Kommunismus und die Zukunft des Politischen

Skizze zu Jacques Rancière


Als im Sommer diesen Jahres die BewohnerInnen des Frankfurter Wagenplatzes Rödelheim von ihrem Lebensort vertrieben wurden, suchten sie verschiedene andere Orte in der Stadt auf. Nachdem sie unter dem Motto »Jetzt wird überall gewohnt« den Römer besetzt hatten und auch von dort vertrieben wurden, zog die Wagenkarawane ironischerweise zu einer leerstehenden Polizeiwerkstatt, um diese zu beleben – natürlich nur, um auch von dort vertrieben zu werden. Für die Stadt und die ihre Interessen exekutierende Polizei darf eben nicht »überall« gewohnt werden, sondern nur in den dafür vorgesehenen Häusern, Mietskasernen und Wohnheimen. Die von der Wagenkarawane besetzten Orte hatte sie für andere Zwecke vorgesehen, und sei der Zweck nur ein Leerstehen.

Die Wagenkarawane verursacht eine Kollision zweier gegensätzlicher Wahrnehmungen des Sinnlichen, in dem sie die polizeiliche Logik der Wahrnehmung des öffentlichen Raums stört und zugleich ihre Lebensweisen und Alltagspraktiken als Politikum exponiert. Diese Situation kann als metaphorisch oder vielmehr als exemplarisch für die Weise betrachtet werden, wie der französische Philosoph Jacques Rancière Polizei und Politik als entgegengesetzte Konzepte des Sozialen figuriert.

»Was passiert, wenn Polizeikräfte geschickt werden, um eine politische Demonstration aufzulösen? Zunächst gibt es einen Streit um die Eigentumsrechte und den Gebrauch eines ›öffentlichen‹ Orts, das heißt der Straße. Für die Polizei ist die Straße der Raum, der für Personen- und Güterverkehr vorgesehen ist. Die Politik stört diesen Gebrauch. Sie macht aus der Straße den Demonstrationsraum eines überzähligen Subjekts (›des Volks‹, ›der Bürger‹, ›der Arbeiter‹ und so weiter), das dort ein allgemeines Anliegen zu verhandeln beansprucht. Für die Polizei ist der Raum, wo Anliegen der Gemeinschaft verhandelt werden, anderswo: in den dafür vorgesehenen öffentlichen Gebäuden, mit Personen, die an die entsprechende Funktion gebunden sind. Die Politik dereguliert somit die Verteilung der Teile und Anteile, in dem sie Zweifel in der sinnlichen Welt sät, und den Raum für das, was zu tun, zu sehen und zu zählen ist, neu formiert. Noch bevor die Politik Klassen- und Parteienkonflikt ist, ist sie der Streit um die Konfiguration der sinnlichen Welt, in der die Akteure und Objekte dieser Konflikte auftauchen können. Politik ist folglich die Praxis der Ausnahme, die sichtbar macht, was man nicht sieht, hörbar, was man nicht hört und zählbar, was nicht gezählt wird.« (Rancière 2003)

Rancière weitet also beide Kategorien über ihren herkömmlichen Gebrauch hinaus aus: Die Polizei bezeichnet nicht lediglich die prügelnden Einsatzkräfte oder die Geheimpolizei, sondern alle Strategien der Gesellschaft zur Regulation und Beherrschung des Sinnlichen. Bei dieser Regulation fußt die Polizei auf einer bestimmten Zählung der Teile und Anteile der Gesellschaft, d.h. der statistischen und bevölkerungspolitischen Erhebung der relevanten Gruppen und Personen. Die Summe der polizeilichen Rechnung ist das Ganze der Gesellschaft, und das materielle und symbolische Kapital distribuiert sie gerecht nach Anteilen der Teile. Die BewohnerInnen des Wagenplatzes kommen in dieser Zählung nicht vor, sie sind das überzählige Subjekt der polizeilichen Rechnung, sie sind das Nichts gegenüber dem Alles der Gesellschaft. So wurde es auch den PassantInnen gesagt, die stehen blieben, um dem seltsamen Treiben der Wagenkarawane zuzuschauen: »Gehen Sie bitte weiter! Hier gibt es Nichts zu sehen! (vgl. Rancière)

