das affektive leben der macht:

das gefühl der scham



Stell Dir vor: Du findest Dich zu dick, unförmig, ungeschickt. Du bist den Blicken der anderen ausgesetzt, im Schwimmbad, beim Tanzen oder einfach so, wenn Du Dich in der Öffentlichkeit bewegst. Und schlimmer noch, Du bist Deinem eigenen Blick ausgesetzt, permanent und unerbittlich. So genannte körperliche Makel sind ein typischer Anlass für Schamgefühle, Abweichungen von der Norm körperlicher Perfektion können beschämend sein. Denn der eigene mangelhafte Körper tritt unter disziplinargesellschaftlichen Bedingungen deutlich hervor: Schönheit, Fitness, Eleganz sind ideale Normen, virtuelle Idealzustände, denen mensch sich anzunähern hat. Das Scheitern an der Norm aber ist strukturell in die Beschaffenheit der Norm eingebaut. Sie ist nicht mehr Verbot, sondern ein idealer Wert. Die Bewegung auf die ideale Norm hin ist asymptotisch, d.h. immer wenn mensch sich ihr nähert, rückt sie ihren Maßstab ein stückweit höher – die Norm bleibt unerreichbar.

Der Gebrauch des Wortes Scham wirkt verstaubt, er scheint an eine andere Zeit zu erinnern – doch das Schamgefühl ist ein modernes, und vielleicht noch mehr, ein postfordistisches Gefühl. Das unternehmerische Selbst empfindet Scham, wenn es an den sich selbst auferlegten Idealnormen unter dem eigenen selbstkritisch gewendeten Blick scheitert. Das sich selbst unterworfene Subjekt ist gefangen im Versuch, sich zu formen, sich mittels bestimmter Selbsttechniken dem virtuellen Idealwert zu nähern – aber die Mangelhaftigkeit im Verhältnis zum eigenen Ideal und in der hierarchischen Relation zu anderen Individuen führt immer wieder zum Gefühl der Scham.

Meine These ist, dass Macht eine affektive Dimension hat. Es ist ein historisch spezifischer Typus von Subjektivierung, der einen zentralen Hintergrund für die Entstehung von Schamgefühlen darstellt. Aus einer machttheoretischen Perspektive wird sich die Scham als ein Gefühl erweisen, bei dem die Macht buchstäblich das Körperinnere durchzieht. Da noch immer zu wenig und zu selten thematisiert wird, in welchem Maße Macht auch eine affektive Dimension hat, werde ich mich vor allem auf eine einigermaßen intime Diagnose des Phänomens konzentrieren – auch wenn mit dieser Herangehensweise der Blick auf politische Handlungsoptionen vernachlässigt wird. In einem politischen Sinne finde ich es wichtig, erst einmal solch eine Diagnose zu geben, weil damit deutlich werden könnte, in welcher Weise genau sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse auswirken, welches die affektiven Effekte von Macht sind – und dadurch erst ein Artikulationsraum geschaffen werden kann.


Der Blick und die Sichtbarkeit

Das Schamgefühl ist in besonderem Maß ein soziales Gefühl, ein Affekt, der paradigmatisch in sozialen Situationen vielfältiger Art entsteht. Die Scham stellt sich in dem Augenblick ein, wo wir einer Abweichung von oder dem Scheitern an einer Norm gewahr werden – und zwar vor allem unter den Augen eines Publikums. Die Norm und der Blick – das sind in einer ersten Annäherung die zentralen Koordinaten der Struktur der Scham. Sich zu schämen heißt vor allem, auf eine bestimmte Weise dem Blick von anderen ausgesetzt zu sein. Wer sich schämt, der fühlt sich meist vor einem Publikum bloßgestellt. Darin liegt ein bedeutender Unterschied zwischen Scham und Peinlichkeit: Zwar nehmen beide Affekte ihren Ausgang von der Kopräsenz anderer Subjekte, eine wesentliche Differenz aber besteht darin, dass Peinlichkeit ein eher egalitäres Gefühl ist, während die Scham isoliert und hierarchisiert. Peinlichkeit nimmt ihren Ausgang oft bei anderen Interaktionsteilnehmer_innen, sie geht von einer Akteur_in aus, und tendiert dazu, sich auf alle Beteiligten auszubreiten (Goffman 1999: 106-123). Im Schamgefühl dagegen fühlt mensch sich dem distanzierten Blick eines Publikums unterworfen, mensch fühlt sich allein und erlebt sich anderen gegenüber als defizitär. Entscheidend an dieser Ausgesetztheit an ein Publikum ist, dass wir durch den uns auferlegten objektivierenden Blick veranlasst werden, uns selbst zum Objekt zu machen. Im Schamgefühl wird mensch sich seiner selbst bewusst, und zwar im Horizont der Beobachtung und Bewertung durch ein Publikum.

