Als ich Angelina Maccarones neuen Film Fremde Haut das erste Mal im Herbst 2005 im Kino sah, musste ich dabei sofort an Kimberly Pierces Film Boys Don’t Cry (USA 1999) denken. Die Filme weisen so viele inhaltliche und visuelle Parallelen auf, dass ich mich bereits während des ersten Sehens fragte, ob diese Ähnlichkeiten nur oberflächlich sind oder ob sie einer kritischen Analyse standhalten.


In beiden Filmen übertritt eine als biologisch weiblich eingeführte Person die Geschlechtergrenze indem sie sich als »Mann« ausgibt und verschiebt diese hin zu einer alternativen Form der Maskulinität. Sollte die »wahre« Identität bzw. das »wahre« Geschlecht entdeckt werden, würde beiden eine harte, lebensgefährliche Strafe drohen. Beide Hauptfiguren finden sich in einer provinziellen, ländlich geprägten Umgebung wieder, die gewöhnlich als homophob und xenophob dargestellt wird und wo rigidere Gesetze bezüglich Geschlecht und Sexualität zu herrschen scheinen als in der liberalen Großstadt (Halberstam 2005: 34 ff.). Beide Hauptfiguren (Siamak/Fariba und Brandon/ Teena) lernen jeweils eine Frau kennen und diese Frauen (Anne und Lana) scheinen aktiv an der Stabilisierung einer alternativen Realität mitzuwirken; nicht zuletzt weil die »andersartige Maskulinität« für diese Frauen attraktiv ist. Dennoch funktionieren beide Filme auf unterschiedliche Weise, wird in beiden Filmen ein anderer Schwerpunkt gesetzt: der eine legt den Schwerpunkt auf die fatale Übertretung der Geschlechtergrenzen, der andere betrachtet neben der Geschlechtergrenze auch die Überschreitung nationaler und ökonomischer Grenzen.

Fariba Tabrizi, die Hauptfigur in Fremde Haut, verlässt Teheran, weil ihre Affäre mit einer verheirateten Frau aufgeflogen ist und ihr die Bestrafung durch Steinigung droht. Die ausgebildete Übersetzerin flieht nach Deutschland und hofft auf ein freies Leben dort. Ihr Asylantrag wird abgelehnt, da sie aus Scham im Beisein des Übersetzers den wahren Grund ihrer Flucht zunächst verschweigt und auf politisches Asyl plädiert. Die einzige Chance nicht in den Iran zurück zu müssen, sieht Fariba darin, die Identität des Mitbewerbers Siamak Mustafai anzunehmen, der zuvor Selbstmord begangen hatte. Diese Plotkonstruktion bildet den Rahmen für Maccarones Untersuchung vom Zusammenspiel der eigenen Identität und den Machtverhältnissen, die diese beeinflussen. Was passiert, wenn nicht nur Land, kulturelle Umgebung, Großstadt, Freunde wegfallen, sondern auch Geschlecht und Sexualität verleugnet werden müssen, um das Überleben zu sichern?

Elementarer Angelpunkt beider Geschichten ist die Verwandlung einer biologisch weiblich vorgestellten Figur in einen möglichst authentisch wirkenden Mann. Abgesehen von den verschiedenen Gründen dieser Verwandlung, geht es sowohl in Fremde Haut als auch in Boys Don’t Cry essentiell um ein passing und die Konsequenzen des failing (vgl. Aaron 2001). Die Verwandlung in einen Mann wird in beiden Filmen jedoch unterschiedlich gewichtet und dargestellt. In Boys Don’t Cry wird bereits in den ersten Minuten des Films deutlich gemacht, dass Brandon/Teena biologisch eine Frau ist, die mit einem Kurzhaarschnitt und einem Socken in der Hose visuell zum jungen Mann wird. Später im Film gibt es eine weitere ausführlichere Aus- und Darstellung der Verwandlung, in der ebenfalls die typischen Bilder des Brustabbindens und der Ausstattung der Unterhose ritualisiert gezeigt werden. In Fremde Haut wird die erste Verwandlung von Fariba in Siamak hingegen gänzlich ausgelassen. Der Film springt ohne Erklärung vom Fund des toten Siamak zu einer kurzen Szene, die das Verschwinden Faribas andeutet, zur Szene von Siamaks/Faribas Anhörung. Dort sehen wir Siamak/Fariba nur von hinten, erst bei der Verkündung, dass sein Antrag auf Asyl positiv entschieden wurde, sehen wir Faribas Gesicht hinter Siamaks Brille. Wiederum zehn Minuten später wird für die Zuschauer_innen die »perfekte« Verwandlung gezeigt. Siamak/Fariba schleicht mitten in der Nacht in die Dusche des Asylbewerberheims, um den anderen Männern und einer Entlarvung zu entgehen. In einer dunklen Szene bei Kerzenschein sehen wir, wie Fariba den Brustverband entfernt (spätestens hier fragt man sich, wo sie den herhatte), duscht und später mit Maskara und Zahnbürste kleine Bartstoppeln auf ihr Kinn spritzt.