Die Vorgänge, die im allgemeinen als »Politik« bezeichnet werden, denunziert Rancière also als Integral gerade der polizeilichen Ordnung. Tatsächliche Politik entsteht demgegenüber erst dort, wo ein Anteil der Anteillosen die Rechnung und Zählung der Gesellschaft durch seine Einschreibung in die Gemeinschaft durchkreuzt: Sie ist der Konflikt zweier gegensätzlicher Zählungen des Sinnlichen. Der Kampf für ein politisches Anliegen, und hätte es auch noch kommunitärere Ziele wie es bei dem Kampf um Anerkennung der eigenen Lebensweise seitens der BewohnerInnen des Wagenplatzes Rödelheim der Fall war, ist also immer auch ein Kampf um die eigene Stimme, ein polemisch geführter Streithandel um das Arrangement der Positionen in der Welt. Das politische Ereignis impliziert damit immer eine paradoxe Demonstration der »Kompetenz der Inkompetenten«. Dieser politische Streit zielt dabei nicht auf Einigung im Sinne eines Siegs durch den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments«, also auf Wiederherstellung der »normalen« konsensuellen Ordnung, sondern stellt eine performative Entwendung der gegebenen Ordnung dar.

»Das Wesen der Politik ist der Dissensus. Der Dissens ist keine Konfrontation der Interessen oder der Meinungen. Er ist die Demonstration der Ausgrenzung des Sinnlichen durch dieses selbst. Die politische Demonstration macht sichtbar, was zu sehen es keinen Grund gab; sie bettet eine Welt in eine andere, zum Beispiel eine Welt in der die Fabrik ein öffentlicher Ort ist in die, worin sie ein privater Ort ist; die Welt, in der die Arbeiter sprechen, von der Gemeinschaft sprechen, in die Welt, in der sie schreien, um ihren einsamen Schmerz auszudrücken.« (ebd. 2003)

Eine auf Konsens ausgerichtete staatliche Administration, die ihren eigenen Souveränitätsverlust durch die ökonomische Globalisierung mittels einer programmatischen Legitimierung dieses Verlustes von Gestaltungsmöglichkeiten als Zeitalter jenseits der Extreme und jenseits der Ideologien zu verkleiden versucht, wäre eine Entpolitisierung des Sozialen und somit tatsächlich die Liquidierung der Politik. Konsens ist, so Rancière, »ein Wahrnehmungssystem, eine ›Ästhetik‹, die das streitbare ›Nichts‹ ersetzt, das die Gemeinschaft von sich abtrennte. Sie maßt sich so eine genaue Objektivierung der Teile der Gemeinschaft, der Anteile an den Waren- und symbolischen Gütern und den Prozeduren an, die die ausgeglichene Verteilung der Anteile unter den Teilen gewährleistet. Der Konsens ist also schlicht und einfach der Widerruf des Politischen und dessen Identifizierung mit seinem Gegenteil, der Polizei. Dieses Ohnmächtigwerden der Politik in der staatlich gelenkten Praxis nimmt seinerseits die Gestalt eines selbstverkündeten Ohnmächtigwerdens des Staates an. Dieser erweist sich als einfacher lokaler Organisator, der den Fluß der Reichtümer verteilt, als schlichter, machtloser Repräsentant einer globalen zentrumslosen Regierung des Reichtums.« (ebd.)

Gegen dieses Stadium der »Postdemokratie«1 projektiert Rancière aber gerade keine neoklassische Restauration des staatlichen Souveräns mit dem Ziel der Rückkehr zum »authentischen« Prinzip der Politik, bspw. durch ein Schritthalten der politischen Institutionen mit der Globalisierung und Internationalisierung der Ökonomie. Ihm geht es vielmehr um eine immer singuläre und lokale Demonstration des Universellen (vgl. Rancière 2002, 148). Angelpunkt dieser Operation ist die mikropolitische Attacke auf den makropolizeilichen Rahmen des Sozialen durch die performative Subversion der hegemonialen Zählungen. Diese Geste stellt exakt die Dekonstruktion des Gegensatzes von der Veränderung der Welt und ihrer bloßen Interpretation dar: Im Widerspruch zu Marx (und, diesem darin folgend, auch Adorno) verweist Rancière darauf, dass die Änderung der Welt gerade ein Konflikt um ihre Interpretation darstellt (vgl. ebd. 2003).