Nun sind aber die Architekturen des Blicks, des Gesehenwerdens und der Sichtbarkeit der Geschichte gegenüber nicht immun. Wie sehen also die gesellschaftlich hervorgebrachten Muster der Sichtbarkeit aus? Und unter welchen Bedingungen sind Subjekte gezwungen, sich selbst zum Objekt der eigenen Beobachtung zu machen? Um einige der zentralen sozialen Bedingungen, auf deren Boden das Schamgefühl entsteht zu thematisieren, möchte ich auf Michel Foucaults These der Disziplinargesellschaft eingehen (Foucault 1976). Mit der genealogischen Perspektive Foucaults lässt sich nach den historischen Brüchen in den Koordinaten des Schamgefühls, also den sozialen Mustern von Sichtbarkeit, fragen. Der Blick ist für Foucault eine Technik der Macht, die spezifischen Ordnungen von Sichtbarkeit definieren je unterschiedliche Modelle der Macht.

Verschiedene Machttechniken der Disziplinargesellschaft arbeiten daran, Subjekte sichtbar zu machen. Eine der wichtigsten Techniken ist dabei die Prüfung – in Gestalt von Examinierungen in der Schule, Bewertungsverfahren am Arbeitsplatz oder Gutachten, die die Justiz vornimmt (ebd.: 238-250). Die Prüfung unterwirft die geprüften Subjekte einer dauerhaften Sichtbarkeit. Mit ihr kehren sich die Sichtbarkeitsvektoren im Verhältnis zur feudalen Souveränitäts-Macht um: Während sich hier die Macht prunkvoll zur Schau stellte, die Unterworfenen aber unsichtbar blieben, wird nun die Macht aufgrund ihrer Anonymität unsichtbar, erzeugt aber über den Unterworfenen eine permanente Sichtbarkeit – das Deviante wird zum Gegenstand der Beobachtung. Weil aber das Individuum einer beständigen Sichtbarkeit unterworfen ist, wendet es den eigenen Blick auf sich selbst zurück. Die Macht ist so dem Individuum nicht mehr äußerlich, vielmehr generiert die Sichtbarkeit die Selbstunterwerfung des Subjekts (ebd.: 251-294). Das Subjekt wird sich so seiner selbst auf eine bestimmte Weise bewusst: im Wissen um den Blick, den es von der Macht auferlegt bekommt, wendet sich das Subjekt zu sich selbst und macht sich zum Objekt der eigenen Beobachtung.

Die selbstkritische Blickwendung des Subjekts macht eine der Vektoren der Modernität der Scham aus: Nun ist es nicht mehr nur ein situativ mitanwesendes Publikum, das den Anlass und die Zeugenschaft der Scham bilden kann. Vielmehr ist das Subjekt immer schon gezwungen, sich selbst kritisch zu beobachten. Dem Blick der anderen ausgesetzt zu sein, wird in gewissem Maß abgelöst von der Aufspaltung des Selbst in einen beobachtenden und einen beobachteten Teil. Der bohrende, unerbittliche Blick, der die Scham auslöst, ist dann nicht mehr nur der Blick von anderen, sondern vor allem auch der eigene.


Die Macht der Norm

Zur Sichtbarkeit muss jedoch eine weitere Dimension hinzutreten, damit es zu einer Beschämung kommen kann. Die Selbstthematisierung ist im Gefühl der Scham immer mit einer negativen Selbstbewertung verbunden. Kennzeichnend für das Schamgefühl ist der Bezug auf die Norm: Von einer Norm abzuweichen oder an einer Norm zu scheitern, sind Voraussetzungen der Entstehung von Scham. Das Schamgefühl ist damit ein Gefühl, das sich aus dem Gefühl einer Mangelhaftigkeit oder Minderwertigkeit ergibt: mensch bemerkt plötzlich – veranlasst durch den eigenen oder fremden Blick –, dass mensch an einer Norm scheitert, eine Norm nicht erfüllt. Allerdings schämt mensch sich nur, wenn das Verfehlen einer Norm die ganze Person betrifft, wenn das Scheitern die Person in zentralen Aspekten ihrer Identität als defizitär erscheinen lässt. Am Bezug zur Norm lässt sich in groben Zügen ein Unterschied zwischen Scham- und Schuldgefühl aufzeigen: Psychoanalytisch gesprochen hat das Schuldgefühl eher mit der Übertretung der vom Über-Ich aufgestellten Verbote zu tun, während Scham einsetzt, wenn mensch an im Ich-Ideal gespeicherten Idealnormen scheitert. Bei der Schuld geht es tendenziell um den Anderen, bei der Scham um die eigene Person, das heißt, Schuld setzt zumindest den Wunsch nach Fremdschädigung voraus, während Scham ihren Ausgang von den vermeintlichen Defiziten des Selbst nimmt (Piers / Singer 1971: 23-30).

