Seit `68 geht ein Gespenst um in der Linken – das Gespenst der Situationistischen Internationalen (SI). Damals erlangte sie größere Bekanntheit, indem sie als revolutionäre, gleichsam antiavantgardistische Avantgarde die Bewegung der Besetzungen in Frankreich maßgeblich beeinflusste und somit Teil der französischen Staatskrise im Mai `68 war. Die SI hoffte im Gegensatz zu so vielen anderen Linken nicht auf ein vermeintlich revolutionäres Subjekt im Trikont, sondern setzte am Alltag der entwickelten Industrienationen an – in der »Gesellschaft des Spektakels«.

Im Spektakel, so Guy Debord (wesentlicher Protagonist der SI), habe das Kapital einen solchen Akkumulationsgrad erreicht, dass es »in eine Vorstellung entwichen«, zum Bild geworden sei: wo es früher ums Haben gegangen sei, da gehe es nun vielmehr ums Scheinen, um den Konsum von Bildern zur Befriedigung entfremdeter »Pseudobedürfnisse«.

Der kompromisslose Stil der SI und ihr radikaler Bezug auf die allgemeine elende Unzufriedenheit in einer Gesellschaft des materiellen Überflusses bilden ein Faszinosum, das schließlich selbst spektakulär konsumierbar wurde, und z.B. Malcolm McLaren dazu diente, im Produkt »Punk« eine neue Form der Konsumierbarkeit der eigenen Unzufriedenheit zu entwerfen. An Kunsthochschulen stößt mensch sich heutzutage an der von der SI geforderten »Aufhebung der Kunst« und trauert der Anfangsphase der SI hinterher, als diese noch stärker an Dada, Surrealismus und Lettrismus orientiert war. Von linksliberaler Seite wurden die Schriften der SI oft verkürzt als reine Medien- und Konsumkritik rezipiert, so dass mitunter auch durch den einen oder anderen Feuilleton situationistische Zitate geisterten. Und zitiert werden, als hohle theoretische Autorität für irgendwelches pseudokritisches Gelalle angeführt zu werden, das war so ungefähr Letzte, was die SI wollte – ihre Mitglieder hatten vielmehr den Anspruch, gegen das spektakuläre Zitieren revolutionärer Gedanken eine Entwendung bzw. Aneignung derselben zu betreiben, um damit – im Sinne einer Erkenntnis, die keine theoretische Erkenntnis bleiben kann – praktisch auf eine revolutionäre Situation hinzuarbeiten, die jede Umkehr unmöglich machen und eine Aufhebung des bestehenden Elends leisten würde.

Diesen Anspruch stellen auch die Autor_innen des Buches » Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung« an sich und ihr Produkt, dessen zweiter Band vor wenigen Wochen in der theorie.org-Reihe des Stuttgarter Schmetterlingverlags erschienen ist; und mit dem Anspruch der Aneignung schießen sie weit über die Einführungen hinaus, die dort normalerweise erscheinen. Zum einen in Bezug auf den Umfang – in Vol. I wird die situationistischen Revolutionstheorie erläutert, Vol. II. ergänzt die kritischen Anmerkungen, die in Vol. I keinen Platz mehr fanden – als auch mit der Einladung zur Diskussion bzw. zum eigenen Weiterschreiben des Buches auf der bald online gehenden Homepage www.lareprise.org.

Der Duktus der beiden Bücher ist, soviel sei vorweg gesagt, weniger am zur Praxis drängenden Stil, der für SI charakteristisch war, orientiert; vielmehr zielt er auf ein kritisch würdigendes Durch-Arbeiten gemachter revolutionärer Erfahrungen. Wer sich diese „Arbeit am Begriff“ ersparen will und hofft, eine poplinke light-version situationistischer Theorie ohne Marx und Hegel serviert zu bekommen wird genauso enttäuscht werden wie jene, die schmissige Revoltenromantik erwarten und der Frage aus dem Weg gehen wollen, inwieweit situationistische Kategorien vor dem Hintergrund der Shoah noch Gültigkeit beanspruchen können.

Doch begriffliche Arbeit hat hier nichts mit entfremdeter Maloche zu tun. Den Autor_innen gelingt es, mit einer prägnanten (eigenen) Interpretation der Marxschen Wertformanalyse und Fetischkritik auch für Leute ohne Lesekurskarriere eine theoretische Basis zu schaffen, auf der dann in die situationistischen Grundbegriffe eingeführt wird: Spektakel, Rekuperation, Detournement, Psychogeographie... Neben den expliziten Bezügen der SI zu Hegel, Marx und Lukács wird dabei auch auf eher »unterirdische« Verbindungen eingegangen, etwa zu Walter Benjamin. Auch Freud nimmt für die Autor_innen eine zentrale Rolle ein: die Methode der SI wird hier als eine Art »revolutionärer Psychoanalyse« gefasst, mit der »dem gesellschaftlichen und historischen Verdrängungswiderstand durch ›Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten‹« entgegengewirkt werden soll.

