Eine neue Welle des Protests überschwemmt die Industrieländer. Überall finden fröhlich-provokative Aktionen auf der Straße statt. – Diesen Eindruck jedenfalls gewinnt man nach der Lektüre von Marc Amann’s »go.stop.act! Die Kunst des kreativen Straßenprotests«. Er sammelt Beiträge und berichtet über verschiedene politisch-künstlerische Aktionsformen, die sich vor allem seit den Anti-Globalisierungsdemonstrationen in Seattle 1999 und in Genua 2001 verbreitet haben. In kunstvollen Interventionen richten sie sich gegen das absurde Normale, versuchen, politisch aufzuklären, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen und manchmal auch, diese zu boykottieren.

Marc Amann hat viel gesammelt: Etwa über den Karneval, bei dem »die Unterdrückten die Stadt übernehmen und eine verkehrte Welt erschaffen«. In Laugh Parades werden staatliche Heilsversprechen kollektiv ausgelacht. Das Puppentheater nimmt symbolisch das gesellschaftliche Leben in die eigene Hand und ist ein »Spielen mit den Geistern, die uns quälen«. In Pink & Silver gekleidete Aktivisten zeigten sich zum ersten Mal in Prag 2000 und agieren seitdem mit »taktischer Frivolität«. Sie verkleiden sich in bizarren Kostümen – etwa halb in bacchantischem Ballkleid, halb als Rio-Karneval-Tänzerin und provozieren vor allem durch ihre ästhetische Potenz. Street Art entwirft symbolisch Angriffe auf die Funktionalität der Städte und wirkt mitunter, gegen die technokratische Gestaltung der Lebenswelt durch die städtischen Planungsbüros, als »Musealisierung von unten«. Flash Mobs entstehen wie folgt: Man verabredet sich per SMS oder E-Mail an einem bestimmten Ort und agiert gemeinsam, bricht etwa unerwartet in Jubel oder Verzweiflung aus, stimmt Gesänge an, betet oder lacht. So soll der »herrschenden Ordnung ihre Deutungsmacht abspenstig« gemacht werden. Straßenmusik und Straßentheater, illegales Anpflanzen von Gemüse, bis hin zur Aneignung des Internets zu Zwecken der Selbstorganisation – das Buch hält allerhand bereit.

»Auf einer vollgestopften Straße krachen zwei Autos ineinander und blockieren die Fahrbahn. Die Fahrer steigen aus und fangen zu diskutieren an, plötzlich hat einer der beiden einen Hammer und beginnt auf das Auto des anderen einzuschlagen. Die PassantInnen auf dem engen Gehweg zwischen der Straße und den Schaufenstern der Läden sind erstaunt. Plötzlich springen einige Leute aus der anonymen Menge am Straßenrand hervor, verspritzen Farbe, hüpfen auf die Autos. Und aus einer U-Bahn-Station strömen weitere 500 Menschen auf die Straße. Ein riesiges Banner wird über den beiden zerstörten Autos entrollt: ›Reclaim the Streets – free the City, kill the Car‹. Die Straße wird von der Menge übernommen. Die Leute tanzen zur Musik aus einem Soundsystem, das von Fahrrädern angetrieben wird. In der Mitte der Straße wird auf einer langen Tafel umsonst Essen verteilt. Kinder spielen auf einem Klettergerüst, das auf die Kreuzung gestellt wurde.«

So geschehen im Mai 1995 in London. Diese Aktion etwa gilt als »Geburt der Straßenparty als Taktik ... Sie verbreitete sich rasch über die ganze Welt – Manchmal nahmen Zehntausende teil, manchmal ein paar Hundert. Das magische Aufeinandertreffen von Karneval und Rebellion, Spiel und Politik ist so ein starkes Rezept und relativ einfach zustande zu bringen, etwas, das jede/r tun kann.«

Zahlreiche Aktionsformen kommen aus US-amerikanischen Großstädten wie San Francisco oder aus England. Die Aktivisten kommunizieren miteinander, bilden Netzwerke und lösen bisweilen erstaunliche Reaktionen aus, vor allem wenn die Staatsgewalt das Theater komplett macht. In Philadelphia umstellte die Polizei eine Fabrikhalle in der etwa 300 Puppen gebastelt worden waren. Sie wurden sofort zerstört und in Müllcontainern wegtransportiert – es sollte ein kritischer Puppenumzug anlässlich des Parteitags der Republikanischen Partei verhindert werden.

