diskus 1/01

Papiere und Plätze

Alltag und Kämpfe illegalisierter MigrantInnen in Italien

Einwanderung nach Italien
Bekanntermaßen war Italien bis vor ca. zwanzig Jahren ein Land, welches vielen seiner BürgerInnen, insbesondere in den ärmeren Gebieten des Südens, we-nig Perspektiven zu bieten hatte und sie daher vor die Frage der Binnenmigration in den industriellen Norden oder der Auswanderung stellte. Und selbst heute findet dieser Migrationsprozess, wenn auch in verringertem Ausmaße, noch statt. Die »Entdeckung« der Einwanderung nach Italien, die mit den achtziger Jahren verstärkt einsetzte aber zunächst nicht beachtet wurde, ereignete sich aus italienischer Sicht erst Ende der achtziger bzw. Anfang der neunziger Jahre und erzeugte zunächst einmal Verwunderung und in gewisser Weise auch Stolz über den neuen Wohlstand Italiens, der diesen Rollenwechsel vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland herbeigeführt hatte. Als zudem in Nordeuropa und besonders in der BRD immer größere Gruppen von MigrantInnen und Flüchtlingen von jedweder legalen Lebensperspektive ausgeschlossen wurden, bedeutete dies für Italien, dass die Angehörigen dieser Gruppen begannen, Italien als Einwanderungsland, und nicht nur als Transitland, zu betrachten. Die lässige Haltung der italienischen Behörden, man bräuchte papierlos aufgegriffenen EinwanderInnen lediglich ein »foglio di via« – eine Aufforderung zum Verlassen des Landes innerhalb von zwei Wochen – auszuhändigen, und das »Problem» würde sich durch Weiterwanderung von selbst lösen, stellte sich zunehmend als Trugschluss heraus, und die Zahl der »clandestini« stieg auf eine Ziffer, die man in den vergangenen fünfzehn Jahren mehr oder weniger konstant bei einigen Hunderttausend vermutete.

Wie nicht anders zu erwarten, reagierte der italie-nische Staat auf diese Entwicklung repressiv und mit einem Bedürfnis nach Kontrolle. In mehreren Schritten wurden seit 1990 gesetzliche Regelungen für die Einwanderung erlassen: Mit den Dini-Dekreten von 1995 schwenkte Italien in der Ausländergesetzgebung prinzipiell auf die harte Linie der anderen Schengen-Länder ein, auch wenn sich die Dekrete gegenüber den repressiven Standards Nordeuropas eher als Stückwerk ausnahmen und ihre praktischen Folgen zunächst gering blieben. Schließlich führte die Regierung Prodi 1998 mit dem ersten »modernen« Ausländergesetz, der legge 40 / 98, die Politik der quotierten Einwanderung ein. Gleichzeitig schuf das Gesetz auch institutionelle Voraussetzungen für Registrierung und Abschiebung »unerwünschter» EinwandererInnen, wie etwa die Internierung in Lager zum Zwecke der Abschiebung; Maßnahmen, die zuvor zwar in Zeiten des angeblichen »Flüchtlingsnotstandes« immer wieder spontan praktiziert wurden, die aber gerade deshalb auch oft ineffektiv blieben.

In Verbindung mit den verschiedenen Gesetzesverschärfungen zur Kontrolle der Immigration wurden 1990, 1992, 1995 und 1998 Legalisierungskampagnen durchgeführt, im Zuge derer »clandestine« EinwandererInnen, die bestimmte Bedingungen erfüllten, ein wiederum an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht erhielten. Bei jeder dieser »Sanatoria« genannten Legalisierungen partizipierten zwischen 200 000 und 250 000 Personen. Zwar erhielt jeweils ein großer Teil der AntragstellerInnen schließlich einen legalen Aufenthaltsstatus, dies aber erfolgte keineswegs automatisch, sondern als Resultat harter politischer Auseinandersetzungen.