Fälschen statt feilschen

Hier deutet sich bereits an, dass es Rancière um höhere Einsätze geht als schlicht um einen neuen Vorschlag für philosophische Definitionen. Rancières deskriptive Analysen des Erscheinens der Politik sind präskriptive Interventionen gegen die Schlüsselkategorien der Philosophie selbst. Politik entsteht gerade nicht dort, wo die ArbeiterInnen mit Verweis auf das Implantat der Gleichheit in der gemeinsamen Sprache und auf die Kraft ihres Arguments vertrauend ihre UnterdrückerInnen von der Sinnhaftigkeit einer Lohnerhöhung zu überzeugen suchen, sondern im Gegenteil in der singulären Unterbrechung des symbolischen Regimes des Konsenses. Im Gegensatz zu Habermas, der in seiner Universalpragmatik bereits fertig konstituierte TeilnehmerInnen, Gegenstände und Bühnen als Elemente der vorhandenen Diskursgemeinschaft voraussetzen muss, ist für Rancière erst die Konstruktion dieser gemeinsamen Bühne der Einsatz der Politik.

»Wer zeigt, dass er zu einer gemeinsamen Welt gehört, die der andere nicht sieht, kann keiner impliziten Logik irgendeiner Pragmatik der Kommunikation den Vorzug geben. Der Arbeiter, der den öffentlichen Charakter der ›häuslichen‹ Lohnangelegenheit in die Debatte wirft, muss die Welt zum Ausdruck bringen, in der sein Argument ein Argument ist, und er muss sie deutlich machen für den, der keinen Rahmen hat, in der sie sichtbar wäre. Die politische Argumentation ist gleichzeitig Demonstration für eine Welt, in der sie als Argument zählt: als Argument eines dafür qualifizierten Subjekts, bezüglich eines klar umrissenen Objekts und gerichtet an einen Empfänger, der legitimiert ist, das Objekt zu sehen und das Argument zu hören, das zu sehen oder zu hören er ›normalerweise‹ keinen Grund hat. Sie ist die Konstruktion in einer paradoxen Welt, die getrennte Welten zusammenführt.« (ebd.)

Während Habermas dem Motivationsproblem der Ethik begegnet, in dem er seine DiskursteilnehmerInnen sich gegenseitig den Willen zur Verständigung als immanentes Ziel der Kommunikation unterstellen lässt, weist Rancière gerade auf die Notwendigkeit einer performativen Herstellung einer Evidenz der gleichen Sprachvermögen hin (vgl. Rancière 2003a). In der Geschichte hat es genügt, dass die Unterdrücker nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass die Unterdrückten (die Sklaven, die Frauen, die »Verdammten dieser Erde«) überhaupt eine Sprache besitzen – sie konnten sich einfach wegdrehen. Das Projekt einer universalen Sprachpragmatik müsste daher zur Kenntnis nehmen, dass wegen der »Heterogenität der Sprachspiele« – dessen, was Rancière in Abgrenzung zum bloßen »Missverständnis« oder dem »Verkennen« das »Unvernehmen« nennt – die Tatsache des allgemeinen und gleichen Sprachvermögens noch lange keine materiell egalitäre Gemeinschaftlichkeit nach sich zieht. Die Herstellung einer gemeinsamen Bühne, auf der die Habermas’sche Diskursethik erst zu arbeiten beginnen könnte, lässt sich nur erzwingen durch die Einschreibung eines Anteils der Anteillosen in die Gleichheit der Gemeinschaft.