Diese unterschiedliche Platzierung der Frau-zu-Mann-Verwandlungen innerhalb der Plotstruktur lässt sich so lesen, dass die Motivationen der Hauptpersonen von Fremde Haut und Boys Don’t Cry völlig verschieden angelegt sind. Fariba wird in der Eingangssequenz im Flugzeug als moderne Frau eingeführt, die sich in die erhoffte Freiheit aufmacht. Fariba entscheidet sich innerhalb von wenigen Minuten dazu, Siamaks Identität anzunehmen, weil ihr diese Idee besser erscheint als die drohende Abschiebung und die sie im Iran erwartende Vergewaltigung, Folter oder gar Ermordung. Brandon/Teena hingegen wird zu Beginn des Films als ein_e jugendliche_r Cross-dresser bzw. transgender Person eingeführt. Aufgebrachte gay basher verfolgen Brandon und markieren das passing von Brandon/Teena als unzulänglich. Cousin Lonny redet auf Teena ein, sie müsse vorsichtiger werden. Wenig später beteiligt sich Brandon am sinnlos gefährlichen bumper skiing, er trinkt und prügelt sich und geht mit Mädchen aus. Brandon will sich in die white trash masculinity integrieren (Jahn-Sudmann 2004). Mehr noch, Brandon will nicht nur als ein Mann »durchgehen«, er ist dem Selbstverständnis nach einer. Dies zeigt sich auch in den Beteuerungen gegenüber Lana. Im Frauengefängnis verteidigt er seine Männlichkeit gegenüber Lana, erzählt von der »sexual identity crisis« und spricht von einem Geburtsfehler, den die Ärzte richten würden. Siamak/Fariba hingegen liegt nichts an einer langfristigen männlichen Identität. Siamak/Fariba versucht einen Pass für »seine Schwester« zu kaufen. Für ihr illegales Leben mit neuer Identität in Deutschland will Fariba wenigstens wieder in die Rolle einer Frau zurückwechseln können.