»Clandestine» Einwanderung: Arbeit und Wohnung
Die Einwanderung nach Italien ohne Papiere bedeutet zunächst eine Zeit extrem prekärer Lebensbedingungen, die nicht nur von der sporadischen, aber dann umso härteren, polizeilichen Repression geprägt ist, sondern auch von der Ausbeutung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.

In den großen Städten wie Neapel, Mailand oder Rom finden einige der Neuangekommenen eine Zwei- oder Dreizimmerwohnung in der Peripherie, die sich dann oft fünf bis zehn BewohnerInnen teilen. Eine solche Unterbringung bedeutet jedoch nicht selten Anfahrtszeiten von bis zu zwei Stunden zum Arbeitsplatz. Wer nicht zu diesen vergleichsweise Glücklichen gehört, ist auf Community-Angebote angewiesen, wie zum Beispiel das Einwandererhotel in der Nähe der Piazza Vittorio in Rom, das nur zu festen Zeiten betreten und verlassen werden darf, und in dem ein Bettplatz pro Monat an die 600 000 Lire kostet. Daneben existieren die Arbeitsgelegenheiten für Hausangestellte, die zwar extreme Ausbeutung, aber wenigstens auch ein Dach über dem Kopf mit sich bringen. Schließlich bleibt als unterste Kategorie die »Baraccopolis« der Roma-Lager.

Die geografische Verteilung der »clandestinen« bzw. »regularisierten« Einwanderung spiegelt die inneritalienische Arbeitsteilung zwischen Zonen informeller bzw. formeller Ökonomie: Während im ländlichen Süditalien und Sizilien sowie in Rom und anderen Großstädten sich die erste Phase der Einwanderung unter sozial schwierigsten Bedingungen abspielt, verlassen die meisten EinwandererInnen diese Orte nach einer eventuellen Legalisierung, um in den Marken, in der Toskana oder den kleineren Städten Norditaliens nach besserer Arbeit zu suchen, welche in der dort verstreuten kleinen und mittelständischen Industrie durchaus zu finden ist. In gewisser Weise stellt sich so die alte Binnenmigration wieder her aus dem Süden, dessen Funktion in der Landwirtschaft und der billigen Reproduktion einer industriellen Reserve-armee besteht, in den »produktiven« Norden, wo zur Vermeidung chaotischer Zustände ein schärferes Arbeitsregime herrscht.

Neben Beschäftigungen in Landwirtschaft und Bau ist der selbstständige Handel eine Möglichkeit, sich durchzuschlagen. Die ambulanten Händler beziehen ihre Waren von italienischen Kleinkriminel-len, die sie mit nachgebrannten CDs oder mit »vom Laster gefallener« Ware versorgen, kaufen in chinesischen oder bangladeshi Import-Exportgeschäften oder aus kleinen, von Landsleuten betriebenen Produktionen, wie z. B. dem afrikanischen Kunsthandwerk oder den Werkstätten für die Imitate italienischer Modeartikel. Ein Straßenhändler oder eine Straßenhändlerin kann damit rund 1 Mio. Lire im Monat verdienen; ein Betrag, von dem man zwar keine normale Wohnung bezahlen, mit dem man sich aber irgendwie über Wasser halten kann. Die ambulanten HändlerInnen leben damit nicht unbedingt schlechter als die abhängig Beschäftigten: In Rom z. B. verdient ein Elektriker sans-papiers zwischen 25 000 und 35 000 Lire pro Arbeitstag, Arbeit gibt es meist auf Abruf, der Betrug um Teile des Lohns ist geradezu obligatorisch. Die Bedingungen für ungelernte ArbeiterInnen sind noch schlechter. Haus-angestellte erhalten, vorausgesetzt es wird überhaupt gezahlt, für einen rund-um-die-Uhr Job ca. 1 Mio. Lire im Monat plus Kost und Logis.

