diskus 1/98

Arbeit, Arbeit, Arbeit!

Neulich fragte mich ein Trotzkist, ob ich, der Herr Student, einen Arbeitslosen kennen würde. Naja. Über zu wenig Arbeit klagt in meinem Bekanntenkreis niemand, über zu wenig Geld schon eher. Typische Arbeitsverhältnisse à vierzig Stunden die Woche können aber die wenigsten vorweisen, selbst unter den Exmatrikulierten. Und von Staats wegen als arbeitlos anerkannt ist schließlich nur eine, und die hat nie Zeit für mich.

Entsprechend kam auch kaum jemand meiner Bekannten auf die Idee, sich am jüngsten Protest der Arbeitslosen zu beteiligen oder ihn gar als Kampf um die eigenen Angelegenheiten aufzufassen. Mag der eine oder die andere auf französische Verhältnisse, Barrikaden und Randale spekuliert haben oder gar auf den großen Schulterschluß zwischen Arbeitslosen und Unistreik, so belehrte sie der erste Protesttag Anfang Februar eines Besseren. Vor lauter Lob für so viel Eigeninitiative und Kreativität konnten sich die Arbeitslosen ebensowenig retten wie vor ein paar Monaten noch die Studis. Schließlich sei die Arbeitslosigkeit ein großes Problem. Einen Monat später dann überdeckte der Anfang vom Ende des Kanzlers den zweiten Protesttag.

Von französischen Verhältnissen also keine Spur, geschweige denn von einer großen Koalition von Arbeitslosen und Studierenden oder einer Fortsetzung des Unistreiks auf höherem Niveau. Was haben Studierende auch schon mit Arbeitslosen zu schaffen? Daß ihnen auch Arbeitslosigkeit droht? Vor dreißig Jahren soll es noch so gewesen sein, daß Studierende sich auf ihr späteres Arbeitsleben vorbereiteten, während Arbeitslose an selbigem zwischenzeitlich nicht teilnehmen konnten. Heute jobben für gewöhnlich die ersteren, um ihr Studium finanzieren zu können, und qualifizieren sich so für andere Jobs, während für die zweiteren die Ausnahme zur Regel wird. Angst vor Arbeitslosigkeit müssen die angehenden Akademikerinnen eher selten haben. Zwar wird es immer unwahrscheinlicher, eine dem Abschluß thematisch und finanziell einigermaßen adäquate Stelle zu finden. Doch die Gewöhnung an das Jobben während des Studiums erleichtert das Arrangement mit dem Ungewollten. Mit etwas Glück läßt sich der ungeliebte Broterwerb auf zwanzig, dreißig Stunden reduzieren, um den Singlehaushalt zu bewältigen und zugleich noch das postuniversitäre Leben mit Dissertation, Kind oder gesellschaftlichem Engagement zu versüßen, wobei freilich Geld und die mangelnde Flexibilität des deutschen Managements die harten Grenzen darstellen. Ob jenseits vom Geld die Perspektive von 40 Jahren à 45 Wochen à 38,5 Stunden überhaupt reizvoll ist, bezweifeln zumindest die lebhafteren unter den Studierenden. Die Avantgarde dieser globalen Flexibilität ist übrigens eher bei den Geisteswissenschaftlerinnen zu finden, die schon bei der Immatrikulation kaum davon ausgehen konnten, jemals Stellenanzeigen zu entdecken, in denen explizit Philosophinnen, Germanisten oder Soziologinnen gefragt sind.

Lebenslange Lohnarbeit respektive Vollbeschäftigung waren einst die Schlüsseltermini des bundesdeutschen Nachkriegskonsenses, Wirtschaftswachstum ging noch mit zunehmender Beschäftigung einher, sinkende Arbeitslosigkeit mit höheren Löhnen und eine höhere Nachfrage mit steigenden Wachstumsraten. Zugleich gingen die einen der Lohnarbeit nach, die anderen noch nicht oder nicht mehr, und die dritten waren für das leibliche und seelische Wohl der Lohnarbeiter zuständig. Als diese Zirkel ins Stocken gerieten, waren es nicht zuletzt die ein bis zwei Millionen Arbeitslosen, die erst Schmidt, dann Kohl ins Kanzleramt hievten, denn die Konsequenzen waren auch für all jene zu erahnen, die noch relativ sicher in Lohn und Brot standen. Angst vor der Rationalisierung des eigenen Arbeitsplatzes mußte die Mehrheit gewiß nicht haben, viel bedrohlicher wirkte aber, daß die Arbeitslosen den Preis der Arbeit drücken könnten, die Einzahlungen in die Sozialversicherungsysteme und die Staatssäckel sanken – und schließlich daß sich vieles ändern könnte.