Trotz dieser unterschiedlichen Motivationen der Hauptfiguren geht es letztlich doch bei beiden Filmen um ein passing als Mann und die Konsequenzen des failing. Beide Figuren werden ähnlichen Authentizitäts-Prüfungen unterzogen: sind sie nicht ein bisschen zu glatt rasiert, haben eine zu zarte Haut, einen zu feinen Körperbau, zu kleine Hände und eine etwas zu hohe Stimme? Beide Filme funktionieren in diesem Aspekt sehr ähnlich: sie gehören nicht zu den klassischen Cross-Dressing-Komödien, in denen die Hauptfiguren für die Zuschauer_innen (nicht unbedingt für die anderen Figuren) so überdeutlich aus ihrer Geschlechterrolle fallen, dass die Übertretung nur als absurder Scherz wahrgenommen werden kann. Boys Don’t Cry und Fremde Haut lassen zwar auch den Zuschauer_innen einen Wissensvorsprung, hier dient dieser aber nicht der Komik-Erzeugung, sondern macht aus dem Publikum Komplizen in Sachen gender bending (vgl. Aaron 2004: 189 f.). Dennoch, oder deswegen, sind die Merkmale der Geschlechterüberschreitung und ein passing/failing entscheidend. Die Frauen im Film registrieren durchaus die untypisch feinen Körpermerkmale, beschließen aber diese bewusst oder unbewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie unterstützen also die alternative Realität und ein temporäres passing. Lanas Mutter bemerkt z. B. Brandons zarte Gesichtszüge und kauft ihm daraufhin sofort ab, er habe eine Schwester, die in Hollywood modelt. Lana erheischt einen Blick auf die abgebunden Brüste Brandons/Teenas, unterschlägt dies aber explizit ihren Freundinnen in der Schilderung ihrer Liebesnacht mit Brandon und dichtet im Gegenteil noch ein gemeinsames Nacktbaden hinzu. Obwohl die Frauen (intuitiv) Indizien gegen ein erfolgreiches passing sammeln, ziehen sie die alternative Version der Männlichkeit vor und fragen nicht viel nach. Hier greift die Erklärung, die Michele Aaron und Judith Halberstam für Boys Don’t Cry liefern: Die alternative Maskulinität, die Brandon verkörpert, ist für diese Frauen so attraktiv – besonders im Vergleich zu den gegebenen Alternativen –, dass sie über die »Unzulänglichkeiten« hinwegsehen (Aaron 2001, Halberstam 2001). Lana entscheidet sich lieber für den aufmerksamen und träumerischen Brandon, der die Chance auf einen Ausbruch aus der Provinz und das Weggehen nach Memphis, Tennessee, verspricht, anstatt auf die Avancen des Ex-Sträflings John Lotter einzugehen.

Die Besonderheit in Boys Don’t Cry ist, dass nicht nur Brandon, sondern auch Lana an der männlichen Identität Brandons festhält, obwohl Lana Brandon/ Teena aus dem Frauengefängnis holt, sie seine/ihre Anatomie kennt und von John und Tom gedrängt wird, Brandon als Teena zu sehen. Lana und Brandon schaffen durch den transgender gaze (Halberstam 2005: 83-92) ihre eigene Realität, eine gemeinsame Vision. Im Film manifestiert sich dieser transgender gaze durch die fast motion-Sequenzen in der Dämmerung wenn sich die beiden an einen fernen Ort träumen.

In Fremde Haut verhält es sich anfänglich ähnlich wie mit Boys Don’t Cry. Anne freundet sich mit Siamak an. Sie fühlt sich zu dem ruhigen, stolzen, empfindsamen Siamak hingezogen, der einen Hauch von Welterfahrenheit mit sich bringt, in der Millionenstadt Teheran gelebt hat und nun in einem fremden Land klar kommen muss. Eine Beziehung zu Siamak erscheint trotz der Kommentare ihrer Umwelt als eine attraktivere Alternative als wieder mit dem Jugendfreund Uwe auszugehen. Trotz ihrer Faszination ist Anne jedoch skeptisch. Parallel zum graduellen Kennenlernen streut der Film kleine Hinweise für Anne – die gleichzeitig einen Spannungsbogen für die Zuschauer_innen bilden, die sich fragen, ob Siamak/Fariba nun auffliegen wird –, um das »wahre« Geschlecht herauszufinden: Anne betrachtet eingehend Siamaks Hände; sie bemerkt das weiche Gesicht Siamaks/Faribas und ist über die Sensibilität erstaunt, als diese_r sie fragt, ob die Kaiserschnittnarbe noch schmerzen würde. Anne bemerkt daraufhin explizit, das hätte sie noch niemand gefragt, »zumindest kein Mann«. Schließlich bemerkt Anne in einem Gespräch mit Siamak, dass er sie »irritiere«.