Eine Alternative zu dieser Art des Überlebens bieten die besser organisierten Communities, allen voran die chinesische. Zwar sind chinesische EinwanderInnen wie viele andere auf den gefährlichen Einreiseweg über den Kanal von Otranto angewiesen, doch für die einmal im Lande Angekommenen bemüht sich die chinesische Gemeinschaft, die Risiken der »Illegalität« zu vermeiden, weshalb die Versuche, diese erfolgreiche Konkurrenz der italienischen Kleinbourgeoisie zu kriminalisieren, meist ins Leere laufen. Berühmt wurden z. B. die »7000 unsterblichen Chinesen von Florenz«, in deren diese Zahl umfassenden legalen Community nie ein Todesfall gemeldet wurde – warum sollte man auch ein gültiges Aufenthaltspapier verfallen lassen?

Die Legalisierung von 1998
Das Gesetz Nummer 40 von 1998, mit den Stimmen der Mitte-Links-Koalition und der kommunistischen Opposition verabschiedet, stellt den ersten synthetischen Versuch einer Regulierung der Einwanderung in Italien dar. Das Kernstück dieses Regelungswerkes bilden die jährlich festzusetzenden Quoten, die einen legalen Mechanismus für die von der Wirtschaft nachdrücklich eingeforderte Einwanderung in Gang setzen sollen. Nachdem man die Quote mit Rücksicht auf die rechte Propaganda 1998 auf 37 000 festsetzte, sieht sie für das laufende Jahr 89 000 Anwerbungen, meist über Kontingente aus Tunesien, Albanien und anderen Mittelmeerstaaten, vor.

Teils als politisches Zugeständnis an die parlamentarische Linke, teils als Versuch eines Schlussstriches unter die chaotische Zeit der ungeregelten Einwanderung, sah das Gesetz 40 / 98 neben einer verstärkten Kontrolle der Einwanderung auch die Möglichkeit der Legalisierung für die sich im Land befindlichen »heimlichen« EinwanderInnen vor. Die alltäglichen Kämpfe um diese an die Bedingungen Arbeit, Wohnung und Einreise nach Italien vor dem März 1998 geknüpfte »Sanatoria«, besonders um die Anerkennung der vorzulegenden Beweise durch die Behörden, waren das hauptsächliche Feld der Auseinandersetzung für die Mobilisierungen der MigrantInnen und der antirassis-tischen Bewegung in den vergangenen drei Jahren.

In dieser Situation, in der von den Mobilisierungen vor allem materielle Erfolge, d. h. eine möglichst große Zahl von Aufenthaltsgenehmigungen, erwartet werden durfte, entwickelten sich unterschiedliche politische Positionen, die erst nach und nach in der ra-dikalen Forderung »Papiere für alle« konvergierten. Die Probleme entstanden zuallererst daraus, dass staatlicherseits mit der Sanatoria keineswegs an die Legalisierung von Einwanderung, sondern an die Legalisierung abhängiger Arbeitsverhältnisse gedacht war. Dies schlug sich zum Beispiel in einer Sonderquote für die Legalisierung von selbstständig Arbeitenden, etwa der ambulanten HändlerInnen, nieder, die für ganz Italien auf 7000 Personen beschränkt wurde. Auch war die durch die irregulären Arbeitsverhältnisse zurecht befürchtete Erosion der geregelten Arbeitsverhältnisse der Hebel gewesen, mit der eine weitgehend sozialdemokratische Regierung und die kommunistische Opposition die Legalisierung in das System ihrer Klientelpolitik eingepasst hatten. Also standen die Communities und die antirassistische Bewegung vor der Schwierigkeit, einerseits »Geschäfte mit dem Teufel«, also der Ausländerverwaltung in den Polizeipräsidien, zu machen, andererseits aber die Geschäftsbedingungen nicht zu akzeptieren, da diese große Teile der Illegalisierten ausgeschlossen hätten.