Doch so verstandene Politik ist immer labil. Verdinglicht sie sich in Lobbys, Parteien und kohärenten Repräsentationssystemen oder schwingt sie sich zu einem neuen ethischen Regelwerk auf, ist sie bereits im Verschwinden begriffen – einem Verschwinden nicht aufgrund von Ohnmacht oder Repression, sondern aufgrund der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und ihrer Identifikation mit einem zählbaren Teil. Daher ist die Politik der stets nur singuläre und temporäre Bruch mit der polizeilichen Ordnung: Sie hat sich zu verändern, will sie Politik bleiben, hat einen Abstand zur eigenen Identität zu wahren (einer Identität, die nie die eigene, sondern stets eine fremde gewesen sein wird).

»Die Demokratie ist keine Herrschaftsform oder gesellschaftliche Lebensweise. Sie ist die Einsetzung der Politik selbst, das System der Formen der Subjektivierungen, durch welche jede Ordnung der Verteilung der Körper nach Funktionen, die ihrer ›Natur‹ entsprechen, in Frage gestellt, auf ihre Kontingenz verwiesen wird. Und es ist, wie gesagt, nicht ihr Ethos, ihre ›Seinsweise‹, die die Individuen zur Demokratie eignet, sondern der Bruch mit diesem Ethos, der erfahrene Abstand der Fähigkeit des sprechenden Wesens mit jeder ›ethischen‹ Harmonie des Machens, des Seins und des Sagens. Jede Politik ist demokratisch in genau diesem Sinn: Nicht im Sinn einer Gesamtheit von Institutionen, sondern im Sinn von Formen der Demonstrationen, die die Logik der Gleichheit mit derjenigen der Polizeiordnung konfrontieren.« (Rancière 2002, 111)

Anstatt sich aufgrund »vorher« vorhandener Gemeinsamkeiten zu einer Interessensgemeinschaft mit dem Ziel des Feilschens um den Anteil des eigenen Teils zusammenzuschließen, hätten genuin politisch handelnde Individuen die Zählung der Anteile als solche zu fälschen. Politik ist insofern immer queer, als dass sie die überkommene hegemoniale Verteilung der Körper in aufgrund vorgeblich »natürlicher« Gemeinsamkeiten konstituierte Teile immer aufs neue anzweifelt. Sie insistiert auf der Kontingenz der Identitäten, und jede zeitweilige Identifizierung beantwortet sie, um der Korruption zu entgehen, mit umgehender Dis-Identifikation. Kein weltgeschichtliches Subjekt ist zur Politik privilegiert, Politik wäre gerade das Dementi dieses Privilegs.

»Es gibt keine der Politik eigentümlichen Subjekte. Die politischen Subjekte existieren nur als Dispositive eines Geschehens der Subjektivierung, als punktuelle Potenzen, polemische, paradoxe Welten zu konstruieren, die die Polizeiordnung zerlegen. Sie sind also immer prekär, immer dafür empfänglich, sich wieder zu vermischen mit einfachen Teilen des sozialen Korpus und die Optimierung ihres Anteils zu fordern.« (ebd. 2003)