All diese Hinweise deuten auf ein langsames Entdecken hin oder könnten, von der anderen Seite betrachtet, auch als ein graduelles Preisgeben und Vertrauen seitens Faribas gesehen werden. Dennoch werden bestimmte, für die Beziehung entscheidende Gespräche elliptisch ausgelassen. So wird z. B. die Erklärung für Faribas Flucht und ihre lesbische Identität im Gespräch zwischen Anne und Fariba on-screen nicht gezeigt. Bis zur Entkleidungs- und Sexszene zwischen den beiden Frauen ist für die Zuschauer_innen nicht klar, ob Anne vollkommen im Bilde ist. Diese Ellipse soll vielleicht die explizite Problematisierung der lesbischen Beziehung, also eine Betonung der Liebesgeschichte und damit eine Ablenkung von Faribas Geschichte oder ein kitschiges coming out Annes vermeiden. Diese Strategie der Auslassung erscheint aber inkonsequent, wenn die lesbische Affäre und ihre fatalen Konsequenzen im Iran den Ausgangspunkt für Faribas Geschichte bilden und eine der Aussagen des Films zu sein scheint, dass die deutsche Asylpolitik keine »privaten« und geschlechtsspezifischen Gründe anerkennt (Emma 2005). Im Vergleich mit Boys Don’t Cry liegt hier der deutliche Unterschied: in Fremde Haut wird keine gemeinsame anhaltende alternative Maskulinität aufgebaut oder ein transgender gaze etabliert.

In beiden Filmen können die Frauen besser mit der alternativen Maskulinität umgehen. Während sie diese stützen und für sich selbst nutzbar machen, stellt die alternative Maskulinität für die »realen« Männer eine grundsätzliche Bedrohung dar. In beiden Filmen wird dieser Angriff auf die »natürliche« Männlichkeit mit männlicher Gewalt geahndet. In Boys Don’t Cry gelten für John und Tom nur biologische Tatsachen. Nachdem sie den Polizeibericht mit Teena/Brandons Geschwindigkeitsüberschreitung gefunden haben, durchsuchen sie Brandons Sachen und finden eine Broschüre über Transsexualität. Daraufhin wollen sie das »wahre« Geschlecht Brandons/Teenas herausfinden. Sie geben sich nicht mit Lanas Zusicherung zufrieden, Brandon sei ein Mann. Sie wollen mit eigenen Augen sehen und lassen nur das Vorhandensein eines Penises als »wahren« Beweis der Männlichkeit zu. Nachdem Brandon von John und Tom gewaltsam entblößt wurde, nehmen sie ihn/sie mit und vergewaltigen ihn/sie mit der Begründung, Teena hätte sich das nach der Täuschung der beiden in Bezug auf ihre Identität und Freundschaft selbst zuzuschreiben. Als Brandon nach den Misshandlungen im Krankenhaus untersucht wird und die Polizei nach ihrer Anzeige, John und Tom vorlädt, sehen sie es als gerechtfertigt, Brandon für diesen Verrat zu erschießen. In Boys Don’t Cry besteht die Bedrohung der Maskulinität vor allem in der Täuschung.

In Fremde Haut funktioniert die Handlungsstruktur ähnlich. Uwe ist eifersüchtig, er versucht Siamak einzuschüchtern, er fordert ihn ständig heraus, beschimpft ihn, macht sich über ihn lustig. Neben männlicher Rivalität und Eifersucht spielt hier auch Rassismus eine Rolle. Dies kommt ebenfalls in der finalen Auseinandersetzung zum Ausdruck, als Uwe und Hermann Fariba überraschend in (femininer) Unterwäsche in der Küche entdecken. Uwe ist getroffen, dass seine Männlichkeit durch einen ausländischen Rivalen ausgestochen wurde. Aber er ist schlicht sprachlos als er entdeckt, dass sein Rivale eine Frau ist. Hermann wiederum kann dies nicht mit ansehen und hetzt gegen Fariba: »Du denkst, du kannst hier her kommen und alles kaputt machen?« und zu Uwe: »Wegen der? Wegen ‘ner Frau?« Eine tätliche Auseinandersetzung beginnt, in der Fariba aus dem Haus entkommen will und dabei der Polizei direkt in die Arme läuft, was eine Festnahme und schließlich die Abschiebung nach sich zieht.

