Editorial

 

Wer sich in Richtung Genua begibt, die Hand aus streckt nach der darin aufgespeicherten Erfahrung, rennt unwillkürlich gegen diese zwei Türme, die es doch eigentlich nicht mehr gibt. Die Fassade des WTC hat sich in eine Leinwand verwandelt, auf der immer wieder das gleiche Bild spielt, in einer Endlosschlaufe gefangen. Bis jemand den Fernseher erlöst. Aus, Ruhe, endlich. Wurde auch Zeit, der ganz normale Alltag hatte schon mehrmals an die Tür gekloppt. Das Leben geht weiter. Wie, alles soll nun anders sein? Na, wär ja schön!

Das laute Schweigen nach den Anschlägen im September ist einem schnellen Stimmengewirr gewichen. Auf dem Wissensmarkt preisen VekäuferInnen hinter ihren Ständen ihre Sicht der Dinge an. Nur wer eine Antwort hat, wird bemerkt. Einiges hört sich bekannt an. Wer kriegt die längste Sendezeit? Ein paar sind auch schon des Marktes verwiesen worden. Sie haben sich nicht an die Spielregeln gehalten. Die Spielregeln, die alle zu kennen vorgeben, die aber immer erst nach dem Übertreten sichtbar werden.

Viele Stimmen sprechen von einer Zäsur. Was soll sich verändert haben und was bringt die Änderung hervor? Sind es die Anschläge vom elften Neunten, die einen Raum für Neues geöffnet haben; als das Unplausible möglich wurde und das Plausible ins Wanken gebracht wurde? Ist es die Reaktion der Bush- und Schröder-Administration, die mit Kriegen ihre Stärke unter Beweis zu stellen versuchen und mit ihrer »Terrorbekämpfung« erst das bedrohen, was bedroht sein soll: Das vielfältige Leben in den Metropolen, die Lebensweise einer Multitude? Oder sind es die zahllosen Deutungen der Ereignisse auch von linker Seite, die erst die Welt mitkonstituieren, die sie vorgeben zu beschreiben?

Was sich durch die globalisierungskritische Bewegung schon angedeutet hat, wird nun unübersehbar. Es gilt, in der eigenen radikalen Kritik die Welt als Ganze wieder mitzudenken. Damit setzt eine Umorientierung bei Teilen der Linken ein, die sich zu Beginn der 90er Jahren verstärkt dem Antirassismus zugewandt hatten. Die eigenen Verstrickungen in eine rassistische Dominanzkultur (vor der auch die internationalistische Bewegung nicht unberührt blieb) ernst nehmend, konzentrierten sie sich zunehmend auf den nationalen Kontext. Nun hat die Welt ihre Aufmerksamkeit zurück gefordert.

Auf der Suche nach einer neuen internationalistischen Politik traten einige eine Zeitreise an, die weit hinter Genua und Seattle zurück bis in die 1960er / 1970er Jahr ging (diskus 3.01). Damals, als – noch im Abklang der Befreiungsbewegung – Antiimperialismus in aller Munde war. Als die Krise des festen Wechselkurses die Finanzmärkte durcheinander wirbelte, als der hohe Ölpreis die Industrieländer an ihre Abhängigkeit erinnerte. In einer Zeit, als der Internationalismus hier von der Solidarität mit den

revolutionären Subjekten im Trikont getragen wurde. Leider hielten sich manche dieser Subjekte nicht an die Idealbilder, die von ihnen gemacht wurden, sondern schrieben sich in die heterosexuelle Matrix kriegerischer Männlichkeit ein, bedienten sich Rassismen und Antisemitismen. Aber trotzdem konnten ihre Mängel an ihren eigenen politischen Forderungen gemessen werden. Die archäologische Spurensuche verweilte in den 1980er Jahren, als die neuen sozialen

Bewegungen ihren eigenen Internationalismus formulierten, der in den 1990er Jahren zunehmend einer NGO-isierung zum Opfer fiel; mit willigen HelferInnen beim Aufbau einer neuen Weltordnung. Doch der Aufbruch nach 1989 in die neue Ordnung hatte nicht alle mitgenommen. Die Reaktionen auf den Elften Neunten in den verschiedenen Ländern haben dies nochmals deutlich gemacht. Sind wir in einem neuen Zeitalter des Imperialismus angekommen? Ist der Begriff überhaupt noch angemessen? Und wer sind die gesellschaftsverändernden Subjekte, die eine Weltgerechtigkeit einfordern? Die Multitude, die in Seattle, Genua, Porto Alegre, Barcelona zusammen strömte? Oder sind es gar fundamentalistische Kräfte, die sich in der islamistischen Variante als Al Qaeda einen Namen geschaffen haben? Gibt es nur noch »reaktionäre« Antiimperialisten?