Dieser Widerspruch lässt sich nicht einfach durch die Postulierung eines Menschenrechts auf Papiere aus der Welt schaffen, denn so schön und richtig diese Forderung auch ist, so wenig aussagekräftig ist sie in Bezug auf ihre Durchsetzung. Um es mit den drastischen Worten Hannah Arendts zu sagen, »haben die Menschenrechte immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen vertreten zu werden, de-ren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein Geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied«. Der Kampf um die Papiere kann sich, ohne bedeutungslos zu werden, nicht wirklich von den Bedingungen emanzipieren, unter denen sich der Eintritt der EinwanderInnen in die Gesellschaft des Einwanderungslandes vollzieht, und das sind nach Lage der Dinge die Arbeit und das damit verknüpfte Ausbeutungsinteresse. Dementsprechend wurde in der taktischen Argumentation gegenüber der Gegenseite und der Öffentlichkeit ungeachtet der prinzipiellen Forderung nach »Papieren für alle« immer wieder auf den von MigrantInnen geleis-teten Beitrag zur italienischen Gesellschaft verwiesen, dem nun durch die Legalisierung eine Anerkennung zuteil werden müsse. Und es soll hier schon einmal vorgegriffen werden, dass die Selbstorganisation der MigrantInnen und die radikale antirassistische Bewegung ihren größten Erfolg erzielte, als die sozialdemokratischen Gewerkschaften unter dem Druck der Mobilisierungen sich diese letztere Argumentation zu eigen machten und die Forderung nach Papieren für alle sabotierten – dafür aber in der Regierung die Legalisierung von weiteren 50 000 »clandestini« durchsetzten.

Die Ambivalenz der Sanatoria für die Durchsetzung der Bleiberechtsforderung hätte so schon in einem frühen Stadium zu einer Spaltung der Bewegung in einen »radikalen« und einen »pragmatischen« Teil führen können, wenn nicht der Rassismus und die Diskriminierungen der italienischen Verwaltung dafür gesorgt hätte, dass auch die nach dem Gesetz Anspruchsberechtigten ihrem Ziel, den Papieren, keinen Schritt nä-her kamen. Stattdessen wurden, wie ein »sans papiers« es formulierte, die echten Beweise in Zweifel gezogen und die gefälschten akzeptiert. Schwarzhandel mit »Beweisen«, extra Gewinnmitnahmen der Chefs für fingierte oder tatsächliche Arbeits- und Mietverträge und polizeiliche Korruption erlebten eine Blütestunde. Außerdem »blockierte« sich die Sanatoria, bevor sie richtig begonnen hatte, an der festgesetzten Quote von 37 000 Aufenthaltserlaubnissen, denen über 200 000 Anträge gegenüberstanden. Die Bearbeitungszeit für einen Antrag betrug in der Regel eineinhalb bis zwei Jahren und während dieser Zeit wurden zunächst die Anforderungen im-mer wieder verschärft.

Dies alles führte zu Verärgerung und Verbitterung unter den EinwandererInnen, die sich mit zunehmender Ungeduld und Radikalität organisierten, da sie auch wussten, dass die sich bietende Chance so schnell nicht wiederkommen würde. Dafür verfügte die Community-Struktur in den großen Städten über vergleichsweise gute Voraussetzungen. Politische und kulturelle Vereine brachten ihre Mitglieder auf die Strasse und in den größeren Städten gab es wöchentlich von einzelnen Gruppen oder auch Bündnissen Kundgebungen, Demonstrationen oder Entsendung von Delegationen, an denen auch die italienischen oder »gemischten« antirassistischen Gruppen regen Anteil nahmen. Viele der »clandestini« wurden, indem sie die Mechanismen der Heimlichkeit und des Sich Versteckens durchbrachen, so zu den Protagonisten der Mobilisierungen.