Eine Stärke der Straßenaktionen liegt in ihrer Vergänglichkeit. Die Akteure verfremden die entfremdete Wirklichkeit und machen sie so für einen Moment als solche erkennbar. Die Intervention gegen das alltägliche normierte Einerlei, aus Leistungsdruck, Konsum und sozialer Isolation, liegt im öffentlichen, gemeinsamen Anders-Sein der Aktivisten. Sie haben nicht den Anspruch, den gesellschaftlichen Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen – diese liegt zur Zeit ohnehin weitestgehend im Dunkeln – sondern sie fangen einfach selbst an, zu tanzen. Die politische Dimension der Aktionen liegt in ihrer praktischen Kritik an der Anpassung und Normiertheit der gesellschaftlichen Individuen an die gegenwärtige epochale Strukturkrise.

Dabei treten die jüngsten Aktivsten, anders als frühere Protestbewegungen, meist grell und bunt auf, etwa in »Pink and Silver«. Statt der grauen Distanziertheit, dem plebejisch proletarischen Asketismus (Engels) der »Konsumkinder« der 80er Jahre, die sich mit dem Prinzip spartanischer Gleichheit gegen die falschen Versprechen der Konsumgesellschaft abgrenzten und dies auch in farblos-enthaltsamer Kleidung artikulierten, zeigen sich die jüngsten Aktivisten, in den eher grauen Zeiten der gegenwärtigen Strukturkrise, bunt. In ihren Aktionen schimmert der Hauch eines historischen Subjekts, das sich an sich selbst erinnert und dies kundtut. »Die Teilnehmenden haben fantastische Momente erlebt, in denen wenigstens für kurze Zeit vieles möglich scheint« (12) – scheint, wie Marc Amann richtig ausdrückt.

Denn tatsächlich sind die Aktivitäten, so wie Amann sie präsentiert, meist politisch diffus. Mal werden in »go.stop.act!« praktische Vorschläge zum Nachmachen gegeben, mal wird die Sache historisch hergeleitet. Da wird die Studentenbewegung kurzerhand auf ihre »humorvoll-karnevalistischen und theatralischen Aktionsformen« reduziert, da wird das Internet zum Fetisch, »Protest und Widerstand sind notwendiger denn je« – wer hätte es gedacht! – proklamiert der Klappentext. Wird an einer Stelle darauf hingewiesen, dass die Aktionen hinsichtlich staatlicher Repression relativ »ungefährlich« seien, so findet sich ein paar Seiten weiter der Hinweis auf heftige Sanktionen. Mal wird betont, dass die Aktionen reiner Selbstzweck seien, mal finden sich lange theoretische Herleitung, etwa mit Hilfe von Derrida oder Brecht. Während manche Aktivisten stolz resümieren, der Bevölkerung »politische Inhalte« vermitteln zu können, ohne diese zu benennen, begleiten etwa das Kapitel über Flash Mobs ökonomiekritische Überlegungen. Und manchmal fragt man sich gar, wo der Unterschied zwischen den beschriebenen Aktionsformen und Fernsehsendungen wie »Verstehen Sie Spaß?« liegt.

So steht das Buch in der oft benannten »Vielfalt« sozialer Proteste wie wir sie etwa aus der Anti-AKW-Bewegung kennen: Jeder bringt sich mit seinen Ideen und Aktivitäten ein, um ein bisschen am Bauzaun zu sägen. Allerdings gibt es diesmal keinen Zaun aus Stahl und Beton, vielmehr geht es gegen die Vernagelung, die Entfremdung der sozialen Verhältnisse selbst. Die Aktivisten, so scheint’s, fühlen sich von der Normalität provoziert und wehren sich. »Ich möchte Viele sein, ich möchte irgendwie subversiv sein, ich möchte Teil einer Bewegung sein.« (S. 189) So liegt die Stärke des Buches »go.stop.act!« in dem Potenzial, das es andeutet, es verweist auf das »noch nicht« sozialer Bewegung und dokumentiert, dass es Milieus gibt, aus denen diese erwachsen könnte. Auch eine Form der Aktion.

Annette Ohme-Reinicke

 

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Marc Amann (Hrsg.): go.stop.act! Die Kunst des kreativen Straßenprotests. Geschichten, Aktionen, Ideen. Trotzdem Verlag, Grafenau/Frankfurt a.M., 2005