Aber von welcher Art von Normen ist hier die Rede? Welcher Geschichte unterliegt die Norm? Für Foucault funktioniert Macht in der Disziplinargesellschaft über die Norm, oder besser, einer ganz bestimmten Form der Normierung. In einer abstrakten Definition ließe sich sagen, dass die Norm nicht beschreibt, sondern vorschreibt, sie sagt nicht was ist, sondern was sein soll. Brüche der Norm werden sanktioniert, oder besser, ohne Sanktionen existieren keine Normen. Einer solch allgemeinen Bestimmung der Norm setzt Foucault einen historisierten Begriff der Norm entgegen (Foucault 1976: 229-237). Denn mit der Art der Sanktionierung ändert sich auch die Gestalt der Norm. Die souveräne Macht feudaler Gesellschaften sanktioniert einzelne Normbrüche, die zeitlich der Sanktion vorausgehen. Die Sanktion ist negativ, insofern sie lediglich bestraft, und sie ist exzessiv, insofern sie auf Abschreckung zielt. Ihr zugrunde liegendes Schema ist die Unterscheidung erlaubt/verboten. Die Sanktionierungen der Disziplinarmacht dagegen haben das zukünftige Verhalten des Individuums zum Gegenstand, sie nehmen die Gestalt von geduldigen Beobachtungen und genauen Beurteilungen an. Indem die Macht misst, bewertet und prüft, richtet sie das sanktionierte Subjekt an einem imaginären Idealwert aus, den es zukünftig zu erreichen gilt (Foucault 1977).

Kommen wir noch einmal zur Machttechnik der Prüfung. An ihr zeigt sich besonders deutlich, dass moderne Machttechniken normieren und hierarchisieren. Die Prüfung ordnet die Subjekte entlang einer evaluativen Linie größerer oder geringerer Vollkommenheit an. Die Gleichsetzung macht die Geprüften vergleichbar, sie gewährleistet die Möglichkeit, Subjekte entlang einer Skala gemäß ihrer Wertigkeit anzuordnen.

Nicht nur die Veränderung der Sichtbarkeitsmuster, sondern auch die veränderte Form von Normen haben Auswirkungen auf die strukturellen Entstehungsbedingungen von Scham. Vermittelt über Disziplinartechniken wie die Prüfung wird die Norm in der Disziplinargesellschaft ein idealer Wert, den es zu erreichen gilt; sie ist damit nicht einfach eine Regel, die Erlaubtes und Verbotenes unterscheidet. Egal mit welcher inhaltlichen Prägung die Norm auftritt: ob als Schönheitsnorm, als Normen der Maskulinität und Feminität, als Norm intellektueller Kompetenz, rhetorischer Qualitäten oder kultureller Skills – immer ist die Norm ein imaginärer Idealwert, der zumeist unerreichbare virtuelle Optimalzustände vorgibt. 1 Je mehr die Norm aber nicht mehr einfach verbietet, sondern ideelle Vollkommenheiten darstellt, desto stärker entstehen Möglichkeiten des Scheiterns oder Versagens an der Norm. Die Scham wird so zur beständigen Möglichkeit – durch die permanente selbstkritische Wendung des eigenen Blicks wird das Scheitern an der Norm immer wieder zum Anlass von Scham.

Freilich wird das Scheitern oder Versagen daran, bestimmte Normen nicht zu erreichen, erst dann in vollem Maß beschämend, wenn sich Subjekte als wirkmächtige, souveräne Handlungsinstanzen denken (bes. Neckel 1991: 146-182). Unter disziplinargesellschaftlichen Bedingungen entsteht am Schnittpunkt von aufgezwungener Sichtbarkeit und differenzierender Hierarchisierung das Individuum. Die Form dieser Individualität ist dabei zugleich veränderlich und konsistent. Einer Permanenz von Bewertungen und Prüfungen unterworfen, wird das Individuum zugleich als in sich geschlossene Einheit und als wirkmächtige, veränderbare Zelle geschaffen.