Die Bewegung gegen die Abschiebelager
Schon während der laufenden Legalisierungskampagne verschärfte sich die Repression gegen die illegalisierten EinwandererInnen. Bis zum Ende des Jahres 1998 waren in den großen Städten Mailand, Turin und Rom knastähnliche Strukturen entstanden, die von den Behörden beschönigend »Zentren zur Erstunterbringung« genannt wurden. In diesen »Zentren« wird gemäß dem Gesetz 40 / 98 Abschiebehaft mit einer Dauer von bis zu einem Monat vollzogen. Oft in Verbindung mit rassistischen Aufläufen der verbliebenen italienischen AnwohnerInnen verstärkten Polizei und Carabinieri die Kontrollen in den Vierteln der EinwanderInnen und auf dem Straßenstrich oder veranstalteten Razzien mit wahllosen Verhaftungen in den Romalagern der großstädtischen Peripherie.

Neben diesen auf die Kontrolle der Communities ausgerichteten Strukturen existieren in Sizilien und Süditalien weitere Internierungslager, in denen die lokalen Behörden »Sicherungshaft« zur Feststellung der Personalien der neuankommenden Bootsflüchtlinge vollziehen. Insbesondere die deutsche Regierung hatte Italien immer wieder gedrängt, die so Einreisenden effektiv zu registrieren, um sie nach dem Schengener Prinzip der Zuständigkeit des Erstauf-nahmelandes von einem Asylverfahren in der BRD auszuschließen.

Erst nach und nach wurden die Abschiebezentren von der antirassistischen Bewegung in Italien wahrgenommen. Zwar gab es in Mailand eine gewisse Kontinuität von Demonstrationen und Protestaktionen gegen den dortigen Abschiebeknast in der Via Corelli, doch blieben diese Proteste relativ isoliert. Das änderte sich durch die Protestaktion von ca. 20 Abschiebegefangenen im Haftzentrum »Serraino Vulpitta« im sizilianischen Trapani, die am 29. Dezember 1999 in ihrer Zelle Feuer legten, um die Öffnung der Tür zu erzwingen. Als die Schließer, die es nicht eilig hatten, die Tür endlich öffneten, kam für drei der Gefangenen bereits jede Hilfe zu spät. Ebenfalls über Neujahr starb Mohammed Ben Said aus Marokko unter ungeklärten Umständen im römischen Abschiebeknast »Ponte Galeria«.

Durch diese Ereignisse aufgerüttelt, demonstrierten antirassistische Gruppen und MigrantInnen Mitte bis Ende Januar in verschiedenen Städten und einigten sich auf drei gleichzeitige überregionale Demonstrationen in Florenz, Mailand und Palermo am 29. Janu-ar 2000. Auch die Rifondazione Communista (PRC) rückte von dem Gesetz 40 / 98, das sie selbst mit verabschiedet hatte, ab und kritisierte die Abschiebegefängnisse, die in einem von vielen Gruppen und Intellektuellen unterzeichneten Appell als »campi-lager« oder »lager dello stato«, Lager des Staates, denunziert wurden. Diese Polemik verbreiterte die Diskussion über die antirassistisch engagierten Gruppen hinaus und führte zur Mobilisierung eines wesentlich breiteren, antifaschistischen und der PRC nahestehenden Spektrums. Die Tageszeitung il manifesto veröffentlichte über mehr als zwei Wochen fast täglich Doppelseiten über die Haftzentren und die Bewegung dagegen.