Kohls Message dagegen konnte den Nachkriegskonsens noch einmal auch gegen diejenige Minderheit erneuern, die ihn seit ‘68 aufgekündigt hatte, indem er unmittelbar im makroökonomischen Zirkel einhakte: Wenn nur Wachstum Arbeit und damit Wohlstand schafft, muß eben alles getan werden, um die Wirtschaft wachsen zu lassen. Das tat sie auch, kräftig sogar, die Arbeitslosigkeit sank allen statistischen Tricks zum Trotz dennoch gerade mal um zehn Prozent.

Freilich standen nun wieder die keynesianischen Kritiker in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft auf der Matte und verwiesen auf die mangelnde Binnennachfrage. Das tun sie noch heute. Ironischerweise war es allerdings gerade die christdemokratische Bundesregierung, die sich in der Folgezeit ungeachtet aller Neoliberalismus- und Lei-stungsrhetorik eines der größten Projekte zur Steigerung der Nachfrage seit Bestehen der BRD leistete: die sofortige Vereinigung, verbunden mit großzügiger Alimentierung – damit es sich niemand doch noch anders überlegt.

Der Erfolg war bekanntermaßen bescheiden. Zwar konnte die sich abzeichnende Konjunkturerlahmung zu Beginn der Neunziger um ein, zwei Jahre hinausgezögert werden. Um die explosiv gesteigerte Nachfrage zu befriedigen, reichte es aber vollkommen aus, die vorhandenen Produktionskapazitäten im Westen auszuschöpfen, während die arbeitsintensiveren Industrien des Ostens Konkurs anmeldeten. Ein Wachstum, das organisch qua steigender Produktivität Arbeitsplätze schafft, ist nirgends in Sicht. Verspricht heute jemand, die Arbeitslosigkeit senken zu können, so kann sein Konzept lautererweise allein noch auf solche Stellen zielen, die von der Produktivitätssteigerung abgekoppelt sind, mithin auf personale Dienstleistungen aller Art, bei denen der Phantasie nur historische Grenzen gesetzt sind. Für diese Art von Joboffensive gilt freilich just die Umkehrung des alten Nachkriegsregelkreises, daß Autos keine Autos kaufen: Dienstmädchen stellen für gewöhnlich keine Haushaltshilfen ein, und schwarze Sheriffs engagieren Leibwächter eher selten. Solche Arbeitsplätze entstehen bloß dann, wenn der einen Arbeit immer billiger wird und die anderen nicht mehr wissen, wohin noch mit dem ganzen Geld. Insofern sind die Wahlversprechungen, die Arbeitslosen zu halbieren oder dreifache Arbeit in Aussicht zu stellen, durchaus wörtlich zu begreifen.

Der Unterschied zwischen den Protesten der französischen Arbeitslosen und ihren deutschen Kolleginnen, der hierzulande das ans Zoologische grenzende Wohlwollen der Öffentlichkeit garantiert, liegt also gar nicht so sehr in der mangelnden Radikalität. Was die französischen Verhältnisse von den deutschen jenseits allen Revoluzzertums unterscheidet, ist die praktische Erfahrung, daß Wachstum und Lohnarbeit entgegen aller neoliberalen und keynesianischen Doktrin nichts mehr miteinander zu tun haben. Dabei half ihnen sicherlich, daß sich alle paar Jahre eine neue Regierung bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit blamieren durfte.

Zu tun gibt es genug, Geld gibt es genug, aber potentielle Lohnarbeitsplätze à la Clinton und Blair sind nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Die französische Bewegung bettelte nicht um neue Jobs als Parkplatzsucher und Poolputzer, sondern forderte mehr Geld und langfristig ein garantiertes Mindesteinkommen. Die Abschaffung der Arbeitslosigkeit ist keine Frage der Ökonomie, sondern eine gesellschaftliche Entscheidung. Pierre Bourdieu nannte die französische Arbeitslosenbewegung ein soziologisches Wunder, da Arbeitslose bislang eher als resigniert, träge und schlecht zu organisieren galten. Solange arbeitslos ohne Arbeit statt ohne Lohnarbeit heißt, mag die Bezeichnung Wunder passend sein. Der rationale Kern des französischen Wunders liegt dagegen im Abschied vom Fetisch Lohnarbeit – und sei’s erst einmal in der reformistischen Variante der europaweiten 25-Stunden-Woche. Bezeichnenderweise sind im französichen Arbeitslosenverband Agir contre le chômage!, der die Proteste organisierte, gerade mal 40% der Mitglieder offiziell arbeitslos, der Rest setzt sich eher aus Aktiven zusammen, die schon in diversen sozialen Bewegungen engagiert waren, wie die FAZ leicht pikiert meldete. Doch bis meine postachtundsechzig bewegten Bekannten, die immer über zuviel Arbeit jammern, das Engagement der Arbeitslosen als Arbeit begreifen, an der man sich ganz egoistisch selbst beteiligen kann, muß wohl erst einmal der neue Kanzler am Problem der Arbeitslosigkeit scheitern.

Frieder Dittmar