eine Regierungsform neben anderen, sondern ist der Name für das Prinzip der Grundlosigkeit und Nicht-Schließung (der Kontingenzakzeptanz), wie es bereits im jakobinischen Imaginären angelegt war. Diese Ausweitung des demokratischen Imaginären lässt also den Begriff von Emanzipation und Demokratie selbst nicht unberührt. Oder wie Joachim Hirsch mit Bezug auf Laclau und Mouffe sagt:

»Wenn es darum geht, die demokratische Entwicklung auf immer weitere gesellschaftliche Bereiche auszudehnen, so werden damit auch die Begriffe von Demokratie, Freiheit und Emanzipation anders, komplexer, vielfältiger. Demokratisierung ist nur als Kampf und Auseinandersetzung um divergierende Demokratie-, Gesellschafts- und Emanzipationsvorstellungen denkbar. Entscheidend ist, politische und institutionelle Formen zu finden, in denen diese Konflikte offen und öffentlich ausgetragen werden können und in denen es möglich wird, Übereinstimmungen zu erarbeiten und Kompromisse zu formulieren.« (Hirsch 2002, 204)

Oliver Marchart


Anzumerken:

0: An dieser Stelle wurde das gesamte Kapitel »Kommunismus zwischen Organisation und Bewegung« gekürzt.

1: Die Bemerkung ist allerdings angebracht, dass zwei Dimensionen strikt zu unterscheiden sind, auch wenn sie historisch ineinander verschlungen sind: die Rhetorik des Grundes und die Logik der Kontingenz. Der reine Ereignischarakter einer Revolution deutet – unbeschadet ihrer phantasmatischen Formulierung – auf die prinzipielle Kontingenz des Sozialen und der vorangegangenen, naturalisierten Ordnung: Sei es die Ordnung des Ancien Regime, sei es die Ordnung einer korrupten Clique von Herrschenden oder die Ordnung der Kolonialherren im Fall antikolonialer Revolutionen. Allein schon indem sie stattfindet, beweist eine Revolution die Kontingenz dieser und implizit jeder Ordnung. Sie ist das quod erat demonstrandum der Kontingenz. Wie jedes Ereignis im strikten Sinn hat sie revelatorischen Charakter: sie enthüllt die Grundlosigkeit von Gesellschaft und ruft dennoch zugleich alle möglichen Gründungsversuche ins Leben.

2: In einer Situation solch überragender Dominanz eines bestimmten Diskurses haben es gegenläufige Diskurse unendlich schwer, Glaubhaftigkeit und Praktikabilität für sich zu requirieren. Idealtypisch gibt es nur zwei mögliche Strategien: Entweder man weist den hegemonialen (»Reform«-)Diskurs an sich zurück, das erfordert allerdings die Artikulation eines sichtbaren Gegenangebots, das von einem anfänglichen Plausibilitätsdefizit gekennzeichnet sein wird, da es dem vom hegemonialen Diskurs geprägten Alltagsverstand zumindest anfangs zu widersprechen scheint. Oder man akzeptiert das Terrain des hegemonialen Diskurses und nutzt die Leere des gegebenen Signifikanten, um ihn mit dem eigenen Projekt aufzufüllen. In diesem Fall muss das Projekt natürlich ebenfalls sichtbar formuliert werden, was derzeit kaum erkennbar ist.

3: So macht es einen Unterschied, ob etwa die Arbeiterkämpfe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als jenseits des demokratischen Horizonts oder als Vertiefung der demokratischen Revolution verstanden werden.


Gelesen:

Joachim Hirsch (2002): Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg: VSA

Ernesto Laclau (1981): Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin: Argument

- (1990): New Reflections On the Revolution of Our Time, London: Verso

- (2002): Emanzipation und Differenz, Wien: Turia + Kant

Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen

Oliver Marchart (2002): Demonstrationen des Unvollendbaren. Politische Theorie und radikaldemokratischer Aktivismus, in Okwui Enwezor et al. (Hg.): Demokratie als unvollendeter Prozeß, Ostfildern: Hatje Cantz S. 291-306.

Sergei Netschajew (1984): Worte an die Jugend, Berlin

Martin Nonhoff (2001): Soziale Marktwirtschaft – ein leerer Signifikant? Überlegungen im Anschluß an die Diskurstheorie Ernesto Laclaus, in Johannes Angermüller, Katharina Bunzmann, Martin Nonhoff (Hg.): Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen, Berlin: Argument, S.203.