Die Misshandlungen und Vergewaltigung, die den gewaltsamen Höhepunkt in Boys Don’t Cry ausmachen – die erstens visuell dargestellt und zweitens akustisch durch die Polizeibefragung wiederholt werden – werden in Fremde Haut (nur) verbal angedeutet. In der Aussprache mit Anne erläutert Fariba die möglichen Konsequenzen für ein offen lesbisches Leben im Iran: Verfolgung, Gefängnis, Folter, Vergewaltigung. Sie deutet an, dass sie diese bereits erfahren hat. Die (verbalen und tätlichen) Auseinandersetzungen mit Uwe und Hermann zeigen, dass die Bedrohung der Männlichkeit durch cross dressing und passing als Mann oder Lesbisch-Sein auch in Deutschland nicht besser geduldet werden als im Iran.

Wo Boys Don’t Cry eine transgender Geschichte fokussiert, präsentiert Fremde Haut eher eine transnationale cross-dressing/trans-gender Geschichte. Wo Boys Don’t Cry sich auf die Schwierigkeiten im Genderwechsel konzentriert, da will Fremde Haut andere Komponenten hervorheben, die in Boys Don’t Cry ausgelassen oder vereinfacht wurden: race, Ethnizität, class. Verschiedene Filmwissenschaftler_innen weisen darauf hin, dass in Kimberly Peirces Filmfassung der Geschichte des Mordes an Teena/Brandon explizit der Fakt ausgelassen wird, dass neben Brandon und Candace eine weitere Person getötet wurde. Lanas Schwester hatte einen leicht körperlich behinderten, afro-amerikanischen Freund, der ebenfalls ermordet wurde. Die Kritik richtet sich dementsprechend gegen die grobe Vereinfachung der Motivation der Mörder. Im Film wird diese auf Homo-/Transphobie und Verrat reduziert, während einerseits Rassismus und Hass gegen Andersartigkeit im größeren Rahmen ausgeblendet werden und andererseits eine implizite negative Klassenkonnotation der white trash-Gesellschaft gezeichnet wird (Halberstam 2001, White 2001, Henderson 2001, Jahn-Sudmann 2004). Fremde Haut versucht hingegen neben dem Gender-Fokus auch den damit verzahnten Aspekten Ethnizität und class gerecht zu werden. Was sowohl die Plotkonstruktion wie auch die Analyse verkompliziert, aber Idee und Geschichte umso spannender macht.

Als Siamak muss Fariba nicht nur eine andere, »männliche« Körpersprache lernen, sie verliert auch ihre Stimme (als Frau) im vermeintlich freien Land. Von der fließend deutsch sprechenden Übersetzerin wird Fariba zum wortkargen Siamak, denn zum einen kann er kein oder nur sehr wenig deutsch. Zudem ist es in ihrem mehrfach illegalen Status (die Aufenthaltsgenehmigung ist nur befristet, Siamak hat keine Arbeitserlaubnis, und eigentlich ist Fariba ja gar nicht Siamak) eher ratsam, so wenig wie möglich zu erzählen, um sich nicht noch weiter in Lügengeschichten zu verstricken. Zum anderen sollte man mit einer (für einen Mann) relativ hohen Stimme nicht zu viel sprechen, wenn man(n) nicht auffliegen will. Für Brandon war dieses Problem in Boys Don’t Cry mit seiner allgemeinen zarten Statur und seiner Jugend weg-erklärt worden.


Neben den Schwierigkeiten des Gender-Wechsels muss Fariba/Siamak auch die Unterdrückung in der Position als Asylbewerber und Ausländer erfahren. Von der Position der verdeckt lesbisch lebenden Großstädterin mit Universitätsabschluss muss Fariba in die Position des weitgehend rechtlosen Asylbewerbers mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung ohne Arbeitserlaubnis wechseln. Dieser Flüchtlingsstatus bringt einen Klassenabstieg mit sich, der typisch ist für den Wechsel von Lokalität und Kultur (Castro Varela 2005). Dennoch könnte man mutmaßen, dass der temporäre Geschlechterwechsel die Möglichkeit der (illegalen) Erwerbstätigkeit steigert – wenn auch dies wiederum der Grund für die Notwendigkeit eines Passkaufes (als Basis für ein zukünftiges Leben als Frau) darstellt.