Gefühlte Disziplinierung

Das Gefühl der Scham entsteht in den hierarchischen Reibungspunkten des Sozialen. Das souveräne Subjekt ist gezwungen, sich einer Vielzahl von Idealnormen anzunähern, und muss doch unter dem fremden oder dem eigenen, selbstkritischen Blick immer wieder scheitern. Das sich selbst unterworfene Subjekt versucht mittels bestimmter Selbsttechniken, den virtuellen Idealwert zu erreichen, doch die Mangelhaftigkeit im Verhältnis zum eigenen Ideal und in der hierarchischen Relation zu anderen Individuen führt immer wieder zum Gefühl der Scham.

Dieser gesellschaftliche Zusammenhang zwischen einer bestimmten Art von Normierung, der Wirkmächtigkeit der Vorstellung einer souveränen Handlungsmächtigkeit und dem Gefühl der Scham lässt sich an einem Beispiel genauer nachvollziehen – und zwar am Beispiel des disziplinierten Individuums in der Klassengesellschaft. Richard Sennett und Jonathan Cobb gingen 1972 in einer empirischen Untersuchung unter Arbeiter_innen in den USA der affektiven Dimension sozialer Ungleichheit nach: In den Aussagen der Arbeiter_innen zeigte sich, manchmal ausdrücklich, oft versteckt und verschlüsselt, dass diese immer wieder beschämt darüber waren, weniger »gebildet« als ihre Vorgesetzten zu sein. Sie berichteten vom Gefühl, nichts aus sich gemacht zu haben, von ihrer Unfähigkeit, sich zusammenzunehmen und sich zu formen. Im Selbstbild dieser Arbeiter_innen tritt die Überzeugung zu Tage, dass es ihnen, in einem Foucaultschen Sinn, an Disziplin mangele: Disziplin bedeutet hier nicht, asketischen Verzicht zu leisten, sondern besteht im Vermögen, sich selbst auf systematische Weise zu formen. »Bildung« verwendeten die Arbeiter_innen als Chiffre – und meinten damit nicht nur die formelle Ausbildung, sondern bezogen dieses Wort in einem sehr abstrakten Sinn auf die Fähigkeit, die eigenen Kapazitäten sinnvoll und effektiv zu gestalten, eben zu sich zu »bilden«. Die Begegnung mit Führungskräften, die in ihrem Auftreten diese autonome Individualität ungezwungen verkörperten, war für die Arbeiter_innen oft beschämend, denn diese schienen sich nur sich selbst zu verdanken, sie zeigten keine Abhängigkeit vom anderen – die Arbeiter_innen selbst dagegen nahmen sich als unfertig und mangelhaft wahr, als unfähig, sich selbst auf angemessene Weise zu formen. Das Scheitern daran, dem eigenen Verhalten eine adäquate Form zu geben, wurde von den unterlegenen Akteur_innen als beschämend erlebt. Wenn sich Individuen selbst als diejenige Instanz vorstellen, die sich mittels bestimmter Techniken selbst formen kann, dann ist das Scheitern an der Norm personal zurechenbar, dann wird das Versagen als Ausdruck der Mangelhaftigkeit der ganzen Person gedacht. Und diese selbst empfundene Mangelhaftigkeit wird zum Anlass von tiefsitzenden Schamgefühlen.

Sennett und Cobb führten ihre Untersuchung zeitlich wie auch strukturell mitten im Zentrum des Fordismus durch – in den 70 er Jahren, in Industriebetrieben in den USA. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich seitdem stark verändert. Unter postfordistischen Bedingungen verschärft sich das Ausmaß aufgezwungener Selbstformungen jedoch eher, als dass es abnehmen oder sich qualitativ wandeln würde. Hier versucht das Individuum in noch stärkerer Weise, mittels bestimmter Techniken an der Gestaltung seiner Identität mitzuwirken. Im Begehren, die imaginären Idealnormen zu erreichen, unterwirft es sich in gesteigertem Maß einer Kontinuität von Selbstprüfungen und arbeitet noch intensiver an der produktiven Formung seiner selbst. Politisch kommen diese Veränderungen zum Ausdruck in unverschämt unverblümten Vokabeln wie der Ich-AG, institutionell in neuen Management-Techniken wie dem 360°-Feedback-Interview und alltäglich nicht zuletzt im Anschwellen von Psycho-Ratgebern, Zeitmanagement-Büchern oder Anleitungen zum selbstbewussten Auftreten. Auf all diesen verschiedenen Ebenen wird das handlungsmächtige, sich produktiv formende Selbst in einem vorausgesetzt und hergestellt.