Am 29. Januar 2000 demonstrierten um die 5000 Menschen in Palermo und jeweils 10 000 – 15 000 in Florenz und Mailand. Harte Auseinandersetzungen mit der Polizei ereigneten sich in Neapel und Genua, als von DemonstrantInnen besetzte Züge, mit denen sie nach Mailand fahren wollten, von der Polizei blockiert wurden. In Mailand hatten das »centro sociale« Leoncavallo und die ita-lienweit organisierte Gruppe »Ya Basta« vor der Demo öffentlich klargestellt, dass man keineswegs die Absicht habe, vor dem Zaun der »Via Corelli« stehen zu bleiben. Die von einem breiten Bündnis getragene Demonstration teilte sich in der Nähe des Haftzentrums und während die einen stehen blieben, gingen autonome Gruppen mit vielen weis-sen Overalls – den »tute bianche« – und sogenannten »Schlauchbooten«, aufgeblasenen zusammengebundenen LKW-Schläuchen, mit denen man knüppelschwingende Polizisten auf Distanz hält, auf das Polizeispalier zu. Es folgte eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung, in der die Polizei nicht mit Tränengas sparte. Nach wenigen Minuten wurde sie unterbrochen und auf Vermittlung eines grünen Senators einigte man sich auf einen Kompromiss, demzufolge eine Delegation von 50 DemoteilnehmerInnen und sieben JournallistInnen die »Via Corelli« betreten und mit den Gefangenen sprechen durfte. Im Vorfeld hatte es bereits politischen Druck auf Innenminister Biancho gegeben, worauf dieser zwar an den Abschiebeknästen insgesamt festhielt, aber die Schließung der »Via Corelli« wegen »inhumaner Zustände« in Aussicht gestellt hatte. Der Tag endete so mit einem unerwarteten Teilerfolg, an den die Bewegung in der Folgezeit leider nicht mehr anknüpfen konnte: Eine Demonstration in Rom blieb einige Wochen später mit »nur« 4000 TeilnehmerInnen hinter den vorangegangenen Mobilisierungen zurück, und ein halbes Jahr später wagten das Innenministerium und die konservative Mailänder Stadtregierung die Eröffnung eines modernisierten Zentrums in der »Via Corelli«.

Kämpfe um die Erweiterung der Legalisierung von 1998
Bis zum Anfang des Jahres 2000 waren durch die Behörden, teils mit Hilfe lokaler Mobilisierungen oder Rechtsberatungen antirassistischer Gruppen, schon einige Aufenthaltserlaubnisse ausgeteilt worden, doch auch Ablehnungen und Abschiebungen fanden statt. Sozusagen mit dem Abbröckeln der Bewegung gegen die Abschiebeknäste verabredeten linke und antiras-sistische Gruppen und die Basisgewerkschaften CoBas eine antirassistische 1. Mai Demonstration auf Grundlage der Forderung »Papiere für alle« und gegen die Ausbeutung prekärer Arbeit. Gewidmet wurde sie dem rumänischen Arbeiter Ion Cazacu, der, als er bessere Arbeitsbedingungen forderte, von seinem Chef mit Benzin überschüttet und bei lebendigem Leibe verbrannt worden war.

Begünstigt wurde die Mobilisierung durch den Verzicht der vereinigten Gewerkschaften Cigil, Cisil und Uil auf ihre traditionellen 1. Mai Kundgebungen in Rom, sozusagen zu Ehren des »heiligen Jahres« der katholischen Kirche. Viele Gewerkschaftsmitglieder waren mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und insbesondere Teile der ex-kommunistischen Cigil beschlossen, auch für die »radikale« Demo zu mobilisieren. 60 000 TeilnehmerInnen, darunter mehrere zehntausend EinwanderInnen, antirassistische AktivistInnen, GewerkschaftlerInnen, Militante der centri sociali, gegen die Entlassung kämpfende Pirelli ArbeiterInnen, schwullesbische KommunistInnen, UmweltaktivistInnen und viele andere feierten den 1. Mai kämpferisch auf der Piazza Narvona im Zentrum Roms. Der Erfolg dieser Demo an »ihrem« 1. Mai zeigte den vereinigten Gewerkschaften, dass sie die Frage nach den Lebens- und Arbeitsbedingungen der »clandestinen« EinwandererInnen nicht ignorieren konnten, ohne an dieser Stelle an Terrain zu verlieren.