How to queer Revolution

Der Einwand läge nahe, dass eine politische Praxis, die also auf ständigen Wandel und die Wahrung eines »Vorsprungs« vor der Integration in den sozialen Korpus verwiesen ist, in der Postmoderne in eine Bredouille kommt. Im postfordistischen Spiel der Lifestyles und Moden laufe die ständige Dis-Identifikation und immer neue Re-Identifikation auf die bloße konsumistische Distinktion beim Preise der politischen Einflussnahme auf die tatsächliche Macht hinaus. Welche Subjekte sollen denn die emanzipatorischen Potenzen des demos noch repräsentieren können, ohne unweigerlich von der liberalkapitalistischen Toleranz absorbiert zu werden? Im Zeitalter gesellschaftlicher Totalität habe die mikropolitische Sabotage vielleicht noch hoffen können, das Ganze aus den Angeln zu heben, doch im Zuge fortschreitenden sozialen Zerfalls sei sie nur noch eine Affirmierung des ohnehin Bestehenden (oder gar, man hört schon so ein Raunen, des nihilistischen Terrorismus). Doch dieser Einwand verkennt die zentrale Pointe der Rancière’schen Argumentation. Die politische Geste ist eben keine, die sich mit einer kurzfristigen Sichtbarmachung subalterner Subjekte und ihrer anschließenden Einspeisung in die Rechnung zählbarer Teile zufrieden gibt. Ihr geht es in der lokalen Artikulation des Universellen um die Errichtung einer gemeinsamen Bühne der Menschheit schlechthin, um die temporäre Evidenz der Gemeinschaftlichkeit unserer Existenz. Die Durchkreuzung der polizeilichen Ordnung ist zwar nur singulär, aber gleichwohl universell, weil diese demokratische Intervention als egalitäre Geste bereits per definitionem ein globales Terrain hat. Der Marx’sche Begriff des Proletariats als »Klasse mit universellem Charakter« eignet sich gut, diese Geste zu exemplifizieren: Das Proletariat begreift sich selbst als qualifiziert, das Leiden der gesamten Menschheit zu repräsentieren, und ist damit die negative Gesellschaft, die Emanzipation einer besonderen Klasse, die Emanzipation der allgemeinen Menschheit (vgl. Marx, 390). Die historisch kontingente Universalisierung einer partikularen Erzählung durch das überzählige Subjekt des Proletariats verdichtet sich so zu einer Demonstration der Egalität, zu einer Konfrontation mit der nicht-egalitären Ästhetik des polizeilichen Regimes. Dieses egalitäre Ereignis haben auch die BewohnerInnen des Bauwagenplatzes Rödelheim aktualisiert, in dem sie durch die Herstellung eines Unvernehmens die RepräsentantInnen der polizeilichen Ordnung Frankfurt zu hören zwangen.

Dem allgemeinen Defätismus über ein »Ende der Politik« kann sich Rancière (2003a) daher nicht anschließen:»Es ist, so glaube ich, möglich und notwendig, dem Denken des Endes und der Katastrophe ein Denken des Politisch-Prekären entgegenzusetzen. Politik ist nicht ein Zeitalter der humanitas, das heute zum Ende kommt. Sondern Politik ist eine zufällige, lokale und prekäre Aktivität, die immer kurz vor ihrem Verschwinden steht. Und folglich vielleicht auch vor ihrem Wiederauftauchen.«

Dies markiert auch den Punkt, der bezüglich einer Diskussion um die Aktualität und die Möglichkeit des Kommunismus von Interesse ist. Denn wenn die Politik stets nur eine prekäre und singuläre Unterminierung der polizeilichen Zählung der Teile und Anteile der Gesellschaft ist, dann »braucht« die Politik auch in gewissem Sinne die Polizei, um sich auf sie zu beziehen und um einen Konflikt der heterogenen Ordnungen ins Werk zu setzen (vgl. Rancière 1997, 79). In diesem Sinne kann es niemals eine definitive revolutionäre »Verwirklichung« der Politik im Sinne einer vollständig transparenten, planmäßigen Organisation des Sozialen geben.2 Hierin liegt eine Kritik der traditionellen Praxis kommunistischer Bewegungen: »Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht« – diesem berühmten barocken Sinnspruch des Angelus Silesius konnte kommunistische Praxis sich bis heute immer allzu leicht anschließen. Wenn erst die Anarchie der Warenproduktion beseitigt, die unerträgliche Kontingenz der Geschichte überwunden, das Urteil des Weltgeistes über unsere Taten gefällt und den Helden der Revolution ein Denkmal gebaut wurde, ja wenn erst die »eigentliche« Geschichte beginnt, dann sind die Menschen als Herren der Welt eingesetzt und instituieren endlich eine gerechte Verteilung. Souverän vom Feldherrenhügel herab plante die kommunistische Bewegung strategisch ihre nächsten Schachzüge und verschrieb der Welt das bessere Rezept zum Zwecke ihrer Heilung, ganz gemäß dem Slogan, mit dem die Firma Hewlett Packard dieser Tage ihre Produkte bewirbt: »I want a remote control for the planet«. Es handelt sich bei dieser tragischen Tradition um einen gouvernementalen Wahn, der auf die Verwandlung der Politik in Polizei hinausläuft. Von Rancière kann die kommunistische Praxis demgegenüber lernen, dass die Notwendigkeit des Kommunismus niemals definitiv gestillt werden kann, sie erschöpft sich in immer nur vorübergehenden Verifizierungen und Aktualisierungen des egalitären Axioms. Gleichheit ist nach Rancière (2000) nicht Ziel, sondern Voraussetzung der Politik, kein Punkt der Ankunft, sondern einer des Aufbruchs.