Diese gesellschaftliche Konstellation ist es, die einen heute völlig gewöhnlichen Zustand wie den der Arbeitslosigkeit zu einem beschämenden Makel werden lässt. Den Jobverlust schreibt sich das Subjekt selbstbezichtigend als eigenes Versagen zu, und eben das wird zum Anlass von Scham. Und zwar umso mehr, je mehr es an politischen Gegenkulturen fehlt, die anderen Narrativen gesellschaftliche Bedeutung einräumen könnten.

Auch wenn mit der erzwungenen Blickwendung, mit der Idealität der Norm und der vermeintlichen Handlungsmächtigkeit des Subjekts Instanzen benannt sein sollten, die eine Entstehung von Schamgefühlen verstärken, scheint – zumindest auf den ersten Blick - dennoch einiges darauf hinzudeuten, dass sich Menschen heute nicht mehr, sondern weniger schämen. Und in der Tat, in Talk-Shows wird zunehmend tabuloser, »unverschämter« über Themen gesprochen, die noch vor nicht wenigen Jahren Anlass von Scham hätten sein können. Und ist nicht mit den gesellschaftlichen Veränderungen seit ’68 ein unbefangenerer Umgang mit Normen möglich geworden? Diese möglichen Einwände verkennen jedoch, dass es spätestens unter postfordistischen Verhältnissen eine zunehmende Verschiebung von Scham-Anlässen gibt. Das zeigt sich am Verhältnis zum eigenen Körper. Nacktheit, Intimität oder Sexualität sind immer weniger Anlass von Scham, während der Körper mit seinen Makeln umso beschämender sein kann. Während sich Tabus und Verbots-Normen (etwa das Tabu sexueller Freizügigkeit) zunehmend aufweichen, kommt es gleichzeitig zu einer Verstärkung von Idealnormen (etwa der, einen perfekten Körper zu haben). Zugespitzt ließe sich sagen, dass diejenigen Normen immer mehr abnehmen, die mensch übertreten kann, gleichzeitig aber jene Normen intensiver und zahlreicher werden, an denen mensch scheitern kann.

Zudem lässt sich aus der Tatsache, dass Scham im sozialen Leben nicht unmittelbar sichtbar ist, nicht schließen, dass Schamgefühle tatsächlich nicht relevant wären. Denn die Scham, noch mehr als andere Gefühle, wird strukturell privat erlebt, das heißt dass Scham in sich ein desartikulierter, verschwiegener Affekt ist. Scham isoliert von anderen, mensch will vor Scham buchstäblich »im Boden versinken«, und genau deshalb ist die Scham ein sozial wenig sichtbares Gefühl. Hinzu kommt – das hat sich vor allem in der psychoanalytischen Praxis gezeigt –, dass sich zu schämen selbst Anlass von Scham sein kann. Je mehr Subjekte sich als souveräne Handlungsinstanzen imaginieren, desto mehr ist die Scham über das Scheitern an einer beliebigen Norm selbst wiederum beschämend (Neckel 1991: 170-182). Denn die aufs Gesicht geschriebene Röte in der Scham kann zum potentiell sichtbaren öffentlichen Zeugnis der eigenen Mangelhaftigkeit werden. Aus diesem Grund ist es nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber sich selbst und sogar im geschützten Raum einer Psychoanalyse äußerst schwer, Gefühle der Scham einzugestehen oder gar zu artikulieren. Wenn Scham überhaupt thematisiert wird, dann oft nur indirekt über Chiffren und Codes, wie etwa der Verwendung des Wortes »peinlich« statt »beschämend«. Die Scham ist also keinesfalls die verstaubte Signatur traditioneller, sondern viel eher verschwiegenes Kennzeichen gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse.