Trotz der vielen Ähnlichkeiten ist Fremde Haut doch mehr als eine deutsche Version von Boys Don’t Cry. Kimberly Peirces Boys Don’t Cry ist die Fiktionalisierung und damit Simplifizierung eines Falles von tödlich endender Transphobie, während Angelina Maccarones Film Fremde Haut versucht, die Geschichte des Geschlechterwechsels zu verkomplizieren, indem nicht nur eine lesbische Geschichte erzählt wird, sondern eine Geschichte der Grenzüberschreitung – von Frau zu Mann, von Homosexualität zu Heterosexualität, vom Iran nach Deutschland. In Boys Don’t Cry ist der Kontext zugegebenermaßen etwas komplizierter. Da Boys Don’t Cry auf einer wahren Lebensgeschichte basiert, gab es nicht nur in Bezug auf den Film, sondern generell bezogen auf Brandon/Teenas Leben harte Diskussionen um Vereinnahmung. Sowohl lesbisch-schwul ausgerichtete als auch transgender Organisationen benutzten Brandons Lebensgeschichte, um auf Gewalterfahrungen von Queers aufmerksam zu machen (vgl. Halberstam 2005, bes. »The Brandon Teena Archive« 22-46). Peirce versucht die Komplexität der Realität mit Hilfe einer traditionellen Liebesgeschichte in den Griff zu bekommen. In der frei fiktional entworfenen Geschichte von Maccarone, die nicht im selben Maße Vorgaben gerecht werden muss, geht es dagegen um eine gedankliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Elementen, die eine Identität ausmachen und eben um die komplexe Verflechtung dieser. Dafür werden zeitweise Ansprüche auf absolute Glaubwürdigkeit suspendiert (wie der unerklärte Sprung vom Fund Siamaks Leiche zur Identitätsannahme durch Fariba), um eine Geschichte zu entspinnen, die dann stellenweise versucht, umso realistischer zu agieren (siehe das trostlose, ausländerfeindliche Leben in der schwäbischen Provinz). Mit Fremde Haut wurde nun der vereinfachten Version einer grausamen transgender Geschichte in Boys Don’t Cry eine Geschichte zur Seite gestellt, die auf ihre Weise versucht transgender im weitesten Sinne zu denken. Herausgekommen ist dabei ein Film über deutsche Politik und transnationale queere Identität.

Skadi Loist

 

*.credits
Ich danke Uta Schirmer, Susanne Scharf und Katja Schumann für ihre Anregungen und kritische Lektüre.

*.ref
Fremde Haut / Unveiled / In Orbit (working title). 2005, 97 min, Deutschland/Österreich. Regie/Buch: Angelina Maccarone. Buch/Kamera: Judith Kaufmann. Darsteller_innen: Jasmin Tabatabai (Fariba Tabrizi), Navíd Akhavan (Siamak Mustafai), Anneke Kim Sarnau (Anne Lehmann), Leon Philipp Hofmann (Melvin Lehmann), Hinnerk Schönemann (Uwe), Monika Hansen (Waltraud), Jürgen Mielke (Hermann), Nina Vorbrodt (Sabine). Schnitt: Bettina Böhler. Musik: Jacob Hansonis. Produzenten: Ulrike Zimmermann, Markus Fischer. Produktion: MMM Film Zimmermann/Fischer Film. Verleih: Ventura, Wolfe USA.
Boys Don’t Cry / Take It Like a Man (working title). 1999, 118 min, USA. Regie/Buch: Kimberly Peirce. Buch: Andy Bienen. Darsteller_innen: Hilary Swank (Brandon Teena), Chloë Sevigny (Lana Tisdal), Peter Sarsgaard (John Lotter), Brendan Sexton III (Marvin Thomas »Tom« Nissen), Alicia Goranson (Candace), Alison Folland (Kate). Kamera: Jim Denault. Schnitt: Tracy Granger, Lee Percy. Musik: Nathan Larson. Produzenten: Joseph Sharp, John Hart, Eva Kolodner, Christine Vachon. Produktion: Hart-Sharp Entertainment, Independent Film Channel, Killer Films. Verleih: Fox Searchlight, 20th Century Fox.
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