Diese Erkenntnis ist alles andere als eine Entlastung emanzipatorischer Akteure von der Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Veränderung. Im Gegenteil: Politik insistiert auf der immer wieder neue Konfrontation der intellektuellen Gleichheit mit Situationen sozialer Ungleichheit. Das egalitäre Ereignis beschränkt sich dabei nicht auf das Gesellschaftsmanagement in der Sphäre dessen, was der normale Sprachgebrauch als »Politik« qualifiziert, es macht vor dem Sozialen nicht Halt. Nur wäre kommunistische Praxis nach Rancière eine Praxis des Pluralen, entworfen aus einer von unten kommenden, genuin »individuellen« Perspektive. Die Etablierung einer plural-kommunistischen Polis abverlangte ihren Subjekten keine Identifikation mit der planetarischen Körperschaft der Menschheit, sondern gewönne ihre Beweglichkeit gerade aus der Differenz ohne Angst. Politik im pluralen Kommunismus müsste noch immer Abstand wahren, wenn auch nicht von der Polizei, so wenigstens von sich selbst. Insofern entpuppt sich Demokratie immer als »unwesentlich«, als Akzidens des kommunitären Erscheinens. Doch wenn auch die Politik niemals ganz anwesend sein wird, so wird sie auch niemals ganz verschwinden: Sie ist immer »against the time«, immer in der Lage, die Herrschenden der Welt auf eine gemeinsame Bühne zu zwingen. Kommunismus ist eine sich in jedem geschichtlichen Augenblick darbietende Möglichkeit und damit ein »Kommunismus der endlichen Gegenwart« (Nancy, 198). Die Zukunft hat keine Zeit.

Daniel Loick






Anzumerken:

1: Der Begriff der »Postdemokratie« ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass wir zuvor in einem goldenen Zeitalter der Politik und der Demokratie gelebt hätten, das nun zu seinem Ende kommt. Vielmehr beobachtet Rancière gerade zur Zeit der demokratischen Revolutionen in Osteuropa ein gewisses »Erschlaffen« demokratischer Leidenschaft im Sinne einer nunmehr offenen Affirmierung staatlicher Ohnmächtigkeit. Vgl. Rancière, Jacques (1997) Konsens und Postdemokratie, in Badiou, Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado und Sumic, Jelica: Politik der Wahrheit, Wien.

2: Ausführlicher haben wir hierzu argumentiert in Frankfurter Basisgruppe DemoPunK: Démocatie à arriver. Thesen zu Kommunismus und radikaler Demokratie unter http://www.kommunismuskongress.de/forum


Gelesen:

Rancière, Jacques: Ten Theses on Politics <http://www.humnet.ucla.edu/humnet/cmcs/Ranciere.html>

– (2003): Politisches Denken heute, in: Lettre International Nr. 61, II/03

– (2003a): Wider den Konsens. Gekürzte Dokumentation eines Vortrages im Berliner Institut Francais, in: Freitag Nr. 28 vom 4.7.2003

– (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/Main

– (2000): Literature, Politics, Aesthetics – Approaches to Democratic Dis-Agreement. Interview von Solange Guénoun und James H. Kavanagh, in: SubStance Nr. 92

– (1997): Gibt es eine politische Philosophie? In Badiou, Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado und Sumic, Jelica: Politik der Wahrheit, Wien

Nancy, Jean-Luc (1994): Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des »Kommunismus« zur Gemeinschaftlichkeit der »Existenz«, in: Vogl, Joseph: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main

Marx, Karl: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1