Ein politischer Affekt

Wenn vor diesem Hintergrund die gesellschaftliche Rahmung von Scham deutlich wird, erweist sich das Schamgefühl zugleich auch als Feld möglicher Politisierung. Allerdings nur in einem abstrakten Sinn, denn von seiner leiblichen Ausprägung her ist das Schamgefühl in sich ein desartikulierter Affekt. Sprachunfähig zu sein unterbindet die Möglichkeit, mit politischer Stimme zu sprechen. Wer sich schämt, der will sein Gesicht verbergen und flüchten. In dieser leiblichen Betroffenheit ist das Schamgefühl anderen Affekten – wie dem der Wut oder des Zorns – entgegengesetzt. Wer empört ist, möchte andere auf sich und den Grund der Empörung aufmerksam machen, Scham dagegen ist ein stiller, verborgener Affekt. Nur die Existenz von spezifischen politisierten Räumen und Praktiken scheint die Möglichkeit dafür zu bieten, dass sich die Akteure die Anlässe von Scham nicht individualisierend selbst zuschreiben, sondern sie kollektiv artikulieren. Auch wenn Normen oft in subtiler und stiller Form fortwirken, politische Kontexte und sozial lebensfähige Gegenkulturen sind Räume, in denen hegemonialen Normen gewendet und verändert, und somit auch Schamgefühle in ihrer Wirkmächtigkeit gebrochen werden können. Die theoretische Praxis hätte dabei im Verhältnis zur politischen Praxis weniger den Zweck, begriffliche Werkzeuge für soziale Kämpfe bereitzuhalten, als vielmehr behutsam einen Artikulationsraum zu bieten, der dem Gegenstand zum Teil schon dadurch seine stille Kraft zu nehmen vermag, dass er überhaupt zur Sprache gebracht wird.

Hannes Kuch




Anmerkung:

~1: Freilich werden vermutlich eine Mehrzahl der Leser_innen genauso wie der Autor selbst besagten Normen auf einer artikulierten, »rationalen« Ebene kritisch gegenüberstehen – und zwar oft in dem Maße, wie es für sie möglich ist, sich in politisierten, gegen-kulturellen Kontexten zu bewegen, in denen mit dieser Bandbreite an hegemonialen Normen ausdrücklich gebrochen wurde. Allerdings verfügen Normen über ihre eigene Beharrlichkeit. Normen beziehen ihre Wirksamkeit nicht in erster Linie von den expliziten Einstellungen und Haltungen von Individuen – sie sind ganz im Gegenteil vor allem deshalb wirksam, weil sie inkorporiert und habitualisiert sind. Weil Normen tief in den Körper eingeprägt werden (Foucault spricht hier von einer Dressur, Wittgenstein von Abrichtung), sind Normen beharrlich und träge. Normen werden weniger gekannt, als dass sie affektiv anerkannt werden. Sie haben ihre eigene Schwerkraft und überdauern sich deshalb oft in vermittelter und stummer Form selbst dort, wo explizit und radikal mit ihnen gebrochen wurde. Normen als inkorporierte Praxis zu denken heißt andererseits aber auch, dass Normen nicht von einer rigiden Struktur determiniert sind, sondern in einer zeitlichen Dimension der beständigen, wiederholten Re-Aktualisierung bedürfen. Weil die Wirksamkeit der Norm von einer stetigen Wiederholung abhängt, entsteht hier die Möglichkeit einer abweichenden Wiederholung und einer Veränderung der Norm.




Literatur:

Der frühe Aufsatz von Georg Simmel enthält schon die wesentlichen Bestimmungen des Schamgefühls:

Georg Simmel (1983): »Zur Psychologie der Scham«, in: ders.: Soziologische Schriften. Eine Auswahl, Frankfurt/Main, 140-151.

Eine genaue philosophische Darstellung des Schamgefühls liefert:

Gabriele Taylor (1985): Pride, Shame, and Guilt. Emotions of self-assessment, Oxford, 53-84.

Eine gesellschafstheoretisch angelegte Darstellung der Scham bietet:

Sighard Neckel (1991): Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion von sozialer Ungleichheit, Frankfurt/Main, New York.

Auch Hilge Landweer (1999: 160-195) und Sighard Neckel (1991: 25-40) interpretieren das Gefühl der Scham vor dem Hintergrund von Foucaults Machttheorie, Landweer in Hinsicht auf die Verbindung von Norm und Scham, Neckel im Bezug auf den Zusammenhang von Sichtbarkeit und Scham:

Hilge Landweer (1999): Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen.

Gerhart Piers, Milton B. Singer (1971): Shame and Guilt. A Psychoanalytic and a Cultural Study, New York.

Richard Sennett, Jonathan Cobb (1972): The Hidden Injuries of Class, London/New York.

Michel Foucault (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main.

Michel Foucault (1977): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/Main.

Erving Goffman (1999): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt/Main, [1971].