Der Kampf, der schließlich zur De-Blockierung der ins Stocken geratenen Sanatoria von 1998 führte und als konkretes Ergebnis das Versprechen von weiteren 50 000 Aufenthaltserlaubnissen erbrachte, fand zwischen Mitte Mai und Oktober 2000 statt und nahm seinen Anfang im norditalienischen Brescia. Beim dortigen Polizeipräsidium waren zwischen 5 000 und 6 000 Legalisierungsverfahren anhängig, deren voraussichtlicher Ausgang wenig Gutes versprach. In dieser Situation entschloss sich die gut organisierte pakistanische Community Brescias in einer autonomen Entscheidung zu einem öffentlichen Hungerstreik vor dem Polizeipräsidium, um der Forderung nach den Papieren Nachdruck zu verleihen. Man ließ die Stadt wissen, dass man den Platz nur mit Papieren in der Hand verlassen würde, was angesichts der Mengen mitgeführter Matratzen durchaus nicht als leere Drohung verstanden wurde. Diese wochenlange Aktion der illegalisierten MigrantInnen, der sich insbesondere in Rom Gruppen von EinwandererInnen aus Bangladesch und Indien anschlossen, fand in der italienischen Öffentlichkeit starke Beachtung.

Der Druck auf die Mitte-Links Regierung wurde größer, nachdem neben vielen anderen Gruppen auch die Gewerkschaften die Forderung der Hungerstreikenden unterstützten und sich in die Verhandlungen zwischen einer per Reisebus angereisten Delegation und dem italienischen Innenministerium einschalteten. Die Regierung versprach endlich, über die in der Schwebe befindlichen Verfahren bald und »großzügig« zu entscheiden, sowie die abgelehnten Fälle, auf die keine Abschiebung erfolgte, wieder aufzunehmen. Alleanza Nazionale und die Lega Nord schäumten vor Wut und sprachen von einer neuen Sanatoria ohne Gesetz, zumal die re-examinierten Fälle nicht auf die Quote von 63 000 »permessi« für das Jahr 2000 angerechnet würden.

Nachdem vor der Sommerpause schon einige Hundert Papiere ausgeteilt worden wa-ren, startete am 21. Oktober die »Carovana dei diritti«, die Karawane für die Rechte, welche nach Kundgebungen in sieben Städten am 28. Oktober mit einer Abschlussdemo in Rom endete. Schon vor dem Ende der Karawane begannen die Polizeipräsidien in Rom, Bres-cia und einigen anderen Städten gemäß der neuen Kriterien, die vom Innenministerium als »gerecht und elastisch« definiert worden waren, die Aufenthaltserlaubnisse an Gruppen von täglich 50 Personen auszugeben.

Nach der Sanatoria ist vor der Sanatoria – frei nach diesem Motto beginnen verschiedene antirassistische Gruppen derzeit mit neuen Mobilisierungen, deren Ausgang nicht nur wegen des wahrscheinlichen Wahlsiegs der Rechten am 13. Mai sehr ungewiss ist. Auch die einsetzende Konkurrenz zwischen der quotierten und der »clandestinen« Einwanderung spricht dagegen, dass sich der zurückliegende Kampfzyklus einfach wiederholen lässt. Last but not least verlassen viele der »regularisierten« MigrantInnen nun mit den Papieren in Händen die großen Städte auf der Suche nach Arbeit und die erfahrenen AktivistInnen beginnen sich zu zerstreuen. In diesem Diversifizierungsprozess der Einwanderung wird viel darauf ankommen, ob der Antirassismus eine Verbindung zwischen verschiedenen Kämpfen, z. B. zwischen dem um das Bleiberecht und den Auseinandersetzungen in den kleinen Produktionsstätten, die oft das nächste Stadium der Einwanderung bilden, herstellen kann.

Hanno Gottschalk