 

Heute, mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu den Ereignissen im Herbst, als »Terrorbekämpfung« und Kriegsandrohungen scheinbar zum politischen Alltag geworden sind, kristallisieren sich aus den kritischen Suchbewegungen einzelne Analysen heraus. Es gibt keinen Konsens. Auch in unseren Redaktionssitzungen haben wir uns oft gestritten, manchmal in hypostasierter Abgrenzung von anderen Positionen, um die eigenen zu konturieren.

Diese Kontroversen und Widersprüche finden sich in den Texten wieder, die sich in ihren Brüchen zu einem oszillierenden Mosaik zusammensetzen. Vielleicht sind es gerade die Brüche und Risse, die es ermöglichen, die Ewigschlaufen scheinbar determinierter Diskurse zu unterlaufen; die Diskurse, die immer schon gewusst haben, was die Welt zusammenhält.

Auffallend an den Analysen seit September ist die männliche Dominanz der Kommentatoren. Ein Vergleich der Print- und Massenmedien vor und nach dem Elften Neunten zeigt einen drastischen Rückgang der Anzahl der Frauen, die als Autorinnen oder in Diskussionsrunden und Talkshows die politischen Entwicklungen analysieren. Kritische feministische Stimmen meldeten sich nur sehr zögerlich zu Wort, obwohl die Metapher der von den Taliban unterdrückten Frauen als Kriegslegitimation herhalten musste. Oder ist es gerade diese Vereinnahmung einer Sexismus-Kritik, die die eigene feministische Kriegskritik lähmte?

Nicht allen war diese Vereinnahmung unangenehm, wie die feministische Auseinandersetzung mit dem Mainstream-Feminismus à la Emma deutlich macht. Anhand der »Kopftuchdebatte« verweist sie auf die Kontinuität, mit der das eigene Verwobensein in die Dominanzkultur ausgeblendet und in Abgrenzung zum »Anderen« das eigene Selbst konstituiert wird (vgl. Der Schleier vor den Augen). Diese Selbstpraxis in der Tradition des Orientalismus hat mit dem Auftreten von Al Qaeda unübersehbar an Konjunktur gewonnen. Schließlich steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die Neukonstitution der »Friedensmission« westlicher Mächte, die deren Interventionen in andere Länder legitimieren soll. Gerade die Regierungen des EU-Europa setzen sich hierfür besonders ein.

Mit dem Auftreten von Al Qaeda ist aber auch ein Konflikt innerhalb von arabischen Ländern in den westlichen Metropolen angekommen, der durch die medialen Stereotype in den hiesigen Medien meist verdeckt bleibt. Auch linke Kritik am islamischen Fundamentalismus ist vor dieser Stereotypisierungsgefahr nicht gefeit. Dieser Simplifizierung und Kulturalisierung setzt der Text Zur Krisensituation der arabischen Gesellschaften eine Analyse der Machtverhältnisse entgegen, die sich in der Anrufung des Islams in den arabischen Ländern formieren. Ohne einen Blick auf die arabischen Länder bleiben auch viele Dimensionen des gegenwärtig eskalierenden Palästina-Israel-Konflikts ausgeblendet.

Der Antiamerikanismus scheint weltweit zum gemeinsamen Nenner zu mutieren, sowohl bei reaktionären als auch bei progressiven Kräften, so der Text Schuld sind immer die Amerikaner zu den Reaktionen auf den elften Neunten. Damit wird der Blick auf die komplexen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse verstellt. Manch reaktionäre Gruppe kann sich so im Windschatten des Antiamerikanismus gegen Kritik immunisieren und als sinnvolle Alternative präsentieren. Der damit einhergehende Antisemitismus bleibt auch von kritischen Stimmen oftmals unbemerkt, oder wird zu einem »Nebenwiderspruch« degradiert.