Die Theorie-Praxis, die dieses Buch darstellt, orientiert sich dabei nicht zuletzt an einer leider nie stattgefundenen Auseinandersetzung zwischen Kritischer Theorie und SI: auch wenn Debords Spektakeltheorie in vieler Hinsicht an Adornos Theorie der Kulturindustrie erinnert, so klafft bei ihm doch an entscheidender Stelle eine Lücke – er hielt es, wie alle anderen Protagonist_innen der SI, nie für notwendig, sich eingehender mit dem Phänomen des Antisemitismus auseinanderzusetzen; der NS war für die SI nur eines unter vielen faschistischen Regimes, ein Beispiel für die »teuerste Art, den Kapitalismus aufrechtzuerhalten«. Für Adorno, für den die Shoa indes der Ausgangspunkt jeglicher Reflexion über Theorie und Praxis sein musste, bedeutete die Forderung einer Einheit von Theorie und Praxis nach dem Zivilisationsbruch die Unterordnung der ersteren unter die letztere, die Instrumentalisierung von Theorie für eine fetischisierte, bewusstlose Praxis.

Das Autor_innenkollektiv geht dem theoretischen Scheitern der SI, ebenso wie dem praktischen Scheitern der proletarischen Emanzipation und ihrem Zusammenhang mit der Shoah nach. Anstatt sich jedoch vorbehaltlos auf die Seite eines spektakulären »Adornismus« zu schlagen und den Anspruch auf revolutionäre Praxis schlichtweg aufzugeben, zielt dieses Buch mit der SI selbst über die SI hinaus. Jene hatte vertreten, dass mehr Rationalität in die Welt zu bringen die Voraussetzung sei, um ihr die Leidenschaft zu bringen. Damit agitierte sie schon im Ansatz selbst sowohl gegen die neigungslinke Fetischisierung des Proletariats als auch die theorielinke objektiv distanzierte Welterklärung.

Die vorliegende Aneignung produziert dabei eine spezifische, aktualisierte Sichtweise, indem sie die wertkritischen Teile in der situationistischen Theorie zum Angelpunkt nimmt. Für die Autor_innen liegt hier der geschichtlich am weitesten entwickelte Ansatz vor, den marxschen Fetischbegriff (in der zur Spektakelkritik weiterentwickelten Form) auf die Bemühungen zur Überwindung der bestehenden Totalität selbst zu beziehen. Die »Theorie der Praxis«, wie sie die SI konzipierte, ist darauf verwiesen, als radikale Forschungspraxis Bedingungen und Möglichkeiten auszuloten, die über das Bestehende hinaus führen. Diese Forschungspraxis ist strategisch aus der Reflexion über die derzeitigen Zustände heraus darauf gerichtet, das fetischisierte Bewusstsein anzugreifen. Dieses ist im modernen Kapitalismus als Spektakel wesentlich dadurch charakterisiert, dass es eine (waren-)konsumierende Passivität erzwingt und alle Begierden, die nicht darin aufgehen und darüber hinausführen könnten, notwendig verdrängt. Dabei wird das Spektakel als total in dem Sinne verstanden, dass es zunächst alles durchdringt, also auch die widerständischen Regungen und Kritiken. Es bedarf also ständiger Anstrengung (und nicht einfach subkultureller dionysischer Verausgabung wie viele die SI gern verstehen wollen) der revolutionären Kritik, sich der (Wieder-)Vereinnahmung (recuperation) durch das Spektakel zu erwehren. Hier dürfte auch der wesentliche Einsatz der Autor_innen liegen, der sich für die derzeitigen linken/revolutionären Bemühungen ergibt: Es kann nicht nur darum gehen, als »kritische Kritik« fetischisiertes Bewusstsein in der Bevölkerung auszumachen und sich selbst davon als frei abzugrenzen oder andererseits in pseudorevolutionärer Tat dessen Wirkung zu banalisieren.

Diesem Anliegen dient besonders die Sprache der Aneignung, die sicherlich nicht den mitreißenden polemisch-poetischen Stil der SI trifft, die aber wohl in Zeiten, in der linke marginalisierte Ansätze entweder in bewusstlos grenzenlosen Reformismus oder in wortreiche Pseudoradikalität verfallen, die einzig angemessene Form ist. Damit wird in die aktuellen Grabenkämpfe der Linken indirekt interveniert bzw. die Intervention besteht darin, dass sie die Vereinnahmung der SI für ein bestimmtes linkes Racket verhindert, deren Ansatz aber als Bezugspunkt für eine theoriegeleitete Praxis wieder neu ins Spiel bringt. Vor diesem Bezugspunkt werden viele der derzeitigen »innerlinken« identitären Auseinandersetzungen zu Marginalien.

Nico Hausmeister / HS

 

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Biene Baumeister, Zwi, Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung. Vol. I: Enchridion und Vol. II: Kleines Organon Stuttgart, Schmetterling Verlag, 2005