Der Antiamerikanismus, der sich auf die US-Regierung konzentriert, übersieht ein weiteres Problem. Was, wenn der kritisierte Staat längst kein Souverän mehr im Sinne des klassischen Nationalstaates ist? Dann bringt sich die klassische Antiimperialismus-Kritik in die paradoxe Situation, ihren Gegner als mächtiger zu stilisieren, als er ist. Denn die USA ist trotz militärischer Überlegenheit nur Teil eines viel komplexeren Gebildes, des Empire, in dem es kein Außerhalb gibt (vgl. agent_smith Service Pack).

Der Anschlag auf New York ist somit ein Angriff auf uns alle in den Metropolen, die sich über den Globus verteilen. Es ist ein Angriff auf eine Lebensweise, deren Herstellungsbedingungen selbst die Ursache für die weltweiten Konflikte sind. Diese Lebensweise ist aber nicht ohne Ambivalenzen, wie die beiden Texte zu Arbeitsbedingungen in der »Kreativindustrie« verdeutlichen (vgl. grüne karte, rote karte und In den Produktionshallen der Differenz). Sie ermöglicht als hipper, popkultureller, oft auch subversiver Lifestyle aus der Zwangsuniform fordistischer Disziplinierung auszubrechen – auf der Suche nach selbstbestimmten Arbeitsverhältnissen. Doch gerade diese neuen Aneignungspraxen stellen Bedingungen her, die für das globale Kapital profitabel sind. Gleichzeitig ist es das Versprechen einer postfordistischen Alternative, das uns die neuen Ausbeutungsverhältnisse aus den Augen verlieren lässt: Sowohl die eigenen, als auch diejenigen in den Weltfabriken im Osten und Süden, in denen insbesondere Frauen unsere Konsumgüter herstellen.

Dieser Lebensstil, der nur durch Unterdrückungsverhältnisse und hohen Ressourcenverschleiß aufrechterhalten werden kann, so no spoon, steht mit den Anschlägen auf dem Spiel. Das Spiel ist aber nicht, da irrt die Kriegsmaschinerie, durch Verteidigen dieses Lebensstils zu gewinnen, sondern nur durch dessen Überwindung. Die Eine Welt würde eine Universalisierung des metropolitanen Lifestyles nicht überleben. Diese Position greift indirekt auf eine Einsicht zurück, die mit dem ersten Bericht des Club of Rome an Öffentlichkeit gewann und die einen zentralen Fokus der sozialen Bewegungen in den 1980er Jahren bildete. Ein Produkt dieser fundamentalen Kritik am westlichen Industriemodell war die UN-Konferenz in Rio 1992 und das weltweite Netz von Nichtregierungsorganisationen. Die Umweltzerstörung machte die Immanenz der Einen Welt deutlich, wo sich weder Probleme noch deren Lösungen an nationalstaatlichen Konturen orientieren. Liegt in der ökologischen Krise der Grundstein für das Wissen um ein Empire?

Paradoxerweise ist es gerade dieses Feld, in dem sich die Bush-Administration dem internationalen Regelwerk zu entziehen versucht, um zu einer Politik der Stärke zurückzukehren, wie der Text »Nachhaltige Globalisierung?« zur Nachhaltigkeitsdebatte im Vorfeld der UN-Konferenz Rio + 10 deutlich macht. Deutet sich hier ein Ausstieg aus einer Globalisierungspolitik an, die selbst zentraler Motor jener weltweiten Interdependenz war? Sind wir vielleicht an der Schwelle zu einem neuen Empire, bei dem sich einige Staaten wieder als egoistische Souveräne darstellen dürfen und können? Deuten sich die ersten Konturen eines neuen Roms im Imperium ab?

Dieses Heft soll mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben – wir hoffen, damit zu einer Diskussion beizutragen. Einer solchen ist auch der Kongress der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) gewidmet, der dieses Jahr vom 9. – 12. Mai in Frankfurt stattfindet.

 

Redaktion diskus

 

 

Wir laden ein zu Diskussion und Heftkritik am Mittwoch, dem 29. Mai 2002 um 20 Uhr im diskus-Büro (Studierendenhaus Jügelstraße, Eingang KOZ, Raum 106).